Alle Beiträge von Asteris Kutulas

Holger Ehlers, Show Creator (Apassionata Interview)

An interview film with Holger Ehlers by Asteris Kutulas (Deutsch/English subtitles) – October 2015

Working on Apassionata

Bei „Apassionata“ arbeitete ich zunächst als Executive Producer (2010-14) und ab 2013 als Dramaturg und künstlerischer Berater zusammen mit dem Show-Creator Holger Ehlers, der seitdem alle „Apassionata“-Produktionen als künstlerischer Direktor verantwortet hat. Die ständige Weiterentwicklung, die die „Apassionata“ in den letzten Jahren durch Holger Ehlers auch mit meiner Hilfe erfahren hat – nämlich von einer Pferde-Nummern-Revue hin zu einer phantasmagorischen Family-Entertainment-Show von Weltformat –, machte sie zu einer immer ausgefeilteren und komplexeren Aufführungsform, die zugleich – und das ist das Beachtliche daran – immer publikumsaffiner wurde.

Parallel dazu kreieren wir zusammen mit Holger Ehlers seit 2014 für ein revolutionäres „Theater-Projekt“ eine kongeniale Show mit dem Titel „Der Traum“ in einem eigens dafür gebautem Theater. Diese Show ist wie dafür geschaffen, mein seit über zehn Jahren entwickeltes Konzept des „Liquiden Bühnenbilds“ (Liquid Staging) in einem Theater konkrete Gestalt annehmen zu lassen.

Im Stück „Der Traum“ erzeugen Musik und Sound als Klangerlebnis ein „emotionales Grundrauschen“, das ergänzt wird vom – wie ich es nennen würde – „Storyboard eines modernen Grimmschen Märchens“. Holger Ehlers benutzt als drittes Element seinen eigenen spezifischen Stil, um seine Geschichten zu erzählen. Mein Konzept des „Liquiden Bühnenbilds“ vermag es schließlich, jenen emotionalen Raum der Illusion zu erschaffen, den dieses neue Genre braucht, um sich in idealer Art und Weise zu präsentieren.

© Asteris Kutulas, Winter 2016

Holger Ehlers Apassionata Interview mit Asteris Kutulas
Holger Ehlers during the shootings of an film by Asteris Kutulas (photo © by Peter Becker)

Asteris Kutulas interview with Holger Ehlers (excerpts)

Some answers/quotes by Holger Ehlers:

1 | What makes a horse show into a family show? That’s the fundamental question. Why is it more than a show for people who like horses? Why is it a show which tours big cities and captivates many people?

It works because two things are united here: the tradition of musical theatre, beginning with Monteverdi’s „L’Orfeo“, and the dressage training of horses at the royal courts, which began around the same time. The horses were no longer being trained just for war, but also for the entertainment of the nobility. The first operas were also written for the royal courts, and not for the common people. Horses and musical theatre thus have a parallel European tradition. The horses have different gaits, different rhythms – what we call „movements“. In this context, there is a close connection between what we call rhythm and the things which make „Opera Seria“ so special.

2 | In 2008 the „Sehnsucht“ show by Gert Hof combined a greater dramatic depth with orchestral music and phenomenal light effects. Light was suddenly more than just pointing a spotlight at a horse and making the ground glow green. This was pioneering. As was the introduction of actor-protagonists.

The next decisive show was APASSIONATA „Time for Dreams“ in 2011. That was the first time we engaged with video content for the dramaturgy of a show. The screen backdrop became a pivotal element, bringing together images and music. This was a new way of using the stage space. 

3 | When we talk about our inspiration, then this of course always magically stems from the horses. But we also need riders. Because they are supported by dancers and by the production team, they here appear as actors in a piece of great musical theatre. This gives us the three key elements to success: the great stage show in the arenas. The incredible „proximity“ created by the horses, which appeals to many people. The grand emotions of an opera. To bring together all three elements in a balanced form is not easy. Each time, it takes 18 months of work. And you are always close to the boundary where grand emotion can become excessive, and the pathos become farcical. It’s a balancing act.

4 | Apassionata is musical theatre. That is the big picture. The difference to a revue show. It’s the only way to convey the nature of the horse via music. The music does not „accompany“ the horse. The horse is in fact – in scare quotes – the „singer“, an „instrument“. The music assumes a different character. It no longer simply reaches „everything and everyone“, but instead transports the audience. This is of course a singular, unique experience. Nobody has ever pursued this approach as consistently as us. We now have the experience gained from 20 shows presented over the course of 13 years. And a team of highly experienced people with a background in rock and roll as well as theatre.

Holger Ehlers by Asteris Kutulas
Holger Ehlers during a rehearsal in Riesa, 2015 (photo © by Asteris Kutulas)

5 | With theatre, the space is inherently intimate. But APASSIONATA was born in the arena. And yet – if we appeal to the audience in the cool atmosphere of the arena, it’s because we create warmth. Because we are bringing back the „theatre“ to these big venues. We are using a very unique sort of melancholy – a kind that has almost faded into history – to transform an arena back into a small, beautiful municipal theatre. We take the time which theatre always allows itself, in an arena in which there is almost never time enough. And that’s where it gets exciting, because we are not performing theatre, and we are not performing an arena show – instead, we are performing APASSIONATA. We connect.

6 | If you ask yourself: what is Holger Ehlers? Then the cheery reply is: Holger Ehlers is the „pudding mold“. The APASSIONATA pudding mold. It is filled with sounds, good ideas, with the people from the creative team, with the actors. And then we steam the APASSIONATA pudding. 

Excerpts from a Holger Ehlers Apassionata Interview by Asteris Kutulas in October 2015

„Im Bann des Spiegels“ Apassionata Show – Video Blinks 2015

Hellas Filmbox Berlin – Strategie und Konzept

Interview mit Festivaldirektor Asteris Kutulas
Von Maria Brand (November 2015)

Hellas Filmbox Berlin, First Edition: 21.1.-24.1.2016, Babylon
71 Filme, 36 Slots, 25 Q&As, 10 Nebenveranstaltungen
Webseite: www.hellasfilmbox.de
Facebook: www.facebook.com/hellasfilmbox

Maria Brand: Welche sind die wichtigsten Faktoren, die man Ihrer Meinung nach beachten muss, wenn man vorhat, ein Besucherfilmfestival auf die Beine zu stellen?

Asteris Kutulas: Es gibt wunderbare Festivals, die es sich leisten können, den rein künstlerischen (oder „avantgardistischen“) Aspekt in den Mittelpunkt zu rücken. Andere Festivals wollen eher ein breites Publikum erreichen, und das gelingt vor allem thematisch. Und dann gibt es die großen Festivals, die beides vereinen können.
Aber bei einem so genannten Publikumsfestival, wie wir es vorhaben, geht es immer darum, eine „Zielgruppe“ zu erreichen und um „Vermarktung“. Und natürlich darum, und vor allem darum, dass die Filme und das Publikum irgendwie „zusammenkommen“ sollten. Das muss man als Festival-Macher im Auge haben und ein strategisches Konzept dafür entwickeln. Es ist also nicht so sehr ein „künstlerischer“, sondern eher ein „kultur-politischer“ Fokus notwendig. Das kann man auch mit „Marketing“-Relevanz umschreiben oder damit, dass man dem Festival einen „Event-Charakter“ (was immer das heißen mag) geben muss.
Es ist wichtig zu begreifen, was das bedeutet: dass es in einer Stadt wie Berlin (und das gilt für andere Metropolen noch mehr) hunderte von Festivals gibt. Denn das wirft sofort die Frage auf: Warum noch eins mehr? Was muss man unternehmen, damit die Presse und das Publikum überhaupt auf dieses eigene, neue Festival reagieren? Von Bedeutung sind bereits im Vorfeld Gespräche mit Pressevertretern, Kulturpolitikern und eventuellen Sponsoren, um von vornherein Entscheidungen treffen und eine Struktur aufbauen zu können, die „Öffentlichkeit“ und Finanzierbarkeit überhaupt realistisch erscheinen lassen.
Und schließlich sollte man ein Team haben – verrückt genug, viel Zeit und Energie in das Projekt zu stecken – und das alles ohne Geld. Voraussetzung dafür ist, dass das Projekt den Machern Spaß macht, dass sie zu 100% hinter dem Projekt stehen und es unbedingt realisieren wollen. Durch diese Energie, das Durchhaltevermögen und zugleich die notwendige Professionalität bekommt das Ganze dann auch eine „Aura“ und eine „Message“ und dadurch wiederum jene Ausstrahlung, die es braucht, um Filmemacher, Journalisten und ein Publikum zu interessieren und schließlich zu begeistern.

Inwiefern kann Ihrer Meinung nach ein Filmfestival des zeitgenössischen griechischen Kinos in der deutschen Gesellschaft ein Umdenken und eine veränderte Auffassung über den „faulen und korrupten Griechen“ bewirken?

Asteris Kutulas: Für viele ist das Medium Film ein zugänglicheres und leichter zu konsumierendes Medium als das Buch, das Gedicht, die Bildende Kunst, das Theater oder anspruchsvollere Musik. Immerhin können an einem Wochenende Tausende von Menschen direkt (und weitere Zehntausende über Presse und Social Media) mit den Welten griechischer (verfilmter) Realität in Kontakt kommen. Unabhängig davon, ob diese als Komödie, Dokfilm, Krimi, Thriller oder Short auf der Bildfläche erscheint, ist diese filmische Realität doch immer ein sehr spezifischer Ausdruck griechischer Lebensweise, Denkungsart, aber auch des Alltags – und sei es, dass sie als eine vollkommen überspitzte Realität zu sehen ist. Das alles hat jedenfalls tatsächlich mit Griechenland und „den Griechen“ zu tun, und nichts mit deutschem Tagesjournalismus.

Sie sprechen über die anti-griechischen Kampagnen in der deutschen Presse?

Asteris Kutulas: Die Medien haben fünf Jahre lang ein Griechenlandbild vorgegeben, wie wenn man auf Griechenland durch einen sehr kleinen Rahmen schaut. Beim Fotografieren wäre das der Sucher, der einen begrenzten Bildausschnitt festlegt. Man hat sich auf das Negative konzentriert und das in den Fokus gerückt. HELLAS FILMBOX BERLIN macht den Rahmen des Suchers und damit den Bildausschnitt viel größer. Bei der „Bild“ z.B. heißt es: „Bild dir deine Meinung“. Es geht also interessanterweise tatsächlich um Bilder: Was haben wir vor dem Inneren Auge? Was haben wir im Blick, wenn wir an Griechenland denken? Ein Bild von etwas macht man sich. Das ist also etwas ganz Aktives. Wenn ich einerseits die Medien in Deutschland sehe, die einseitige Vor-Bilder geliefert haben, dann ist es andererseits die Sache von HELLAS FILMBOX BERLIN, mehr und andere Bilder anzubieten. Und wenn ich vorhin sagte, das Projekt muss den Machern Spaß machen, dann sind die vielen anderen Griechenland-Bilder, die wir zur Verfügung haben, genau das, was dem Team diesen Spaß beschert: ein reicher Fundus statt dieser beschränkte Bild-Ausschnitt.

Hellas Filmbox Berlin Asteris Kutulas

Ist ein solches Projekt mit öffentlicher Förderung finanzierbar?

Asteris Kutulas: Wenn das Projekt aktuell „wichtig“ und ganz offensichtlich in irgendeiner Weise Ausdruck des „Zeitgeists“ ist, und wenn es von einem guten Team konzipiert und gemanagt wird, dann kann es sich auch finanziell über kurz oder lang „durchsetzen“. Egal, ob das mit öffentlicher Förderung, Sponsoring oder über den Ticketverkauf und/oder durch Selbstausbeutung erreicht wird.
Das Interessante an unserem HELLAS FILMBOX BERLIN-Projekt ist, dass wir sowohl sehr künstlerisch als auch sehr „politisch“-aktivistisch daherkommen, was eine Finanzierbarkeit sehr schwierig macht. Wir haben kein Geld und auch keinen Glamour, HELLAS FILMBOX BERLIN ist kein „Roter-Teppich-Event“, sondern ein „Schwarzer-Teppich-Event“.

Was muss ein Kulturmanager mitbringen, der so ein Projekt auf die Beine stellen will?

Asteris Kutulas: Ein Filmfestival kann eigentlich „jeder“ machen – oder eben nur ganz wenige … Je nachdem, wie man’s nimmt. Es ist ganz einfach: Man braucht „nur“ etwas Geld, man sucht sich ein Thema, ein Motto, man lässt sich ein paar Filme schicken, schaut sie sich an, stellt eine Auswahl zusammen, mietet für ein Wochenende ein Kino, verschickt eine Presserklärung und wartet ab, was passiert. So ungefähr – sehr überspitzt gesagt – werden viele Festivals „gemacht“. Das ist keine Negativ-Bewertung meinerseits, sondern ich will damit sagen: Jede „Liebhaberei“ entspringt einer Passion; und von einer Idee dahin zu kommen, dass das Festival tatsächlich stattfindet – das ist immer mit viel Arbeit und Energieaufwand verbunden. Ich habe davor in jedem Fall Respekt.
Neben solchen eher „privat“ motivierten Projekten gibt es die großen kommerziellen Festivals, quasi das Marketing-Instrument der (vor allem US-amerikanischen) Filmindustrie: Sundance, Cannes, Berlinale, Venedig etc. Dazu gehören ein Millionenbudget, große Namen und viel Glamour. Zwischen diesen beiden Polen gibt es Dutzende Arten von Festivals …
Ich denke, die Aufgabe eines Kulturmanagers besteht zuerst darin, seinem Projekt „Leben“ einzuhauchen, ihm ein „Herz“, einen „Puls“ zu geben. Dafür brauchst du eine „Message“, die allerdings eine essentielle und nicht nur eine „behauptete“ ist – und die du gut „verkaufen“ kannst. Zweitens muss ein Kuturmanager eine organisatorisch und finanziell stimmige Strategie erarbeiten und drittens ein gutes, motiviertes Team zusammenstellen können. Viertens braucht er das „Glück“ auf seiner Seite, das man mit viel Arbeit bis zu einem gewissen Grad durchaus heraufbeschwören kann.

Hellas Filmbox Berlin Asteris Kutulas

Könnten Sie sich vorstellen, dass dieses Festival mit einem ähnlichen – auf dem gleichen Charakter basierenden – Festival zusammenwachsen kann? In einer Art Fusion, die die einzelnen Kräfte zu einem Katalysator der Schöpfungskraft und Kreativität zusammenführt? Unter welchen Voraussetzungen?

Asteris Kutulas: Da mich das „Filmfestival“ als eine Institution an sich nicht besonders interessiert und ich persönlich das Ganze „nur“ aus aktivistischen Gründen mache, kann ich diese Frage mit NEIN beantworten. Aber abgesehen davon, würde ich niemals etwas gründen, was von einem anderen bereits gegründet wurde oder was etwas anderem so ähnlich ist, dass man mit diesem anderen fusionieren könnte. Warum sollte ich das tun?

Was macht bei HELLAS FILMBOX BERLIN die Besonderheit aus, die konkreten Unterschiede? Und welche – würden Sie zusammenfassend sagen – sind die Voraussetzungen für ein individuelles Festival?

Asteris Kutulas: Am Anfang stand nicht die Idee, ein künstlerisches oder ein kommerzielles Festival zu machen, sondern hier gab es eine negative, hochproblematische Situation in der Gesellschaft, einen Fanatismus, die Stigmatisierung eines ganzen Volkes – und wir beschlossen, darauf zu reagieren.
Es gab also aktivistische Gründe: Griechenland und seine Menschen wurden in absolut negativer Art und Weise dargestellt. Dialog und Austausch – darum ging es nicht mehr. Darum geht’s aber bei Kunst.
Wo sozusagen alles danach rief, Griechenland den Rücken zu kehren, sich abzuwenden, hatten die Festivalinitiatoren eine andere Intention: hinschauen, sehen, was es gibt, es zu präsentieren, gerade das zu zeigen, was keine Rolle mehr spielte. Im Grunde genommen hatte man den Idealfall: ein Tabu. Und gerade die Jüngeren sind damit aufgewachsen: dass Medien das zum Thema machen, was Tabu ist. Es soll gerade über das intensiv kommuniziert und diskutiert werden, was verschwiegen wird. Und das kreative Leben der Menschen in Griechenland ist genau so etwas.
Mit Griechenland ist hier in Deutschland inzwischen etwas sehr Merkwürdiges passiert: Es ist zu einem plötzlich größtenteils wieder unbekannten, unsichtbaren Land geworden, ein kulturelles No-Go-Areal, das – wie nach einem Vulkanausbruch – unter einer dicken Ascheschicht begraben liegt; und nun geht eine Expeditionsteam daran, es freizulegen. Man entdeckt die Wandmalereien von „Pompej“ wieder. Und nicht nur das. Es stellt sich heraus, an diesem Ort passiert was. Die Vulkanasche ist fruchtbar. Manche Teile sind ganz und gar versunken, wie bei der Insel Santorini, bei der man sich sogar fragt, ob das vielleicht das sagenhafte Atlantis war, also ein verlorener Sehnsuchtsort. Interessanterweise kann man Sehnsuchtsorte mittels seiner Vorstellungskraft rekonstruieren.

Das Gespräch führte Maria Brand im November 2015
(für diablog.eu)

 

Erste Entwürfe für das Hellas-Filmbox-Logo von Ina Kutulas, Frühjahr 2015

Paris, Europa, unsere Zukunft

Europa hat sich verändert. Der Kapitalismus hat sich verändert. Wir sind durch Reagan, Thatcher, Kohl, Bush & Bush, Blair & alle, die von dieser Entwicklung partizipierten, in die Neobarbarei des entfesselten Finanz-Kapitalismus getrieben worden. Wir ernten, was wir gesät haben. Und was jetzt – nach den schrecklichen Ereignissen von Paris – passieren wird, ist voraussehbar und gewollt: Europa wird autoritärer, militaristischer, totalitärer, wird sich in der „Staatsform“ jener von Russland und China annähern. Die Demokratie wird in einem schleichenden Prozess ausgehebelt (wie in Griechenland, wo es keine Demokratie mehr gibt), die Löhne werden fallen, die Umverteilung des Reichtums nach oben wird rasant zunehmen, die totale Überwachung eines jeden Einzelnen wird gesellschaftlich sanktioniert (was aber nicht mehr Sicherheit bringen wird) … und „Europa“ ist (sowieso) am Ende, ob mit oder ohne „Flüchtlinge“. Die „PEGIDA-Ideologie“ (der Faschismus-Verschnitt des 21.Jahrhunderts) wird immer mehr zum Mainstream für eine immer kleiner werdenden Mittelschicht und für ein immer größer werdendes Prekariat. Neue „Mauern“ und neue „Konzentrationslager“ werden entstehen. Schießbefehle an den Grenzen und anderswo werden erlassen und in Kauf genommen. Die „Schönheit“ und die „Utopie“ verschwinden als gesellschaftlich relevante Topoi oder als erlebbare „Kategorien“. Das Hässliche und das Destruktive gewinnen die Oberhand. So sieht unsere Zukunft aus, gewöhnen wir uns daran.

© Asteris Kutulas

Keine Vision für Griechenland

WARUM ALEXIS TSIPRAS UND SYRIZA GESCHEITERT SIND

Alexis Tsipras hätte nach seiner Wahl Ende Januar 2015 sagen müssen: I HAVE A DREAM. Er hätte die Idee von einer „neuen Gesellschaft“, eine Vision für eine NEUE Zukunft Griechenlands entwickeln müssen. Aber er hat(te) offensichtlich weder einen Plan und noch weniger einen Traum.

Die neue Regierung hätte sofort nach der Wahl im Januar 2015 erklären müssen: WIR Griechen sind selbst (haupt)verantwortlich für das Desaster und das Leid in unserem Land. Diese Aussage hätte nämlich bedeutet: WIR selbst sind es, die auch etwas dagegen tun können! Die SYRIZA-Regierung hätte sagen können: ‘Fangen wir bei dem an, was wir in Griechenland selbst verändern können, um uns aus dem Sumpf zu ziehen.’ Und man könnte sehr viel tun … Die Regierung hat aber überhaupt keinen Ansatz erkennen lassen, in dieser Richtung zu denken, zu kommunizieren, Konzepte zu entwickeln oder gar zu handeln; und somit hat sie – genau wie die Regierungen davor – den Eindruck verstärkt, dass die AUSLÄNDER (vor allem die Deutschen) schuld sind an dieser Misere, und wir könnten nichts dagegen tun.

Aber wir Griechen können nicht Frau Merkel und Herrn Schäuble kontrollieren, geschweige denn Deutschland. Wir können jedoch unsere eigenen Politiker wählen und deren Politik mit-bestimmen – und wir können unser eigenes Land verändern, u.a. indem wir uns selbst verändern. Der „ideologische Egoismus“, der die griechische Gesellschaft seit etwa dreißig Jahren wie ein Krebsgeschwür zerstört, muss zurückgedrängt werden. Theodorakis hat das bereits 1991 – gemünzt auf die damals Regierenden – auf den Punkt gebracht: „Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Hirne geleert.“ Und wir haben das mit uns und mit unserem Land machen lassen.

Wenn Politik so gemacht wird, dass die Jugend – ihre Interessen und ihre Perspektiven – darin keine Rolle spielen, dann hat nicht nur diese Jugend keine Perspektive, sondern auch nicht das Land. Es ist ein „totes Land“, ein Niemandsland. Ich jedenfalls habe nicht wahrgenommen, dass Alexis Tsipras eine Zukunftsvision, einen wirklichen Plan für ein neues, ein anderes Griechenland kommuniziert oder gehabt hätte.

P.S. Mit der Unterschrift von Alexis Tsipras unter dem 3. sogenannten Rettungspaket im Juli 2015 hat Griechenland den Verlust seiner Souveränität auf Jahrzehnte hinaus besiegelt. Dieses „Rettungspaket“ – da sind sich alle Wirtschaftsexperten einig – wird mehr Armut, höhere Arbeitslosigkeit und höhere Schulden bringen. Der einzige Leidtragende in diesem europäischen Game of Thrones ist also (bislang) nur das griechische Volk.

Die Wahlerfolge von Alexis Tsipras und SYRIZA 2015 offenbaren andererseits die Willensbekundung vieler griechischer Bürger, einen Schlußstrich unter die katastrophale Vergangenheit zu ziehen – unabhängig von den „internationalen“ Implikationen. Also jene Politik von PASOK und Nea Dimokratia abzuwählen, die Griechenland durch Vetternwirtschaft, geduldeter Massen-Steuerhinterziehung und organisierter Staats-Kriminalität in die Katastrophe gestürzt hat. Das wenigstens ist den Griechen gelungen. Wie und ob es weitergeht, weiss keiner.

© Asteris Kutulas, 23.9.2015

Politischer Nachruf: Griechenland hat sich selbst vernichtet

Berlin, 18.9.2015
(zwei Tage vor den erneuten Wahlen)

Meine Heimat war in den letzten Jahrzehnten eine von griechischen Oligarchen beherrschte Bananenrepublik. Sie wurde regiert von einer skrupellosen Politikerkaste, die das geltende Recht ständig beugte und die Demokratie aushöhlte. Das bedeutete auch, dass sie einen Teil der Bevölkerung durch Klientelismus und Vetternwirtschaft systematisch „korrumpierte“. Das griechische politische Establishment nutzte die finanziellen und personellen Ressourcen des Staates, um das bipolare, siamesische Parteiensystem von PASOK und Nea Dimokratia zu etablieren und am Leben zu erhalten. Die Wahlbüros der Parlamentarier dieser beiden Staatsparteien verkamen seit den achtziger Jahren zu „Agenturen für Arbeit auf Lebenszeit“, deren Kriterien nicht der Arbeitsmarkt und die persönliche Qualifikation, sondern vor allem Parteibuch und Wahlverhalten waren. Allein zwischen 2007 und 2009, also innerhalb von nur drei Jahren, hat die Nea Dimokratia, die Schwesterpartei der CDU, aus diesem Grund etwa 200.000 neue Beamte in den Staatsdienst aufgenommen.

Dieses korrupte „System Griechenland“ diente einerseits dem Machterhalt einer seit etwa 100 Jahren regierenden Politikerdynastie, andererseits aber vor allem der Herrschaft einer Handvoll griechischer Oligarchen. Letztere hatten zu jeder Zeit Zugriff auf die Reichtümer des Landes – inklusive der europäischen Geldzuwendungen, wie z.B. die Struktur- und Kohäsionsfonds der EU. Bei allen internationalen Ausschreibungen erhielten die Firmen dieser Oligarchen den Zuschlag oder sie waren bei den Geschäften des griechischen Staates mit multinationalen Konzernen deren Juniorpartner (Konzerne wie z.B. Hochtief, Siemens, die Deutsche Telekom oder amerikanische, französische, deutsche Rüstungskonzerne). Kick-backs, Betrug, Schmiergeldzahlungen, also illegitime Geschäfte, waren an der Tagesordnung und schröpften in vielerlei Hinsicht das griechische Staatsvermögen.
Bislang sitzt nur ein einziger Repräsentant dieser „Regierungskriminalität“ im Gefängnis – der ehemalige Stellvertretende Vorsitzende der PASOK-Partei und damalige Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, der im Jahr 2000 von der Rostocker Ferrostaal AG 20 Millionen Euro Schwarzgeld auf sein Schweizer Konto überwiesen bekam, um für 2,84 Milliarden Euro deutsche U-Boote zu kaufen. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass es zum Prozess gegen Herrn Tsochatzopoulos vor drei Jahren nur darum kam, weil ein deutscher Staatsanwalt während des Schmiergeldprozesses gegen Ferrostaal in München auf einen griechischen Namen gestoßen war und diese Akten seinem griechischen Kollegen nach Athen geschickt hatte.

Um dieses durch und durch korrupte und für sie hoch profitable System aufrechtzuerhalten, baute die herrschende Machtelite eine mafiöse Herrschaftsstruktur auf, zu der auch Teile der Staatsanwaltschaft, der Polizei und die maßgeblichen Akteure der Finanzverwaltung gehörten. Den Regierenden kam außerdem zugute, dass fast 90% der Information, also fast die gesamte Presse – aber auch die bedeutendsten Fußball- und Basketball-Vereine –, in den Händen der fünf mächtigsten Oligarchen waren und bis heute sind. Diese hievten je nach Interessenlage entweder die eine oder die andere der beiden Herrschafts-Parteien an die Macht. Allerdings blieben die Struktur und die Akteure immer dieselben.
Das „Geschäftsmodell“ auf Kosten der griechischen und europäischen Steuerzahler war jedenfalls überaus lukrativ, denn die Politikerkaste konnte zusammen mit den Oligarchen die Staatskassen plündern, Schulden machen, jede für das Land wichtige langfristige Investition vermeiden und nationale Interessen ignorieren.

Die Konsequenzen dieser Politik waren verheerend für Griechenland. Zusammen mit den starken Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008 führten sie direkt in die Katastrophe. Jetzt, da der tote Körper der griechischen Gesellschaft auf dem Seziertisch liegt, kann man während der Obduktion folgendes feststellen:

1. Griechenland ist kein souveräner Staat mehr. Alle maßgeblichen Gesetze werden in Brüssel verfasst. Die griechische Regierung – egal welcher Coloeur –, aber auch das griechische Parlament sind nur noch dazu da, die von außen diktierte Politik abzunicken und umzusetzen. Dieser Zustand einer „Schuldenkolonie“ soll nach dem Willen aller Hauptakteure Jahrzehnte währen. Darum fände ich es ehrlicher, wenn nicht nur alle Gesetze in Brüssel geschrieben, sondern auch, wenn Brüsseler Technokraten diese Gesetze in Griechenland durchsetzen würden.

2. Die Demokratie in ihrem ursprünglichen Verständnis existiert in Griechenland nicht mehr. Sie war seit langem sehr beschädigt, aber seit dem Ausbruch der immer noch anhaltenden wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Krise verlor das grundlegendste demokratische Prinzip – dass das Volk der Souverän sei – jede gesellschaftspolitische Grundlage. Unabhängig davon, was richtig und was falsch ist, muss man nüchtern feststellen, dass nach der 180-Grad-Wendung von Herrn Tsipras, die dem Referendum folgte, und nachdem das 3. Memorandum unterschrieben wurde, Wahlen ohnehin nur noch Makulatur und Augenauswischerei sind.

3. Auch unter den Bedingungen der Krise konnte sich in Griechenland keine Zivilgesellschaft außerhalb der Parteistrukturen formieren. Das Tragische an dieser Situation ist, dass sich zu Beginn der Krise 2010 die Interessen der mächtigen europäischen Länder Deutschland und Frankreich mit den Interessen des mafiösen Herrschaftssystems in Griechenland vereinbaren ließen. Die deutsche und die französische Regierung wollten nach der Bankenkrise von 2008 ihren Wählern nicht die Wahrheit zumuten, dass sich ihre Banken in Griechenland verzockt hatten und mit über 100 Milliarden gerettet werden mussten, also bürdeten sie den „gierigen und faulen Griechen“ die alleinige Schuld auf und gaben ihnen 2011 die 110 Milliarden Euro, die komplett an die französischen und deutschen Banken gingen. Davon blieb nichts in Griechenland hängen. Diese Transaktion konnte nur zusammen mit den alten Machteliten durchgeführt werden, also mit jenen, die durch Klientelismus, Vetternwirtschaft, geduldete Massen-Steuerhinterziehung, Schmiergeldzahlungen, Betrug und organisierte Staats-Kriminalität die Krise in Griechenland überhaupt hervorgerrufen hatten. Die Triebfedern der alten Politikerdynastien waren ihr Streben nach Machterhalt und ihre Angst, sonst im Gefängnis zu landen – also stimmten sie allem zu und setzten alles durch, was in Brüssel und Berlin angeordnet wurde.

Diese unheilige Allianz hatte – aus sehr unterschiedlichen Gründen – ein großes gemeinsames Interesse daran, eine im Entstehen befindliche Zivilgesellschaft zu unterdrücken, so dass letztendlich die griechische Bevölkerung das einzige Opfer dieser Geschichte ist. Das oligarchische System in Griechenland dagegen wurde während der ersten fünf Jahre der Krise nicht nur „verschont“, sondern systematisch weiter ausgebaut und gefestigt, leider mit dem Wissen und der Unterstützung des europäischen Establishments. Das führte dazu, dass aufgrund der Entscheidungen der europäischen Spitzenpolitiker drei Dinge passierten: die griechische Bevölkerung ist dramatisch verarmt, die Banken sind gerettet und die europäischen Steuerzahler haften für 340 Milliarden Euro. Was für eine Bilanz!

Sowohl die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2015 als auch des Referendums zeugen von einem letzten Aufbäumen der Bevölkerung, das alte korrupte System loszuwerden, einen Neuanfang zu wagen und sich selbst zu retten. Doch das ist weder im Interesse des griechischen noch des europäischen Establishments, darum gilt der Befund: Griechenland (als unabhängiger Staat, als selbstbestimmte Nation) hat sich selbst „vernichtet“ – und Europa hat zugeschaut, sich höhnend, drohend, richtend geäußert, hat sich eingeschaltet und mitgemacht. Doch diese Geschichte von Ursache und Wirkung ist noch nicht zu Ende.

© Asteris Kutulas, 2015

Der verpasste „Grexit“

Athener Tagebuch, 30.7.2015 (Rückflug)

Vierfüßige Schlangen

Während der Pressekonferenz zur Gründung der HELLAS FILMBOX BERLIN fragte gestern im Außenministerium eine junge Journalistin den deutschen Kultur-Presse-Attaché, welchen griechischen Lieblingsfilm er habe. Er antwortet: „My Big Fat Greek Wedding“. Woraufhin der griechische Kulturminister erwiderte: „Im Gegensatz zu unseren deutschen Freunden, die – wie es sich herausstellt – keine griechischen Filme kennen, kenne ich alle Filme von Schlöndorff, Wenders, von Trotta, Herzog, Fassbinder etc. Diese Filme haben mir geholfen, die deutsche Realität und die deutsche Mentalität zu begreifen. Unsere deutschen Freunde jedoch wissen offensichtlich gar nichts über uns … außer einigen touristischen Allgemeinplätzen. Vielleicht hilft die Hellas Filmbox Berlin, dieses griechische Filmfestival in der deutschen Hauptstadt, das zu ändern.“

Jemand erzählte mir im Flugzeug, es habe in der so genannten Urzeit vierfüßige Schlangen gegeben. „Schlangen mit Füßen?“, fragte ich. „Wozu Füße?“ Sie lebten unter der Erde, so die Erklärung, in Höhlen, und gruben sich an die Erdoberfläche vor. Ein grässliches, sechzehnfüßiges Reptil schlief bis eben hinter dem Imithos-Berg. Kavafis hat in seinem Gedicht davon erzählt: Manchmal, alle paar Jahrhunderte, erwacht es und zuckt kurz mit dem Lid, dann schläft es weiter. Diesmal nicht. Diesmal behält es die Augen etwas länger offen, spürt seinen Hunger, richtet sich auf, öffnet seinen Rachen und rollt seine Zungen aus. Es muss kein Feuer speien. Es muss nicht brüllen. Keine Kraftverschwendung. Nur die Zungen ausrollen und sich holen, was zu holen ist. Häuser, Wohnungen, Gärten und was die Menschen sonst noch haben. Die Ersparnisse von den Konten werden langsam abgeräumt. Das Reptil hat keine Eile. In Grenzregionen bringen sie das Geld nach Bulgarien. Den Zungen des Reptils sind Grenzen einerlei.

Morgen werd ich im Babylon stehen und sagen „DANCE FIGHT LOVE DIE – Unterwegs mit Mikis“. Ja, ich will ertrinken in meinen Bildern. Absichtlich. Bevor die Zungen des Reptils uns holen. Aus 39 Grad in Athen stürze ich runter auf 16 Grad in Berlin oder rauf. Je nachdem, wie man das verstehen möchte.

© Asteris Kutulas, 17.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

 

Athener Tagebuch, 29.7.2015

Mikis Theodorakis wird 90

Heute hat Mikis Geburtstag. Ich bekam vormittags die Nachricht, dass es ihm nicht gut geht und er darum alle Verabredungen abgesagt hat. Kaum ein Fernseh- und Rundfunk-Sender, kaum eine Zeitung oder Zeitschrift ohne eine große Würdigung. Konzerte im ganzen Land. Selbst in Deutschland ein Tsunami von Veröffentlichungen in den Medien. Fast alle Zeitungen widmen Theodorakis halbe oder ganze Seiten. Süddeutsche, Welt, Tagesspiegel etc., mehr als 100 Publikationen am heutigen Tag allein in Deutschland. Kurz vor 18 Uhr überraschend der Anruf. Mikis ließ anfragen, wo ich denn bleibe, ich solle vorbeikommen.
Ich wollte schon immer mal wissen, wie große Komponisten ihren 90. Geburtstag feiern. Nun hab ich es erfahren: Mikis, leicht aufgerichtet in seinem Liegesessel, verfolgt im Fernsehen das Basketballspiel Litauen-Türkei. Weiter hinten der Parthenon und darüber der weite Himmel.
Mikis: „Da bist du ja. Ich wollte dich noch mal sehen, bevor du morgen nach Deutschland zurückfliegst.“ Er setzt die Sonnenbrille ab und zeigt auf sein rechtes Auge: „Siehst du“, sagt er. „Das Melanom verblasst langsam.“ Ein riesengroßer Bluterguss, seit Tagen auf seiner rechten Gesichtshälfte. „Deswegen hab ich die ganze Zeit die Sonnenbrille auf. Ich bin ja sonst nicht vorzeigbar.“ Ich frage ihn: „Wie ist denn das passiert?“ Er setzt die Sonnenbrille wieder auf: „Das, was mit Griechenland passiert, hat auf mich psychosomatische Auswirkungen …“ Er lächelt und schiebt die Fernbedienung ein Stück zur Seite. „Weißt du was … Diese Werke, die ich nicht geschrieben habe, die stören meinen Schlaf, immerzu …“ – „Na, dann schreib doch einfach noch was auf davon“, erwidere ich. Mikis führt seinen Zeigefinger zum Kopf und rollt mit den Augen: „Die Musik hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wann sie aufgeschrieben werden will. Jedenfalls – diese ungeschriebenen Werke rebellieren. Sie lassen mich nicht schlafen.“
Ich sage: „Schade, dass du heute nicht zum Konzert kommst. Alle erwarten dich dort. Mein Freund Jaka ist nur deshalb aus Berlin gekommen. Er hat vor zwei Jahren mit seiner Cinema for Peace Foundation unseren „Recycling-Medea“-Film unterstützt.“ Mikis greift nach rechts und hält die neueste CD mit seiner Musik in der Hand, ECHOWAND. „Johanna Krumin singt das so, dass man zuhören muss. Näher kann man mir als Musiker nicht sein.“ Mikis signiert die CD und sagt: „Zu seinem 90. Geburtstag schenkt Mikis Theodorakis Herrn Jaka die CD ECHOWAND.“ Er dreht den Kopf zum Fernseher. „Ich muss jetzt gehen“, sage ich. „Das Konzert fängt bald an.“
Am Fahrstuhl passt R. mich ab. „Nein nein nein nein …, du kannst noch nicht gehen. Jetzt kommt die Geburtstagsparty.“ – „Was!?“, frage ich. R. drückt mir die Torte in die Hand. In der Mitte steckt eine brennende Kerze. Auf der Torte steht: „Mikis Theodorakis zum 90. Geburtstag“. R. schiebt mich vor sich her. Ich wieder zurück durch die Tür, mit der Torte in den Händen, dann R., ihr folgen Mikis’ Krankenschwester und zwei seiner Mitarbeiter. Mikis pustet freudig die Kerze aus, lehnt sich zurück und sagt mit breitem Lächeln: „Was für eine schöne Geburtstagsparty … Jetzt lasst mich aber weiter das Spiel Türkei gegen Litauen sehen.“

© Asteris Kutulas, 29.7.2015

Cover Photo with Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas, Els Bolkenstein – Berlin 1984 – Rehearsals for the premiere of the 3rd Symphony

Photo with Mikis Theodorakis & Asteris Kutulas, Gewandhaus Leipzig, 1983

Athener Tagebuch, 28.7.2015

Athener Air-condition

Bei einem Gespräch mit meinem Freund Makis kommen wir auf die schwülen und sehr heissen Nächte zu sprechen. Er erzählt mir über sein Air-condition-Gerät, das die Temperatur konstant auf 25 Grad hält; es schaltet sich automatisch ein und aus. Die Maschine macht draußen über der Balkontür Lärm, so dass die Nachbarin keine Ruhe findet. Makis hätte eigentlich ein herrlich temperiertes Zimmer, nachts, so dass er leicht in den Schlaf kommen könnte, aber zur gleichen Zeit würde seine Nachbarin nicht schlafen können, weil das Gerät zu laut ist. Also kein Air-condition; es ist wieder wie früher, kein Abkühl-Komfort. Das Ergebnis: Beide, sowohl Makis als auch die Nachbarin, können nicht schlafen, weil es in den Zimmern zu warm ist. Makis: „Wir üben Wachliege-Solidarität. Im ganzen Land übt jeder irgendeine Form von Solidarität. Es gibt hunderte neue Formen von Solidarität. Auch solche: gemeinschaftliches Nicht-in-den-Schlaf-Kommen. Uns mangelt’s nicht an Phantasie.“

Von den Bouzouki-Kneipen, von denen es vor wenigen Jahren in Athen noch sehr viele gab, können sich nur noch wenige gerade so über Wasser halten, sagte Fotis, nachdem ich ihn danach gefragt hatte. Ich hatte geglaubt, diese „Schuppen“ würden niemals schließen. Auf diese Art der Unterhaltung würde man nicht verzichten. Whisky trinken, Teller zerschmeißen, Nelken auf die Bühne werfen, Tanzen, eines der griechischen Klischees bestätigen, weil einem „einfach danach ist“. Irrtum. Es gibt inzwischen Orte, wo alle Sitzplätze bei einem Abend mit klassischer Musik besetzt sind, weil sonst kulturell nichts mehr stattfindet und man nirgendwo sonst ein Konzert erleben kann, und dieser eine Pianist …, wahrscheinlich verzichtet er auf die Gage. Vor hundert Jahren sangen die Rembeten in den Lokalen zusammen: „Emis tha sissoume kai na imaste ftochi – Leben werden wir, auch wenn wir arm sind.“ Offenbar war man in Athen vor hundert Jahren wohl irgendwie reicher als jetzt. Seferis’ Roman „Sechs Nächte auf der Akropolis“ erzählt von dieser Zeit. Vor einigen Jahren wurde beschlossen, wieder, wie zu der Zeit, in der die Romanhandlung spielt, die Akropolis in Vollmondnächten für Besucher zu öffnen. Eine Gruppe von Freunden würde sich, dessen bin ich sicher, auch jetzt finden können, um sich dem Mondlicht in solchen Nächten auszusetzen und damit ein Experiment zu wagen. Wird allerdings die Quatroika nicht darauf bestehen, umgehend eine Steuer auf das Mondlicht zu erheben?

© Asteris Kutulas, 28.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 27.7.2015

Unbeantwortete Fragen

Gestern eine Reihe „erregter“ Unterhaltungen gehabt. Ich werde als in Deutschland lebender Grieche stets in „Haftung“ genommen. Ich hatte auf Fragen keine Antwort, auf die ich selbst gern eine hätte, wie:

1) Die Troika und die deutsche Regierung haben seit 5 Jahren quasi die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik Griechenlands vorgegeben und jedes diesbezügliche Gesetz „vorgeschrieben“. Sie haben jede neue Tranche eines jeden „Rettungspakets“ von Fortschritten abhängig gemacht, z.B. davon, ob die MwSt. auf Diesel für Bauern 13% oder 23% betragen soll, was ein paar Milliönchen einbringt etc. Warum hat weder die Troika noch die deutsche Regierung jemals zur Bedingung für weitere Zahlungen an Griechenland gemacht, dass Gesetze verabschiedet und bilaterale Abkommen mit der Schweiz, Luxemburg, Großbritannien, Lichtenstein etc. getroffen werden, die zur Offenlegung von Schwarzgeldkonten und zur Steuerfluchtbekämpfung geführt hätten? Dafür wäre jeder griechische Bürger und jeder deutscher Steuerzahler der Troika und der deutschen Regierung dankbar gewesen. Martin Schulz behauptete immerhin, allein schon in der Schweiz lägen bis zu 200 Milliarden unversteuertes Griechen-Geld. Da geht es nicht um Millionen, sondern um „richtig Kohle“. (Und warum wurde diese einfache Frage der deutschen Regierung in keiner deutschen Talk-Show und in keinem Zeitungsartikel gestellt?)

2) Warum lässt „Europa“ zu, dass aufgrund einer finanziellen Krise innerhalb der EU täglich Menschen sterben? Warum wird dieses „Europa“, indem es durch aufgezwungene Austeritätsprogramme ganz bewusst z.B. zur Schließung von Krankenhäusern und zum Kollaps aller Sozialsysteme führt, selbst zum „Mörder“? Wieso schweigt die „europäische Familie“ zu diesem alltäglichen Sterben im „Hause ihrer griechischen Verwandten“? Warum verlangt man noch mehr menschlichen Blutzoll, um Banken zu retten und politische Macht ausüben zu können?

Auf diese und andere solcher Fragen kann ich einfach nicht antworten. Sie lassen einen mit der depremierenden Gewissheit zurück, dass es mit dem Kapitalismus nicht mehr so rund läuft und dass unsere Welt aus den Fugen geraten ist. Und dass Griechenland deshalb so schnell wie möglich DIESES Europa verlassen sollte, wenn es irgendwie als eigenständiges, demokratisches Land überleben will.

© Asteris Kutulas, 17.7.2015

 

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 26.7.2015

Kuckucksuhr und Eulen

Dimosthenis, ein 33-jähriger Bekannter aus Berlin, läuft mir am Syndagmaplatz über den Weg. Hat gerade Urlaub und ist vor drei Wochen nach Athen gekommen. Beim Wort „Urlaub“ hebt er die Arme und krallt mit den Fingern Gänsefüßchen-Zeichen in die Luft. Dimosthenis macht keine Scherze mehr, aus einem fröhlichen, sanftmütigen jungen Mann ist ein Getriebener geworden, „in dessen Kopf Mühlsteine zu mahlen begonnen haben“, wie er es formuliert. „Keine Ahnung, was ich noch machen soll. Ich bin jetzt drei Wochen hier und blank. Es hat sich alles verschärft. Wen auch immer ich treffe oder besuche, ob Freunde, frühere Mitschüler, Bekannte … Es gibt fast niemanden mehr, der mich nicht fragt, ob ich irgendwie helfen kann, ob ich ein paar Euro habe. Und niemand von denen will das. Allen steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Von mir aus geb ich ihnen alles, das ist nicht der Punkt, aber mein Geld ist alle. Hab schon über 2.500 Euro für Freunde und Familie ausgegeben.“

Das bringt mich auf eine Idee: Eigentlich sollte man Spree-Athen umtaufen in Spree-Berlin. Die Hauptstadt Deutschlands käme dann zu sich selbst und Griechenland vielleicht auch. Der Griechenland-Beauftragte Hans-Joachim Fuchtel war vor etwa zwei Jahren nach Griechenland gekommen und hatte dem damaligen griechischen Innenminister eine Schwarzwälder Kuckucksuhr mitgebracht. „Das ist etwas anderes, als Eulen nach Athen zu tragen“, sagte damals mein Bruder. Ich erinnerte ihn gestern daran. Er balancierte auf einer Gabel einige Melonenkerne von seinem Mund zum Teller und sagte lachend, die Melonenkerne nicht aus dem Blick lassend: „Ne Eulenuhr wär dann vielleicht doch besser gewesen. Die Kuckucksuhr hat nicht viel geholfen.“ – „Doch“, meinte meine Mutter trocken, „bald danach kam Syriza.“ Und dabei hieß es doch früher: Hüte dich vor Griechen, die mit Geschenken kommen.

Der Sytagma-Platz ist fast leer, die Athener verlassen die griechische Hauptstadt über den Sommer in ihre Dörfer und die, die es sich leisten können, machen noch irgendwie Urlaub. Dimosthenes erzählt weiter: „Einer meiner Mitschüler von damals, Christos, 33 wie ich, ist vor fünf Wochen an einem Herzinfarkt gestorben wegen des Stress’. Der war Sportler, der hatte Kondition, nicht geraucht, nicht getrunken, einen Gesünderen kannst du dir nicht vorstellen. Und das Mädchen, mit dem ich vor sechs Jahren noch zusammen war, hat inzwischen Krebs. Und mein Vater, der verzweifelt jetzt, weil er nicht weiß, wie helfen kann. Ich stehe da … Vor zwei Jahren, da trugen wir noch lustige T-Shirts: „Ich brauch keinen Sex mehr. Die Regierung fickt mich jeden Tag.“ Wir konnten noch scherzen damals.“

Ja, und sicher ist auch: Die Troika bleibt Griechenland treu. Wie Siegfried dem Roy, reimte gestern mein Bruder. Tsipras und Varoufakis waren jedenfalls die einzige (zumindest die erste) realistische Chance für die EU und insbesondere Deutschland, ihr Geld wiederzukriegen, jedenfalls einen grossen Teil des Geldes. Warum Herr Schäuble und die deutsche Regierung das nicht erkannt haben, bleibt ein Rätsel der Geschichte. (Wahrscheinlich hatten „höhere Ziele“ Priorität.)

Dimosthenis setzt zu seinem Schlussplädoyer an: „Mein Kollege Matthias in Berlin hat jeden Tag Angst vor Hartz 4, der sagt: „Grieche, sei froh, dass wir hier überhaupt noch was verdienen und erzähl mir nix von deinem Stress da in der Heimat.“ Für den da bin ich einer, der jammert, für die Leute hier in Griechenland bin ich einer, der vielleicht noch helfen kann… Ich bin der, der vor dir steht und dir erzählt, dass sein Konto leer ist und sich genauso beschissen fühlt wie alle anderen, die mir das gesagt haben.“ – Da mir gerade nichts Tröstendes einfällt erwidere ich: „Den Letzten beißen die Hunde, Dimostheni! So ist das nun mal, ob hier oder in Deutschland…“

© Asteris Kutulas, 26.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 24. & 25.7.2015

Die Zeit läuft ab …, 24.7.2015

Die Menschen wollen sprechen. Es gibt ein existenzielles Bedürfnis nach Kommunikation. Neben mir sitzt ein älterer Straßenbahnfahrer, der gerade Feierabend hat und mit der Metro nach Hause fährt. Er entpuppt sich als glühender Syriza-Anhänger. „Wir sind stolz darauf, diesen Kampf gegen die Troika geführt zu haben. Wir haben dadurch nicht nur Griechenland geändert, sondern auch Europa.“ Und obwohl ich nichts sage, insistiert er: „Glaub mir, mein Junge, sie haben einen Pyrrhussieg errungen.“

Viel Angst, gepaart mit Pathos, macht sich breit in Griechenland. Und auch die Gewissheit, dass Alexis Tsipras am Ende ist, noch bevor er überhaupt etwas beginnen konnte. Ihm bleiben vielleicht noch ein, zwei Monate, dann ist seine Zeit abgelaufen, dann gehört auch er zum griechischen Establishment, zum „System Griechenland“, das das Land ruiniert hat. In seiner Rede vor dem Parlament hieß es vorgestern: „Dieser Kampf wird nicht umsonst gewesen sein. Nur diejenigen Kämpfe sind umsonst, die nicht geführt werden.“ Das klingt sehr melancholisch, klingt nach Endspiel. Seine Partei bricht gerade auseinander, der geteilte Himmel über Athen bleibt geteilt, Griechenland bleibt eine Wunde. Im September wird es Neuwahlen geben; die nächste Tragödie steht uns bevor.

© Asteris Kutulas, 24.7.2015

 

Das ist kein Leben mehr…, 25.7.2016

Meine Mutter versucht immer wieder, mich in die Pflicht zu nehmen, als wäre ich verantwortlich für die Krise in den deutsch-griechischen Beziehungen: „Warum ziehen die deutschen Medien und Politiker dauernd diese Vergleiche zwischen den Griechen und den Bulgaren oder den Rumänen! In Bulgarien und Rumänien, da haben sie keine EU-Preise, keine 60% Jugendarbeitslosigkeit, das Gesundheitssystem ist dort nicht zusammengebrochen. In Griechenland sieht’s ganz anders aus. Die sozialen Systeme funktionieren nicht mehr. Man kann doch die Situation der drei Länder nicht gleichsetzen! Bei Lidl und im Media-Markt müssen wir deutsche Preise zahlen, haben aber nicht die Gehälter wie in Deutschland. Bei den Mieten sieht’s genauso aus. Meine Freundin hat einen 31-jährigen Sohn, arbeitslos; die 24-jährige Tochter studiert. Ihr Mann ist gestorben. Die leben zu dritt von 500 Euro und zahlen allein für die Miete einer winzigen Wohnung 250 Euro. Das ist ja kein Leben mehr. Und dann stellen deutsche Politiker diese Vergleiche an, als seien Menschen wie meine Freundin und ihre Kinder Idioten, die nicht kapieren würden, dass es ihnen blendend geht, im Vergleich zu den Menschen in Bulgarien oder Rumänien.“

Wenn ich meine Mutter so sprechen höre, dann fällt mir ein großer Unterschied in der Betrachtungsweise auf: Wenn Griechen sich über „die Deutschen“ kritisch äußern und manchmal auch ausflippen und fluchen, meinen sie niemals das deutsche Volk, sondern immer die Regierenden. Wenn Deutsche über die „Griechen“ urteilen, meinen sie zumeist – sehr stigmatisierend – die gesamte Bevölkerung und fast niemals die Regierung. Bis die Tsipras-Regierung an die Macht kam, schien es mir fast so, als würde die deutsche Öffentlichkeit das griechische Volk für das kriminelle Fehlverhalten seiner ehemaligen Regierungen verantwortlich machen.

© Asteris Kutulas, 25.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 23.7.2015

Beim Aussenminister

Heute beim griechischen Außenminister, Nikos Kotzias. Das Gebäude, in dem er arbeitet, gegenüber dem Parlament, gleich am Syndagmaplatz, neoklassizistisch, aus dem 19. Jahrhundert. Im Bewusstsein zu haben, dass das Land bankrott ist, wenn man sich durch die Athener Straßen bewegt, und mit dem Bewusstsein solchen Bewusstseins einen Flur in diesem Gebäude lang zu gehen, umgeben von Prunk und erhabener Anmutung – das macht aus dem Hirn etwas, das man unter der Knochenschale anschwellen fühlt. Und würde in Griechenland das Wort “Anarchie” nicht ohnehin gern in den Mund genommen, man würde es eines Tages in diesem Außenministerium plötzlich vernehmen, wenn es, kaum entstanden, zerbirst und Substanzen abgibt.
Der Außenminister sagt: “… Und man muss sich vorstellen, dieses Gebäude ist damals von Herrn Syngrou nicht etwa dem griechischen Staat vermacht worden, sondern ausdrücklich dem Außenminister Griechenlands.” Ich sehe Nikos Kotzias an und frage: “Das heißt?” Er antwortet: “Das heißt – wenn ich versuchen würde, in ein anderes Gebäude umzuziehen, in ein zweckmäßigeres oder geräumigeres oder schlichteres … in ein wie auch immer anderes eben, dann würde dieses Gebäude als Besitz zurückgehen an die Erben von Herrn Syngrou. Es gehört nur solange dem griechischen Staat, solange es die offizielle Residenz des griechischen Außenministers ist.” Das Innere des Außenministeriums hat den Außenminister in der Mache und umgekehrt erfüllt der Außenminister das Innere des Außenministeriums mit Leben. Auf Gedeih und Verderb. Kein Entkommen. Entweder Herr Syngrou, ein Banker, war Dialektiker aus Vergnügen oder ein Prophet, als er sich diese Bedingung einfallen ließ. Die Syngrou-Allee ist nach ihm benannt. Das Außenministerium-Gebäude war einmal sein Wohnhaus, entworfen von einem deutschen Architekten aus Radebeul in Sachsen, der fast nur in Griechenland gearbeitet hat. Der Außenminister muss jedenfalls ständig nach Ausgleich suchen.
Nikos Kotzias spricht perfekt Deutsch, hat Habermas in Griechenland herausgegeben und selbst mehr als 25 Bücher geschrieben. Er ist kein Syriza-Mitglied, und in der “Zeit” war zu lesen, dass er der einzige griechische Politiker ist, der Frau Merkel versteht.


Ich war heute mit R. in seinem Büro, um ihn zu fragen, ob man uns für die Pressekonferenz der Initiative der Deutsch-Griechischen Kulturassoziation, also für das griechische Filmfestival HELLAS FILMBOX BERLIN, in diesem Außenministerium einen Raum zur Verfügung stellen könnte. Eigentlich wollten wir die Pressekonferenz im Goethe-Institut organisieren, aber das Institut ist ab diesem Wochenende wegen der Sommerferien-Pause geschlossen. Ich sage zum Außenminister: “Sie müssen uns helfen. Die deutsch-griechischen Beziehungen waren seit dem Zweiten Weltkrieg niemals so schlecht wie jetzt, und wir wollen was tun, sie wieder zu verbessern.” Nikos Kotzias schaut zu seinem Assistenten und sagt: “Ok., das Außenministerium unterstützt die HELLAS FILMBOX BERLIN. Ihr könnt den Raum nutzen. Wird geklärt.” Herr Syngrou war wohl beides – Prophet und vergnügter Dialektiker.

© Asteris Kutulas, 23.7.2015

(Photos: © by  Ina Kutulas for Cover photo | © by DomQuichotte for Hellas Filmbox Photo with Sandra von Ruffin, Stathis Papadopoulos & Annabell Johannes)

Athener Tagebuch, 22.7.2015

Nebenwirkung: Amoklauf

23.20 Uhr. In Berlin, so erzählt mir Sebastian am Telefon, strömender Regen, Blitz und Donner – das hätte ich hier auch gern. Meine Mutter stellt Melone auf den Tisch, meint aber im selben Augenblick, ich solle endlich schlafen gehen. Wer kann hier schlafen. Es ist heiß. Die Kakerlaken vermehren sich vermutlich schnell. Und im Fernsehen läuft der Thriller „Parlamentsdebatte“.

War tagsüber im Studio bei Jannis gewesen, einem bekannten Dokumentarfilm-Regisseur. Er hat vor ein paar Jahren einen Film gemacht über Menschen, die durchdrehn und medikamentös behandelt werden. Als wir uns über seinen Film unterhielten, meinte er: “Naja, inzwischen sind hier alle irre geworden, total irre. Mir kommt es so vor, als hätte der deutsche Arzt versucht, seinen griechischen Patienten von einer Erkältung zu kurieren, verpasste ihm aber eine falsche Spritze, so dass der wegen der Nebenwirkungen Amok läuft.” Stefanos’ Blick ging ins Weite. “Du kannst die Irren hier nicht mehr kontrollieren. Jetzt laufen in Griechenland Millionen von Irren herum. Europa hat sein Irrenhaus, so ist das nun mal, wir ticken nicht mehr richtig. Der Arzt will seinen Kunstfehler nicht eingestehen und duckt sich weg. Wie auch immer – wir sind alle irre hier, jeder auf seine Weise.”

Im Fernsehen die Debatte zum zweiten Gesetzespaket, das zusammen mit dem von letzter Woche als Voraussetzung dient, damit Griechenland mit den europäischen Institutionen (die übrigens jetzt wieder Troika heißen) ein neues Memorandum verhandeln darf. Varoufakis erklärte dem CNN-Sender gestern: “Das neue „Rettungspaket“ wird der größte Misserfolg der Wirtschaftsgeschichte. Und es ist klar, dass das Ding nach hinten losgeht.”


Im Bestiarium des griechischen Parlaments ereignet sich derweil Unerhörtes. Regierungsmitglieder und auch die Parlamentspräsidentin bringen Gesetzesvorlagen ein und sagen im selben Augenblick: “Wir tun das, um Griechenland zu retten, aber wir wissen, dass es nicht das Richtige ist für Griechenland.” Ich glaube, sowas hat es in keinem Land bislang gegeben. Da kommt eine Gesetzesvorlage, und der Justizminister sagt: “Ok., ich bring die hier mal ein, aber es ist eine schlechte Gesetzesvorlage. Ich bring sie ein, weil ich sie einbringen muss.”
Was alle SYRIZA-Politiker damit meinen: Europa hält Griechenland die Pistole an die Schläfe und sagt: Unterschreibt einfach! Irgendwas werden wir schon aus euch machen. Hauptsache, ihr unterschreibt erstmal. Klar, da muss man ja irre werden.

© Asteris Kutulas, 22.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 21.7.2015

Die armen Ziegen…

Mittag. Bin in einem Café in Glifada, einem Vorort von Athen, und warte auf einen Freund. Der Fernseher läuft, ein Mann am Nebentisch flucht auf alle griechischen Politiker. Er wird Mitte 60 sein. Ab und an schaut er nach links oder rechts, als suche er in den Gesichtern der anderen im Café zu lesen, ob und wie jemand auf seine Flüche reagiert. Ich nehme einen großen Schluck von meinem griechischen Kaffee mit wenig Zucker und frage den Mann in sehr griechischer Art und Weise: “Was ist los, Bruder? Wo brennt der Schuh?” Es stellt sich heraus, dass der Mann ein General a. D. ist. Er befehligte ein Flugzeuggeschwader, das auf der Insel Chios stationiert war. Als der Mann mitbekommt, dass ich ein Grieche aus Deutschland bin, sagt er: “Diese alten korrupten, verkommenen, Politiker – die haben uns in diese Scheiße reingeritten.” Der Mann bebt am ganzen Körper, und ich versuche, ihn zu beruhigen. “Mein Junge, du hast doch keine Ahnung”, erklärt er mir. “Weißt du, was wir damals machen mussten, weißt du, welche Befehle ich auszuführen hatte? Da gab es doch diesen Plan der Wiederaufforstung kleiner griechischer Inseln, zur Verbesserung der Lebensbedingungen derer, die auf diesen Inseln lebten und dort Ziegen hielten. Auch Zisternen sollten gebaut werden. Dafür flossen Hunderte Millionen von Europa nach Griechenland. Diese Politikerschweine haben das Geld in die eigene Tasche gesteckt, und wir mussten die Drecksarbeit machen. Die armen Ziegen!” – “Was denn für Ziegen?”, frage ich. Der Mann erklärt mir: “Immer, wenn die Kontrollkommission aus Europa kam, um zu schauen, wie dieses Programm umgesetzt wird, erhielt ich den Befehl, mit meinen Chinook-Transporthubschraubern aus Chios Ziegen mit Netzen einzufangen und sie auf verschiedenen Inseln auszusetzen, damit die Kontrolleure sich am nächsten Tag vom Erfolg des Programms ein Bild machen konnten. Am übernächsten Tag haben wir die Ziegen dann zu den nächsten Inseln geflogen. Und viele der armen Ziegen sind dabei draufgegangen. Den Politikern war das völlig egal. Man sah ja nicht, dass die Hälfte der Ziegen nicht schlief, sondern einfach verreckt war. Was waren das nur für Menschen! Die armen Ziegen!”

© Asteris Kutulas, 21.7.2015

(Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 20.7.2015

Widerstand

Ich kann mit keinem Griechen, der weiß, dass ich in Berlin lebe, irgendein normales Gespräch führen. Ich werde ständig mit Fragen überhäuft. Heute besuchte ich einen fast achtzigjährigen alten Freund meines Vaters: „Sag mal Asteris, die Frau Merkel scheint doch eigentlich ganz in Ordnung zu sein, aber sie hat während dieser ganzen Krise, zu unserem ganzen Unglück hier nicht ein menschliches Wort gesagt. Das ist nicht in Ordnung. In Griechenland herrscht immer größeres Elend. Interessiert sie das gar nicht?“

Tatsächlich ist der neuen Regierung und deren Politik zu verdanken, dass der Weltöffentlichkeit zum ersten Mal die Folgen einer sehr rabiaten Austeritätspolitik bekannt geworden sind – wenigstens das. Und das ist nicht wenig. Selbst in Deutschland, wo dies nicht zum bisherigen öffentlichen Diskurs über den „faulen“ und „gierigen“ Griechen passte, offenbarte sich in vielen Beiträgen und Kommentaren – von der Süddeutschen bis zur FAZ, vom Spiegel bis zu Die Zeit, von ARD, ZDF bis zu n-tv – das ganze Ausmaß des Elends als direkte Folge einer gnadenlosen Sparpolitik, die in der Öffentlichkeit allerdings zuvor als „Allheilmittel gegen die Krise“ angepriesen worden war. Sowohl von den Vorgängerregierungen in Griechenland als auch von der Troika und der Weltpresse wurde diese Realität bis vor ein paar Monaten mehr oder minder verschwiegen. Vielen Griechen, das ist mir in den letzten Tagen klar geworden, schien der Diskurs zwischen Tsipras und Schäuble so zu verlaufen: „Bei uns sterben Menschen; wir müssen das stoppen.“ Antwort: „Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Verträge eingehalten werden müssen.“

Zum anderen fühlen sich viele Griechen bestärkt in ihrem „Widerstand gegen die da draußen“, weil die Auseinandersetzung ihrer neuen Regierung mit den europäischen Institutionen einen weltweiten öffentlichen Diskurs ins Rollen brachte, der als phänomenal bezeichnet werden kann. Tausende von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur etc. nahmen Stellung zu den beiden brennenden Problemen: 1) wie steht es um die „Demokratie“ von heute und von morgen, und 2) wie wird die „Zukunft“ zwischen den Regierungen und den Völkern gestaltet. Auch das hat es in diesem Ausmaß noch nie gegeben. Das kleine Griechenland hat irgendwie die Welt „verändert“, zumindest einen Anstoß dazu gegeben.

Ich sag zu dem alten Freund meines Vaters: „Ich bin dir so dankbar, dass du nicht auch auf die deutsche Regierung fluchst, ich kann’s nicht mehr hören …“ Er sieht mich an und zieht an seiner Zigarette. „Wenn wir Griechen aufhören würden, auf Merkel und Schäuble zu fluchen, die wir sowieso nicht kontrollieren können, und stattdessen anfangen, unsere eigene Gesellschaft auszumisten von all den Verbrechern, wären wir schon viel weiter. Was mich zuversichtlich macht: Die Zeit der alten Machteliten von PASOK und Neue Demokratie ist abgelaufen. Selbst wenn sie irgendwann wieder die Regierungsgeschäfte übernehmen sollten – Griechenland hat sich geändert.“ Damit hat er, glaube ich, recht.

© Asteris Kutulas, 20.7.2015

(Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 18. & 19.7.2015

Schizophrenie, 18.7.2015

Ich „diagnostiziere“ fast täglich meine Schizophrenie: In Griechenland „liebe“ ich Deutschland und „hasse“ Griechenland, aber in Deutschland „hasse“ ich Deutschland und „liebe“ Griechenland. Ich hasse den Neo-Nationalismus in Deutschland und ich hasse die selbstzerstörerische „Arroganz“ der Griechen.

Spät nachts treffe ich Sabrina, eine deutsche Kindergärtnerin, die vor einem Jahr „wegen der Liebe“ nach Griechenland gezogen ist. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, in Deutschland zu leben.“ – „Fehlt dir Köln nicht?“, frage ich sie. „Nein. Aber meine deutschen Freunde schon. Einfach ist’s hier nicht – und trotzdem hab ich ein tolles Lebensgefühl. Jeder hilft jedem.“
Am Keramikos-Platz viele Bars und Restaurants. Sabrina macht mich darauf aufmerksam, dass es dafür, dass wir Freitag-Abend haben, unglaublich leer ist. „Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen. Es herrscht sowas wie eine nationale Depression.“

Ich erinnerte mich an Makis‘ Aussage: An den Tagen vor der Volksabstimmung des „OXI“ zog es die Menschen auf die Straßen, in die Tavernen, in die Bars, sie wollten reden, sich austauschen, diskutieren. Seit dem Tag, da Tsipras in Brüssel den Bedingungen zugestimmt hat, bleiben alle zu Hause und warten, was passiert.

© Asteris Kutulas, 18.7.2015

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Alleine mit exotischen Tieren, 19.7.2015

Die Parkplatzsuche in Athen ist einfacher geworden. Sehr schwül heute, wenig Wolken, aber kein Smog, nicht zu vergleichen mit früher. Viele Familien mussten ihre Zweitwagen und viele auch ihre „Erstwagen“ verkaufen, weil sie sich kein Auto mehr leisten konnten. Bevor ich in die Stadt bin, war ich Koulourakia, Kringel kaufen, unser Frühstück. Angelos, der Bäcker, der gegenüber dem Wohnhaus meiner Mutter seinen Laden hat, stöhnte: „Ich musste mich von meinem BMW trennen. Jetzt fahr ich einen alten Fiat.“ Er weiß, dass ich in Berlin lebe, darum insistiert er, nachdem er mir die Tüte mit den Kringeln gereicht hat: „Du, Griechenland hat seit der Euro-Einführung, als die Zinsen fielen, wie verrückt deutsche Waren und auch deutsche Waffen gekauft. Wir waren Importweltmeister deutscher Mercedes’ und deutscher U-Boote. Jahrelang. Die damaligen Regierungen haben uns ständig aufgefordert: Nehmt einfach Kredite auf, kauft Waren, kauft, kauft, konsumiert – so funktioniert dieses System, das ist gut für’s Land! Wir wurden mit Kreditkarten überhäuft. Und wir haben gekauft. Keiner hat uns damals gewarnt, keiner hat gesagt: Halt, ihr könnt euch all das eigentlich nicht leisten! Auch Herr Schäuble hat das nicht verlauten lassen. Nein, ganz im Gegenteil.“

Es ist etwas passiert, seitdem Griechenland diese neue Regierung hat, etwas Ungeheurliches und für mich Unerwartetes: Viele Griechen sind „aufgeschreckt“ aus einer jahrelangen „tödlichen“ Lethargie; sie haben angefangen zu lesen, nachzudenken, ihr vom Konsum beherrschtes Leben zu hinterfragen, jetzt, da sie kein Geld mehr haben, es weiterzuführen – und je mehr ihre neue Regierung von „Europa“ (wie es hier so heißt) gedemütigt wird, desto mehr empfinden sie sich als „Kämpfende“, sie fühlen sich wieder als „Volk“, als ein zersplittertes zwar, aber als ein Volk im Widerstand gegen eine „alte Gesellschaft“, die dieses Volk nicht mehr will. Viele sind ängstlich, verunsichert, müde, fühlen sich hilflos, ohnmächtig einem täglichen Terror unzähliger Expertenmeinungen und politischer Aussagen ausgesetzt, die sie nicht mehr überblicken und einordnen können. Sie fühlen sich wie alleingelassen mit einigen exotischen, unbekannten Tieren, von denen sie gehört haben, dass diese gefährlich sind, aber nicht wissen, ob und wie diese angreifen.

Im Zentrum von Athen treffe ich mich mit Alekos, einem zwanzigjährigen IT-Spezialisten, der zur griechischen „Abteilung“ von Anonymus gehört. Er sagt: „Wenn du Souvlaki essen gehst, musst du ungesalzene bestellen.“ Ich schaue ihn fragend an. „Na ja, dann bezahlst du nur 13% Mehrwertsteuer; wenn du normal gesalzene nimmst, wird der neue Mehrwertsteuersatz von 23% berechnet.“ Ich traue meinen Ohren nicht. Er fährt fort: „Du musst auch beim Hackfleisch aufpassen: Wenn du keine 23% bezahlen willst, darf der Rindfleisch-Anteil nicht größer als 50% sein.“ Ich kann mich vor Lachen nicht mehr halten: „Damit beschäftigt ihr euch bei Anonymus?“ Er lässt ein Grinsen sehen: „Quatsch, wir lesen nur genau, was uns die Troika vordiktiert, dann handeln wir dementsprechend.“

© Asteris Kutulas, 19.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 17.7.2015

Brandstiftung

Meine Mutter sagt gerade: „Als hätten wir nicht schon genug durchgemacht – jetzt auch noch diese Brände.“ Der Imitosberg über Athen steht in Flammen. Alle gehen von Brandstiftung aus. Rauchschwaden ziehen über den Stadtteil, in dem wir wohnen. Militärflugzeuge und Löschhubschrauber der Feuerwehr jagen im Minutentakt über unsere Köpfe hinweg und lassen Tonnen von Meerwasser auf den glutheißen Berg runterstürzen. Für einen Augenblick vergisst die Nation den Euro und Brüssel, und plötzlich erscheint Herr Tsipras in der Zentrale des Katastrophenschutzes als Anteil nehmender Beobachter bei diesem Inferno. Meine Mutter seufzt erleichtert: „Endlich ist ERT (das Staatliche Fernsehen) zurück. Die sind wieder auf Sendung.“
Dieser Satz erinnert mich an viele ähnliche Aussagen in den letzten Tagen. Also gibt es doch noch etwas Verbindendes in diesem Land: die tiefe Abneigung vieler Griechen gegenüber den Fernsehmoderatoren und Privatsendern, die sich mit Lügen, Manipulationen und medialen „Ablenkungsmanövern“ so vehement für das alte System eingesetzt hatten, dass es zum Himmel stank.
Die privaten Fernsehanstalten gehören den Oligarchen, die Griechenland die letzten 40 Jahre ausgeblutet und die EU ausgenommen haben. Die Medien waren ihre stärkste Waffe, einerseits gegen das griechische Publikum – das sie einer gnadenlosen Gehirnwäsche unterzogen – und andererseits als politisches Druckmittel gegenüber den Regierungen, um ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen.


Elisa, eine Mathematikerin, erzählte gestern Abend: „Einige der bekanntesten Moderatoren stehen bei vielen Menschen auf der Hass-Skala noch über den alten Politikern (wie Samaras, Venizelos, Papandreou etc.) – und das will was heißen.“

© Asteris Kutulas, 17.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 16.7.2015

Die sind alle Taliban …

Gerade läuft im Parlament der „letzte Akt der Schande“ wie mein kommunistischer Freund, der ewige Student Makis sagt. Am Tisch wir beide und Rita, eine zwanzigjährige, sehr begabte Schauspielerin aus Thessaloniki, die in London bereits in zwei Hauptrollen spielen konnte, aber seit mehr als zwölf Monaten in Athen ohne Job gestrandet ist. Wir sitzen in einem Café und verfolgen im Fernsehen die Parlamentsdebatte über das neue Memorandum für Griechenland. Makis knabbert seine Sonnenblumenkerne und flucht ununterbrochen auf die SYRIZA-Regierung.
Tsipras sagt kurz vor der Abstimmung: „Ich hatte nur drei Möglichkeiten: 1. einen verheerenden Staatsbankrott, 2. ein für Griechenland sehr schlechtes Abkommen und 3. den von Herrn Schäuble vorgeschlagenen geordneten Grexit. Ich habe mich schweren Herzens für die meiner Meinung nach einzige gangbare Lösung entschieden: das furchtbare Abkommen.“ Ich persönlich hätte mich für die dritte Möglichkeit entschieden – den von Herrn Schäuble angebotenen Grexit –, das scheint mir sehr vernüftig und die besten Aussichten auf Erfolg für Griechenland zu haben, aber diesen Gedanken kann ich hier nicht laut äußern.

Athener Tagebuch Asteris Kutulas, Athen

Rita nimmt mich beiseite und sagt: „Ich halt es hier nicht länger aus mit diesen Griechen. Du verstehst das. Du lebst in Berlin. Hör dir deinen Freund Makis an. Das sind hier alles Taliban. Die wissen nicht, was sie wollen. Sehen die nicht, dass die deutsche Regierung unser Feind ist? Sie will uns vernichten, und Tsipras hat widerstanden.“ Ich nehme ihre Hand in meine Hände und sage: „Keiner will dich vernichten.“ Ihr steigen Tränen in die Augen, sie zieht ihre Hand zurück, stößt unsere drei Gläser vom Tisch und schreit: „Was kann ich dafür, dass ich so gut aussehe und dass mich jeder bescheuerte Regisseur und jeder bescheuerte Produzent beschlafen will? Ich will jedenfalls weder deren Plop-Love-Shots noch deren Kohle dafür. Ich will einfach arbeiten können und damit Geld verdienen. Ich werde dieses Scheißgriechenland verlassen. Taliban … Die sind alle Taliban.”

Viele Stunden nach der Abstimmung im Parlament und endlose Gespräche später nehme ich bei all meinen Bekannten und Freunden eine seltsame Mischung aus Wut und Erleichterung wahr – verbunden mit viel Trotz. Und die merkwürdige Gewissheit, die Makis so in Worte fasst: “Die deutsche Regierung hat uns geschlagen und gemartert, aber wir haben widerstanden und sind nicht besiegt.“ Und allseits die große Erleichterung, noch in der Euro-Zone zu sein – und sei es mit diesen harten Sparauflagen. Meine Tante sagt am Telefon: „Wir haben Krieg und Bürgerkrieg überstanden und auch die Juntazeit und das Kriegsrecht. Mach dir keine Sorgen um uns. Wir werden auch dieses Spardiktat noch überstehen.“

© Asteris Kutulas, 16.7.2015

(Athens Photos by © Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 15.7.2015

Die Jüngeren sind total abgeschrieben

Kurz vor der Parlamentsdebatte zum neuen Austeritätsprogramm der »Troika«. In der Innenstadt Demos. Molotowcocktails. Der Schwarze Block in Rage. Athen bleibt Athen.

In der Galerie Beton7 treffe ich Poppy. Erstaunlich, wie hartnäckig Kunst in Griechenland in diesen Zeiten der Verarmung und Hoffnungslosigkeit hervorgebracht wird. Ausstellungen, Installationen, Theaterstücke, Filme. Ohne Finanzierung, mit viel Energie und teilweise auf einem unglaublich hohen künstlerischen Niveau. Was die griechischen Autoren der letzten hundert Jahre anbelangt, so ist mir das vertraut. Einige stellten das Schreiben selbst mit erfrorenen Fingern nicht ein. Das Land hat eine Tradition in Kunstproduktion unter widrigsten Bedingungen. Diese formte sich in Zeiten von Okkupation, Krieg, Junta und Verfolgung und war jedesmal gelebter Widerstand. Auf Bedrohungen reagiert der Mensch hier oft mit Kunst.

Poppy sagt: »Was uns fehlt, sind Visionen.« Und dann: »Wir Jüngeren sind total abgeschrieben. Ist dir schon mal aufgefallen, dass im griechischen Fernsehen keine Menschen aus der Altersgruppe der Unterdreißigjährigen zu sehen sind? Wir gehören nicht zur griechischen Gesellschaft. Die da oben machen keine Politik für die Zukunft; wir sind nicht auf ihrem Radar, wir existieren gar nicht. Wir dürfen gehen. Hast du einen Job für mich in Berlin?« – »Wovon lebst du?« frage ich. Ein schnelles Schulterzucken: »Alle Vorstellungen des Nationaltheaters sind abgesagt worden. Unterrichten kann ich auch nicht mehr, weil niemand mehr Geld hat. Es verdient ja kaum einer noch was.«

Ich blinzele und frage dann grinsend: »Gibst du mir einen Kaffee aus?« Sie: »Meinem deutschen Freund immer.« Poppy bestellt an der Bar einen doppelten Espresso. Dann fährt sie fort: »Weißt du, es ist doch egal, was Frau Merkel und Herr Schäuble vorhaben. Das Problem ist, was wir tun oder was wir nicht tun, hier in Griechenland. Warum kommt kein Politiker und sagt: Passt auf, wir machen jetzt ein gerechtes Steuersystem. Alle müssen bezahlen. Nicht nur die unteren Einkommensschichten, weil die keine andere Wahl haben, sondern auch der Rechtsanwalt, der Arzt und natürlich die Großen. Das muss jetzt endlich jemand durchsetzen. So geht es nicht weiter … Stell dir vor, ein Ministerpräsident würde sagen: Wir starten ein nationales Aufbauprogramm und beginnen damit, Griechenland unabhängig zu machen von Erdöl und Erdgas und langfristig sogar erneuerbare Energie zu exportieren. Stell dir vor, was das für Auswirkungen hätte! Arbeitsplätze, Klimaschutz. Das ist Hoffnung. Unabhängigkeit. Aber keiner tut es.«

© Asteris Kutulas, 15.7.2015

(Athens Photos by © Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 14.7.2015 (Theodorakis & Tsipras)

Die Zukunft verschwindet …

Wenige Wolken heute, große Hitze, blendendes Licht. Fast nicht zu glauben, dass sich uns etwas erhält von dem, das immer dagewesen war, in dieser Zeit der Auflösung. Wie sagte gestern mein Dichter-Freund Alexandros: „Die Zukunft verschwindet, und sie nimmt die Vergangenheit mit. Uns Griechen bleibt dieses Jetzt, in dem die Tage sich vereinzeln und voneinander isolieren wie Kapitel eines Buchs, das auseinanderfällt.“

Überall, wo ich heute unterwegs war, die lärmenden Zikaden. Eine Klangrealität Griechenlands, Sommer für Sommer, ein von Insekten erzeugtes, sehr lautes Geräusch, das es trotz aller Oleander- und Olivenbaumkübel in Berlin nicht gibt. Man kann also nicht alles kaufen.

Ausgerechnet heute – obwohl mein Bruder, der rechts von mir saß, behauptete: „Das ist kein Zufall.“ –, ausgerechnet mitten in dieser Woche des Zorns, des Aufruhrs, der Niedergeschlagenheit, der herbeigesehnten Hoffnung: plötzlich dieses Konzert in Athen. Gestern, kurz nach meiner Ankunft, rief D. mich an und fragte: „Kommst du morgen mit? Im Herodes-Attikus spielt das Staatsorchester Mikis’ Erste Sinfonie und Axion Esti.“ Mir war völlig klar, dass nur wenige Zeit, Lust und das Geld haben würden, um in diesen Tagen in so ein Konzert zu gehen, zumal fast alle Kulturveranstaltungen abgesagt worden sind.

Ich hab mich unglaublich geirrt. Innerhalb von drei Tagen waren die fünfeinhalbtausend Tickets ausverkauft. Hunderte Menschen versuchten vergeblich, irgendwie in das Theater unterhalb der Akropolis zu kommen. In den Sitzreihen ältere Leute neben sehr jungen, sehr viele Dreißig- und Vierzigjährige und eine Menge Touristen, die sich irgendwie eine Karte besorgen konnten.

Dann kam er. Mikis Theodorakis, der in zehn Tagen 90 Jahre alt wird, im Rollstuhl langsam hereingeschoben in dieses Theater unter freiem Himmel, weißes Haar, blaues Hemd, eine große dunkle Sonnenbrille. Die Menschen riss es hoch, sie empfingen ihn. Der Klang des Jubels, der aus dem Gemurmel hervorschoss wie eine Fontäne. Das sollte an diesem Abend mehrmals passieren.

In der aufgewühlten Stimmung dieser Tage ausgerechnet diese beiden Werke. Die Musik offenbarte sich als eine kathartische Antwort auf das Gezischel beim Gipfeltreffen der europäischen Staatsoberhäupter in Brüssel und auf alles, was darauf folgte. Zu Beginn die Erste Sinfonie. Ein Mensch gegen den andern – so klingt das. Griechenland ist seit seiner Gründung ein Bürgerkriegsland. Im 19. Jahrhundert die Anhänger der Russischen Partei gegen die Anhänger der Französischen Partei. Die Anhänger des Katharevusa-Griechisch gegen die Anhänger der Volkssprache Dimotiki. Später die Monarchisten gegen die Venizelisten/Republikaner. Die Nationalisten gegen die Kommunisten im Bürgerkrieg. Die Sozialisten der Zentrums-Union gegen die Konservative ERE-Partei. Die PASOK-Anhänger gegen die Neue-Demokratie-Anhänger. Wenige entzogen sich dieser Entweder-Oder-Bürgerkriegsideologie. Hauptvertreter dieser Wenigen war Mikis Theodorakis.

Die Erste Sinfonie, 1948/49 mitten im Bürgerkrieg komponiert, ist zweien seiner Freunde gewidmet, die in den unterschiedlichen Lagern gekämpft hatten und zu Tode kamen.

Im bipolaren Herrschaftssystem Griechenlands waren solche Sätze wie „Wir alle sind Griechen.“ und „Wir sollten uns nicht gegenseitig zerfleischen.“ außerordentlich rar und suspekt. Thedorakis, weil er so sprach und weil ihn „Parteigrenzen“ nie interessierten, war suspekt.

Seine Musik heute Abend für fünfeinhalbtausend Menschen die Katharsis. Es ist ihre eigene Musik, eine Offensive, eine poetische Befreiung aus dem Würgegriff „Brüssels“ und der „griechischen Politik“. Nimm dem Menschen die Luft – er wird darum ringen. In der Pause sagte einer feixend: „Ha! Wir hier drinnen gehören zu den Begnadeten. Wir sind die Fünfeinhalbtausend, die das einatmen dürfen, während die andern vor den Fernsehern sitzen und sich anhören müssen, was Tsipras zu sagen hat nach seiner Kreuzigung.“

Dann „Axion esti“ (Lobgepriesen sei), das Oratorium auf der Grundlage einer Gedichtkomposition, für die der Dichter Odysseas Elytis 1979 den Literaturnobelpreis erhalten hat – eine ganz andere Art von „Nationalhymne“. Loukas Karytinos dirigiert, George Dalaras singt. Die Menschen auf den Rängen mit sich eins.

Athener Tagebuch 2015 Theodorakis Asteris Kutulas
Alexis Tsipras im griechischen TV

Als ich nach Hause komme, läuft der Fernseher. Stamatia, die Freundin meiner Mutter, die gerade zu Besuch ist, sagt den Satz: „Er hat sich mehrmals entschuldigt.“ Tsipras hat im griechischen Fernsehen gerade die erste Pressekonferenz nach der Einigung mit der EU gegeben. „Er hat sich mehrmals dafür entschuldigt, dass er nicht einhalten konnte, was er versprochen hatte; er hat gesagt, dass es für Griechenland ein schlechtes Abkommen ist – und für Europa. Dass ihm aber keine andere Wahl gelassen wurde, als das so zu akzeptieren. Und er hat es schweren Herzens akzeptiert.“ – „Und was sagst du jetzt dazu?“, frage ich. Meine Mutter dreht sich abrupt zu mir, sieht mich an und meint: „Es hat sich noch nie ein Premierminister bei uns entschuldigt. Noch nie. Die andern hätten hundertmal mehr Grund dazu gehabt. Weißt du was: Der sollte Ministerpräsident bleiben. Der ist der Einzige und der Erste, der den Oligarchen wirklich an den Kragen könnte.“

In den Nachrichten überschlagen sich die Kommentatoren.

© Asteris Kutulas, 14.7.2015 (Athener Tagebuch 2015 Theodorakis)

(Cover photo des Artikels Athener Tagebuch 2015 Theodorakis: Mikis Theodorakis & Asteris Kutulas, Gewandhaus Leipzig, Axion esti Probe, 1983)

Athener Tagebuch, 13. Juli 2015 (Hinflug)

Die Stadt hält die Luft an

Mir scheint, vieles ist anders als sonst. Athen verändert sich in kurzen Abständen, als gingen Wellen darüber. Lisa sagte vor vierzehn Tagen auf der Schönhauser Allee in Berlin: „In den letzten fünf Jahren bekamen wir in Griechenland jedes halbe Jahr einen Schock. Ich fühle mich, als hätte ich statt des Herzens einen Elektroschocker in meinem Körper, der von irgendwo außen ab und an betätigt wird.“

Auf dem Herflug in der ausgebuchten Maschine nach Athen eine befremdliche Atmosphäre an diesem Tag 1 nach der erneuten Brüsseler „Griechenland-Rettung“. Nachdem wir die angepeilte Flughöhe von 10.000 Metern erreicht haben, fragt mich meine Sitznachbarin, eine junge Frau: „Sie sind doch Grieche – oder? Werd ich in Griechenland als Deutsche Probleme haben?“ Und meine 76-jährige Mutter, die mich mit ihrem alten Skoda vom Flughafen abholt, will als erstes wissen: „Sag mal, was denken denn die ganz normalen Leute in Deutschland über uns? Hassen die uns auch alle so sehr wie Herr Schäuble? Wollen die sich auch an uns rächen, für irgendwas?“

Es ist seltsam still in Athen, als würde die Stadt die Luft anhalten. Ich bin unterwegs, um Freunde am Exarchia-Platz zu treffen. Die U-Bahn ist voll. Die Menschen eigenartig ruhig. An den Fahrkarten-Entwerterautomaten leuchtet es in Rot: Außer Betrieb. Weil die Banken geschlossen bleiben, hat die Regierung verfügt, dass in Athen bis auf weiteres alle Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos sind.

Am Exarchia-Platz, dem Treffpunkt der Athener Anarchisten-Szene, setze ich mich ins Café „Flora“. Stefanos P. kommt. Er erzählt, dass er vor kurzem arbeitslos geworden ist. Siebeneinhalb Jahre war er bei einer Druckerei beschäftigt. Jetzt bekommt er ein halbes Jahr lang monatlich 360 Euro Arbeitslosengeld. Danach nichts mehr. Stefanos ist außer sich, weil Tsipras in Brüssel „eingeknickt“ ist. „Das hätte er nicht unterschreiben dürfen“, sagt Stefanos erregt. „Es hilft Griechenland ja nicht, sondern so wird Griechenland unterjocht.“ Ich frage ihn, wie er überhaupt mit 360 Euro überleben kann. Er antwortet: „Frag mich lieber nicht. Ich muss mich irgendwie durchschlagen.“

Im Café Leere. Das Aircondition läuft, aber heute ist es nicht heiß. Ich schau kurz nach draußen. Auf dem Platz viele Menschen. Darunter drei, vier Männer, die lauthals gestikulierend in ihre Handys rufen. Stefanos bemerkt das und sagt: „Die bereiten den Aufstand vor. Am Mittwoch oder Donnerstag wollen zehntausend Anarchisten und etliche Linke gegen die Regierung protestieren. Dem müssten dann noch viele andere Menschen folgen und einen Generalstreik ausrufen.“ – „Und was passiert dann?“, frage ich. „Wir dürfen Tsipras das nicht durchgehen lassen. Wir haben beim Referendum ja nicht ohne Grund mit Nein gestimmt. Wir müssen Widerstand leisten.“ Dann schaut er auf die Uhr. Er reicht mir die Hand und verlässt das Café. Wolken am Himmel.

Zwanzig Minuten später kommt Alexandros. Er ist ein Dichter-Freund und arbeitet als Journalist. Wir haben uns lange nicht gesehen. „Weißt Du, was ich gerade mache?“, fragt er mich. „Ich übersetze gerade Texte eines ostdeutschen Autors. Wolfgang Hilbigs ICH – diesen Stasi-Roman.“ Alexandros bestellt einen Frappé und sagt unvermittelt: „Frau Merkel müsste doch eigentlich verstehen, was hier passiert! Dass das Volk auf die Barrikaden geht.“ Er streicht sich über den Nacken. „In Leipzig sind die doch auch damals auf die Straße gegangen. Und die hatten sogar was zu verlieren! Die hatten Arbeit, Wohnung, Essen war billig, Schule, Krankenversorgung. Und trotzdem hat’s denen gereicht. Die gingen auf die Straße ohne Plan, ohne Anführer. Mit vollem Risiko. Die haben irgendwelche Sätze gerufen. Wie war das …? Wir bleiben hier! Wir sind das Volk! Denen war klar, dass in ihrem Land Unrecht geschieht. Die hatten zu essen, aber sie hatten Hunger nach Freiheit. Wir haben auch so gefühlt und beim Referendum mit diesem Nein reagiert. Viele hier verstehen nicht, wie Frau Merkel, die doch aus Ostdeutschland kommt und das alles mitgemacht hat, für unsere Situation so wenig Verständnis hat und so knallhart bleibt.“

Versehentlich fegt Alexandros die Tasse vom Tisch, als er seine Worte mit einer schnellen Handbewegung unterstreicht. Der Rest vom Kaffee spritzt auf den Boden. Alexandros greift nach einer Serviette und sagt: „Das war die Hand von Frau Merkel, die uns vom Tisch kriegen muss. Die erwartet von uns etwas, was sie selbst nicht für sich gewollt hat damals in der DDR, als sie so alt war, wie wir jetzt. Wer soll das verstehen?“ Er schaut mich zweifelnd an. Ich als „deutscher Grieche“ müsste ja eine Antwort darauf haben.

Asteris Kutulas Wahl-Tagebuch 2015
Athens by night

Es ist 23.11 Uhr. Ich fahre mit der U-Bahn zurück bis zur Station in dem Viertel, in dem meine Mutter wohnt. Mein erster Tag in Griechenland geht zuende. Viele Fragen offen.

© Asteris Kutulas, 13.7.2015 | Photos by © Ina Kutulas

Herr Tsipras, verändern Sie endlich Griechenland!

Sehr geehrter Herr Tsipras,

bitte nehmen Sie den gestrigen Vorschlag von Herrn Schäuble auf und lassen Sie uns sofort den Euro verlassen. Eine bessere Gelegenheit hat es dafür in den letzten 5 Jahren nicht gegeben! Wir haben keine Chance innerhalb der Eurozone zu recovern. Das bisherige Argument, dass ein ungerodneter Grexaccident ins Chaos führen würde, gilt seit dem gestrigen Vorschlag des deutschen Finanzministers nicht mehr. Darin verspricht er finanzielle Unterstützung, humanitäre Hilfe und technischen Beistand bei der Wiedereinführung der Drachme – und das alles innerhalb der Eurozone (wie die anderen 10 Euroländer, die keinen Euro haben.).

Herr Tsipras, Griechenland ist bankrott, korrupt und nicht mehr souverän – Sie und SYRIZA sind NICHT dafür verantwortlich. Jetzt haben Sie die einmalige Chance, Griechenland radikal zu ändern und zu reformieren. Tun Sie es!

Asteris Kutulas

85% der unter 24-jährigen haben mit NEIN gestimmt

Die junge lost generation in Griechenland hat nichts zu verlieren – sie ist bereits von der Gesellschaft abgeschrieben, sie hat keine Perspektive – ausser das Land zu verlassen -, ist von Massenarbeitslosigkeit (zwischen 50 und 60%) betroffen, sie taucht nicht auf in den Sozialsystemen der Staates, sie hat keine Chance auf irgend eine Rente, sie ist nicht präsent in den griechischen Massenmedien, die zu über 90% den griechischen Oligarchen gehören. UND SIE HAT KEINE SCHULD AN DER MISERE, MUSS SIE ABER TÄGLICH AUSBADEN. Wie drückte es ein 17-Jähriger Anarchist mir gegenüber aus: „Unsere Eltern haben uns den Krieg erklärt – jetzt kriegen sie ihren Krieg.“

85% der unter 24-jährigen haben mit NEIN gewählt. Die griechischen Machteliten haben in den letzten 20 Jahren eine Scorched-Earth Policy gegenüber der jungen Generation durchgezogen, die seit 2008 dagegen immer wieder aufbegehrt. Alles, was aus den Mündern von Samaras, Venizelos, Voridis, Bakojanni etc. ertönt, erscheint ihnen als hohle Phrasen, diese Clique als das personifizierte Scheitern, das personifizierte „Übel“. – Und sie können einfach nichts anfangen mit den „europäischen Botschaften“, die sie aus Brüssel oder Berlin erreichen, da es ihnen „übersetzt“ wird von genau diesen griechischen „Loosern“, der „alten Politikerkaste“, der „korrupten Mafia der Bankrotteure“, der „alten Garde des Klientelismus“. Das sind einfach die falschen Verbündeten für Europa. (Nach dem Mauerfall wollte auch keiner mehr mit Krenz oder Schabowski zusammenarbeiten.)

Die jungen Leute in Griechenland leben seit 5 Jahren ein gesellschaftliches Desaster, für das sie nicht verantwortlich sind. Das „System Griechenland“ der letzten 30 Jahre hat sie geopfert.

Jetzt muss die Tsipras-Regierung liefern

Das NEIN hat gewonnen. (Und zwar mit einem Riesenvorsprung.) Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Bei diesem Terror fast der gesamten griechischen (und deutschen) Presse gegen die Tsipras-Regierung, bei diesen Armaggedon-Drohungen der Opposition, bei dieser immensen finanziellen Unterstützung des JA-Lagers, bei diesen Untergangs-Prophezeiungen des gesamten europäischen Establishments, bei diesem Wahl-Boykott der Kommunistischen Partei (die immerhin 8% Wählerstimmen hat) und vor allem unter der Fuchtel geschlossener Banken, drohender Pleite und unter der Prämisse, dass KEINER wusste/weiss, was der nächste Tag bringen wird: RESPEKT! RESPEKT! Vor allem die letzten Punkte zeigen, dass es vielen Griechen um mehr ging, als nur um Geld. Und umso schwerer wiegen die 61%. Aber trotzdem, wie ich gestern schrieb: WIR SIND ALLE GRIECHEN, lasst uns jetzt endlich unsere Hausaufgaben machen! Wir müssen endlich unser Land umkrempeln. Und jetzt muss die Regierung liefern. Ich stimme mit ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID überein, die vorhin im Wiener STANDARD schrieb: Die „griechische Regierung muss ihren Plan vorlegen, wie sie die Zukunft des Landes aktiv gestalten will. Wer etwas von anderen will, muss sich dann auch an Vereinbarungen halten. Reformen sind in vielen Bereichen notwendig. Nur Nein zu sagen reicht nicht – weder in Brüssel noch in Athen.“

Egal, was ihr wählt – wir sind alle Griechen!

Ich bin vorhin gefragt worden, was ich morgen wählen würde. Leute, egal, was ihr wählt, egal, was ihr denkt und fühlt: GEHT MORGEN WÄHLEN! Jedes JA, jedes NEIN ist besser, als nicht zu wählen. Morgen geht es meiner Meinung nach zunächst einmal um unser Selbstbestimmungsrecht, und es geht morgen auch um ein Zeichen dafür, dass wir die Volksabstimmung als „Institution“ stärken und diese uns für die Zukunft erhalten. Egal, wer diese Volksabstimmung gewinnt, die Demokratie gewinnt morgen auf jeden Fall, und somit gewinnt jeder von uns. Ich finde das toll. Denn das Wichtigste, was in den letzten Monaten passiert ist – und das kann uns keiner nehmen: Millionen von Griechen sind „aufgewacht“, haben gestritten, gelitten, haben „nachgedacht“, haben Widerstand geleistet oder sich „ergeben“, haben Hoffnung geschöpft oder resigniert. Ein unglaublich dynamischer, gesellschaftlicher Diskurs ist in Gang gekommen, natürlich vor allem in Griechenland (wo es so etwas lange Zeit nicht mehr gegeben hat), aber auch in Europa und sogar weltweit. Wie schrieb Jürgen Habermas anerkennend vor einigen Tagen: die Griechen haben „Sand ins Brüsseler Getriebe gestreut“. Egal, was morgen bei dieser Abstimmung herauskommt: Wir haben so oder so Geschichte geschrieben – und wir sind ALLE Griechen.

4.7.2015

Die griechische Krise und meine Liebe zu Deutschland

5 JAHRE GEGENSEITIGES DEUTSCH-GRIECHISCHES BASHING SIND GENUG! //

Ich schätze das Leben in Deutschland sehr, und ich schätze die Deutschen und ihre funktionierende Zivilgesellschaft – etwas, das wir in Griechenland nicht haben (eines unserer größten Probleme). Meine Seele ist zwar „griechisch“ durch und durch, aber mein Geist ist „deutsch“, und der liebt Bach und Mahler, Schubert, den Dresdner Kreuzchor, Schopenhauer, Hölderlin, Immanuel Kant, Hermann Hesse, Thomas Mann, Caspar David Friedrich, Gerhard Richter, Max Beckmann, Hannah Höch, Siegmar Polke, Joseph Beuys, Käthe Kollwitz, August Sander, Paul Celan, Martin Walser, Heiner Müller, Volker Braun, Christa Wolf, Wim Wenders, Adolf Endler, Hans Magnus Enzensberger, Bertold Brecht, Marlene Dietrich, Ernst Bloch, Hanns Eisler, Udo Lindenberg, Klaus Kinsky, Konstantin Wecker, Peter Stein, Pina Bausch, Wolf Biermann, Hannah Arendt, Rainer Werner Fassbinder usw. usf. – und ich liebe all meine zur Zeit etwas „diffusen“ deutschen Freunde.

Egal, was die Regierenden machen und wie sich einzelne Politiker und Journalisten verhalten, egal, wie zum Teil menschenverachtend die Bild-Zeitung gegen uns „gierige Griechen“ hetzt und uns in ihren Veröffentlichungen zu Bürgern Zweiter oder gar Dritter Klasse degradiert – denkt daran: Diese Journalisten sind nicht „Deutschland“. Viele Menschen in Deutschland schätzen uns Griechen, genauso wie wir Griechen Deutschland lieben. Vergeltet also nicht Gleiches mit Gleichem, selbst nicht in diesen Augenblicken „höchster Not“. Wir Griechen in Deutschland sind „Botschafter“ und „Über-Setzer“ zwischen den beiden Nationen; und gerade jetzt, da die deutsch-griechischen Beziehungen auf einem solchen Tiefpunkt angekommen sind, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie erlebt haben, sollten wir dementsprechend handeln und für Ausgleich sorgen… Kritisieren – ja, streiten – ja, parodieren – ja, aber nicht beleidigen, nicht herabsetzen, nicht entwürdigen. Wir sollten die Möglichkeiten des Dialogs und der Streitkultur ausschöpfen, sie aber niemals zerstören (auch wenn das schwer fällt).

Gert Hof, ein guter Freund, der leider vor ein paar Jahren den Kampf gegen den Krebs verloren hat, sagte immer: „Asteris, egal, was passiert ist, such den Fehler erst einmal bei dir.“ Darum sollten wir Griechen bei uns selbst anfangen – eine Prämisse, die mir so wichtig ist, dass ich mich gern selbst zitiere: Das derzeit für mich Erschreckende ist nämlich, dass ich beim Disput zwischen uns Griechen (sowohl in Griechenland als auch in der Diaspora) erlebe, welcher Dogmatismus herrscht, welche verbalen Erniedrigungen einander zugefügt werden, welcher Starrsinn noch immer besteht, welches Beharren darauf, dass die Ansichten eines anderen nichts wert sind, Schwachsinn oder Gedanken eines „Feindes“ oder gar „Verräters“. Die Zeiten des Bürgerkriegs und der „unnatürlichen Entzweiung“ sind längst vorbei, dachte ich, und vieles sei inzwischen anders, besser, offener. Dass es inzwischen selbstverständlich sein müsste, einander zuzuhören und tolerant zu sein. Dass inzwischen klar geworden sei, dass die politische und die emotionale Entzweiung der Griechen das Immunsystem des Landes geschwächt und zu zerstören begonnen haben. Dass dieser Prozess nicht weitergetrieben werden sollte. Dass jeder Einzelne sich dem verweigern müsste.

Ich hätte nie gedacht, dass nach so viel Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten, nach so viel Zeit, in der wir nicht unter Gewehrfeuerbeschuss waren, in der keine Bomben fielen, in der Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden, nach so viel Zeit, die uns gegeben war, um Abstand zu gewinnen, in uns zu gehen, tiefer zu sehen, unsere Ansichten auszutauschen, … dass nach so viel Zeit trotzdem so viel gegenseitige Verachtung, Abschätzigkeit und Hass herrschen und das Haar in der Suppe gesucht wird, während unser Land, Griechenland, das Land, das wir alle so nötig haben, den schlimmsten Niedergang seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und damit ein Verlust von Heimat stattfindet, der vor allem einen Verlust unserer kulturellen Identität und zugleich unserer „Menschlichkeit“ bedeutet. Griechenland wird nicht in einen politischen Dialog mit anderen Ländern kommen können, solange uns Griechen das nicht einmal im eigenen Sprachraum gelingt.

Unsere Freunde hier in Deutschland, unsere Kollegen und Nachbarn sind uns verbunden, weil sie uns als Philanthropen kennen und neben unserem Humor auch unsere Ernsthaftigkeit mögen (glaube ich jedenfalls). Wenn ich eingangs von der deutschen Zivilgesellschaft schrieb, die ich so sehr schätze, dann vor allem wegen der hier gelebten Meinungsfreiheit, die es ermöglicht, Kontroversen zu führen, einander zu kritisieren, ohne dass damit unweigerlich abgrundtiefe Verachtung, nicht endende Feindschaft und ein nicht enden wollendes Einander-Schlechtmachen oder so etwas wie „politische Sippenhaft“ einhergehen. Es ist mir in Deutschland wohl nie passiert, dass jemand an jemandem Kritik äußerte und im gleichen Atemzug erwähnte, aus welcher Familie der von ihm Kritisierte kommt, welcher Partei der Vater nahe steht, der Bruder usw. usf. Ich habe es leider aber sehr sehr oft erlebt, dass wir Griechen das sehr stark thematisieren und dass daraus niemals etwas Konstruktives resultierte. Wie viele wunderbare Projekte sind daran gescheitert … Für mich ist das die Fortsetzung des Bürgerkriegs – denn das war im Interesse der Machteliten unseres Landes auch in den letzten 40 Jahren -, der dadurch nie aufgehört hat, sondern unser Denken offensichtlich weiter bestimmt. Die Debatten in Deutschland empfinde ich dagegen oft als eine Wohltat, denn hier gibt es eine Welt auch neben und unter jener der „kalten Machtpolitik“. Lasst uns dort ansetzen und mit friedensfördernden Maßnahmen beginnen… Wir müssen die Trümmer des Krieges beiseite räumen – vielleicht endet er dadurch schneller.

Gottfried Bräunling und Asteris Kutulas
Gottfried Bräunling: Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen

Über Leichen …

Obwohl Frau Merkel und die deutsche Regierung bislang für die unglaubliche humanitäre Katastrophe in Griechenland nicht (oder nur teilweise) verantwortlich sind – dafür haben die griechischen Eliten, Politiker und Oligarchen die letzten Jahrzehnte schon selbst gesorgt -, so gehen sie doch ab jetzt „über Leichen“ in Griechenland.
So werden Frau Merkel, Herr Gabriel, Herr Schäuble & Co. in die Geschichte eingehen: als gnadenlose Machtpolitiker, die das Wohl der Banken (was nicht nur symbolisch gemeint ist) über das Wohl von Kindern, Jugendlichen und einer jahrelang „terrorisierten“ Bevölkerung stellen.
Das heutige „Europa“ ist mir egal (und hat sich wohl erübrigt), aber dass aufgrund einer konkreten Politik in den letzten Jahren Menschen tagtäglich sterben und die Demokratie ausser Kraft gesetzt wird (was Hand in Hand geht) – und dass das alles von unseren „europäischen Freunden“ wie selbstverständlich hingenommen wird – ist meiner Meinung nach monströs und offenbart, was uns die Zukunft wirklich bringen wird. 

Wir Griechen der Diaspora …

Zum 10jährigen Bestehen von EXANTAS und vor allem der gleichnamigen berliner deutsch-griechischen Zeitschrift …

Ich gehöre nicht mehr zur jüngeren Generation – obwohl die Übergänge fließend sind – und noch nicht zur so genannten alten, obwohl auch hier die Übergänge fließend sind. Und in diesem fließenden Prozess verstand ich mein Wirken, und das zusammen mit meiner Frau Ina, immer als ein Kontinuum.

Viele meiner Künstler-Kollegen haben im Bruch mit der Tradition ihre Bestimmung gesehen und ihre Möglichkeit, voranzukommen, was ich nachvollziehen kann. Ich dagegen fühlte mich immer und fühle mich bis heute zugehörig dem Griechenland- und Kunst-Verständnis eines Kavafis, Cacojannis, Seferis, Theodorakis, Ritsos, Chatzidakis, Kunduros, Anagnostakis, Angelopoulos, Tsarouchis, Mikroutsikos, Gavras, Elytis etc. – einem Verständnis, welches beinhaltet, dass sich das bzw. mein Griechisch-Sein über die griechische Sprache und die griechische Kultur definiert. Genau das ist für mich „Heimat“, mein „Land“, meine „Landschaft“. Von hier aus kann ich zurück in die Historie schauen, bis in die Antike und noch weiter zurück in die dunklen Jahrhunderte der chtonischen Zeit vor 1400 v.Chr., und zugleich in die Zukunft, die unsere Gegenwart ist, und in die andere Zukunft, die wir noch nicht kennen.

Aus meiner eigenen Erfahrung als Herausgeber zweier Zeitschriften zwischen 1988 und 1991 weiß ich, wie schwer es ist, streitbar, aber nicht unseriös, kritisch, aber nicht beleidigend, spannend, aber nicht „billig“ zu sein. Diesen Spagat und diese Versuchungen kenne ich gut.

Letztendlich halte ich genau das für das Beste, was möglich ist und wofür ich stets eingetreten bin: eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit, die die Möglichkeiten des Dialogs und der Streitkultur ausmachen. Das derzeit für mich Erschreckende ist nämlich, dass ich in der Diskussion zwischen Griechen (auch der Diaspora) erlebe, welcher Dogmatismus herrscht, welche verbalen Erniedrigungen einander zugefügt werden, welcher Starrsinn noch immer besteht, welches Beharren darauf, dass die Ansichten eines anderen nichts wert sind, Schwachsinn oder Gedanken eines „Feindes“ oder gar eines „Verräters“. Denn die Zeiten des Bürgerkriegs und der „unnatürlichen Entzweiung“ sind ja eigentlich vorbei und vieles inzwischen anders, besser, offener. Weil das Einander-Zuhören wichtig geworden sein müsste, die Toleranz. Weil inzwischen klar geworden sein müsste, dass die politische und die emotionale Entzweiung der Griechen das Immunsystem des Landes schwächten und zu zerstören begonnen haben. Dass dieser Prozess nicht weitergetrieben werden sollte. Dass jeder Einzelne sich dem verweigern müsste.

Ich hätte nie gedacht, dass nach so viel Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten, nach so viel Zeit, in der wir nicht unter Gewehrfeuerbeschuss waren, in der keine Bomben fielen, in der Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden, nach so viel Zeit, die uns gegeben war, um Abstand zu gewinnen, in uns zu gehen, tiefer zu sehen, unsere Ansichten auszutauschen, … dass nach so viel Zeit trotzdem so viel gegenseitige Verachtung, Abschätzigkeit und Hass herrschen und das Haar in der Suppe gesucht wird, während unser Land, Griechenland, das Land, das wir alle so nötig haben, den schlimmsten Niedergang seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und damit ein Verlust von Heimat stattfindet, der vor allem einen Verlust unserer kulturellen Identität und zugleich unserer „Menschlichkeit“ bedeutet.

Ich möchte nicht so weit gehen wie Giorgos Seferis, der am 5.1.1938 in seinem Tagebuch notierte: „Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das „Griechentum“ denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen“, um fast zwei Jahre später sein Leiden an Griechenland noch extremer zu formulieren: „Das, was sich am massivsten bemerkbar macht, ist dieses Faulende, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen … raushängende Zunge, schlaue, erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe es sich noch leben?“ (27.11.39)

Es ist wichtig, dass wir Griechen der Diaspora uns positionieren: als Griechen der Diaspora.

Griechen der Diaspora von Asteris Kutulas
Graffiti Athens (Photo © by Ina Kutulas)

EXANTAS ist eine jener „exterritorialen Vereine“, die ich als Sprachrohr wahrnehme, als ein Medium für eine solche „Heimat“ – für uns Griechen in der Diaspora.

Es ist diese Energie, die ich mir immer wünsche. Eigentlich: dieses Konglomerat, bestehend aus Energie, Konzentration und Arbeit. Viel Arbeit. Heraus kommt dann solch eine Publikation wie die Zeitschrift EXANTAS.

Also, Exantas-Team, macht weiter so! Auf See vergeht die Zeit sehr langsam; an Land weiß man nicht, wo sie geblieben ist.

© Asteris Kutulas – mit einem Beitrag von Ina Kutulas, Juni 2015

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Ein Aroma von Heimat
Die griechische politische Diaspora in den sozialistischen Ländern – von Ina Kutulas

Griechen kamen im 20. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland – als Gastarbeiter in den 60ern und 70ern, als politische Flüchtlinge während der Zeit der Junta (1967 bis 1974 ), während des Ersten Weltkriegs nach Görlitz (1916) und als Deportierte während des Zweiten Weltkriegs.

Eine besondere Geschichte haben die mehr als 1.200 zumeist Kinder, die als Flüchtlinge nach dem Ende des Bürgerkriegs 1949 in die damalige DDR kamen.

Das Schicksal dieser Bürgerkriegsflüchtlinge soll der Dokumentarfilm „Ein Aroma von Heimat“ thematisieren und den Blick öffnen für ein tragisches Schicksal der jüngeren, noch nicht sehr weit zurückliegenden Geschichte, für eine Epoche, deren Ereignisse und Folgen ursächlich zur gegenwärtigen Krisen-Situation Griechenlands beigetragen haben.

Der Bürgerkrieg (1946-49) verursachte einen tiefen Riss, welcher sich in der griechischen Gesellschaft auftat, die noch schwer litt an den Folgen des Terrors und der grausamen Verbrechen der Wehrmacht und der SS, die während des Zweiten Weltkriegs verübt worden waren. Zehntausende Tote, eine total zerstörte Wirtschaft, zwischenmenschliche Tragödien. Der Bürgerkrieg ließ den Menschen keine Atempause, während anderswo in Europa der Wiederaufbau begann. Der in Griechenland provozierte und geschürte Bürgerkrieg ließ Feindeslinien entstehen, die mitten durch Familien verliefen, nicht selten zwischen dem einen Bruder und dem anderen Bruder. Es war ein Kampf zwischen Linken und Rechten, zwischen Ost und West.

Der Kalte Krieg, der umschlug und in Griechenland auf Leben und Tod geführt wurde, war 1949 Auslöser für einen Exodus von 56.000 griechischen im Widerstand aktiven Partisanen, die mit ihren Familien in den sozialistischen Ländern Asyl fanden. Sie wurden – entsprechend einer Abmachung zwischen den so genannten sozialistischen Bruderparteien – nach einem „Schlüssel“ auf verschiedene Länder verteilt. Eine „politische Diaspora“, einmalig in dieser Art in der neueren Geschichte Europas.

12.000 Griechen fanden Aufnahme in der Sowjetunion, die meisten davon in Taschkent, 9.000 in Rumänien, 12.000 in der Tschechoslowakei, 11.5000 in Polen, 7.300 in Ungarn, 3.000 in Bulgarien, 1.100 in der DDR.

Die Besonderheit: In die DDR kamen vor allem griechische Kinder in Begleitung einiger Lehrer und erwachsener Betreuer. Die meisten von ihnen wurden untergebracht in Radebeul bei Dresden, einige auch in Leipzig, Erfurt, Zwickau, Chemnitz, Magdeburg, Brandenburg, Berlin, Saßnitz. Auf das Schicksal dieser in der DDR aufwachsenden griechischen Kinder, die später eine Berufsausbildung machten oder studierten, arbeiteten und Familien gründeten, konzentriert sich der Film.

Es waren 1.200 Einzelschicksale – Menschen, die über lange Zeit jedes neue Jahr begrüßten mit dem sehnsuchtsvollen Silvester-Spruch: „Und nächstes Jahr in der Heimat“.

1.200 Einzelschicksale in einer „Zwischenwelt“. 1.200 Menschen, die lebten mit dem Bild von einer Heimat, die es so nur in der Vorstellung, niemals aber in der Realität geben konnte, mit dem Traum von einer „neuen“ eigentlichen Heimat, was diese Menschen jedes Jahr hoffen ließ, ihr „Übergangszuhause“ endlich verlassen zu können

1.200 Menschen, die aus einem von Krieg und Bürgerkrieg zerrütteten Land hatten fliehen müssen, oft das Stigma der Niederlage im Rücken, die ihnen von Funktionären eingeflößte Hoffnung einer nahenden Rückkehr im Sinn, angekommen dort, von wo kurz vorher der Zweite Weltkrieg ausgegangen war und wo vieles noch in Trümmern lag.

Die Geschichte dieser griechischen Kinder in den DDR-Städten lässt – wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet – die europäische und speziell auch die deutsche Nachkriegsgeschichte sichtbar werden. Im Film sollen Menschen zu Wort kommen, die einerseits Opfer der Ideologien und des Kalten Krieges geworden waren, von denen jeder Einzelne andererseits aber auch „seines eigenen Glückes Schmied“ war, je nachdem, welche Entwicklung er in der DDR nahm. Nicht wenige von ihnen sind heute sogar der Meinung, dass sie in Griechenland selbst vermutlich nie eine so gute Ausbildung erhalten und z.B. nie so viel klassische Musik gehört hätten, nie so oft ins Theater oder in die Gemäldegalerie gegangen wären.

Zeitzeugen, Dokumente, die Orte in der DDR, wo „die Griechen“ damals lebten, lernten und arbeiteten, Freunde, Rückkehrer, Hiergebliebene, Familiengeschichten, die nächste Generation – es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich auf besondere Art und Weise aus den ganz privaten Geschichten ablesen lässt.
Die aktuelle, höchst kritische und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch sehr angespannte Situation Griechenlands lässt den grausamen Bürgerkrieg und dessen Folgen als eine der Ursachen für die derzeitigen Zustände erkennen. Dieses Trauma ist nicht nur eines der damals unmittelbar Betroffenen, sondern es ist eines, dessen Auswirkungen gegenwärtig im auch eklatanten Erstarken rechtsradikaler Kräfte sichtbar werden. Die Wunden haben sich niemals geschlossen, die Thematik wurde nur ansatzweise aufgearbeitet, viele der Feindschaften blieben bestehen und treten jetzt wieder offen zutage.

Diese Erkenntnis ist überraschend und über diese Umstände kaum etwas bekannt, aber der kaum noch wahrnehmbare Gegenwartsbezug ist trotzdem deutlich. Eine Geschichte aus dem Kalten Krieg, die ins Heute führt.

Ina Kutulas

„Sie hat einen Namen: Sie heißt Warwara Argiriou. Sie war meine Mutter.“ Von Petros Argiriou, ihrem Sohn

Ich habe die Auflistung derer, die sich wegen der Krise das Leben genommen haben, nicht mehr weitergeführt. Aber ich bin mir absolut sicher: seit gestern steht dort + 1. Ich bin mir dessen absolut sicher, denn dieses + 1, das zur Rechnerei des Todes hinzugekommen ist – das war … meine Mutter.
Ich habe mich von meinen Eltern emotional sehr früh abgenabelt, weil sie das System unterstützt und mich darauf vorbereitet haben, wie das in allen Haushalten zu der Zeit der Fall war.
In meinen Augen (denen eines Teenagers), war die emotionale Abnabelung von meinen Eltern ein titanischer Kampf gegen das System, das ich von kleinauf als deformiert und korrupt wahrgenommen hatte, ohne dass irgendwelche giftzüngigen politischen Kräfte mich hätten erst noch indoktrinieren und dazu erziehen müssen, gegen dieses System zu sein.
Natürlich, im gleichen Maße, wie ich recht hatte, hatte ich auch unrecht. Denn meine Eltern waren, wie Millionen andere Eltern auch, einfache und gutgläubige Menschen, sie waren gefangen in der Kredit-Konsum-Schulden-Falle ihrer Zeit. Ein tödlicher Irrtum für sie und meine Generation und für etliche Generationen, die noch kommen werden – doch es war ein Irrtum, der auf Unwissenheit beruhte.
Genau wegen dieser meiner frühzeitigen Abnabelung und weil ich mich von allen Eltern-Stereotypisierungen freigemacht habe, kann ich Ihnen ganz objektiv sagen:
Meine Mutter war eine Heilige. Wann immer sie eine Notsituation erkannte, nahm sie sich dieser Angelegenheit an. Sie verbrachte Jahre in den Krankenhäusern der Erniedrigung und des Leids als freiwillige Krankenbetreuerin und als Seelendoktor für Dutzende von Verwandten und Bekannten und Unbekannten.
Sie umarmte jedes Kind, das ihren Weg kreuzte. Ihre Seele ließ nicht den kleinsten Makel erkennen, nicht die geringste Arglist. Die grenzenlose Liebe meiner Mutter war das „Bindemittel“ unserer Familie.
Immerzu rastlos – ein so lebendiges Wesen hatte meine Mutter, dass sie darin all ihre Kinder übertraf.
Ohne zu jammern hat sie so viele Kreuze getragen. Nie beklagte sie sich wegen irgendetwas. Sie verlangte nichts für sich. Alles für die anderen.
Warwara für alle – und niemand für Warwara. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, um Hilfe zu bitten.
Die letzten Jahre waren ihre schwierigsten – selbst, nachdem sie schon so viel durchgemacht hatte.
Die Krise hielt auch in ihrem Leben, in ihrem Haushalt Einzug. Eine Zukunft für ihre drei Kinder, die alle studiert hatten, nicht in Sicht. Die Rente ihres Ehemannes radikal gekürzt. Ihre eigene Rente, die sie hart erarbeitet hatte und bis zum Schluss bekam, wurde um mehr als die Hälfte gekürzt. Eine Rente – geraubt von diesem Politiker-Lumpenpack.
Jeden Tag Vaters Klagen. Der Druck unerträglich. Der Psychoterror der Medien, der ständig darauf abzielte, uns dazu zu bringen, dass wir uns mit dem massenhaften Raub unseres Eigentums, unserer Würde, unseres Lebens abfinden würden.
Mutter lud sich eines jeden Kreuz auf. Sie arbeitete ohne Unterlass im Haushalt, auch nachts. Sie war unnachgiebig sich selbst gegenüber. Schonte sich nicht. Sie schlief jeden Tag nur vier Stunden, um alles perfekt zu erledigen.
Vor zwanzig Tagen brach meine gute Mutter plötzlich zusammen unter all dem Druck und Schmerz, der sich nach und nach in ihr aufgestaut hatte. Dieser kleine Ausbund von Leben, der so viel Energie in sich hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sie wollte nicht essen. Sie wollte nicht sprechen. Die Hilflosigkeit der Ärzte.
Irgendwann einmal hatten die Worte meiner Mutter – mit der ihnen innewohnenden, erhellenden Lebensweisheit – mich tief berührt, als sie zu mir sagte: „Mein Junge, ich bewundere dich. Du bist wie eine Phönix. Immer wenn du stürzt, erhebst du dich wieder.“
Ich hab versucht, ihr dieses Darlehen an Seelengröße zurückzugeben. Ihr zu sagen: Mutter, erinnerst du dich: Phönix – du und ich.
Aber die Dunkelheit hat ihren Lebensfunken erstickt. In ihrer Verwirrung sagte sie irres Zeug. Sie erzählte ihren Kindern – also uns -, dass sie uns umgebracht hat. Dass sie uns vernichtet hat.
Sie bat um Verständnis für ihr Verbrechen. Sie verlangte, sie der Polizei zu übergeben. Sie verlangte, man möge sie exemplarisch bestrafen. Eine Strafe, weil sie ihr ganzes Leben eine Heilige war.
Das Fernsehen sprach aus ihr. Sagte, sie habe das alles verschlungen. All die Milliarden. Sie war es, die sie geklaut hat. Sie verlangte, der Polizei übergeben zu werden.
Ihr war klar, welches Dunkel in ihrem Kopf herrschte. Sie kannte diese Krankheit sehr gut, nachdem sie geduldig schon soundso viele auf deren letztem Stück des Lebensweges begleitet hatte.

Sie wollte sich auf keinen Fall dieser Krankheit ergeben.
Sie ist unseren Händen entglitten.

Während andere in ihrem Alter den Tod fürchten, öffnete sie das Fenster des Schlafzimmers, in dieser schicksalhaften Sekunde, als unser Vater in die Küche ging, um die Herdplatte auszuschalten, und wagte ihren heroischen Ausbruch.
Still, ohne zu klagen, nahm sie ihre Kreuze mit, um ihren federleichten 43-Kilo-Körper etwas schwerer zu machen, damit der Tod sie ernst nähme, den sie im Hinblick auf sich selbst immer auf die leichte Schulter genommen hatte.
Der Tod machte aus meiner Mutter keine Heldin. Nicht so, wie er es mit dem Helden Dimitris Christoulas gemacht hatte. Eine Heldin war meine Mutter in ihrem Alltagsleben. Eine kleine, alltägliche Heldin.

Schreie drangen herauf.
Und gleich danach sahen wir sie, die sich vom Balkon gestürzt hatte, unten neben dem Müll liegen. Jeder aus unserer Familie, jeder von uns, die wir sie alle so sehr geliebt hatten, zerbrach. Die Säule unseres Zuhause brach, als ihre Knochen brachen.
Ein jeder von uns stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und krümmte sich schluchzend am Boden.
Wir gingen nach unten und dann in die wie vom Blitz getroffene Menge.

Unsere Mutter verließ uns so, wie wir sie gekannt hatten: ohne eine einzige Schramme. Ohne einen Tropfen Blut, der ihr Antlitz hätte beflecken können. Alles in ihr. Alle Verletzungen waren innere. Wie im Leben, so auch im Tod. Unser geliebtes kleines Mädchen.
Mein Vater riss sich die Haare aus. Mein kleines Vögelchen! Mein Lämmchen! Meine kleine Taube! Noch immer war er verliebt in sie, seine Gefährtin auf Lebenszeit. Er weinte nicht seinetwegen. Er weinte um sie. Keiner von uns weinte um seiner selbst willen. Wir alle weinten, weil wir etwas so Kostbares verloren hatten.

Ich bin ein Mörder, rief mein Vater. Ich bin ein Verbrecher.
Nein, mein Vater war kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Der seine geliebte Gefährtin verloren hat.

Meine Mutter hinterließ keinen Abschiedsbrief. Wir haben’s nicht mehr geschafft, Adieu zu sagen, ihre letzten Wünsche zu hören, ihre Hand zu halten, ihr über das Haar zu streichen, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie verließ uns wie eine, die vorangeht, stolz und allein.

Der Tod meiner Mutter wird uns noch mehr Schulden aufbürden. Wie ich schon vor Jahren das Schicksal unserer Heimat vorhergesagt habe: Wir bringen es fast nicht über uns, unsere Tote zu begraben, denn vor einigen Augenblicken war sie noch so lebendig.

Sie hat uns ein reiches Erbe hinterlassen. Ihre unendlich große Seele. Ein kleines Stück ihrer Seele, das unser zerrissenes Herz zusammenhält, unser Herz, in dem ihr sinnloser Tod eine klaffende Wunde hinterlassen hat.

Damit es uns nicht härter, sondern zu besseren Menschen macht. Ein Erbe, das wir ehrenvoll bewahren wollen. Ich hoffe … ich kann nur hoffen, dass wir uns als ihres Nachlasses würdig erweisen werden. Ihrer Liebe für alle Menschen.

Ich war einer der Ersten, der das Schicksal der durch die Krise zu Selbstmördern gemachten Menschen thematisiert hat. Eine von ihnen ist nun gekommen und hat uns, unser Leben heimgesucht. Meine Mutter hat uns davon überzeugen wollen, dass sie eine Mörderin war. Dass sie uns getötet hat. Meine Mutter war keine Mörderin. Sie war heilig. Mein Vater schrie, dass er ein Mörder ist. Weil er sie hatte sterben lassen. Er ist kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Weder ich bin ein Mörder noch sonst irgend jemand aus unserer Familie.
Ich weiß aber, wer der Mörder meiner Mutter ist. Natürlich war es nicht seine Hand, die sie aus dem Fenster stieß. Das geschah durch ihren eigenen Willen und mit Hilfe ihrer unbeugsamen, fast heroischen Hartnäckigkeit ihrer Würde.
Allerdings war es der Mörder, der die große und erdrückende Last auf ihren Rücken lud, ganz oben auf all die Kreuze, die sie seit Jahrzehnten freiwillig und ohne zu klagen mit ihren 43 Kilo getragen hatte.
Es war allerdings der Mörder, der diese unermüdliche, rastlose Frau zwang, gelähmt vor Scham im Bett zu bleiben, gleich neben dem Fenster, ihrem Fluchtweg aus dem Leben. Und nur dieses Fenster konnte sie noch als Ausweg aus einem inneren Schmerz sehen, der so fürchterlich war, dass sie ihm nicht mal mehr stammelnd hätte Ausdruck verleihen können.

Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes. Und für diesen Mörder muss die Todesstrafe wieder eingeführt werden.

Ewige Ruhe dir, unsere Warwara, geliebtes kleines Mädchen!

Freitag, 28. Juni 2013

© Übersetzt von Ina Kutulas

(Ich danke Petros Argiriou und Ina Kutulas für die Abdruckgenehmigung.)

„Die Juden sind an allem schuld“ … und „Jetzt sind’s die Griechen“

Diese Brandmarkung, diese Stigmatisierung des griechischen Volkes als „Schuldigen“ für alles, wofür die griechischen Machteliten und Oligarchen sowie das herrschende europäische „System“ verantwortlich sind, ist unerträglich geworden.

Was ich zudem als beschämend und entwürdigend für eine Vielzahl von „europäischen“ Politikern und Medien empfinde, ist nicht nur deren Arroganz und Herablassung dem griechischen Volk gegenüber, sondern vor allem ihre menschenverachtende Ignoranz: In Griechenland sterben aufgrund der sozialen Katastrophe tagtäglich Menschen, weil sie keine medizinische Versorgung mehr haben oder aus Verzweiflung Selbstmord verüben oder weil die Kindersterblichkeit aufgrund der Krise in die Höhe geschossen ist – es geht also um Leben und Tod –, und in Deutschland und vielerorts in Europa wird so „argumentiert“, als hätten es diese Tausenden von Opfern „verdient“, zugrunde zu gehen und auf diese Art und Weise von der Erdoberfläche zu verschwinden. Im besten Fall schweigt man darüber.

Die anhaltende Stimmungsmache gegen „die Griechen“ führt dazu, dass der griechische Botschafter in Berlin telefonisch Morddrohungen erhält und dass man mir in einem Berliner Lokal an den Kopf wirft, dass – wenn wir Griechen nicht endlich das tun würden, was man uns sagt – man uns ein paar Panzer „runterschicken“ wird. (Das haben bereits die USA 1967 gemacht und uns eine 7jährige Militärdiktatur beschert, zu der ja Herr Strauß und die CSU sehr gute Beziehungen unterhielten.)

Für mich als Germanisten, für den „LTI“ von Victor Klemperer seit 35 Jahren ein Kultbuch ist, stellt sich inzwischen immer vehementer die Frage, ob diese sprachliche Volksverhetzung und „Kriegstreiberei“ dazu führt, dass wir Griechen uns bald auch als „Juden“ fühlen werden – wie ein israelischer Freund mir letztes Jahr in Tel Aviv solidarisch anbot. Ich kam darauf, als ich 2013 auf einem Plakat des Jüdischen Museums von Berlin neben dessen Überschrift „Die Juden sind an allem schuld“ den hingekritzelten Satz las: „Jetzt sind’s die Griechen“.

Ich als Grieche und als deutscher Steuerzahler möchte jedenfalls nicht mehr Teil DIESES Europas sein. Das, was hier in Deutschland passiert, empfinde ich inzwischen als „Krieg“, angefacht von skrupel- und verantwortungslosen Politikern und Journalisten (bei weitem nicht alle, aber doch genug) … Wir Griechen müssen unbedingt raus aus dem Euro und raus aus DIESEM unmenschlichen Europa. Und wäre ich ein Jude, würde ich jetzt nach Israel auswandern … Mein Gott, was ist aus Deutschland geworden?

Asteris Kutulas
Berlin, 9.3.2015

P.S. – Ich habe in einer Analyse gelesen, dass in über 120 Ausgaben der Bild-Zeitung das herabsetzende Wort „Pleite-Griechen“ benutzt wurde, zumeist in fetten Titelzeilen. Und da fiel mir der treffende Satz von Klemperer ein: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (LTI)

Hier drei – der unzähligen – Beispiele aus den letzten zwei Wochen:

1) Spiegel online veröffentlichte folgenden Schmähbrief an einen griechischen Gastronomen in Düsseldorf:
„In der Sonne liegen ist doch viel bequemer, insbesondere wenn andere dafür aufkommen … So geht es nicht !! Wir werden, solange diese Regierung derart schäbig, insbesondere fleißige und sparsame Europäer und Deutsche verunglimpft und beleidigt, ganz sicher keine griechischen Waren mehr kaufen, sondern auch Euren Laden ab sofort nicht mehr betreten !! Verkauft doch Eure Waren besser nicht mehr an die „Scheißdeutschen“, sondern macht Euch auf und zurück in Euer korruptes, stinkendfaules und total unfähiges Drecksgriechenland !! Griechenland NEIN DANKE !!!!!!!!!

Griechen an allem schuld, Asteris Kutulas, Griechenland-Bashing
Spiegel Online, 04.03.2015

2) Auf Focus online lautet am 27.02.2015 die Schlagzeile zum Beitrag von online Redakteur Markus Voss: „Darauf einen Ouzo: Ein Drittel von Griechenland gehört bald uns“. Kein Kommentar – und ich mag die Assoziation, die ich dabei hatte, gar nicht aussprechen…

Asteris Kutulas, Griechenland-Bashing, Griechen an allem schuld
Focus online, 27.02.2015

3) Die Bildzeitung bezeichnete im Rahmen ihrer Aktion vom 26.02.2015 sämtliche Bürger Griechenlands als GIERIGE GRIECHEN – und tausende deutscher Mitbürger schlossen sich dieser Kampagne an.

Griechen an allem schuld, Asteris Kutulas

Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land

Griechenland im Umbruch – und bald unabhängig?

Kooperation von Griechenland, Türkei und Israel als Zukunftsmodell für Frieden und Wohlstand

Ein Traum, der nicht geträumt werden darf/kann/soll …

Bereits 2010 hatte ich drei UTOPISCHE Vorschläge gemacht, die meiner Meinung nach Grundlage dafür wären, Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte eine nationale Unabhängigkeit zu ermöglichen:

1) Griechenland verlässt die Euro-Zone und kehrt zur Drachme zurück.
Baut eine mächtige Steuerbehörde auf nach dem Vorbild der USA (inkl. aller diesbezüglichen Steuergesetze) und ermöglicht erstmals die Arbeit einer unabhängigen Staatsanwaltschaft. Kopplung der Steuerpflicht an die Staatsangehörigkeit, wie in den USA.

2) Erklärung eines neutralen Status’ wie ihn die Schweiz, Schweden oder Österreich haben, um aus der NATO austreten zu können (dadurch signifikante Senkung der Militärausgaben sowie die Möglichkeit, Punkt 3 zu realisieren)

3) neben der EU-Mitgliedschaft Aufbau einer strategisch engen Zusammenarbeit und späteren „Konföderation“ mit der Türkei, Zypern und Israel

Ein jüdischer, ein säkularisiert-islamischer und ein christlicher Staat gemeinsam in einer „Konföderation“ nach skandinavischem Muster – das ist eine Vision, die eine völlig neue Perspektive eröffnet, sowohl wirtschaftlich, kulturell, aber vor allem auch politisch und spirituell. „On the way“ dahin müssten wir gemeinsam (als Voraussetzung) das Zypernproblem und das Palästina-Problem lösen, um später diese beiden Länder in die Konföderation mit einzubeziehen.

Die Koalition sollte allen drei Ländern helfen, ihre nationale Souveränität zurück zu erlangen bzw. effektiver verteidigen zu können, vor allem aber ihre politisch-militärische Unabhängigkeit von den USA. Auch aus diesem Grund sollte Griechenland aus der NATO austreten und einen neutralen und pazifistischen Status einnehmen, der auch in der Verfassung verankert werden müsste. Israel würde eine solche Koalition helfen, seine Isolation in der Region zu überwinden, die Türkei würde noch viel mehr als Brücke zwischen Orient und Okzident fungieren und seine diesbezügliche Vermittlerrolle ausbauen, und Griechenland hätte vollkommen neue wirtschaftliche und kulturelle Perspektiven und die Chance, zum ersten Mal in seiner Geschichte unabhängig zu werden. Außerdem würde es dadurch eine gewichtigere außenpolitische Rolle in der EU spielen und zur EU-Integration beitragen.

Eine enge strategische Zusammenarbeit und spätere Konföderation mit der Türkei und Israel wäre nicht nur für Griechenland, sondern für alle drei Länder ein Segen. Unter anderem gäbe es dann für Griechenland keine Notwendigkeit mehr, deutsche, französische und amerikanische Waffen für Milliarden Euro zu kaufen, sondern Griechenland könnte das Geld in gemeinsame Wirtschafts- und Forschungs-Institute, in Hightech- und Energie-Technologie etc. und in multinationale Tourismus-Projekte investieren, und die drei Länder könnten gemeinsam endlich die Bodenschätze und Rohstoffe (z.B. die im Mittelmeer-Gebiet brach liegenden) verwerten.

Alle drei Länder stehen in gewisser Weise isoliert da, sind aber Nachbarn, haben eine verwandte Mentalität, eine gemeinsame Vergangenheit, ähnliche Landschaften und das Mittelmeer.
Ich weiß, das alles klingt utopisch – aber diese Vision ist einfach zu schön, als dass sie nicht geäußert werden sollte.

Bis jetzt lagen die Geschicke Griechenlands in den Händen von Politikern, die weder fähig noch aus unterschiedlichen Gründen willens waren, politisch und wirtschaftlich griechische Interessen zu verfolgen und durchzusetzen, wie es zum Beispiel ein Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, eine Angela Merkel in Deutschland, ein Hugo Chavez in Venezuela oder ein Benjamin Netanjahu in Israel getan haben.

Ich bin der Meinung, dass die Anerkennung unserer Zahlungsunfähigkeit – also unsere Bankrotterklärung – und die Rückkehr zur Drachme eine Möglichkeit für einen Neuanfang wären. Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb … den Weg durch das Tal der Tränen muss Griechenland ohnehin weiter gehen. Ich würde es aber dabei gern in seiner Selbstbestimmtheit erleben … und weiß in dem Augenblick, in dem ich es äußere, was das für eine Illusion ist … und was für ein Traum, der nicht geträumt werden darf und von dem womöglich keine Rede sein sollte. Aber ich als Autor und Filmemacher darf das und MUSS es tun.

Asteris Kutulas, November 2010/Januar 2015

Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land

Raus aus dem Euro!

Liebeserklärung an die älteste Währung Europas

Asteris Kutulas Griechenland Krise

Ich war (und bin weiterhin) der Meinung, dass jedes Mal, wenn „Deutschland“ bzw. Frau Merkel oder Herr Schäuble von Griechen kritisiert und – noch schlimmer – beschimpft wurden, es einmal zu viel war, weil es von den wahren Verantwortlichen, nämlich von den bislang über 40 Jahre Regierenden ablenkte und ablenken sollte. Abgesehen davon, dass es zum Teil sehr beschämend ist, sollten wir Griechen uns um unsere eigenen Politiker und unsere eigene (nicht vorhandene) Zivilgesellschaft kümmern.

Das Makabre an diesen Schuldzuweisungen gegenüber Deutschland bestand darin, dass auch die Anhänger der bisherigen Regierungsparteien (ND & PASOK) – die ja mit Deutschland sehr „freundschaftlich“ verbunden waren – dies bei jeder Gelegenheit hinter vorgehaltener Hand taten, um damit deutlich zu machen: „Wir können nichts dafür. Deutschland zwingt uns zu dieser furchtbaren Austeritäts-Politik!“ Aber nicht Deutschland ist verantwortlich für die griechische Krise, sondern das griechische politische und ökonomische Establishment der letzten 40 Jahre. Und genau das ist endlich abgewählt worden bei den letzten Wahlen im Januar 2015.

Dafür sollten die Deutschen dem griechischen Volk – für dessen Mut und Entschlossenheit – Anerkennung entgegen bringen. Einen Tag nach diesen Wahlen war die Luft in Athen anders, ein wenig wie am Tag nach dem Mauerfall in Berlin. Vor allem die Ost-Deutschen werden das nachvollziehen können, denke ich. Es ging vielen Griechen am 26. Januar 2015 ungefähr so, wie vielen Bürgern der DDR, als sie sich ein Leben mit Mielke und Honecker in der Regierung nicht mehr vorstellen mussten.

Jedenfalls ist es eine Kapriole der Geschichte, dass sich in meiner Heimat jetzt ausgerechnet eine Linkspartei anschickt, den Kapitalismus in Griechenland zu reparieren und ihn endlich auf einen „westeuropäischen Stand“ zu bringen.

Oberflächlich betrachtet hat Frau Merkel einen guten Job gemacht: Deutschland profitierte gewaltig vom Euro und steht – ökonomisch gesehen – ganz gut da. Aber Griechenland ist nicht nur durch die Politik seiner bisherigen korrupten, reformresistenten und klientelistischen Regierungen und Machteliten, sondern auch durch den Euro bankrott gegangen. Denn die Kriterien, die die EU aufgestellt hatte, damit ein Land in die Euro-Zone aufgenommen werden kann, waren sinnvoll und an sich ein gutes Instrumentarium, um von vornherein ein Land vor einer wirtschaftlichen Katastrophe zu bewahren.

Griechenland hatte zu keinem Zeitpunkt die Maastricht-Kriterien erfüllt und ist also nur durch einen „Schwindel“ (der von der bis vor kurzem regierenden Politikerkaste zu verantworten war und über den andere Regierungen „großzügig“ hinweggesehen haben) in die Euro-Zone aufgenommen worden. So passierte genau das, was passieren musste: Die griechische Wirtschaft erwies sich als nicht konkurrenzfähig und ging zugrunde. Die Exporte nahmen immer mehr ab, weil diese durch die Einführung des Euro zu teuer wurden und Griechenland stattdessen (durch die sehr günstigen Euro-Kredite) zum Absatzmarkt für Mercedes, BMW etc. geworden war – einen Luxus, den viele Menschen in Griechenland sich wohl hätten kaum leisten dürfen. In Griechenland gibt es heute durch die Segnungen des Euro Lidl, Media Markt, Edeka etc., dafür gingen bislang 200.000 Klein- und mittelständische Unternehmen zugrunde. Für Deutschland, Frankreich etc. war/ist das gut, für Griechenland war/ist es schlecht. Die EU-Maastricht-Kriterien haben sich jedenfalls am Beispiel Griechenland als absolut richtig erwiesen.

Der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone hätte demnach nichts zu tun mit einer „D-Mark-Nostalgie“ – zumal Deutschland der große Gewinner des Euro ist, Griechenland der größte Verlierer –, sondern damit, dass Griechenland niemals befugt und befähigt gewesen ist, dem Euro beizutreten. Daran hat sich nichts geändert, ganz im Gegenteil. Wir konnten und können uns den Euro als Land (noch) nicht leisten – das ist die Wahrheit. Also, raus aus dem Euro, damit wir wieder eine Chance haben, nicht auf ewig eine „Bananen-Republik“ zu bleiben. Immerhin hat die sogenannte „Euro-Krise“ in Hellas – für die die griechischen Machteliten und Oligarchen verantwortlich sind – zur einer Beschädigung der Demokratie, zu einer humanitären Katastrophe und zum Verlust der nationalen Souveränität geführt.

Es gibt sehr viele kluge, fähige und verantwortungsvolle Griechen im In- und Ausland, die sich sofort für ein neues demokratisches Griechenland engagieren würden, wissend, dass Veränderung oder gar ein Wandel nur durch harte Schnitte zu erreichen wären, die weiterhin einen Gang durch das Tal der Tränen bedeuten, zumindest wüssten die Betroffenen dann aber, warum sie das durchmachen. Was wir in meiner Heimat brauchen, sind unsere eigenen Visionen für die Zukunft und eine Zukunft für unsere Kinder. Das ist mit dem Euro nicht zu haben.

Glücklicherweise ist ein erster Schritt getan: Die alten Machteliten sind Ende Januar 2015 abgewählt worden, jetzt muss sich Griechenland „nur noch“ des Euros entledigen, um endlich unabhängig zu werden – was als Aussage symbolisch gemeint ist. Dafür habe ich seit 2010 plädiert, und heute bin ich um so mehr davon überzeugt. Ob die neue Regierung den von uns erhofften Anfang einer souveränen griechischen und zutiefst demokratischen Zukunft einläuten wird, ist sehr zweifelhaft – aber wer hätte überhaupt gedacht, dass die Griechen so standhaft sein und so viel Zivilcourage aufbringen würden? Ich nicht.

Asteris Kutulas 19.2.2015,

Athen, Tag eins nach der Wahl (26.1.15)

Eine Kolumne aus dem griechischen Niemandsland

Am Sonnabend hatte es geregnet in Athen. Am Sonntag gingen die Griechen (und ich auch) wählen, und heute, am Montag, ist das Land, das unter der Krise wie kaum ein anderes in Europa gelitten hat, nicht wiederzuerkennen. Ein spürbares ungläubiges Aufatmen liegt in der Luft. Eine Leichtigkeit des Seins ist zu spüren, und die Menschen sind irgendwie freundlicher und relaxter. Vielleicht ist das alles aber auch nur Einbildung. Jedenfalls sagen Taxifahrer Sätze wie: „Samaras konnte in den letzten zweieinhalb Jahren nicht einmal die Reformen, die ihm Merkel & Co. aufgetragen haben, umsetzen. Der hat zu nichts getaugt.“

Mir ist ein wenig so wie damals, als die Mauer fiel. Nicht ganz so schön, aber fast… Das jedenfalls, was viele heute hier in Athen denken, kommt dem nah, was wir im November 1989 gespürt haben. Zum Beispiel, dass diese Wahl in Griechenland die Demokratie wiederhergestellt hat. Bis 2012 verfügte das herrschende politische System der beiden Parteien Neue Demokratie und PASOK fast vierzig Jahre lang konstant über 80% der Stimmen. 2012 stürzten diese beiden Parteien auf etwas über 30% ab. Es gab in der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte keine deutlichere „Abwahl“ einer Politikerkaste, aber nicht nur, dass diese beiden Parteien – mit „Unterstützung Europas“ – weiter herrschten, auch ihre korrupten und klientelistisch strukturierten Führungen machten weiter, als wäre nichts passiert. Samaras, Papandreou, Venizelos, Bakojanni, Karamanlis, Kefalojannis etc. etc. – die alten Politikerfamilien, die zum Teil seit 100 Jahren Griechenland in ihren Besitz genommen hatten, dachten gar nicht daran, von der Macht zu lassen. Dadurch wurde die konservative Rechte und die Sozialdemokratie völlig diskreditiert und es offenbarte sich, dass PASOK und Neue Demokratie keine demokratischen Parteien, sondern hierarchisch strukturierte „Familienclans“ sind… Das zeigt sich sehr extrem am Beispiel der PASOK, die von 44% im Jahr 2009 auf jetzt 4% abgesackt ist, und deren Vorsitzender Venizelos (der noch amtierende Außenminister) vorhin im Fernsehen erklärt hat, dass er weitermachen will. Immerhin ist dadurch, dass die neue Partei von Giorgos Papandreou an der 3%-Hürde scheiterte, zum ersten Mal seit 92 Jahren keiner aus der Papandreou-Dynastie mehr im griechischen Parlament vertreten.

Diese Wahl hat aber in den Augen vieler Griechen nicht nur die Demokratie, sondern auch die Souveränität Griechenlands wieder hergestellt. Samaras & Co., die verantwortlich waren für diese größte Krise in der griechischen Nachkriegsgeschichte, hatten in den letzten Jahren nicht nur ihre politische Handlungsfähigkeit verloren – was immer offenbarer wurde –, sondern auch die Glaubwürdigkeit in jeder Hinsicht, vor allem aber ihre Fähigkeit, eine „griechische Politik“ für Griechenland zu gestalten. Das führte dazu, dass die „Troika“ für die Griechen zum Hassobjekt wurde, und die Samaras-Regierung erschien vielen als deren Handlanger, die es zuließen, dass Griechenland einerseits wie eine Bananenrepublik behandelt und andererseits die griechischen Bürger mit dem härtesten europäischen Austeritätsprogramm aller Zeiten für etwas bestraft wurden, wofür sie nicht verantwortlich waren.

Schließlich denken viele Griechen, unabhängig davon, ob sie rechts oder links sind, dass sie durch die Wahl von Tsipras ihre Würde wieder erlangt haben. Das ist vor allem als emotionale Reaktion auf ein noch nie dagewesenes Griechenland-Bashing in Europa vor allem in den Jahren 2010 bis 2012 anzusehen, angeheizt durch die Regierenden daheim. Und jetzt schicken die Griechen jene „Kollaborateure Europas“ in den Ruhestand, die keine einzige wirkliche Reform umgesetzt, sondern nur sozialen Kollateralschaden angerichtet, hunderte von Skandalen unter den Tisch gekehrt und täglich neue angehäuft haben.

Ich persönlich weiß nicht, ob die weichgespülten Linken der SYRIZA-Partei überhaupt etwas zustande bringen, zumal sie ein System zum Gegner haben, das sie nicht kennen und dem sie möglicherweise nicht gewachsen sind. Auf jeden Fall ist Herr Tsipras ein besserer Partner für die EU und auch für die Bundeskanzlerin, denn er will – im Gegensatz zu Herrn Samaras und seinen Vorgängern – tatsächlich etwas an diesem korrupten und heruntergewirtschaftetem „System Griechenland“ verändern. Und dies wäre endlich an der Zeit und völlig im Sinne Griechenlands und vor allem Europas.

Es ist kalt an diesem Montagabend in Athen, selbst im Restaurant „Tee“. Am Nebentisch sagt ein Mann zu seiner Frau, dass wir einen „historischen Tag“ erlebt und dass wir die erste linke Regierung in Europa haben. „Stell Dir vor“, sagt er, „ein kommunistischer Politiker verteilt Ministerposten. Unglaublich!“ Er zieht an seiner Zigarette, obwohl ein Schild ihm gegenüber anzeigt, dass hier Rauchen verboten ist. Dieses „unglaublich“ erinnert mich an die ersten beiden Anrufe von Tsipras gestern Abend, noch vor der Veröffentlichung der ersten offiziellen Hochrechnung, unmittelbar nach Bekanntgabe der exit polls. Sie gingen an den Chef der griechischen Polizei und den Oberbefehlshaber der Armee. Der Putsch von 1968 und die nachfolgende siebenjährige Diktatur steckt allen Griechen noch in den Knochen. Und Samaras hatte oft genug in seinen Wahlkampf die „kommunistische Gefahr“ heraufbeschworen. Einer seiner Minister hatte zwei Tage vor den Wahlen ausgesagt, dass er „alles notwendige“ unternehmen würde, um eine kommunistische Machtübernahme zu verhindern. Auch aus diesem Grund ist die Entscheidung, mit den Rechtspopulisten von ANEL ein Regierungskoalition zu bilden, vielleicht die strategisch weiseste innenpolitische Entscheidung von Tsipras: damit beendet er den 1944 bego097FotoClip-0003nnenen Bürgerkrieg.

Auf dem Nachhauseweg fliegen mir die Wahlplakate diverser Parteien entgegen, eines mit dem Slogan der Neuen Demokratie: „Wir sagen die Wahrheit“, eine Aussage die bereits heute, einen Tag nach der Wahl, sehr schräg und unwahr klingt. Und gleich danach kreuzt ein zerfetztes Plakat von SYRIZA meinen Weg: „Die Hoffnung kommt“, etwas, was die Griechen, offensichtlich sehr ungläubig, „hoffen“ wollen.

Asteris Kutulas, 26.1.2015

Keine Hoffnung mehr … Wir sind verloren

Betrifft: Einladung zum Deutsch-Griechischen Dialog am 16.12.2013 durch die Hanns-Seidel-Stiftung

Mit Makis VORIDIS (MP, Vorsitzender der Fraktion „Nea Demokratia“ im Griechischen Parlament), Dr. Otmar BERNHARD (MdL, Staatsminister a.D.), Josef ERHARD (Ministerialdirektor a.D.) u.a.

Liebe F., danke für die Einladung zur oben genannten Veranstaltung,

aber ich denke, dass mit Politikern wie Herrn Makis Voridis kein DIALOG möglich und auch nicht sinnvoll ist, und vor allem, dass Politiker wie Herr Voridis der GARANT dafür sind, dass sich NICHTS in Griechenland verändert. Du weißt es, ich weiß es, alle wissen es: Es bringt gar nichts! Es kann nichts bringen. Politiker wie Herr Voridis haben das „System Griechenland“ mitgestaltet, sie SIND das System – und solche Veranstaltungen finden auf dem Rücken der Opfer dieses „System Griechenland“ statt. Wir sprechen hier über hunderttausende, vielleicht inzwischen Millionen von Opfern dieses „Systems“, die seit drei Jahren zu tun haben mit Verelendung, Hunger, Kälte, Depressionen, Flucht ins Ausland, Selbstmord, Fremdenhass, Tod, mit nicht mehr funktionierenden Sozialsystemen, einem längst kollabierten Rentensystem, einem grassierenden Neofaschismus und Antisemitismus sowie einem selbst moralisch völlig diskreditierten „Pleitestaat“. Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Macht-Clique, zu der inzwischen ja auch Herr Voridis gehört, ist genau dafür verantwortlich und hat eins bewiesen: SIE KANN ES NICHT, sie kann keinen Staat führen und kein Land regieren. Sorry, das stimmt zwar, aber richtig ist: SIE WILL ES NICHT. Sie interessiert sich allein für Machterhalt und/oder Geld – und dafür schickt sie – ohne mit der Wimper zu zucken – ein ganzes Volk ins Elend und eine ganze junge Generation in die Pampa … ins Ausland.

Warum mit diesen Politikern reden und ihnen ein „demokratisches Alibi“ geben, ihnen, die sehr effektiv die Demokratie in Griechenland abgeschafft haben? Auch das gehört – bildlich gesprochen – zu IHREM Machterhaltungs-System: Die fünf größten Zeitungen, die fünf größten Fernsehanstalten, die fünf größten Fußballmannschaften, die fünf größten Rundfunkstationen, die fünf größten Baskettballmannschaften gehören den fünf größten Unternehmern des Landes – Reeder, Großverleger, Bauunternehmer etc. – wir kennen sie alle. Da ist Italien mit nur einem Berlusconi ein demokratisches Musterland dagegen. In Griechenland beherrscht diese „systemrelevante“ Clique mindestens 95% der Information, und – über das Entertainment und den Sport – auch die „Seele“ des Volkes. In Griechenland gibt’s keinen „Spiegel“, keinen „der Freitag“, keine „Zeit“ etc. und inzwischen – dafür haben sie ebenfalls gesorgt – auch keine „ARD“, kein „ZDF“ etc.

Genau das ist das Griechenland des Herrn Voridis. Was willst du diesen Politiker-Menschen fragen? Was er unter Demokratie versteht? In Deutschland genügte – zu recht – eine nicht ordnungsgemäße Quellenangabe in einer zehn Jahre alten Dissertation, um den damals beliebtesten deutschen Politiker, den Verteidigungsminister der Bundesrepublik, zu seinem Rücktritt zu veranlassen, und zwar von allen politischen Ämtern. Ebenso genügte ein Wählerverlust (keine Niederlage!) bei der letzten NRW-Wahl, dass der Spitzenkandidat der CDU in NRW noch am Wahlabend von seinem Amt als NRW-Parteivorsitzender der CDU zurücktrat und einen Tag später auch seinen Ministerposten abgab. Und der deutsche Bundespräsident verlor seinen Job wegen 700 Euro. Und so weiter und so fort …, in Deutschland. Herr Voridis sowie seine Parteifreunde und Regierungspartner können darüber nur lachen. Sie haben in Griechenland hunderte nicht aufgeklärte Skandale angehäuft und tun alles, aber wirklich alles, damit sie nicht aufgeklärt werden. (So wird z.B. von den beiden Regierungsparteien dem Antrag des Finanzstaatsanwalts seit zwei Jahren blockiert, die Konten von 500 griechischen Politikern zu öffnen – die unter dem Verdacht der Veruntreuung und Steuerhinterziehung stehen.)

Im Gegensatz zu allen demokratischen Gepflogenheiten beharren die alteingesessenen Politiker in Griechenland auf ihren Machtanspruch und ihre Posten – Politiker, die zu verantworten haben, dass das Land bankrott ist, dass die Arbeitslosigkeit auf 27 % gestiegen ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei 59 % liegt, dass laut OECD-Angaben Griechenland in fast allen Kategorien, die über die Qualität der Arbeit des Staatsapparats Auskunft geben, europaweit das Schlusslicht bildet. Fast alle jetzt Herrschenden wie Antonis Samaras, Evangelos Venizelos, Dimitris Avramopoulos oder Dora Bakojanni etc. etc. sind seit den achtziger Jahren führende Politiker ihrer Parteien, bekleideten wichtige Regierungsämter seit Anfang der neunziger und sind direkt und persönlich verantwortlich für den heutigen Zustand Griechenlands. Aber weder sie noch die anderen Spitzenpolitiker der beiden Herrschaftsparteien haben die Verantwortung für die desaströse Lage, in die sie Griechenland und ganz Europa gebracht haben, übernommen oder gar Konsequenzen gezogen und sich aus der Politik verabschiedet. Selbst nach dem historischen Wahldebakel vom 6. Mai 2012, als zum Beispiel die PASOK von 44% der Stimmen (bei der Wahl von 2009) auf 14% absackte und quasi aufhörte, als Volkspartei zu existieren, lachte anschließend der Parteivorsitzende Venizelos (und jetzige Außenminister) in die Kameras und sagte, er sei der Garant für eine umfassende Reform seiner Partei und kenne den Weg, Griechenland aus der Krise zu führen! Das ist wirklich unvorstellbar und ungeheuerlich.

Liebe F., das sind „korrupte“, verantwortungslose und die Demokratie Hohn spottende Politiker. Und das bedeutet auch: es sind keine guten Menschen. Man möchte nicht von solchen Typen regiert werden, geschweige denn mit ihnen an einem Tisch sitzen und sein Gewissen damit beschmutzen. Mit „man“ meine ich natürlich mich, einen griechischen Vater, der das Glück hat, in Deutschland zu leben und der das Glück hat, dass sein Sohn in London studieren konnte.

Was sollen wir tun? Ich weiß es nicht. Ich kann zumindest etwas Widerstand leisten, indem ich diesen Brief schreibe, einen Film wie RECYCLING MEDEA (www.recycling-medea.com) drehe oder den HOREN-Griechenland-Band mit-herausgebe oder mich bemühe, jungen Menschen, die aus Griechenland nach Berlin exilieren müssen, bei der Job-Suche in Deutschland zu helfen.

Und was kannst Du tun? Du könntest dazu beitragen (wenn Du willst, natürlich), dass es in Zukunft solche unerträglichen Feigenblatt-Veranstaltungen für „kriminelle“ Politiker nicht mehr gibt …
Wir werden in Griechenland von einer oligarchischen Clique regiert, die leider von der deutschen Regierung unterstützt wird, weil diese Clique vorbehaltlos alles tut, was die Troika (also auch Deutschland) verlangt – und sie tut das, um … (das sage ich) … nicht im Gefängnis zu landen. Bis jetzt hat es – mehr zufällig und „ungewollt“ – nur unseren ehemaligen Verteidigungsminister und Vize-Chef der PASOK-Partei erwischt, der sich 2001 von der deutschen Ferrostaal aus Rostock mit 20 Millionen hat schmieren lassen, um für 2,8 Milliarden deutsche U-Boote zu kaufen.

Insofern passen auch die deutschen Ministerialdirektoren und Staatsminister a.D. und auch die Hannes-Seidel-Stiftung ganz gut ins Bild … Wie immer wird sich bei dieser Veranstaltung ein Blabla über euch ergießen, das nichts sagt, nichts will, nichts bedeutet, und nur dazu dient, „staats-tragend“ in trauter griechischisch-deutscher Einigkeit das absolute Desaster, das Leid und den Schmerz, die schreiende Ungerechtigkeit, die tagtäglich in Griechenland passiert, zu übertönen mit einem Schweigen, bestehend aus leeren sowie mit Lügen und Halbwahrheiten behafteten Worthülsen. Und aus diesen Worthülsen bildet sich immer wieder eine ungeheuerliche – und sehr selten in dieser Deutlichkeit ausgesprochene – Behauptung: „Das griechische Volk ist selbst für seine Situation verantwortlich! Wir Politiker waschen unsere Hände in Unschuld.“ Das alles ist einfach nur furchtbar. Das tut in der Seele weh …

Liebe F., … ich weiß, wir sind dem System ausgeliefert. Es ist größer und mächtiger als wir. Wir können nichts tun, außer jeden Tag uns ein wenig dagegen wehren.
Wir Griechen sind so oder so verloren, aber vielleicht überleben wir ja als Volk in der Diaspora noch die nächsten 70 Jahre …

Sorry, ich musste sprechen …
Und verzeih mir diese künstlerisch-emotionale Reaktion,

Asteris Kutulas, 7.12.2013

P.S. Während ich diese Mail schrieb, fiel mir folgende Szene ein: 1988 fuhr ich mit der Straßenbahn Nummer 49 eines Abends von der S-Bahn-Station Pankow Richtung Zentrum. Plötzlich kam ein Mann herein, sah sich in der Straßenbahn um und schrie uns, die Fahrgäste, an: „In Afrika sterben die Kinder und ihr fahrt Straßenbahn!“ Der Mann hatte recht, und irgendwie war ich in jenem Moment sehr glücklich, nicht für dieses Sterben in irgendeiner Weise mit-verantwortlich zu sein.

Apassionata Faces

APASSIONATA FACES

Featuring Tanya Cumberland
With Mercedes Martin Angulo, Meike Arnason, Silke Aschendorf, Phillipe Blair, Frederico Cardoso, Alessandro Conte, Benoît Dareys, DomQuichotte, Alexandra Donarski, Holger Ehlers, Pierre Fegyverneki, Sebastián Fernández, Uwe Förster, Petra Geschonneck, Andre Grohmann, Heike Hartmann, Martin Hildebrand, Carsten Kiesewald, Tino Kitzmann, David Koontz, Christophe Hasta Luego, Erik Hasta Luego, Laurent Jahan, Michal Maciejewski, Sebastián Fernández Martin jr., Karen Massine, Macili Massine, Peter Massine, Ivan Moreno, Brigitte Munkert, Gerald Neeb, Christian Oertel, Raffaele Di Palma, Lana Panfilow, David Rodriguez, Gael Sauvaire, Peter Scheufler, Jérôme Sefer, Joazi Santos da Silva, Ralf Spitra, Andreas Sturm, Laury Tisseur, Filipa Valença, Mel Willmann, Ulrich Wohlleben, Olena Yalyeyeva and others

Many thanks to the whole APASSIONATA team and to our friends all over the world!

Apassionata Faces music video clip by Asteris Kutulas
Music by Holger Ehlers
Cinematographer: Mike Geranios
Editor: Bernd Lützeler
Colorist: Marc Potthoff
Assistant film director: Marsia Tzivara
Gaffer: Vassilis Dimitriadis
Film production © Diesel & Dünger Film GmbH, 2013

WELCOME TO APASSIONATA

Featuring the APASSIONATA team

A video clip by Asteris Kutulas
Cinematographer: Mike Geranios
Editor: Bernd Lützeler
Colorist: Marc Potthoff
Gaffer: Vassilis Dimitriadis
Film production © Diesel & Dünger Film GmbH, November 2013

Apassionata, Asteris Kutulas, DomQuichotte
Art work for video content by © DomQuichotte

Apassionata 2.0

Die Pferde-Show „Apassionata“ ist für mich ab jetzt, da ich als Executive Producer aufhöre und als Dramaturg anfange, ein künstlerisches Experimentierfeld: ich will dazu beitragen, Musik, Theater, Licht, Film, verschiedene Pferderassen, Tänzer und Bühnenbild zu einem „emotionalen“ Gesamtkunstwerk zu vereinen. Eine Show zu kreieren, die unser Publikum zwischen 6 und 80 anspricht, auf der Höhe der Zeit ist und zugleich so unikal wie nur möglich.

Man muss diese unterschiedlichen Elemente zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Man muss mit den Künstlern aus allen Gewerken und den Reitern darüber kommunizieren. Die gesamte Reitbahn als Bühne behandeln, durch Bodenprojektion eine völlig neue Ästhetik entwickeln. Schritt für Schritt die Apassionata zu einer phantasmagorischen Family-Entertainment-Show weiterentwickeln.

Asteris Kutulas, Herbst 2013

Mikis Theodorakis: „Wenn ich an den Holocaust denke: Ich schäme mich, als Mensch geboren zu sein“

Mikis Theodorakis gegen Antisemitismus. Am 6.6.2013 hat ein Abgeordneter des griechischen Parlaments (Mitglied der neofaschistischen Partei Goldene Morgenröte) den Holocaust am jüdischen Volk geleugnet. Mikis Theodorakis reagierte darauf sofort mit folgendem Text, der am 12. Juni 2013 in der griechischen Tageszeitung „Ta Nea“ veröffentlicht wurde:

Mikis Theodorakis
Die Leugnung des Holocaust muß moralisch verurteilt und juristisch verfolgt werden

Es ist absolut unerträglich, im griechischen Parlament diese furchtbaren „Meinungsäußerungen“ mit anhören zu müssen. Die Tatsache, dass es einem Abgeordneten allen Ernstes in den Sinn kommen konnte, im Parlament den Holocaust der Nazis an den Juden infrage zu stellen – dieses größte Verbrechen, das in der Geschichte der Menschheit jemals begangen wurde –, diskreditiert uns in den Augen der Weltöffentlichkeit und beschädigt das Ansehen unseres Landes. Das ist absolut verheerend für Griechenland und zudem verbrecherisch, wenn man in Betracht zieht, dass unser Volk eines derjenigen ist, denen die grausame Hitlerbarbarei die schwersten Opfer abverlangte.

Unbestreitbar bedeutet der Völkermord an den Juden – in seinen monströsen Ausmaßen – ein so entsetzliches und unbeschreibliches Verbrechen, angesichts dessen der Mensch sich schämen muss, Mensch zu sein, da die Schlächter von Auschwitz ja Menschen waren wie du und ich, allerdings in Gestalt einer Fehlentwicklung zu humanoiden Bestien. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass sie Kinder, Frauen, Greise – alles Unschuldige, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, einem anderen Ethnos und einer anderen Religionsgemeinschaft anzugehören (einem Ethnos, der einen Einstein, einen Freud, einen Marx, einen Mahler und zahlreiche andere Wohltäter der Menschheit hervorgebracht hat) – in Waggons pferchen konnten, als wären es Tiere, sie endlos sich dehnende Tage und Nächte zu deportieren und schließlich diejenigen, die all das überstanden hatten, unbegreiflichen Martyrien und Todesarten auszusetzen.

Der Holocaust. Ein Jahrtausend-Albtraum, bis heute der schlimmste, den die Menschheit kennen gelernt hat, ein Albtraum, der dich bereits krank macht, wenn du nur daran denkst, während in deiner Vorstellung diese Opfer – vor allem die Kinder – zu Engeln werden und du schließlich nur noch den unweigerlichen Drang verspürst, vor ihnen niederzuknien, sie auf ewig um Vergebung zu bitten und ihnen wieder und wieder zu sagen: „Ich schäme mich, als Mensch geboren zu sein.“

Mikis Theodorakis Holocaust Antisemitism

In Dachau und in Auschwitz wurden nicht nur die Juden ermordet. Der Mensch an sich wurde ermordet. Und seitdem stehen wir alle, die wir überlebt haben, in einer Schuld.

Das ist es, was mich so unerbittlich und entschieden gegen jeden vorgehen lässt, der es wagt, diesen Alptraum durch irgend etwas rechtfertigen zu wollen. Diese Verbrecher von damals haben meinen Glauben an den Menschen getötet. Und keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, das zu vergeben.

Hinzu kommt, dass wir Griechen doppelt Grund haben, die Gräueltaten der Nazis zu verdammen:

Erstens, weil sie unser Land total zerstört und Tausende Griechen getötet haben

und

Zweitens, weil unter den sechs Millionen Juden, die in den vielen Auschwitz’ ermordet wurden, 70.000 jüdische Landsleute aus Thessaloniki waren. Der Verlust dieser Menschen – für uns eine offene Wunde. Denn Juden lebten jahrhundertelang in Thessaloniki, und mit ihrem fortschrittlichen Geist bestimmten sie die Entwicklung dieser Stadt in jeglicher Hinsicht. Bis heute leidet Thessaloniki an dieser Wunde, und es ist eine unerträgliche Angelegenheit, wenn ein junger Mensch das kollektive Gedächtnis eines gemarterten und uns freundschaftlich verbundenen Volkes und insbesondere die Erinnerungen an diese griechischen jüdischen Opfer der Hitlerbarbarei – die einst Teil unsers Lebens waren – so grausam verhöhnt.

Die Leugnung der Martyrien eines Volkes bedeutet die Herabwürdigung der Opfer und die Verneinung der moralischen Werte in den Augen all jener, die ihre Freiheit und ihren Stolz den Opfern, die ihre Vorfahren brachten, zu verdanken haben. Und nicht nur das – die Lobhudeleien im Hinblick auf die damaligen Mörder und Folterer müssen als verbrecherischer Landesverrat geahndet werden. Für all diejenigen, die das abscheuliche Gesicht der Gewalt kennen gelernt haben, ist die entschiedene Verurteilung einer nicht zu tolerierenden Akzeptanz oder – was noch schlimmer ist – gar die Bewunderung all der verbrecherischen Akte gegen die Menschlichkeit eine moralische Pflicht und eine elementarer Widerstand gegen eine Wiederholung ähnlicher Verbrechen.

Mikis Theodorakis World Jewish Congress Holocaust Anteisemitism

So wäre deren moralische und juristische Verurteilung eine Selbstverständlichkeit für jede Gesellschaft, die die grundlegende menschliche Werteordnung und die Prinzipien der moralischen Gesetze respektiert. Dagegen offenbaren die Gleichgültigkeit (ein Verhalten, das leider all jenen eigen ist, die in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen unseres Landes herrschen) und das Fehlen gesellschaftlicher und moralischer Abwehrmechanismen inzwischen das Ausmaß des Niedergangs, und sie haben zur Folge, dass aus einer einst mündigen Bevölkerung ein Heer von Untertanen wird.

Abschließend wende ich mich an die Athener Akademie (als ihr Ehrenmitglied, zu dem ich kürzlich ernannt worden bin), die als unseres Landes höchste Instanz der Vernunft die maßgeblichen menschlichen und nationalen Werte verteidigen und vorangehen muss, wenn es darum geht, all jene Taten zu verurteilen, die einen Angriff auf die menschliche Würde und unser Geschichtsbewusstsein bedeuten, ein Bewusstsein, auf das sich die höchsten Werte der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte gründen.

Mikis Theodorakis, 11.6.2013
Übersetzt von Ina & Asteris Kutulas | Zeichnung von Simon Wiesenthal
Veröffentlicht in TA NEA am 12 Juni 2013 und im Feuilleton-Teil der Jungen Welt am 11.07.2013

Mauthausen by Mikis Theodorakis, produced by Asteris Kutulas
Zeichnung von Simon Wiesenthal, Mauthausen 1945 (Album Cover „Mauthausen Trilogy“)

Mikis Theodorakis: Holocaust denial by Greek extremists is a ‚disgrace‘

It’s outrageous to hear these terrifying „views“ expressed in the Greek parliament. That a member of parliament dared to question from the floor of the Parliament the existence of the Holocaust of the Jews by the Nazis, which is the greatest crime ever in the history of mankind, exposes us in the eyes of international opinion and tarnishes the image of our country. This is unfair and criminal for Greece, since our people are among the greatest victims of Hitler’s atrocity.

Without a doubt, the genocide of the Jews is an unfathomable tragedy, unimaginable in its evilness, that makes you ashamed to be a human when you contemplate that the murderers of Auschwitz were also humans like you, transformed into humanoid beasts. For how could it have ever been possible for humans to arrest children, women, old women, old men, innocents whose only crime was belonging to another race and religion (a race that gave us Einstein, Freud, Marx, Mahler and countless other benefactors of humanity), to pack them into train carriages like animals, and set them traveling for days and endless nights, and in the end those who remained alive to have to suffer indescribable torment and death. An eternal nightmare, the worst humanity has ever experienced, that even today sickens you with just the thought of it, while the victims, especially the innocent children are transformed in you into angels and you feel the need to kneel in front of them and eternally beg for forgiveness, saying only „I am ashamed that I was born a human.“

In Dachau and Auschwitz they didn’t only kill Jews. They killed Man. And since then, all of us who survived are sinners. And that’s what makes me so resolute and absolute in my opposition against anyone who dares justify this nightmare. They killed in me my faith in Man. And this is something no power in the world can make me forgive.

Besides, we Greeks have a double reason to denounce the crimes of the Nazis:

First, because they destroyed our country and killed thousands of Greek patriots and,
Second, among the six million Jews who perished in the camps were 70,000 of our compatriots, Jews from Thessaloniki; for us their loss is a great wound, as they lived there for centuries and with their progressive spirit contributed to the development of the city in every possible way. Since then Thessaloniki remains wounded. And so it is, at the very least, unfortunate that a young man brutally assaults the collective memory of our tortured and friendly people, and especially the memory of the Jewish victims of Hitlerian barbarity, people who were a part of us.

To challenge the tribulations of a people is an insult to the victims and a moral blow to all who gained their freedom and honor thanks to the sacrifices of their ancestors. Even worse, to reward murderers and torturers should be an act of high treason. For those who have experienced the brutal face of violence, the severe punishment of the unacceptable acts of acceptance or — even worse — admiration of crimes against humanity is a moral imperative and an essential defense against the recurrence of similar crimes.

Therefore the moral and criminal condemnation of such acts should go without saying in any society that respects the great human values, principles and moral laws. Otherwise apathy (which unfortunately characterizes those who dominate in all sectors of our country) and the lack of mechanisms of national and moral defense will prove the depth of our decay and threaten to turn our people into a people of servants.

Finally, I appeal to the Academy of Athens (and as an honorary member, a title which I recently had the great honor of being awarded) which is the supreme intellectual institution of our country and the guardian of our great human and national values, to raise its moral stature and take the lead in condemning the acts that undermine respect for human dignity and disregard our historical memory, on which are based our highest values of Freedom, Democracy and respect for Human Rights.

Athens, 11/06/2013

Mikis Theodorakis
(Published in TA NEA, 12 June 2013)
English translation by © Takis Papaleonardos | Scetch by Simon Wiesenthal
World Jewish Congress: Mikis Theodorakis has issued a public call to combat Holocaust denial.

Mauthausen Trilogy & the Holocaust Millennium Nightmare

Mikis Theodorakis: On the film „Recycling Medea“ by Asteris Kutulas

Recycling Medea by Asteris Kutulas, Music by Mikis Theodorakis

Mikis Theodorakis on „Recycling Medea“

From the beginning, the tragic element in music has exerted a stronger spell on me than any other. It certainly suits my character. So, for me it seemed only natural to turn to ancient drama – initially, as a lover of this artistic genre, and later also as a composer. I started to write theatre and film scores for ancient tragedies and later proceeded to explore lyrical tragedy, i. e. in my operas.

When Renato Zanella came across the music of my lyrical tragedy “Medea”, he decided to base his corresponding ballet choreography on this score. Finally, Asteris Kutulas came along to create an entirely new work of art, itself based on the elements mentioned above. However, Kutulas did not simply create a filmic document of the ballet, but decided to transform these elements into something entirely new, thus lending the result a deeply social and political dimension.

He made a film with a very contemporary message: Despite the tragedy Greece has been forced to face by the criminal international economic system, the country still stands, although deeply wounded. Euripides’ Medea screams – expressed by Maria Kousouni in dance and vocalised by singer Emilia Titarenko – because betrayal drives her to the most terrible crime imaginable: the brutal slaughter of her own children. Today’s Greece comes together in the infernal screams on the country’s streets and squares because – as a victim of ruthless actors within and those attacking Greece from without – it, too, finds itself driven to the most terrible crime: killing the future of its own children.

I think we are dealing with a true work of art, one that prompts us take responsibility. A work that doubles as an anthem for the struggle of the people and nations to achieve freedom and true independence.

Mikis Theodorakis, Athens, June 7th, 2013

(Article for the newspaper Elefteros Typos)

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Recycling Medea by Asteris Kutulas with Mikis Theodorakis
Poster draft with Maria Kousouni (Photo © by Stefanos Kyriakopoulos)

Mikis Theodorakis: Zum Film „Recycling Medea“ von Asteris Kutulas

Das tragische Element in der Musik hat mich von Anfang an stärker in seinen Bann gezogen als jedes andere. Zweifellos entspricht es meinem Charakter. Es war also nur zu natürlich, dass ich mich dem antiken Drama zugewendet habe, zuerst als ein Liebhaber dieser Kunstgattung, dann als Komponist. Ich begann, Theater- und Filmmusik zu antiken Tragödien zu schreiben, um letztendlich zur Lyrischen Tragödie, also zu meinen Opern, zu kommen.

Renato Zanella entdeckte für sich die Musik meiner Lyrischen Tragödie „Medea“, und sie wurde die Basis seiner gleichnamigen Ballett-Choreographie. Und dann kommt Asteris Kutulas und erschafft ein neues Kunstwerk, das sich seinerseits auf alles soeben von mir Genannte stützt. Aber er filmt das Ballett nicht einfach ab, sondern er kreiert etwas vollkommen Neues und verleiht dem Ganzen dadurch eine zutiefst gesellschaftliche und politische Dimension.

Er macht einen Film, der eine ganz aktuelle Botschaft beinhaltet: Trotz der Tragödie, in die Griechenland vom verbrecherischen internationalen ökonomischen System hinein manövriert wurde, steht das Land, obwohl tief verwundet, noch aufrecht. Die Medea des Euripides schreit – im Tanz ausgedrückt durch Maria Kousouni und gesanglich interpretiert durch die Stimme von Emilia Titarenko –, weil sie durch den Verrat an ihr zum furchtbarsten Verbrechen getrieben wird, das es geben kann: zum Abschlachten der eigenen Kinder.

Das heutige Griechenland schreit infernalisch auf den Plätzen und in den Straßen, weil es – Opfer der verantwortungslos Handelnden im eigenen Land und derer, die von außen Griechenland angreifen – ebenfalls zum furchtbarsten Verbrechen getrieben wird: die Zukunft seiner eigenen Kinder zu töten.

Ich denke, wir haben es hier mit einem wahren Kunstwerk zu tun, das dazu auffordert, Verantwortung zu übernehmen. Ein Werk, das zugleich eine Hymne ist für den Kampf der Menschen und Völker für deren Unabhängigkeit und Freiheit.

Mikis Theodorakis, Athen, 7.6.2013

Recycling Medea | A film by Asteris Kutulas | Music by Mikis Theodorakis | Choreography by Renato Zanella | Written by Asteris & Ina Kutulas | With Maria Kousouni as Medea 

Recycling Medea Website

Recycling Medea – Film-Rezensionen & Kritiken

 

Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land

»WERFT KEIN TRÄNENGAS MEHR. WIR WEINEN AUCH SO.«

Vorwort zu DIE HOREN (Nr. 249), I/2013, Herausgegeben von Asteris und Ina Kutulas

Im November 2012 sagte Jazra Khaleed bei einer Begegnung am Syndagma-Platz in Athen, interessanterweise führe die jetzt herrschende gesellschaftliche Situation in Griechenland nicht nur zu einem Zustand der Lethargie, Ungewissheit und Depression, sondern sie führe vereinzelt sogar zu Situationen, die er, Jazra, in den Jahren zuvor so noch nicht erlebt habe. Einige von ihm mitorganisierte Lesungen hatten in den letzten Monaten enormen Zulauf gehabt und das Interesse für Lyrik zum Beispiel sei immerhin so stark gewesen, dass man über die Gründung neuer, kleiner Verlage und über alternative Veranstaltungsformen nachzudenken und diese umzusetzen beginne. Man könne es selbst kaum glauben. Hin und wieder ist davon zu lesen und zu hören, dass sich in der Bevölkerung Formen von Solidarität zu entwickeln begonnen hätten, die es zuvor in dem Maße nicht gegeben hat, und zwar „sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt …“

Es gibt es also, das „andere Griechenland“, das nicht „bankrott“ und „korrrupt“,  das nicht von Faulenzern, Schmarotzern, Betrügern bewohnt und nicht von „2000 Jahren Niedergang“ gekennzeichnet ist – tatsächlich ist „dieses Griechenland“ eine Chimäre im ursprünglichen Sinn des Wortes. In vorliegender Anthologie kommt nicht das Land der „Pleite-Griechen“ – die Bild-Zeitung soll diese Bezeichnung zwischen 2010 und 2012 in 127 Ausgaben benutzt haben – zu Wort, sondern es äußern sich Autoren, die in einer Sprache schreiben, die seit der Antike ununterbrochen gesprochen wird. Giorgos Seferis brachte diese Tatsache in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 1963 wie folgt zum Ausdruck: „Unser Land ist klein, verfügt aber über eine gewaltige Tradition, die ungebrochen bis in unsere Zeit weiterwirkt. Griechisch ist zu allen Zeiten gesprochen worden. Unsere Sprache hat sich verändert, wie sich alles Lebendige ändert, aber Brüche sind ihr erspart geblieben.“ So haben wir versucht, in dieser horen-Ausgabe aufzuzeigen, wie dieses „Ungebrochene“ in einem heute scheinbar so sehr verlorenen Land aussieht.

Suche nach Griechenland
Graffiti in Athen

Entstanden ist eine nach sehr subjektiven Gesichtspunkten zusammengestellte Textsammlung ohne jeden Anspruch auf irgend eine Vollständigkeit oder literaturhistorische Relevanz. Nach einiger Zeit entdeckten wir allerdings doch ein – quasi unsichtbares – Kriterium, das uns offensichtlich leitete, unsere Schwerpunkte diktierte und das sich umschreiben ließe mit dem Begriff „Widerstand“. Bei näherem Hinsehen mussten wir erkennen, dass das Begriffspaar „Literatur und Widerstand““ – wobei es dabei schon um Leben und Tod geht – Griechenland offenbar „adoptiert“ zu haben scheint. Denn die Geschichte der neugriechischen Nation des 20. Jahrhunderts war geprägt von deren schrittweiser territorialer Konstituierung seit der Unabhängigkeit eines Rumpf-Griechenlands 1830 (hinzu kamen: die Ionischen Inseln 1864, Thessalien 1881, Kreta 1908, die meisten Inseln, Epirus und Makedonien mit Thessaloniki 1913), einer extremen politischen Polarisierung (zwischen Republikanern und Monarchisten, zwischen Rechts und Links), mehreren Kriegen und einem Bürgerkrieg. Tatsächlich enden die kriegerischen Auseinandersetzungen der Griechen mit dem Osmanischen Reich bzw. später mit der Türkei erst 1922. Im darauf folgenden Jahr kommt es zu einem Bevölkerungsaustausch. 1,5 Millionen in der kleinasiatischen Türkei lebende Griechen werden nach Griechenland und 500.000 in Griechenland lebende Türken in die Türkei zwangsumgesiedelt.

Nach den Balkankriegen 1912/13, der Beteiligung Griechenlands am Ersten Weltkrieg 1916 bis 1918, nach dem Griechisch-Türkischen Krieg 1922, nach der faschistischen Metaxas-Diktatur 1936 bis 1940, nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 sowie dem sich anschließenden Bestehen eines Militärstaates mit Notstandsgesetzgebung (der bis Anfang der 60er Jahre existierte), begann in Griechenland erst gegen Ende der 50er Jahre eine Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich Anfang der 60er Jahre langsam stabilisierten.

Allerdings bedeutete der Militärputsch im April 1967 ein jähes Ende dieser so kurzen und vor allem ersten (!) halbwegs demokratischen Phase in der Geschichte der jungen griechischen Nation – mit verheerenden Folgen für die weitere gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung. Griechenland ist ein Sonderfall: Es war das einzige westeuropäische Land, in dem 1967, also zwei Jahrzehnte nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, eine Militärdiktatur installiert wurde, die immerhin sieben Jahre lang, bis 1974 währte. Weder die NATO-, noch die westlichen europäischen Partner Griechenlands, noch seine USA-Verbündeten waren bereit, einen Beitrag zu leisten, damit das Obristenregime so schnell wie möglich wieder verschwindet, sondern sie alle richteten sich mit der Diktatur ein, die ein Volk traf, das – zum ersten Mal in seiner neueren Geschichte – einen Hauch von Demokratie hatte erleben dürfen. Die neugriechische Literatur entstand in einem Umfeld, in welchem permanent Krieg, Krise, politische Unruhe und menschliche Not herrschten. Die Autoren reagierten darauf ganz unterschiedlich.

Konstantin Kavafis wählte, um seine „politischen Botschaften“ übermitteln zu können, den „Umweg“ über das hellenistische Zeitalter und verbarg sein Privatleben und insbesondere seine Homosexualität mit einer höchst beeindruckenden Konsequenz, die uns offenbart, welcher existentiellen Bedrohung er sich ausgesetzt sah – selbst als „griechischer Dichter“ im fernen Alexandrien in Ägypten. Kostas Karyotakis, der in den zwanziger Jahren nicht nur als Dichter berühmt wurde, sondern sich gesellschaftlich in der Gewerkschaftsbewegung engagierte, nahm sich das Leben, weil er als Beamter aus politischen Gründen in ein Provinznest zwangsversetzt wurde, wo er nicht mehr „atmen“ konnte. Maria Poliduri engagierte sich für den Feminismus und die Frauenfrage und gehörte in den zwanziger Jahren zu den „Aussätzigen“ der griechischen Gesellschaft. Die Tuberkulose, die die noch sehr junge Dichterin dahinraffte, war eine Krankheit der Armen; den Aufenthalt im letzten Sanatorium ermöglichten Bekannte – allerdings unter einem Vorwand, denn Maria Poliduri hätte diese finanzielle Unterstützung niemals akzeptiert.

Suche nach Griechenland mit Asteris Kutulas
Graffiti in Athen

Odysseas Elytis wurde der Literatur-Nobelpreis für die poetische Kodierung des Leidens des Griechentums vor allem während des 2. Weltkriegs in seinem Epos „Axion esti“ verliehen.

Jannis Ritsos, Mikis Theodorakis, Tassos Livaditis und fast alle anderen hier im Band vereinten Autoren, die in den ersten 40 Jahren des letzten Jahrhunderts geboren wurden, machten Gefängnis, Verbannungslager und Folter durch, ihre Bücher waren zum Teil für Jahrzehnte verboten, einige dieser Autoren mussten emigrieren oder waren beruflichen oder persönlichen Schikanen der Staatsmacht ausgesetzt.

So findet sich fast die gesamte linke Intelligenz Ende der vierziger Jahre auf der Todes- und Folterinsel Makronisos wieder, auf der das riesige Lager mit Hilfe der englischen und später der amerikanischen Regierungen aufgebaut wurde und bis 1950 bestehen bleiben konnte. Das geschah während des griechischen Bürgerkriegs, der im Dezember 1944 nach dem militärischen Eingreifen britischer Truppen gegen die linke Befreiungsbewegung EAM ausbrach. Eine europäische Demokratie – nämlich Großbritannien – arbeitete also Hand in Hand mit ehemaligen faschistischen Nazikollaborateuren, um eine demokratische Regierungsübernahme durch die enorm starke griechische Linke gewaltsam zu verhindern. Großbritannien setzte seine Machtinteressen in Griechenland berechnend und ohne demokratische Legitimation durch: angefangen mit der Wiedereinführung der Glücksburg-Monarchie –– also eines dänischen Königs, der in Griechenland zum Staatsoberhaupt gemacht wurde ––, bis hin zur gezielten Provokation eines Bürgerkriegs (auf Befehl von Winston Churchill) und damit auch zur Eröffnung von Konzentrationslagern, in die zehntausende Linke deportiert und in denen systematisch gefoltert und gemordet wurde. Als Großbritannien in Griechenland schließlich nicht mehr Herr der Situation war, zog es sich zurück und ließ die USA das „Werk“ vollenden. Diese durch anhaltenden Terror und Einschüchterung sowie das Mittel der Bevorzugung und Zurücksetzung erzwungene „“unnatürliche Entzweiung““ (Theodorakis) des griechischen Volkes und die jahrzehntelange Unterdrückung bescherte der griechischen Nation ein bleibendes Trauma, das ein tief im Bewusstsein einiger Generationen von Griechen verankertes antiwestliches Ressentiment zur Folge hatte.

Suche nach Griechenland mit Asteris Kutulas
Graffiti in Athen

Die sogenannte „Generation der Niederlage“ eines Manolis Anagnostakis, Michalis Katsaros, Takis Sinopoulos etc. durchlebte nicht nur gnadenlose Verfolgung und Diskriminierung in den vierziger Jahren, sondern auch die desillusionierende und von völliger Hoffnungslosigkeit durchdrungene, nachfolgende Dekade der 50er Jahre, die Gefühlswelt und Schreibstil dieser Autoren prägte.

Die permanent kriegerischen Zustände und instabilen politischen Verhältnisse seit der Konstituierung des neugriechischen Staates 1830 führten dazu, dass die nationale Identität Griechenlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie über die kulturelle Identität des „Griechentums“ definiert wurde, und es ist bezeichnend, dass in den 60er Jahren, während einer äußerst kurzen demokratischen „Atempause“ von etwa sieben, acht Jahren, eine Kultur aufblühte, die enorme internationale Ausstrahlung hatte und die das künstlerische sowie ästhetische Selbstverständnis der meisten griechischen Kulturschaffenden bis in die 90er Jahre hinein prägte. In breiten Bevölkerungsschichten fand diese Kultur einen phänomenalen Anklang. Und nicht nur das. „Griechentum“ bedeutete nicht mehr nur die immer wieder neu aufwallende Schwärmerei für das Altertum, sondern es war eine moderne Kultur auf hohem Niveau entstanden. Griechische Künstler machten international Karriere und erlangten Weltruhm. Es war, als hätte Griechenland urplötzlich die Zeit seit der europäischen Renaissance in rasantem Tempo aufgeholt. Diese kulturelle Bewegung konnte sich von der siebenjährigen Unterbrechung durch die Diktatur (1967 bis 1974) nur sehr schwer erholen, und mit Beginn der neunziger Jahre ging diese Ära schließlich ganz zu Ende. Sie wurde in einem schleichenden Prozess abgelöst von einer kosmopolitischen, zumeist indifferenten Kulturlandschaft, die ihre nationalen Charakteristika immer mehr einbüßte. Großartige Kunst von griechischen Künstlern entsteht seitdem vor allem in der griechischen Diaspora in den USA, in Australien und Europa, wo genauso viele Griechen leben wie im Heimatland selbst. Jeffrey Eugenides, Alexander Paine und Aris Fioretos seien hier als Beispiele genannt.

Golden Sixties

Beim – wie ich es nennen würde – „Neuen Goldenen Zeitalter“, den „Golden Sixties der griechischen Kultur“ haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das auf allen künstlerischen Gebieten zu beobachten war – in der Literatur, der Musik, der Bildenden Kunst, auf dem Gebiet des Filmschaffens. Einen Höhepunkt markierte zweifellos die Verleihung des Literaturnobelpreises an Giorgos Seferis 1963. Zugleich gewannen auch die Lyrik von Odysseas Elytis (der 1979 den Literaturnobelpreis erhielt) und Jannis Ritsos immer mehr an internationaler Bedeutung. Die neue griechische Literatur – zuvörderst international repräsentiert durch Nikos Kazantzakis’ Romane – wurde bald schon in vielen Ländern wahrgenommen und in etliche Sprachen übersetzt. Auf musikalischem Gebiet erlangte Manos Chatzidakis 1960, als ihm der Oscar für die Filmmusik verliehen wurde, einen enorm hohen Bekanntheitsgrad. Weit reichende internationale Popularität wurde Mikis Theodorakis’ sinfonischen Werken aus den 50ern als auch seinem späteren Liedschaffen zuteil. Auf dem Gebiet des Filmschaffens kam es in den 50er und 60er Jahren zur Verleihung einiger Oscars und anderer Preise in Los Angeles, Cannes, Berlin, Paris, London etc. an Künstler wie Michalis Cacojannis, Nikos Koundouros, Vassilis Photopoulos etc. Allein in den 60er Jahren gab es 16 Oscar-Nominierungen für einen griechischen Film oder Schauspieler, so viele, wie in keinem Jahrzehnt davor oder danach. Werke der Bildenden Kunst – wie z.B. die von Jannis Zarouchis – fanden Aufnahme in Sammlungen des Pariser Louvre und in die Bestände anderer namhafter Sammlungen und Museen. Mehrere griechische Künstler standen am Beginn ihrer bald schon international anerkannten Karriere (Constantin Costa-Gavras, Theodoros Angelopoulos, Jannis Kounellis, Vangelis, Olympia Doukaki, Petros Markaris). Allseits bekannte und gefeierte Persönlichkeiten waren zu dieser Zeit bereits Maria Callas, Melina Merkouri, Dimitris Mitropoulos, Jannis Xenakis, Irini Pappas, Katina Paxinou, Nana Mouskouri und nicht zu vergessen John Cassavetes, Elia Kazan – beide griechisch-stämmig –, um einige Beispiele zu nennen.

Griechische Anthologie Horen von Asteris Kutulas
In Athen

Die kulturelle Blüte, zu der es im modernen Griechenland der 60er Jahre kam, bahnte sich bereits in den 50er Jahren an. Interessanterweise lassen sich sowohl für die desillusionierte und traumatisierte linke Intelligenz als auch die sogenannten bürgerlichen Künstler drei gemeinsame ästhetische Bezugspunkte festmachen: die neuere griechische Kunst seit dem 19. Jahrhundert (z. B. über die „Entdeckung“ der Erinnerungen von Makrijannis, der naiven Malereien von Theofilos, des Karagiosis-Puppenspiels und der „alternativen“ Rembetiko-Musik), die europäische Moderne (z. B. zur als revolutionär empfundenen Tradition des sowjetischen Romans, des französischen Surrealismus, des modernen Balletts und der Neuen Musik) und – natürlich – die Antike (z.B. ästhetisch vermittelt zum einen durch den lakonischen Konstantinos Kavafis, zum andern durch den hymnischen Angelos Sikelianos, der die „Delphische Kultur“ wieder auferstehen lassen wollte).

Der Putsch von 1967 kam nicht nur, um einen erwarteten phänomenalen Wahlerfolg der liberalen Zentrumsunion (Enossi Kentrou) zu verhindern, die kaum als eine das herrschende System bedrohende Kraft angesehen werden konnte, sondern der Putsch war vor allem eine Reaktion auf diese kulturelle Revolution, die von breiten Bevölkerungsschichten und insbesondere von der Jugend mitgetragen wurde und die einen linken libertaristischen und zugleich aufklärerischen Ansatz hatte. Die Kulturtradition dieser „Golden Sixties“ wirkte zwar nach bis in die neunziger Jahre, wurde aber, wie bereits erwähnt, durch die siebenjährige Juntazeit brutal unterdrückt und anschließend ab 1974 von den Regierenden und – ob des dieser kulturellen Bewegung innewohnenden Freiheitspostulats – teilweise auch von der Kommunistischen Partei bekämpft.

Nationale Identität

Ab Anfang der neunziger Jahre führte die neoliberale Ausrichtung der Politik die griechische Gesellschaft dann in die „“transzendentale Obdachlosigkeit““ (um einen Begriff des jungen Georg Lukács zu benutzen), denn das politisch-wirtschaftliche Streben nach Europäisierung und Globalisierung der Märkte brachte es mit sich, dass nationale und ethnische Besonderheiten immer mehr zurückgedrängt wurden. Das neue finanzgesteuerte Gesellschaftsmodell postulierte sie als Hemmschuhe des Fortschritts. Es brauchte keine eigensinnigen Griechen, sondern „gesichtslose“ Konsumenten, bevorzugt unkritische, die bei ihrer Eitelkeit zu packen waren, wenn es darum ging, sich als Weltbürger zu empfinden und als solche zu beweisen. So gab es, parallel zur griechischen ökonomischen Krise, seit 2009 starke Tendenzen – ausgehend sowohl von einigen intellektuellen Kreisen als auch von offiziellen Regierungsstellen, vor allem vom Bildungsministerium –, die neugriechische Geschichte von 1821 an, beginnend mit dem Ausbruch des Aufstandes gegen die Osmanische Herrschaft, neu zu „schreiben“. Viele bislang tradierte nationale Ereignisse in der neugriechischen Geschichte wurden von offizieller Seite plötzlich neu definiert. Das griechische Volk begann seine Helden, seine Ideale, seine Geschichte zu verlieren, seine nationale Identität wurde in Frage gestellt.

Diese Diskussion über das rigorose Uminterpretieren und Umschreiben der Geschichte, bis in die Schulbücher hinein, löste in Griechenland einen Kulturkampf aus, der zum Teil brachial und sehr emotional geführt wurde. Kostas Georgasopoulos, einer der bedeutendsten griechischen Publizisten und Repräsentant der „Golden Sixties“, schrieb auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzung einen Artikel mit dem Titel Über Fahnenkunde, in dem u.a. folgendes zu lesen ist: „“Viele Jahre nach der Phase der Aufstände (zur Erlangung der Unabhängigkeit Griechenlands, A.K.) bezeichneten Universitätsprofessoren und diverse andere Intellektuelle in öffentlichen Verlautbarungen die Fahnen, die die Menschen auf der Straße getragen hatten, als ‚Lappen‘, als ‚nationalistische Symbole‘, als ‚Idole der Götzenanbetung‘. Dieselben ‚Theoretiker‘ wollen uns nun weismachen, dass die Nationen ‚Konstrukte‘ seien, die Staaten ‚Gewaltmaschinen‘ und die Geschichte unseres Volkes ein Szenarium für eine nachmittägliche Seifenopern-Serie im Fernsehen. Diese Meinungen werden jetzt tatsächlich in den Vorlesungssälen vertreten, sie sind in den Schulbüchern zu lesen, und zu großen Teilen wird die Bevölkerung ruhig gestellt mit Kulturgütern aus Staaten, die im Niedergang sind, Staaten, die die Kultur des Tauschhandels einführten an der Weltbörse der Rauschmittel, der seichten Unterhaltung, der Monotonie, des Schweigens und des Geschreis, der armseligen Sexspiele …““

Globalisierung & Identitätskrise

Dieser Angriff auf allen Ebenen des sozialen Lebens als auch auf das „Geschichtsbewusstsein“ und die „Integrität“ der Griechen löste eine noch nicht dagewesene Identitätskrise des sich bislang als selbstbewusst empfindenden griechischen Volkes aus. Es war zugleich ein innerer Krieg zwischen einer sich der Globalisierung verschreibenden, also „anti-griechisch“ neoliberal agierenden Regierung und der älteren, noch mit Krieg, Bürgerkrieg und der Junta konfrontierten Generation, die ihre Kraft und ihre Zuversicht stets aus den nicht nationalistisch verstandenen Begriffen „Griechenland“, „Heimat“, „Freiheit“ sowie aus der griechischen Geschichte und Kultur schöpften. Ihr ganzes Leben und ihre Ideale sollten einer neuen „kosmopolitischen“ Weltanschauung geopfert werden. Somit wurde das Volk insgesamt für die Regierenden zum Feind, es musste kampfunfähig gemacht werden. Dazu gehörte auch, den Wert seiner kulturellen Traditionen mit Geringschätzigkeit zu bemessen und das Nationalbewusstsein der Griechen zu untergraben und zu zerstören. Also ihre gemeinschaftliche Erinnerung und Kultur auszulöschen. All das bekam das Etikett „Nationalismus“ aufgedrückt.

Der vorliegende Band ist unter anderem das Zeugnis einer permanenten Literatur im Widerstand. Darum beginnt und endet unsere Auswahl mit aktuelleren Texten, dazwischengeschoben ist ein „historischer Exkurs“ mit einigen Klassikern der modernen griechischen Literatur.

Sowohl Amanda Michalopoulou, Christos Chryssopoulos und Jazra Khaleed wie auch der Grafiker Ilan Manouach oder Michalis Michailidis und Petros Markaris reagieren unmittelbar auf den „neuen Kriegszustand“, auf die „neue Junta-Zeit“, als die die letzten fünf Jahre von vielen in Griechenland empfunden und beschrieben werden. In den Texten bzw. Aussagen dieser Autoren wird deutlich, dass bereits lange vor dem ökonomisch-wirtschaftlichen der gesellschaftliche Niedergang Griechenlands deutlich zu erkennen war. Dessen Ausmaß wurde schlagartig offenbar, als es im Dezember 2008, ein Jahr vor Ausbruch der Krise, zu einem gewaltsamen Aufstand der Jugend kam. Die innere Unzufriedenheit mit dem Status Quo der Elterngeneration, der Frust über die soziale Kälte des Staates und insbesondere die als existenzielle Bedrohung empfundene Perspektivlosigkeit entluden sich in einer bisher noch nicht dagewesenen explosionsartigen Protestwelle – das Land hatte sich in ein Pulverfass verwandelt. Das geschah zu einem Zeitpunkt, da die gesamte Generation der 17- bis 30jährigen Griechenland als ein Land ohne Zukunft wahrnahm, ein Land, das im Hinblick auf seinen Wohlstand, seine Kultur, seine soziale Entwicklung dem Untergang geweiht war.

Werft kein Tränengas mehr. Wir weinen auch so …

Anlass dieses Aufstandes war der Tod des 15jährigen Alexis Grigoropoulos am 6.12.2008, der nach Zeugenaussagen von einem Polizisten kaltblütig erschossen, nach Angaben der Polizei allerdings durch den Querschläger aus der Waffe eines Polizeibeamten tödlich getroffen wurde. Wie auch immer, Alexis Grigoropoulos wurde zur Symbolfigur einer ausgestoßenen Generation. Kein Kind einer Verkäuferin im Supermarkt, sondern eines Juweliers. Der Zerfall des staatlichen Systems begann auch diejenigen in den Abgrund zu reißen, die bis dahin als ökonomisch abgesichert galten. Niemand konnte sich mehr in der Sicherheit wiegen, durch irgendeinen glücklichen biographischen Umstand vor der trostlosen Realität beschützt zu bleiben. Ein emphatisches Dokument dieser Sinnkrise und Ausdruck des Protestes gegen eine vollkommen kommerzialisierte Alltagskultur ist der folgende Brief von Alexis’ Freunden, den sie bei seiner Beerdigung verteilten:

„“Wir wollen eine bessere Welt! Helft uns! Wir sind keine Terroristen, Vermummten … WIR SIND EURE KINDER! … Wir haben Träume – Tötet sie nicht. ERINNERT EUCH! Ihr wart auch mal jung. Und jetzt rennt ihr nur noch Eurem Geld hinterher, interessiert Euch nur noch für Äußerlichkeiten, seid fett geworden und glatzköpfig, habt VERGESSEN! Wir dachten, ihr würdet uns unterstützen; wir dachten, es würde euch kümmern, dachten, dass auch ihr uns mal stolz machen würdet. VERGEBENS! Ihr lebt ein falsches Leben, lasst den Kopf hängen, habt die Hosen runtergelassen und wartet auf den Tag, an dem ihr sterbt. Ihr fantasiert nicht mehr, verliebt euch nicht mehr, kreiert nicht mehr. Nur kaufen und verkaufen könnt ihr noch. ÜBERALL NUR MATERIELLES. NIRGENDWO LIEBE – NIRGENDWO WAHRHEIT. Wo sind die Eltern? Wo sind die Künstler? Wieso treten sie nicht hervor, uns zu schützen? MAN TÖTET UNS! HELFT UNS!

DIE KINDER
PS: Werft kein Tränengas mehr. Wir weinen auch so.“

Wochenlang gingen zehntausende Schüler und Studenten auf die Straße, besetzten Schulen und Universitäten. Dabei handelte es sich nicht um vereinzelte Proteste, das war ein wütender Aufstand der Jugend, der sich auf das ganze Land ausweitete. Schlagartig wurden der tiefe Generationskonflikt und der Unmut der jungen Griechen im Hinblick auf die sozialen Zustände des Landes sichtbar.

Die verlorene Jugend

Die Ursache für den damaligen Jugendaufstand lag darin, dass diese so genannte „700-Euro-Generation“ (und die „400-Euro-Generation“ im Jahr 2013) schon zu diesem Zeitpunkt keine gesellschaftliche Perspektive mehr hatte. Selbst für die zumeist gut ausgebildeten Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten gab es kaum Arbeitsplätze, und wenn, dann waren diese schlecht bezahlt und oft bestanden keinerlei Aufstiegschancen. Die Jugend erlebte tagtäglich, dass sie nicht „gebraucht“ wurde, egal wie viel Zeit, Kraft und Geld sie und ihre Familien in ihre Ausbildung investiert hatten. Für sie war kein Platz mehr in einem Land, das bis 2007 mit die höchsten Entwicklungsraten in der EU aufwies. Die jungen Erwachsenen waren gezwungen, bei ihren Eltern wohnen zu bleiben – im Ausland oft belächelt als diejenigen, die scheinbar nicht imstande waren, sich aus dem „Hotel Mama“ verabschieden. Tatsächlich aber konnten die meisten von ihrem geringen Gehalt nicht mal die Miete für eine 1-Raum-Wohnung bezahlen. Offenbar hatte das Griechenland ihrer Eltern sie abgeschrieben, sie waren lediglich geduldete Gäste und empfanden sich als „heimatlose“ Griechen in einem dem Verfall preisgegebenen Land.

Griechische Anthologie Horen, Asteris Kutulas
In Athen

Bereits ein Jahr später brach die größte ökonomische Krise der letzten 50 Jahre aus. Wiederholt wurde in den Jahren nach 2009 in Griechenland davon gesprochen, dass das Land „zurückgebombt wird auf das Niveau der 60er Jahre“. In den 60er Jahren waren Hunderttausende Griechen wegen des noch immer sehr niedrigen ökonomischen und sozialen Niveaus des Landes gezwungen, dieses als Gastarbeiter zu verlassen, um der Armut und einem weiterhin instabilen politischen System zu entkommen. Seit 2010 tendiert die Situation wieder in dieselbe Richtung. Die Menschen dürfen/sollen scheinbar nur wählen können zwischen völliger Verarmung, „Chaos“ und der Drachme oder völliger Verarmung, „europäischer Ordnung“ und dem Euro. Erstere Möglichkeit ist eine hypothetische, die zweite inzwischen Realität. Tausende, vor allem junge Griechen flohen und fliehen aus ihrer Heimat. Dieser Aderlass an kreativem Potenzial und an Fachkräften besiegelt über kurz oder lang den Zukunftsverlust des Landes. Für eine Gesellschaft, in der die elterliche Fürsorge traditionell einen hohen Stellenwert hat, sind das tragische Zustände, zumal die Eltern-Generation der heute 40- bis 60jährigen sich außerdem dem Vorwurf ausgesetzt sieht, ihre Kinder einer traumatischen Perspektivlosigkeit ausgeliefert zu haben.

Die verlorene Zukunft

Griechenland hat – infolge der Regierungspolitik der letzten vierzig Jahre und der Auswirkungen einiger wirksamer Bestrebungen ausländischer politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme – seine junge Generation verloren und damit seine Zukunft. Seine Geschichte wird umgeschrieben; somit verliert das Land seine Vergangenheit. Seine nationale Identität ist infrage gestellt. Es hat die Fähigkeit eingebüßt, sich in der Gegenwart behaupten zu können. Das wirft nicht nur die Frage auf, ob es „Griechenland“ überhaupt noch gibt, sondern vor allem auch, ob es sich überhaupt noch einmal neu erfinden kann.

Dieser Band offenbart zumindest, dass Griechenland sich seit jeher im „Kriegszustand“ befunden hat und dass bis heute Menschen mit Worten und Taten darauf reagieren und Widerstand leisten. Menschen vor allem, die sich auf ihr „inneres Griechenland“ berufen und Mittler sind zwischen diesem und allen Orten „draußen“, an denen es sich wiederfindet.

Bei der Entstehung dieser Anthologie konnte ich mich auf die Unterstützung der Autoren und Übersetzer verlassen – in diesen Zeiten eine überaus erfreuliche Tatsache, insbesondere sei Ina Kutulas (auch für ihre Mitarbeit an der Auswahl und Zusammenstellung dieses Bandes), Michaela Prinzinger und Theo Votsos ausdrücklich gedankt: Efcharisto poly.

© Asteris Kutulas

DIE HOREN 249

Griechische Literatur (1901 bis 2013) in deutschen Erstübersetzungen

Jazra Khaleed | Panagiotis Mpotikis | Amanda Michalopoulou | Petros Markaris | Michalis Michailidis | Lila Konomara | Christos Chryssopoulos | Agoritsa Bakodimou | Konstantin Kavafis | Mikis Theodorakis | Maria Poliduri | Kostas Karyotakis | Giorgos Seferis | Jannis Ritsos | Menelaos Ludemis | Tasos Livaditis | Takis Sinopoulos | Jakovos Kambanellis | Manolis Anagnostakis | Rena Chatzidaki | Titos Patrikios | Nikos Engonopoulos | Odysseas Elytis | Aris Fioretos | Dionisis Karatzas | Sakis Serefas | Lefteris Poulios | Antonis Fostieris | Thanassis Lambrou | Kiki Dimoula

Essays

Asteris und Ina Kutulas | Michaela Prinzinger | Theo Votsos | Gregor Kunz | Horst Möller | Mikis Theodorakis | Peter Geist | Grigoris Katsakoulis | Volker Sielaff | Niki Eideneier

Zeichnungen

Ilan Manouach

Redaktion

Jürgen Krätzer

„Kein verlorenes Land“ – Rezension von Annett Gröschner im freitag

Gert Hof gedenkend, Der letzte Brief

Das war die schlimmste Nachricht des Jahres 2012: Unser Freund, Meister seines Faches, inspirierender Geist, Visionär – Gert Hof starb in der Nacht vom 23. zum 24. Januar 2012. Viel zu früh. Sein Genie zündete den Funken, dessen wir bedurften, um Träume auf Erden wahr werden zu lassen, deren Bilder er an den Himmel zeichnete. Seinen größten Feind nannte er das Mittelmaß, seine Freundin die Unikalität. Immer ging er auf’s Ganze, traf in’s Schwarze, versuchte das Unmögliche. Er bescherte uns Augenblicke, die uns die Welt vergessen ließen, entrückte uns auf das hyperreale Feld eines Kampfes auf Leben und Tod. Von dort hat Gert sich verabschiedet. Er hat den Platz eingenommen, den er sich Augenblick für Augenblick erkämpft hat, dort, eine Handbreit über dem Himmel, von wo der Sonnensturm weht. Alle Sterne seien mit dir, Gert! A.K., Januar 2013

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GERT HOF GEDENKEND – DER LETZTE BRIEF

Für Nina & Wanja

Kamerad Gert, das ist mein letzter Brief an dich. Die nächsten Briefe werde ich dir nicht mehr schreiben müssen, weil du gleich zurückkommen und dann für immer bei mir sein wirst. Jetzt bist du nur kurz raus gegangen, um Zigaretten zu holen. Es ist eiskalt draußen. Nachher wirst du dich wie immer auf dein Corbusier-Sofa setzen, mich anschaun, genauer gesagt: mich sehr erwartungsvoll anschaun. Entweder du hast mich tatsächlich erwartungsvoll angeschaut oder ich bildete es mir immer nur ein. Zwölf kurze Jahre lang. Kurz wie Monate. Dein Blick sagte immer: „Ich hab Großes vor, Asteris, lass es uns tun!“ Ab und zu sprang dieser Blick zur Uhr und du wurdest ungeduldig.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof in Dresden, Vorbereitung des Openings des Dresdner Hauptbahnhofs mit dem neuen Kuppelbau von Norman Foster, November 2006 (Photo © by Asteris Kutulas)

Nicht mit mir!

Überhaupt – die Uhr, die Zeit, die Erwartung. So lernten wir uns kennen. Ich produzierte gerade in der Passionskirche das Werk „Sonne und Zeit“ von Mikis Theodorakis mit Maria Farantouri und Rainer Kirchmann. Letzterer kannte dich von deiner Zusammenarbeit mit der Band „Pankow“, und er sagte zu mir: „Gert Hof. Der wär genau der Richtige für das, was du vorhast. Das ist ein toller Regisseur. Und der kann super mit Licht umgehn.“ So verabredeten wir uns im „Schwarzen Raben“. „14 Uhr“, sagtest du am Telefon. Was ich nicht voraus gesehen hatte, war der Mangel an Parkmöglichkeiten in der Gegend nahe den Hackeschen Höfen. Und so verspätete ich mich etwa 15 Minuten. Der erste Satz, den du zu mir sagtest, nachdem du kurz auf die Uhr geschaut hattest: „Nicht mit mir!“ Dieses grandiose „Nicht mit mir!“ reichte immerhin für eine zwölfjährige Beziehung, die teilweise die Dimension – Nina verzeih! – eines Eheverhältnisses annahm.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof auf dem Flug nach Dubai, September 2008 (Photo © by Asteris Kutulas)

Theodorakis & Hof

Was für ein symbolisches Zusammentreffen: Mikis Theodorakis, Gert Hof und das Werk „Sonne und Zeit“! Als Theodorakis im September 1967 in der Isolationshaft des Bouboulina-Gefängnisses, ausgesetzt unsagbarer psychischer Folterung, diese Texte schrieb, saßest du 15jährig im Stasigefängnis von Leipzig. Während der Arbeit an dieser Sonne-und-Zeit-Show … (entschuldige, es war ja keine „Show“) sprachst du davon, dass diese Tage für dich wie eine Rückreise in einen Albtraum seien, dessen Wunden vernarbt gewesen waren und nun wieder aufrissen.

Albträume

Dich bewohnten viele Albträume mit vernarbten Häuten, die keiner sah, die keiner sehen sollte, die viele nicht sehen wollten.
Für unsere Zusammenarbeit war es ein gutes Vorzeichen, dass sie so existenzialistisch anfing – mit diesem geschundenen, schlecht verheilten Traum, der plötzlich aus dem Koma erwachte und gigantisch wurde wie ein 8.000er. In diesem Werk „Sonne und Zeit“ war vieles von dem, was du erlebt hattest und was auch ich erlebt hatte. Zwei Kinder zwischen den Systemen, zwischen den Welten, zwischen den Leben. Zwei Liebende. Du hast immer die Nacht gesucht und fühltest dich doch pudelwohl unter der grellen hellen griechischen Sonne. Theodorakis hatte immer das Licht gebraucht, und er bekam es von dir für das Dunkel geschenkt.

Mit Theodorakis‘ Musik haben wir die meisten unserer Events gemacht. Unter ihnen zwei mit besonderer Bedeutung. Einer davon war im Jahr 1999 die Aufführung der „Mauthausen-Kantate“ von Theodorakis im Washington Holocaust-Museum. Zur gleichen Zeit bereiteten wir einen anderen großen Event vor, nicht nur mit Theodorakis-Musik, sondern mit ihm selbst am Dirigentenpult: den Millennium-Event auf der Akropolis.

In Washington wolltest du kein künstliches Licht haben. Du sagtest mir: „Asteris, besorg 1.000 Kerzen. 1.000 Kerzen auf die Bühne für die Seelen der Ermordeten. Kein künstliches Licht.“ Maria sang an diesem Ort im Schein der 1.000 Kerzen, es war überwältigend, es war angemessen.
Sechs Wochen später der Akropolis-Event, und eigentlich wussten wir beide, dass wir es geschafft hatten, gleich zu Beginn unseres gemeinsamen Weges – wie sagtest du so schön: „Mehr geht nicht“. Zum ersten Mal (und seitdem bisher nie wieder) durfte ein Künstler am Parthenon einen Event machen. Und das zu einer Musik von Theodorakis, von der du sagtest: „Sie ist kongenial.“ Und eben: „Mehr geht nicht“. Du breitetest die Arme aus.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof in St. Petersburg, Panzerkreuzer Aurora, Januar 2003 (Photo © by Asteris Kutulas)

Die Kunst des Krieges

Es folgten zwischen 1999 und 2010 Dutzende von Events und Konzerten überall auf der Welt. Du warst dabei immer die treibende Kraft. Du hast es oder ES hat dich danach verlangt. Es gab unglaublich schöne Augenblicke, große Enttäuschungen, eine Unzahl euphorischer Momente, viele Zwischenzeiten der Nachdenklichkeit und Stille, außerordentliche Streitgespräche, philosophische Exkurse, Kampf, Niederlagen, Versöhnung. Du hattest wahrscheinlich die Zukunft schon im Auge, dem erblindeten; kein Zufall, dass du mir zu Beginn unserer Freundschaft „Die Kunst des Krieges“ von Sunzi schenktest. „Man sollte niemals in die Schlacht ziehen, wenn man sich nicht sicher sein kann, dass man sie gewinnt.“ Und obwohl das eine deiner Maximen sein mochte, bedeutete dir das „In-den-Krieg-Ziehen“ und zu kämpfen letztendlich mehr als der Sieg. Allerdings … einem Don Quichote glichest du absolut nicht. Dazu warst du zu sehr verbunden mit dem Panzerkreuzer Potemkin, mit Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“, mit Hans Eislers „Kuhle Wampe“, mit Bernard-Marie Koltés‘ „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“, mit Berthold Brechts „Mutter Courage“. Und mit Rammstein.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof in Abu Dhabi, August 2008 (Photo © by Asteris Kutulas)

Rammstein & Till Lindemann

Du hast zweifellos ein Doppelleben geführt. Auf der einen Seite „die griechische Sandale“, ich, auf der anderen Seite die – so schien es mir – „gnadenlose Maschinerie“ des Rammstein-Imperiums. Zwei Seelen wohnten ach! in deiner Brust, und du hast sie scharf voneinander getrennt. Ich war ich. Rammstein war deine Family. Die Shows von Rammstein – eine direkte Entäußerung deiner Ästhetik. Ohne Wenn und Aber. Ihr habt zusammen gepasst wie die Faust auf’s Auge.

Zu einer der wichtigsten und unbekannteren, dir und Till zu verdankenden Errungenschaften der Jahrtausendwende gehört die als eine solche zu interpretierende Übernahme des Zwickauer Zoos, dem ihr die leicht überhand nehmende Tristesse zu entreißen verstandet. Ihr habt tatsächlich den Zwickauer Zoo gerettet! Ein gehöriges Maß an Zeit habt ihr investiert in die Vergabe menschlicher Vornamen an alle Tiere. Frei variierend habt ihr die offenbar an zu wenig Beachtung leidenden tierischen Kreaturen des Zwickauer Zoos getauft, freigiebig Menschennamen mit Worten malend, sie klanglich überführend in die Ohren dieser Tier-Wesen, sie kreatürlich somit gewissermaßen erhöhend. Till soll sogar da und dort singend Namen vergeben haben, was die Tiere zu Ohrenspitzen, Flattern oder Schwanzwedeln ermunterte. Dein Lächeln wiederum verursachte ihnen Freude, sie sprangen auf und wälzten sich, sie tauchten oder begannen zu klettern. Du wusstest umzugehen mit darbenden Seelen, im kleinen wie im größeren Rahmen.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof und Jens Probst in Atlantic City, „Lights of Freedom“ Event für die Donald Trump Organization, Juli 2003 (Photo © by Asteris Kutulas)

Extremst-Seelen

Auch bei unseren Events begegneten wir immer anderen Extremst-Seelen, die irgendwie unerlöst schienen. In Gallipoli, auf der türkischen Halbinsel im Marmara-Meer hatten wir es mit australischen Beamten zu tun, die sich mehr für das Hotel ihres Ministerpräsidenten interessierten als für das Memorial für die Tausenden im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, deren Todestag sich zum 90. Mal jährte. In Athen ging es der Archäologischen Gesellschaft darum, die Nachtruhe der beiden Eulen, die auf dem Akropolis-Hügel wohnten, nicht zu stören. In Oman ging es darum, dass der grüne Laserstrahl nicht auf die Iris des Auges des Sultans treffen dürfe. Auf dem Roten Platz ging es darum, dass wir der Wachmannschaft des Kreml genug Wodka zur Verfügung stellen sollten. Auf Malta musstest du bei deinem Antrittsbesuch beim letzten auf der Burg lebenden Ordensritter der Johanniter die Genehmigung für den Event einholen, die die Maltesische Regierung nicht bekommen hatte.

Reinhold Messner & der Vulkan

Und dann kam Reinhold Messner. Du warst fasziniert von einem Menschen, der ohne Sauerstoffmaske alle 8.000er der Welt bezwungen hat. Als er dich bat, aus der Burg Sigmundskron in Bozen einen Vulkan zu machen und den ganzen Berg verschwinden zu lassen, drehtest du dich zu mir um und sagtest: „Darauf habe ich gewartet. Hier bin ich zuhause.“

Du hast den Berg in der Nacht verschwinden lassen, andernorts für Sekunden die Semperoper, die Siegessäule, die Kathedrale von Vilnius. Erst jetzt sehe ich diesen Dualismus klar und deutlich: Da, wo ich meinte, du hättest stets etwas sichtbar gemacht im Dunkel, da erkenne ich jetzt, dass du Noch-Sichtbares hast verschwinden lassen, für Momente, die atemberaubend waren. Du hast uns bewusst gemacht, wie es ist, wenn etwas urplötzlich nicht mehr da ist, wenn das fehlt, was man eben noch gewahr werden konnte.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof, Tim Dowdall und Ivan Nestorov in Sofia (Bulgarien), Dezember 2006 (Photo © by Asteris Kutulas)

Die 8.000er bezwingen ohne Sauerstoffmaske … Es war für dich ein passendes Symbol für das, was du mit Leben meintest. Dieses Leben am Limit, das war dein Traum vom Dasein. Bei einem Gespräch mit Messner wurde die Idee geboren, einen Event zu diesem Ideal zu machen – einen Event am Nordpol. Der Nordpol war (abgesehen von der Akropolis) die für dich interessanteste Location. Kälte, Eis, Tod durch Erfrieren. An der Verwirklichung dieses Traums haben wir bis zuletzt gearbeitet.

Island & die Aschewolke

Der Nordpol-Event sollte im September 2012 die Krönung unserer Zusammenarbeit und dein Meisterwerk werden. Wir waren deswegen 2011 nach Island geflogen. Wir kamen dort an zur Zeit des Vulkanausbruchs. Du wolltest nur eins: in die Aschewolke hinein fahren. Um den Wagen herum dichter schwarzer, bald undurchsichtiger Nebel. Du sagtest: „Haltet an hier, haltet an.“ Und dann zu mir: „Hinaus! Raus hier!“ Die Asche flog uns ins Gesicht, drang uns in die Augen. Alles schmerzte. Und du schriest hinein in diesen Ausbruch der Naturgewalt: „Herrlich – nicht?!!“ Ich aber hielt es nicht sehr lange aus, rannte zurück zum Wagen, stieg ein. Unser Fahrer verunsichert. Du bliebst draußen, versuchtest Windschatten zu finden und ein Streichholz anzureißen. Du bliebst stehen in diesem wogenden tiefen Schwarz. Du, der Schwarze Mann. Du rauchtest deine Zigarette zuende. Dann stiegst du ein, glücklich. Wir fuhren zum Gletscher, den du für unsere Show ausgewählt hattest. Reinhold Messner und allen Göttern am Limit war es ein Vergnügen.

Gert Hof, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof in Brisbaine (Australien), August 2007 (Photo © by Asteris Kutulas)

Kaddisch aus Licht

Wobei ich sagen muss, dass unser tatsächlich letzter gemeinsamer Event auf dieser Erde symbolträchtiger nicht hätte sein können. Bereits 1999 im Washington Holocaust Museum hatten wir den Gedanken, auch in Europa ein Lichtzeichen zu setzen für die ermordeten Juden in den Gaskammern des Dritten Reichs. Wir fuhren nach Auschwitz, mehrmals. Wir entwickelten gemeinsam ein Konzept, das vom Internationalen Auschwitz-Komitee angenommen wurde. Aber selbst mit dessen Unterstützung konnten wir es nicht umsetzen. Und so blieb es etwas wie ein Versprechen. Das lösten wir dann mit unserem letzten gemeinsamen Event 2010 in Jerusalem ein, beim Abschlusskonzert des Israel Musikfestivals, das zugleich Auftaktevent des Jerusalem Lichtfestivals war. An antiker Stätte, im Schatten der historischen Mauer von Jerusalem. Mit einem großen Davidstern setztest du ein Zeichen gegen das Vergessen. Wie ein Kaddisch aus Licht.

Gert Hof und Asteris Kutulas
Mit Gert Hof im Aufnahmestudio in Berlin, Bach-Aufnahmen mit Henning Schmiedt, Januar 2008 (Photo © by Asteris Kutulas)

Musik & kein Ende

Überhaupt die Musik. Du sagtest immer: „Musik ist die Mutter.“ Das war nicht so dahingesagt. Wie viele Stunden und Tage verbrachtest du mit den Komponisten, von denen die Musik zu deinen Events kam. Christian Steinhäuser blutete wochenlang für die Oman-Show. Mit Max (Westbam) und Klaus Jankuhn hast du über Monate zusammengesessen für den AIDA-Event in Hamburg. Du ließest nicht locker, bis Roger Waters dir die Änderungen für den Welcome Europe Event in Malta schickte. Und ich werde nie die von dir immer und immer wieder abgelehnten Musikfassungen für den Millennium-Event in Berlin vergessen, die von Mike Oldfield kamen, den du quasi „zwangst“, dir immer neue Versionen zu schreiben, bis du damit zufrieden warst.

Und nicht zu vergessen Klaus Schulze, der nach vielen gemeinsamen Nächten, die du mit ihm in seinem Dorf bei Hannover verbracht hattest, die Musik für den chinesischen Millennium-Event komponierte. Eingebettet in seine elektronischen Klänge: Volkslieder und Hymnen aus der Mao-Zeit. Es war ein Wunder, dass diese Musik am 1.1.2001 von über einer Milliarde Chinesen während der Live-Fernsehübertragung unseres Events gehört werden konnte. Klaus Schulze flog damals nicht mit, weil er es länger als zwei Stunden ohne Zigarette nicht aushielt. Und mit dem Zug, meinte er, würde die Hin- und Rückreise zu lange dauern.

Die Musik war nicht nur deine Welt, die Musik war tatsächlich dein Leben, mehr als alles andere. Ich bin keinem anderen Menschen begegnet, der fast jeden Song von Frank Sinatra, den Einstürzenden Neubauten, den Beatles, aber auch die Arie einer jeden klassischen Oper, der jedes Bachkonzert und jede Einspielung von Glen Gould kannte.

Gert Hof und Rene Dame in Atlantic City, fotografiert von Asteris Kutulas
Mit Gert Hof und René Dame in Atlantic City, „Lights of Freedom“ Event für die Donald Trump Organization, Juli 2003 (Photo © by Asteris Kutulas)

Freundschaft

Mir schriebst du: „Let’s rock!“ Und ich schreib dir heute: On the rocks. Über die Eisberge, an den Vulkanen vorbei, zu den Meeren, bis zum See, auf dem, in einem Boot – wie du sagtest – es am schönsten sei, wenn man auf’s Wasser schaut und zusammen schweigen kann. Ich war für dich der Freund, der, wie du der Welt verrietest, selbstgestrickte Unterwäsche bevorzugte. Zwölf Jahre habe ich mit dem Nadelspiel hantiert und den roten Wollfaden durch die Finger gleiten lassen, damit ich heute diese gestrickte Unterwäsche tragen kann. Ich hab sie bitternötig an diesem eiskalten Tag. Morgen ist Brechts Geburtstag. Brecht erwartet dich bereits.

Literatur

Überhaupt – die Literatur. Wo hast du bloß die Zeit hergenommen, um neben dem vielen Musikhören noch so viele Filme zu sehen, dich mit so viel Architektur zu beschäftigen und so viele Bücher zu lesen! Zu unseren Lieblingsbeschäftigungen gehörte, uns apokryphe Satzfetzen aus diversen Romanen und Theaterstücken zuzuwerfen, die kaum ein Dritter deuten konnte. Fichtes Über-Ich, Schopenhauers Farbenlehre, Benno Pludras „Insel der Schwäne“, Majakowskis Ruf: „Nach vorn! Stürmt Ozeane! Oder ist im Hafen der Sporn der Panzerschiffe vermodert?“ Und nicht zu vergessen das für viele geheimnisvolle: „Sprich, Genosse Mauser!“

Westbam und Gert Hof, fotografiert von Asteris Kutulas
Mit Gert Hof und Westbam in Berlin, Musik-Produktion für den AidaDiva Event, September 2007 (Photo © by Asteris Kutulas)

Nina & Wanja

Ich sprach vorhin über dein Doppelleben. Daneben oder besser: darüber schwebend gab es ein drittes, vermutlich dein wahres Leben. Ob es als das falsche im richtigen oder das richtige im falschen gelten mag – diese Frage, die du immer wieder gestellt hast, werde ich dir viel später bei einem Glas Wodka beantworten können. Jedenfalls war es das, in dem nur zwei Menschen außer dir Platz hatten: Wanja und Nina. Du wolltest sie immer dabei haben, du wolltest sie immer bei dir haben, bei jedem deiner Events. Als wären sie die eigentlichen Augen, die eigentlichen Ohren gewesen, nur diese beiden, abgesehen von dir, der du sowieso, kaum, dass etwas vorbei war, es bereits vergessen hattest und nach vorne schautest, immerzu nach vorne. Aber diese beiden, sie nahmen alles in sich auf, bewahrten es, machten für dich etwas Bleibendes daraus. Sie waren deine engsten Dialogpartner, die im täglichen Leben dein Leben am Limit auszuhalten hatten, die alles mitgemacht haben und es genießen durften.

Das Licht frisst sich vor

„Wie viel Trauer braucht man, um glücklich zu sein?“, das fragtest du in einem deiner Texte. Unsagbar viel, und darum bin ich hier und unsagbar glücklich. Du hast uns dein Gesicht zugewendet. Jetzt erblicken wir dich in unseren Traumgesichten. Mit großen Schritten sehen wir dich gehen, mit ausgreifenden Schritten, so, wie wir uns wünschen, im Dunkel geradewegs auf ein Licht zugehen zu können und im Licht das Dunkel anzunehmen. Auf so vielen Rückreisen waren wir zusammen. Manche Hinreisen hast du allein gemacht. So auch diese.

Anouk mit Gert Hof, fotografiert von Asteris Kutulas
Mit Gert Hof und Anouk in Arnhem, Live-DVD-Produktion, Januar 2008 (Photo © by Asteris Kutulas)

Wenn ich von Asche sprach, vorhin, dann sprach ich auch von Grau und von Feuer. Die Kerze des Malers Gerhard Richter, sie brennt auch für dich, heute an diesem Tag, an dem Richter seinen 80. feiert und an dem wir dich vor dem Auge unserer Seele haben als den, der mit seiner Kunst immer auch Malerei betrieb, sich berufend auf Kandinskys Blau, Caravaggios Licht-Schatten-Dramatik, Goyas Schwarze Bilder, Malevichs Schwarzes und Rotes Quadrat. Gerhard Richters Grau mochte dir ebenso vertraut sein, wie dessen Landschaften. Musik, Literatur, Malerei, Architektur, Film – sie sind Teil deiner ungeheuer großen Welt – und du für uns Teil einer Welt, die wir lieben.

Lass es brennen, Gert! Das Eis ist da. Die Kälte ist da. Das Licht frisst sich vor.

Asteris Kutulas, Rede am Grab, 9.2.2012

 Gert Hof und Udo Lindenberg, Asteris Kutulas
Mit Gert Hof und Udo Lindenberg in Hamburg, Atlantic Hotel, September 2007 (Photo © by Asteris Kutulas)

Nach den Wahlen: vor den Wahlen … ad infinitum

Wie sich Griechenlands Schicksal entscheidet

Für C.S.

Bei den Wahlen vom 6. Mai 2012 haben die Griechen fundamental anders gewählt als die Spanier, Portugiesen oder Iren. Während diese der jeweiligen größten Oppositionspartei wieder zur Macht verhalfen, also nichts am überlieferten politischen Tableau änderten und somit im Rahmen der „europäischen Ordnung“ blieben, verweigerten sich in Griechenland die Bürger dem gesamten seit Jahrzehnten etablierten politischen System und erschufen eine völlig neue Parteienlandschaft. Sie wählten nicht wie im Europa der letzten Jahrzehnte üblich zwischen sozialistisch / sozialdemokratisch und rechts / konservativ, sondern sie negierten die korrupte, klientelistische und desaströse Politik sowohl der sozialistischen PASOK-Partei als auch der konservativen Nea Demokratia (ND) und entschieden sich für etwas Neues, allerdings Unbekanntes. Die Griechen haben im Hinblick auf die bisherige Politik mit NEIN gestimmt, ohne bereits eine wirkliche Alternative vor Augen zu haben, aber es musste endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Das Ausmaß dieses Votums wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die beiden Herrschaftsparteien ND und PASOK seit 1981 zusammen immer etwa 80% der Wählerstimmen bekommen hatten; am 6.5.2012 waren es nur noch 34%. Es ist mehr ein Zufall der Geschichte – vor allem weil sich die Kommunistische Partei auf die Position einer selbstverliebten Außenseiterin mit einem starken Hang zur Selbstzerstörung versteift hat -, dass über Nacht eine linke 4%-Splitterbewegung zur zweitstärksten Partei wurde. SYRIZA mit dem weichgespülten und halbwegs charismatischen, so genannten „radikalen“ Tsipras an der Spitze bekam völlig unerwartet 17% der Stimmen, und war damit die einzig konkrete Alternative zum Alten System.

Politiker abgestraft

Eigentlich müssten die Regierungen und die Menschen in Europa diesen Wahlausgang sehr begrüßen, haben doch die Griechen genau die Politiker endlich abgestraft, die dafür verantwortlich sind, dass Griechenland aufgrund gefälschter Zahlen in die Euro-Zone aufgenommen wurde, und die ebenso die katastrophale wirtschaftliche und politische Lage zu verantworten haben, die ganz Europa an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Politiker, die – was verheerend ist – die Bildung staatlicher und parastaatlicher Strukturen beförderten (z.B. im Steuersystem, im Wahlverhalten und in der Justiz), welche zur Zerstörung der demokratischen Basis der Gesellschaft führten.

In Deutschland genügte – zu Recht – eine nicht ordnungsgemäße Quellenangabe in einer zehn Jahre alten Dissertation, um den damals beliebtesten deutschen Politiker, den Verteidigungsminister der Bundesrepublik, zu seinem Rücktritt zu veranlassen, und zwar von allen politischen Ämtern. Ebenso genügte ein empfindlicher Stimmenverlust (keine Niederlage!) bei der letzten NRW-Wahl, dass der Spitzenkandidat der CDU in NRW noch am Wahlabend von seinem Amt als NRW-Parteivorsitzender der CDU zurücktrat und einen Tag später auch seinen Ministerposten verlor. Der deutsche Bundespräsident verlor seinen Job wegen seiner Kontakte zu diversen Wirtschaftsbossen. Und derzeit werden bereits Rücktrittsforderungen im Hinblick auf den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wegen einer so genannten „Teppich-Affäre“ laut.
Im Gegensatz dazu beharrten –- allen demokratischen Gepflogenheiten zum Trotz –- die alteingesessenen Politiker in Griechenland auf ihrem Machtanspruch und klammerten sich weiter an ihre Posten. Politiker, die zu verantworten haben, dass das Land bankrott ist, dass die Arbeitslosigkeit auf 22 % gestiegen ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei 55 % liegt, dass laut OECD-Angaben Griechenland in fast allen Kategorien, die über die Qualität der Arbeit des Staatsapparats Auskunft geben, europaweit das Schlusslicht bildet. Sowohl Antonis Samaras (ND) als auch Evangelos Venizelos (PASOK) oder Dora Bakojanni (ND) sind seit den achtziger Jahren führende Politiker ihrer Parteien, bekleideten wichtige Regierungsämter seit Anfang der Neunziger und sind direkt mit verantwortlich für den heutigen Zustand Griechenlands. Aber weder sie noch die anderen Spitzenpolitiker der beiden Herrschaftsparteien haben die Verantwortung für die desaströse Lage, in die sie Griechenland und ganz Europa gebracht haben, übernommen oder gar die Konsequenzen gezogen und sich aus der Politik verabschiedet. Selbst nach dem historischen Wahldebakel vom 6. Mai, als zum Beispiel die PASOK von 44% bei der Wahl von 2009 auf schlappe 14% absackte und quasi aufhörte, als Volkspartei zu existieren, lachte Evangelos Venizelos, der Parteivorsitzenden, in die Kameras und sagte, er sei der Garant für eine umfassende Reform seiner Partei und kenne den Weg, Griechenland aus der Krise zu führen – und zwar innerhalb von drei Jahren! Von Samaras, der es kaum fassen konnte, nicht Ministerpräsident geworden zu sein – denn entsprechend der Gewohnheit wäre er ja „an der Reihe“ gewesen -, ganz zu schweigen.

„„Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient““?

Zwei Hauptkritikpunkte wurden in den deutschen Massenmedien immer wieder geäußert -– nachdem „Focus“ und „Bild“-Zeitung 2010 im Stile eines Paukenschlags den Auftakt dazu gaben:

– Der erste Punkt betraf die griechischen Regierungen und den griechischen Staat der letzten Jahrzehnte, die schonungslos und zu Recht der Vetternwirtschaft, des Klientelismus, der Korruption und Unfähigkeit bezichtigt wurden.

– Der zweite Punkt betraf das griechischen Volk, das als insgesamt mitschuldig an der katastrophalen Situation des Landes stigmatisiert wurde – bis über die Grenzen eines latenten Rassismus hinaus -, weil es diese Politiker immer wieder gewählt hatte. Der wie ein Mantra ins Feld geführte Satz: „“Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient““ machte die Runde an den Stammtischen und in unzähligen Talkrunden der öffentlichen wie der privaten Anstalten.

Nun haben sich die Griechen bei der Wahl am 6.5.2012 quasi emanzipiert und schließlich das einzig Richtige getan (wie es „Bild“, „Focus“ und so viele andere verlangt hatten): sie haben diesen Politikern das Vertrauen entzogen und ihnen millionenfach die Wahlstimme verweigert.

Interessant ist, dass man in der deutschen Presse– – nach zwei Jahren Hohn (allein die Bild-Zeitung benutzte innerhalb der letzten zwei Jahren in 125 Ausgaben den stigmatisierenden Begriff „Pleite-Griechen“), permanenter Kritik und der immer wieder geäußerten Aufforderung, es endlich zu begreifen und diese Politiker nicht abermals zu wählen -– keinerlei Zustimmung für diesen Wahlausgang findet. Ganz im Gegenteil. Jetzt werden diejenigen kritisiert, die nicht länger bereit sind, jenen Politikern wieder ihre Stimme zu geben, die das Land in unverantwortlicher Weise regierten und es als ihre persönliche Beute betrachteten; und das Volk, das sich mehrheitlich von den bekannten Raubrittern verabschiedet hat, wird jetzt aufgefordert, diesen abermals den Steigbügel zu halten.

Wie auch immer die Wahl vom 17.6.2012 ausfallen wird, das Wählervotum vom 6. Mai hat das Land nachhaltig wie folgt verändert:

1. Das bisherige bipolare politische System (ND-PASOK) -– die Grundlage für Korruption und Vetternwirtschaft -– existiert nicht mehr.

2. Das Einparteien-System hat ausgedient, was eine neue politische Kultur –Neuland für Griechenland – zwingend notwendig macht.

3. Die in Griechenland schon lange latent existierende faschistische Gesinnung (die sich z.B. äußert in Antisemitismus und Rassismus) ist offenbar geworden und hat jetzt „Gesichter bekommen“, was insofern klärend wirkt, als dass sich die Gesellschaft mit dieser nicht zu übersehenden, nicht zu verdrängenden und nicht mehr wegzuredenden Tatsache auseinander setzen und das bekämpfen muss, worum sie bis jetzt einen Bogen gemacht hat. Der ungeheure Zulauf und die hunderttausenden Sympathiebekundungen, die die rechtsextreme Partei in Griechenland in den letzten Monaten erhielt, sind keine Phänomene, die urplötzlich erst kurz vor der Wahl zu bemerken waren. Es sei daran erinnert, dass die Briten 1944 mit Nazi-Kollaborateuren zusammen gearbeitet haben und diese infolge dessen in die Bildung fast aller Nachkriegsregierungen Griechenlands involviert und im Staatsapparat fest verankert waren, was entscheidend dazu beigetragen hat, dass es 1967 zu einem Militärputsch kam und dass die Faschisten bis 1974, also mehr als sieben Jahre an der Macht bleiben konnten. Bis heute überlebte eine faschistoide Gesinnung in den staatlichen militärischen Organen, was sich bei den Wahlen vom 6.5.2012 z.B. darin gezeigt hat, dass z.B. die Polizeikräfte in Athen mehrheitlich den Neonazis ihre Stimme gaben.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass am 17. Juni in Griechenland wieder das alte korrupte und unfähige System in Griechenland an die Macht kommt. Zu groß ist der Druck, der von der internationalen und der nationalen Nomenklatura auf die zum Teil verunsicherte, verängstigte und desorientierte griechische Bevölkerung ausgeübt wird. Wir sind Zeugen der massivsten internationalen Einmischung in nationale Wahlen in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Frau Lagarde vom IWF, Angela Merkel, Mario Monti, Herr Draghi, Herr Rico, Herr Schäuble, Herr Schulz, der Bundesbankpräsident, Herr Westerwelle, sie alle „empfehlen“ den Griechen „richtig“ zu wählen, nämlich die alte Politikerkaste.

Verständlicherweise, denn es geht der deutschen Regierung um deutsche Interessen. Die Bundeskanzlerin mag vielleicht einen guten Job für Deutschland machen. Dazu gehört aber eben auch, dass sie die Griechen „zwingen“ will, wieder die Politiker zu wählen, die nur aus einem einzigen Grund und um jeden Preis an der Macht bleiben wollen: um nicht ins Gefängnis gehen zu müssen. Überspitzt gesagt: Die deutsche Regierung verlangt von den griechischen Bürgern, dass sie die bekannten Betrüger, Diebe, Verbrecher, Lügner und Bankrotteure wieder wählen sollen, weil diese die einzigen sind, die jetzt das durchzusetzen versprechen, was die deutsche Regierung einfordert. Und sie versprechen das, was die deutsche Regierung einfordert, um nicht ins Gefängnis zu müssen.

Einer von ihnen (nur ein einziger bislang!) musste jetzt in Untersuchungshaft: der ehemalige stellvertretende PASOK-Vorsitzende Akis Tsochatzopoulos, der als Verteidigungsminister 2001 Schmiergelder in Millionenhöhe von der deutschen Waffenfirma Ferrostaal erhalten hat (die dafür übrigens vom Kammergericht München vor zwei Monaten zu 140 Millionen Strafe verurteilt wurde), damit Griechenland deutsche U-Boote im Wert von 2,8 Milliarden Euro kauft. Ferrostaal hat griechische und portugiesische Politiker für insgesamt 62 Millionen geschmiert. In dem Zusammenhang ist die Aussage des Chefs des nationalen griechischen Finanzamts von vor einigen Tagen sehr erhellend: dass nämlich ein Antrag auf Einsicht in die Konten von 500 griechischen Politikern wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung seit über einem Jahr nicht bearbeitet wird.

Die Griechen wollen all diese Leute nicht zurück. Aber Griechenland wird genau diese Politiker wieder bekommen, weil sie derzeit die einzigen sind, die den europäischen (deutschen) Interessen in Griechenland zu dienen versprechen – und das Problem ist, dass der griechischen Nation solches schon einige Male passiert ist. Die Briten z.B. gingen, wie oben bereits erwähnt, während des Zweiten Weltkriegs so weit, dass sie mit den griechischen Nazi-Kollaborateuren (Tagmata X) zusammengearbeitet haben, um eine eventuelle, wie auch immer geartete linke Regierung, die vorher ihrer Entwaffnung zugestimmt und sie durchgeführt hatte, prophylaktisch zu verhindern…

Ich will das als griechischer Bürger nicht: Ich will nicht, dass die alten Verbrecher noch einmal an die Macht kommen und ich ihre grinsenden Gesichter sehen muss. Und ich will keine internationale Einmischung in den Wahlkampf meiner Heimat, eine Einmischung, die nur eine Richtung und Aussage kennt: Wählt ja das alte Politikersyndikat, sonst lassen wir das Chaos über Euch kommen! Sonst werden wir ein Exempel an Euch statuieren! Mit dem Damoklesschwert der Apokalypse über dem Kopf ist schwer Demokratie zu leben.

Was ich will ist eine KATHARSIS und eine neue Chance auf Zukunft. Ob diese Tsipras heißt, weiß ich nicht, aber was ich weiß, ist: Venizelos oder Samaras heißt sie nicht. Diese Loser sind weder die Politiker, die Griechenland reformieren können, noch sind es die richtigen Partner für die Bundesrepublik oder für die Europäische Gemeinschaft…

Asteris Kutulas
(drei Tage vor der Wahl, die nichts entscheiden wird, 14.6.2012)

Unbewiesene Fakten aus meiner Heimat Griechenland

Sowohl Theodoros Pangalos als auch Evangelos Venizelos, aber auch Giorgos Papandreou, Konstantin Karamanlis, Dora Bakojanni oder Antonis Samaras, sie alle stammen aus Politikerfamilien, die teilweise seit 100 Jahren das gesellschaftliche System Griechenlands beherrschen. Sie symbolisieren das alteingesessene, korrupte, kriminelle, reformresistente Establishment von Vetternwirtschaft und Klientelismus, sie haben es beständig weiter gestärkt und gefestigt und damit in Griechenland quasi die Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinn abgeschafft. Sie alle gehören zu den wenigen „Herrscherfamilien“, die neben einer Handvoll Oligarchen – den eigentlichen Machthabern in Griechenland – die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Landes bestimmten. Etwa 400 Menschen treffen in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 alle ökonomischen und politischen Entscheidungen, und viele von ihnen bereicherten sich auf Kosten der Allgemeinheit auf die eine oder andere Art und Weise, wobei sie sich dabei auch an EU-Geldern in Form von Provisionen, Kick-Backs, auf dem Umweg über Scheinfirmen und sogar durch unverhohlenen Betrug bedienten. Dieses extrem parasitäre Establishment konnte sich an der Macht halten, weil es unentwegt dafür sorgte, sich eine politikhörige und untertänige Staatsanwaltschaft sowie eine durch und durch korrupte Finanz- und Steuerbehörde heranzuzüchten und diese am Leben zu erhalten, was jeglichen Ausbruch aus dem bestehenden „System“ unmöglich machte. Zudem stützte sich dieses System auf eine durch die geduldete Steuerhinterziehung und andere Privilegien gehätschelte parasitäre „Oberschicht“, bestehend aus Kommunalpolitikern, Top-Rechtsanwälten, Gewerkschaftsbossen, „Star-Journalisten“, Ärzten, auserwählten Unternehmern und vielen Landwirten. „Freie Wahlen“ waren zugelassen, aber viele Stimmen wurden gegen Vergünstigungen (rousfeti) jeglicher Art gehandelt, was hauptsächlich die Verbeamtung einer Anzahl von „treuen Wählern“ oder deren Familienangehörigen bedeutete.

Dadurch wurde nicht nur ein Teil der Bevölkerung „korrumpiert“ und „politisch fanatisiert“, sondern auch „mitschuldig“ gemacht am Verfall der Werte und des sozialen Gefüges. Mikis Theodorakis brachte das bereits 1991 auf den Punkt: „Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Gehirne geleert“. Im Laufe der letzten 40 Jahre änderte sich dadurch das soziale Verantwortungsgefühl vieler Griechen noch einmal nachdrücklich. Es setzte sich immer mehr ein grenzenloser Egoismus durch, der von den herrschenden Machteliten befördert und zum obersten Prinzip der neoliberalen griechischen Gesellschaft erhoben wurde. Wer sich darauf nicht einlassen wollte, hatte kaum Anstellungs- und Aufstiegschancen. Vom Ausmaß der Korruption zeugen an der Spitze des Eisbergs der Koskotas-, der Siemens-, der Ferrostaal- und der Protonbank-Skandal, das Vathopedi-Desaster, die dubiosen Waffengeschäfte griechischer Politiker und Beamter sowie Hunderte nicht verfolgter und nicht aufgeklärter Skandale.
Hinzu kommt, dass die seit 1974 herrschende Politikerkaste den fast unbegrenzten Einfluss ausländischer und ungezügelter nationaler wirtschaftlicher Interessen zugelassen und darauf ihre Macht gestützt hat, ohne jemals auch nur ansatzweise eine eigenständige nationale griechische Politik zu verfolgen. Die Ergebnisse sind schockierend. Das Land befindet sich seit 2008 in einem rasanten Niedergang – nicht nur in finanzieller und struktureller, sondern auch in moralischer und kultureller Hinsicht. Vierzig Jahre PASOK/Nea Demokratia-Regierungen führten 2011 zu folgenden Ergebnissen, die außer Zweifel stehen:

1) Griechenland ist bankrott.

2) Der Staatsapparat verharrt in einem desolaten Zustand– – es besteht keine Steuergerechtigkeit, das Gesundheitswesen ist marode, das Bildungswesen gehört zu den weltweit schlechtesten, das Rechtswesen ist unzureichend entwickelt, die Verwaltung arbeitet absolut ineffizient.

3) Griechenland hat keine Perspektive, so dass Zehntausende junge Griechen ihr Land verlassen, um sich im „Westen“ eine neue Zukunft aufzubauen.

4) Griechenland ist im Resultat der Politik der letzten 40 Jahre zur „Zwangversteigerung“ gezwungen, es muss also sein gesamtes Staatseigentum zu einem Bruchteil des Wertes an Privatpersonen, Konzerne und Investoren aus dem Ausland verkaufen.

5) Griechenland betreibt seit vielen Jahren keine unabhängige, national selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik und steht darum vor etlichen ungelösten Problemen mit seinen Nachbarländern (Türkei, Albanien, Mazedonien/FYROM) und mit der NATO.

6) Das internationale Ansehen Griechenlands ist fundamental und nachhaltig beschädigt, was sich in der negativen Presse widerspiegelt, die die griechischen Verhältnisse reflektiert und die Griechen im Allgemeinen „verurteilt“. Dieses Misstrauen gegenüber Griechenland wirkt sich verheerend auch auf den Export aus, was der stark angeschlagenen Wirtschaft noch weiter das Wasser abgräbt.

Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Politikerkaste hat nicht nur dazu beigetragen, dass sich die Mentalität und die Wertevorstellungen der griechischen Gesellschaft und besonders der jeweils jungen Generation innerhalb der letzten 40 Jahre immer mehr zugunsten eines ausgeprägten – kreditgetriebenen – Konsum- und Wohlstandsdenkens veränderten, sondern sie hat vor allem wirtschaftlichen und ausländischen Interessen gedient, anstatt eigene strategische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Griechenlands Wirtschaft und seinen Dienstleistungssektor schrittweise hätten stärken können.

Obwohl der hier beschriebene Zustand in den ersten Jahren der Krise für jeden sichtbar zutage trat, übernahm kein einziger griechischer Politiker auch nur ansatzweise eine Mitschuld und eine grundsätzliche Verantwortung für diesen desaströsen Zustand des Landes. Ganz im Gegenteil, die Politiker zelebrierten selbst in den letzten Monaten des absoluten Niedergangs den Machterhalt als oberstes Prinzip des politischen Lebens und als persönliches Allheilmittel gegen die Krise.
Da Griechenland zum einen –– so klein es auch sein mag –– „to big to fail“ ist (genauso wie die großen europäischen Banken), und zum andern auch keine systemimmanente Destabilisierung zugelassen werden darf, können sich unsere korrupten und gescheiterten Politiker auf die Unterstützung ihrer europäischen Kollegen verlassen. Abgesehen von dieser System-erhaltenden Solidarität der europäischen Politiker für ihre griechischen Kollegen, muss jeder vernünftig denkende Mensch zu dem Schluss kommen, dass es mit den bisher herrschenden Machthabern, inklusive den jetzt gewählten Abgeordneten (also auch der gesamten Opposition), keinen Wandel in Griechenland geben kann –– sie alle sind Teil des Problems und nicht nur de facto unfähig, es zu lösen, sondern sie sind auch nicht willens dazu.

(Wäre ich gläubig, würde ich mit dem Satz enden: Gott stehe uns bei!)

© Asteris Kutulas, November 2011

Dionisis Karatzas – Selbstmord des Reservemonats

Ina Kutulas & Mikis Theodorakis & Asteris Kutulas: Trialog über Dionissis Karatzas,

der 1950 in Patras geboren wurde. Er studierte an der Philosophischen Fakultät der Athener Universität und begann seine berufliche Laufbahn als Lehrer. Dionissis Karatzas war an verschiedenen Oberschulen der Peloponnes tätig. Heute ist er Stellvertretender Direktor eines Gymnasiums in Patras. Seinen Einstieg in die griechische Literaturszene hatte er 1972 mit dem Lyrikband „Tagesanbruch auf Erden“. Seitdem publizierte Dionissis Karatzas mehrere Gedichtbände, und längst gilt seine Poesie in der Literaturlandschaft seiner Heimat als unverkennbar. Zur Zusammenarbeit mit dem Komponisten Mikis Theodorakis kam es daher nicht zufällig. Theodorakis hat mehrere der Gedichtzyklen von Dionissis Karatzas vertont („Gesichter der Sonne“, „Wie ein antiker Wind“). Darauf folgten Projekte mit anderen Komponisten wie z.B. mit Ilias Andrianopoulos und zuletzt mit Giorgos Andreou. Dem deutschen Publikum sind Gedichte von Dionissis Karatzas bereits bekannt durch den Liederzyklus „Poetica“ von Mikis Theodorakis, gesungen von Maria Farantouri.  | Dionisis Karatzas – Selbstmord des Reservemonats

Dionisis Karatzas, Asteris Kutulas, Ina Kutulas, Trak Wendisch
Buchcover des Gedichtbandes „Selbstmord des Reservemonats“

Vorwort zur Buchausgabe „Dionisis Karatzas – Selbstmord des Reservemonats“ von Dionisis Karatzas

… hier passiert Meer

Je öfter ich die Gedichte von Dionisis Karatzas las, desto rätselhafter wurden sie mir, wurden zu einer merkwürdigen „Angelegenheit“, zu einer Sache für sich, wurden Ding, Geschichte, wurden zu seltsamen Augenblicken. Diese Gedichte machten mehrere Stadien durch, meinte ich, bis mir klar wurde, dass ich es war, die diese Metamorphosen vollzog.

Zuerst war mir, als hätte ich einen einzigen langen Text gelesen, später, als seien es zwanzig verschiedene zu immer dem gleichen Thema, und noch später, als würden beinahe jedes Mal die gleichen Worte benutzt, um damit immer wieder etwas anderes zu sagen. So als hätte jemand Karatzas eine Grundausstattung für dessen poetischen Unternehmungen ausgehändigt, mit der Bemerkung: Damit musst du auskommen und nun kannst du loslegen. Himmel, Wasser, Herz, Blick, Traum. Und, falls die Kraft dafür noch reicht: Wind, Licht, Tod, Inseln plus einige Mikrogramm Undsoweiter, falls er eine Schwäche dafür haben sollte. In fast jedem dieser Gedichte: Wasser, hauptsächlich salziges, wenn ich mich recht entsinne. Und weil es Gedichte eines Griechen sind, der noch dazu in einer Stadt am Meer wohnt, drängte sich mir die Frage auf: Wie könnte es auch anders sein?

Es brauchte eine ganze Weile, bis ich wusste, dass diese Poesie unspektakulär ist, im besten Sinne des Wortes. Eingedenk der fliegenden Händler, des Hafenbetriebs, des Durchgangsstationsnaturells des Ortes, aus dem Karatzas sich nicht weg zu bewegen, sondern im Gegenteil: an dem er geradezu auszuharren scheint, eingedenk der vielen Wege, auf denen man in diese Stadt hineinkommen und sich von ihr wieder entfernen kann, eingedenk auch des vielen Lärms, der sich dabei erzeugen lässt, wirkte es auf mich phänomenal, dass Karatzas schreibt, als sei er irgendwo lebenslang im Urlaub und habe die Welt um sich her vergessen, die Sensationen, das Gedränge, den Höllenlärm, womöglich selbst zwei Drittel des Periodensystems der Elemente. Von Hitze kein Wort. Eher von Winter und Regen.

Wohnte er in einer Stadt an einem fließenden Gewässer, dann würde man vielleicht sagen: Nun gut, niemand schreibt zweimal über den gleichen Fluss. Doch weshalb sollte dieses Prinzip nicht auch für die Auseinandersetzung mit dem Meer gelten?

Karatzas ist jemand, der beständig über den Wandel reflektiert, die Unbeständigkeit der Erscheinungen und Beziehungen. Wieder und wieder. Meermals. Viel Wasser, wenig Erde, oft Wind, Verzicht auf Flugzeuge, Herbeibemühen des Himmels. Wenig City wird verlangt. Landarbeiter nennt Karatzas sich, und an dieser Stelle war mir beim Lesen, als wäre Feigenbaumholz zu riechen gewesen und Seegrasfeuer. Den Dichter sah ich – Wassermann auf freiem Feld. Kein Supermarkt weit und breit, kein Postamt, größere Wohngemeinschaften glänzten durch Abwesenheit. Nur er und seine Freundin, die ihn ab und zu am langen Arm verrecken ließ, ihn an der langen Leine führte, auf Abstand hielt, dann aber plötzlich an sich riss und um den kleinen Finger wickelte, mit Worten überhäufte, mit der Zunge schnalzte und ihn gesprächsfügig machte. Manchmal band sie die Leine irgendwo an und ging schwimmen, Ertrinken spielen, zog die Aufmerksamkeit des Dichters mit sich in die Untiefe, machte sie zu ihrer Rettung, wurde Gegenspieler ihrer selbst, wurde seine Gegenwart, sein Wortschatz, silbenreicher Ansturm, der dem Dichter in den Ohren lag, jähes Verstummen, schwacher Vers, flacher Atem, hoher Mut, Über Unter Durch. Ein beständiges Annähern und Entfernen, der Rhythmus des Meeres, verinnerlicht, ein Schürfen und Seufzen, Aufschrecken, Einschläfern, das durchzieht diese Gedichte.

Im Gegensatz zum Wasser des Flusses hat das des Meeres die Eigenschaft, in Wellen zurückzurollen, die Flaschenpost, in die man die Botschaft steckte, wieder ans Ufer zu werfen. Karatzas ist imstande, anstatt darüber zu verzweifeln, dies als Aufforderung zu verstehen: die Flasche öffnen, die Botschaft mit eigenen Augen nochmals lesen, mit anderen Augen, wie man inzwischen wissen kann, sie umschreiben, zerreißen, hinunter schlucken, vergessen, erinnern, die Flasche mit Atemwind meerseufzen machen, sie in Papier wickeln, eingraben, aus dem Blick verlieren, von jemand anderem finden, ausgraben lassen, auf diese Flasche und dieses Stück Land als seinem Eigentum bestehen, auf beides verzichten, beides in sich wissend, schwimmend unter dem Himmel gehen, da dieser sich selten spiegelt im Meer. Ja, der Herr Karatzas, er kommt mir allmählich wie ein Flaschenteufel vor, der seine Gedichte doch niemals zu Meerchen werden lassen wird. In allen Wassern ist er zuhause, gewaschen und getränkt sind seine Verse mit dem Nass der Flüsse und Seen, des Himmels, der Augen, Brunnen, Tümpel, Becken, bis die Farben sich aus ihnen lösten, bis sie ausbluteten, bis die Verse schwarz zu werden begannen und die Farben sich in sie stürzten.

Man legt diese Zeilen beiseite, vergräbt sie unter denen anderer Dichter, und dann sind sie plötzlich wieder da, in ihrer soundsovielten Verkörperung – lärmend, aufgeheizt, penetrant, mit starkem Eigengeruch, Geburtsschweiß einer Stadt, der gegenüber das Meer sich seit ewiger Zeit vergeblich zu verschließen sucht. Und eine Flasche liegt auf dem Boden und das Meer wird weiter untergraben und erntefrisch zerredet. Dionisis Karatzas will nichts wissen von Rettung. Immer bleibt er und immer nimmt eine wie Calypso Reißaus.

Ina Kutulas, Herbst 2010

Dionisis Karatzas, Asteris Kutulas, Ina Kutulas, Trak Wendisch
Originalzeichnung von Trak Wendisch zu den Gedichten von Dionisis Karatzas

… hier passiert Musik

Ich schätze und bewundere Dionisis Karatzas, was sich auch in meiner umfangreichen Zusammenarbeit mit ihm zeigt: «Die Gesichter der Sonne», «Beatrice», «Gleich einem antiken Wind», «Die lyrischsten Lieder». Vier auf Gedichten von Dionisis Karatzas basierende Liederzyklen, die die Hinwendung meiner Musik zum lyrischen Leben bedeuten, also des Lyrismus’ absolute Herrschaft über mein Denken, mein Leben und mein Werk.

Dabei half mir die Art und Weise, mit der Karatzas dem dichterischen Wort begegnet: seine Poesie ist voller überraschender Bilder und Bedeutungsinhalte, die direkt zum Wesen einer idealen Welt hinführen, der der lyrische Extrakt des Lebens immanent ist.

Mein Versuch, den Klang dieser vielfarbigen Sensibilität einzufangen und hörbar zu machen, ließ mich zu neuen melodischen und harmonischen – horizontalen wie vertikalen – Ausdrucksweisen finden und offenbarte damit ein völlig anderes Gesicht meiner Musik, ein mir selbst bis dahin verborgen gebliebenes, was den fundamentalen Einfluss des Wortes auf die Musik beweist.

Aus all diesen Gründen möchte ich Asteris Kutulas dazu beglückwünschen, dass er den Versuch gewagt hat, das deutschsprachige Publikum mit diesem herausragenden Repräsentanten der neueren griechischen Dichtung bekannt zu machen, ein Autor, der – trotz der Unkenrufe über den Verfall der modernen Kunst – den Beweis antritt, dass die wahrhaftige Dichtung immer existiert, um die Befindlichkeit des wahrhaftigen Menschen, der voranschreitet, auszudrücken, zumal der Ozean der Gefühle, der in ihm wogt, stets geheimnisvoll und unerforschlich ist und bleiben wird.

Mikis Theodorakis, 12.9.2009

Dionisis Karatzas, Asteris Kutulas, Ina Kutulas, Trak Wendisch
Originalzeichnung von Trak Wendisch zu den Gedichten von Dionisis Karatzas

… hier passiert Sonne

Als ich zum ersten Mal Gedichte von Dionisis Karatzas las, dachte ich, mit dieser, seiner poetischen Welt hätte die meine nichts zu tun. Zu weit entfernt schien mir die erfrischende Meeresbrise seiner Patras-Landschaft von meinem wolkenverhangenen Prenzlauer Berg. Nicht, dass mich seine Lyrik nicht berührt hätte, aber ich nahm sie nicht wahr als „Kunstwelt“. Bis ich herausfand, dass Karatzas es damit ernst meinte: Für ihn war es nicht nur eine Kunstwelt, sondern ein von ihm gelebter „Kosmos“. Diese Erkenntnis offenbarte mir schlagartig neue Einzelheiten, bis dahin wie hinter einem Berg, vielleicht dem Prenzlauer Berg, verborgene, über den ich erst hatte steigen müssen, mich hinwegsetzen über meine literarischen Vorlieben. Trotz ihrer blendenden Helle nahm ich mit einem Mal die Tiefe seiner Bilder wahr, sah ich den Dichter hinabtauchen zum Grund der menschlichen Seele.

Dionisis Karatzas ist ein See-Reisender, er sitzt in seinem Haus in Patras, schaut auf das Ionische Meer und schickt seinen Geist auf Expeditionen. Sein Erfahrungsschatz, den er dabei sammelt, besteht aus WORTEN. Aus sonst nichts. An jedem Werktag geht Karatzas morgens in die Schule und lehrt griechische Literatur. Auch diese, seine berufliche Mission besteht im Dienst an den Worten, bei dem er sich übt in Respekt vor ihnen und ihrer Wirkung. Wie ein mediterraner J.S. Bach widmet er sich, fast nie seine Heimatstadt Patras verlassend, der „Kunst des Wortes“.

Es ist ein eigenwilliges, flutendes Allseitsgriechenland, in das Karatzas mich hinüber lockt, sehr verschieden von meiner zweiten, weiter nördlichen Heimat, in der ich jetzt lebe. Schlafwandelnd ging ich vielleicht schon oft durch die des Dionisis Karatzas. Sie ließ Eros in mir aufschrecken und etwas wachküssen: des Liebesgottes erschreckend jungenhaftes Spiegelbild, das eines Frauenverführers und Kleinmädchenverwirrers, eines Herzerfrischers und Nacktbaders, der dem Papiertiger und Bürohengst Paroli zu bieten vermag und sie aussöhnt mit mir als dem Süßwassergriechen und Grauhimmelberliner, der ich geworden bin, dass ich daran nicht kranken muss.

Die Uhr in meinem Herzen hab ich eingetauscht gegen einen Kompass, dessen Nadelstich mich versöhnlich stimmt bezüglich meiner kühlen Bergbewohnergelüste. In Patras regnet es nun fast das ganze Jahr, möchte ich meinen, und Dionissis Karatzas beginnt sein Ortsgespräch mit der Wasseruhr. Oder war es ein anderer Dichter, der aus den Bergen herabstieg, ans Meer kam und sich erinnerte, dass manches Sprechen Speichelspritzer erzeugt. Landsmann, sei mir gegrüßt, lass deine Schüler Meerdiktate schreiben!

Asteris Kutulas, 11.12.2009

Dionisis Karatzas, Asteris Kutulas, Ina Kutulas, Trak Wendisch
Originalzeichnung von Trak Wendisch zu den Gedichten von Dionisis Karatzas

DIE BITTERKEIT DER KONSONANTEN

Bedacht sprachst du aus was du entschieden
mit Lippenlauten voller Empörung, mit nasalen Lauten der Verweigerung
und gaumenfeuchten Abschiedsworten.
Auf welche Zähne reduzierst du
mein wäßriges Schweigen?
Du hörst immer auf beim Sigma
auf das Lichtes und Winterliches enden.

Du verschärfst die Trennlaute und übersetzt
die Lippenunmöglichkeiten in solche der Nase, das fürcht ich
und gaumenfeucht will ich dich.
Meine speichelnasses Zischen
unterscheidest du von welchem deiner Symptome für Zahnschmerz?
Du hörst immer auf beim Sigma
auf das Lichtes und Winterliches enden.

Dionisis Karatzas: Selbstmord des Reservemonats. Gedichte, Ausgewählt und herausgegeben von Asteris Kutulas, Aus dem Griechischen von Ina und Asteris Kutulas, Zeichnungen von Trak Wendisch, Edition Raute, Görlitz 2010

Odysseas Elytis Begegnungen

Mikis Theodorakis – Ein Leben in Bildern

Asteris Kutulas: Mikis Theodorakis – Ein Leben in Bildern

Unser Anliegen war es, mit diesem Bildband über Mikis Theodorakis durch eine Vielzahl von Bildern, die begleitet werden von Selbstreflexionen des Komponisten, eine visuelle Annäherung, eine Reise, eine Blickachse hinüber zum Leben von Mikis Theodorakis zu ermöglichen, zu einem Leben, das in mehrfacher Hinsicht exemplarisch zwischen zwei Polen verläuft: dem Pol der griechischen und dem der europäischen Musik, dem Pol der populären und dem der sinfonischen Tradition, zwischen dem der Peripherie und dem des Zentrums, zwischen Athen und Paris, zwischen künstlerischer Avantgarde und dem Bewusstsein ursprünglicher Herkunft.
Aus dieser Lebensführung ergab sich in gewisser Weise ein Paradoxon. Theodorakis‘ apollinischer Verstand strebte der absoluten Musik zu, seine dionysische Seele spürte der Volksmusik nach. Sein Lebensweg gestaltete sich zu etwas wie dem unermüdlichen Versuch, eine Verbindung zwischen jeweils entgegengesetzten Polen herzustellen, um scheinbare oder tatsächliche Gegensätze miteinander in Einklang zu bringen.
So dokumentiert dieser Bildband nicht nur in hunderten zum Teil sehr seltenen Fotos, sondern auch in bislang unveröffentlichten Aussagen sowohl des Künstlers Theodorakis als auch vieler seiner Wegbegleiter eine in der Kultur- und Musikgeschichte beispiellose Biografie und ein unikales Werk.
Dieser Bildband über Mikis Theodorakis ist nicht nur einfach als ein Fotobuch von uns konzipiert worden, und auch nicht nur als ein Foto-Text-Buch. Weil durch diesen Musiker griechische und europäische Geschichte „hindurchgeflossen“ ist, offenbart dieser Bildband einen speziellen − vom „Aussterben“ bedrohten − Künstlertypus. Wir haben versucht, ein spannendes Buch zu machen: einen aus 80 Doppelseiten-Szenen bestehenden „Spielfilm“, der sich aus Abbildung, Text, Geschichte und Gefühl speist. Viel Spass damit.

P.S. (Danksagung)

Von den insgesamt mehr als 17.000 Fotos, die wir zusammen für dieses Buch gesichtet haben, stammte der überwiegende Teil aus dem Archiv von Myrto und Mikis Theodorakis. Der andere Teil stammt aus den Archiven von Margarita Theodorakis, Anna Drouza (Archiv Niki Tipaldou), Petros Pandis, Nikos Moraitis sowie dem des Ehepaars Sgourakis. Ihnen allen gilt unser aufrichtiger und tief empfundener Dank. In nicht minderem Maße sind wir auch der Musikbibliothek Lilian Voudouri – wo inzwischen das Gesamtwerk von Theodorakis betreut wird – und seiner Direktorin Stephanie Merakos zu Dank für die tatkräftige Unterstützung unserer Arbeit verpflichtet. Für die Originaltextbeiträge danke ich Michalis Cacoyannis, Konstantin Costa-Gavras, Louis de Bernieres, Klaus Hoffmann, Jack Lang, Zubin Mehta, Henning Schmiedt, Herman van Veen, Roger Willemsen, Guy Wagner und Martin Walser. Unser Dank gebührt ebenso Axel Dielmann, ohne den es die beiden Interviews in dieser Form nicht geben würde, sowie Rena Parmenidou, Guy Wagner und vor allem Peter Hanser-Strecker und dem Schott Verlag in Mainz, der dieses Buch herausgebracht hat.

Asteris und Ina Kutulas

Bildband über Mikis Theodorakis von Asteris Kutulas
S.133 aus dem Buch mit einem Text von Mikis und drei Fotos von Margarita Theodorakis
Zitate aus Originalbeiträgen für das Buch

Zweimal bin ich gereist, um ihn zu hören und mit ihm zu sprechen. Nach Böblingen und nach Annecy. In Böblingen gehörte ich zum enthusiasmierten Publikum. Seine Musik erfüllte jeden Wunsch, den man haben konnte. Sie wurde nicht dadurch beschädigt, dass sie deutlich etwas wollte. Sie war sozusagen engagierte Musik, aber sie blieb griechisch. Das ist immer eine Art Schönheitsgarantie, wenn eine Musik aus einer Folklore lebt, ohne in ihr unterzugehen.

Martin Walser

***

Europa hatte keinen Che Guevera, es hatte Mikis Theodorakis, der später schreiben sollte: „Ich gehöre einer Generation an, die sich einem extremen Idealismus verschrieben hatte. Mein ganzes Leben war ein endloser Kampf zwischen dem Idealischen und dem Wirklichen, dem Alltäglichen und der Vision“. Wir waren mit ihm. Wer nie vom Umsturz der Diktaturen geträumt hat, wird bekanntlich nie erwachsen.

Roger Willemsen

***

Mikis Theodorakis ist besonders wichtig für mich, nicht nur als Musiker, sondern auch als eine Persönlichkeit mit hohem ethischen Anspruch, die einen großen Eindruck auf meine Generation gemacht hat. Theodorakis kämpfte gegen die faschistische Rechte, politisch und mit seiner mächtigen Musik. Er wurde eingesperrt, gefoltert und verbannt. In seiner Heimat war er wegen seines Widerstands gegen die Diktatoren für viele Leute ein Held, und wir alle liebten seine Musik.

Theodorakis ist ein großartiger Komponist, aber die Menschen kommen erst jetzt dazu, seine konzertanten Werke zu hören. Jahre nach unserer ersten Begegnung in den Siebzigern traf ich Theodorakis in Montreal, und ich bot ihm an, ein Konzert mit seinen Werken zu dirigieren. Dieses Konzert mit Auszügen aus einem seiner berühmtesten Werke, dem Ballett „Zorba the Greek“, war ein gewaltiger Erfolg. „Zorba“ ist unvergessliche Musik, besonders das Finale. Es ist eine Musik, die immer im Gedächtnis der Menschen bleiben wird.

Charles Dutoit

***

Lieber Mikis Theodorakis, … Ich hätte Ihre kameradschaftlichen Partnerschaften mit Semprun, Neruda oder Elytis erwähnen können, ja, müssen; Ihren Kampf um die Versöhnung zwischen dem griechischen und dem türkischen Volk, gemeinsam mit Ihrem Freund, dem großen Musiker Zülfü Livaneli; ich hätte daran erinnern müssen, dass der Friedensnobelpreis Ihnen zu Recht zustünde … und über die ganze Größe Ihrer Kunst sprechen müssen. Und hätte dabei den Eindruck einer posthumen Ehrung gehabt. Wohingegen … Mikis Theodorakis: Sie sind hier, lebendig, unter uns, größer denn je.
Im Namen Europas, im Namen der Menschen, im Namen einer gewissen Idee von Europa, dieser Vision der Menschheit, die uns eint und die Sie verkörpern. Dank, vielen Dank, Mikis Theodorakis: Efharisto, Efharisto para poli, Mikis Theodorakis.“ 

Jack Lang

***

Als ich Mikis Theodorakis zum ersten Mal begegnet bin, war ich überrascht von der Stärke, die von ihm ausging. Obwohl er ein so schweres Schicksal ertragen musste, wirkte er auffallend kraftvoll, unbeugsam, ja optimistisch. Es gibt nur wenige Menschen, die eine solche Ausstrahlung, ich möchte sogar sagen, eine solche Aura haben. Unsere wunderbare Zusammenarbeit mit Mikis Theodorakis begann schon 1992 mit der Veröffentlichung von Theodorakis singt Theodorakis auf unserem CD-Label „Intuition“. Seither sind über zwanzig CDs von ihm bei uns erschienen.

Theodorakis genießt meine Hochachtung nicht nur als Person der Zeitgeschichte, sondern vor allem auch als Komponist, der ein ungemein breites Repertoire an Formen und Stilen beherrscht. Das Spektrum reicht vom einfachen Lied bis hin zur großen Oper, vom Chorwerk bis zum Ballett, vom intimen Gitarrenstück bis zum großen Orchesterwerk.

Es ist nun höchste Zeit, dass auch das Musikleben weltweit dieses besondere Œuvre in seiner Vielgestaltigkeit und Besonderheit wahrnimmt. Ich schätze mich glücklich, ihn als Verleger zu betreuen, und ich bin dankbar, dieser außerordentlichen Persönlichkeit begegnet zu sein.

Dr. Peter Hanser-Strecker, Schott Music GmbH

***

Mikis
Ein Mann
ein Wort
eine Melodie
ein Lied
ein Mut
eine Freiheit

Herman van Veen

Corvus Corax Interview, reloaded

„Eigentlich sehnen wir den Tag herbei, an dem es mal keinen Strom gibt …“

Corvus Corax Interview mit Castus und Wim von Asteris Kutulas

Asteris Kutulas: Fangen wir mit dem Anfang an, mit der DDR, mit diesem seltsamen Niemandsland, in das ihr hinein geboren wurdet – und in den Achtzigern zum „Kulturbetrieb“ gehörtet, mit dem „Einstufungs-Schein“ und allem, was dazu gehörte …

Der Anfang in der DDR

Castus: In der DDR gab es immer diese Kulturveranstaltungen, unter anderem auch diese Bezirksfolklore-Werkstatt. Da hat man dann als Band seine Einstufung bekommen. Wir waren bereits „Solisten der ausgezeichneten Qualität im künstlerischen Volksschaffen der Deutschen Demokratischen Republik“, hatten also die höchste Einstufung als Amateurmusiker, und bekamen dazu auch noch ’ne Amortisationspauschale.

Asteris: Das war sozusagen die Ehrennadel …

Castus: Na, wir haben uns da immer freiwillig einstufen lassen, damit wir musizieren und von der Musik leben konnten. Pro Auftritt durften wir 70 Mark nehmen: 30 Mark für die Einstufung, 40 Mark für die Amortisation der Instrumente. Und dann haben wir zu den Veranstaltern gesagt: „Drei bis Vier Auftritte müsst ihr uns mindestens verschaffen …“

Wim: Zwischen zwei Auftritten haben wir ’ne Pause gemacht. Das war das Höchste, was man am Abend herausholen konnte. Da haben wir dann praktisch zwei- oder dreimal dieselbe Pauschale abkassiert, damit sich das lohnte.

Castus: Und für diese Werkstatt ’89, wo wieder diese Einstufung anstand, da hatten wir uns was ausgedacht. Jörg Foth, der in der DDR auch Dokfilme gedreht hat, der meinte: „Lasst uns da mal was zusammen machen.“ Also haben wir zu den Bonzen von der Werkstatt gesagt: „Wir machen ein mittelalterliches Programm.“

Wim: Mittelalterliche Seemannslieder …

Castus: … und Tänze …

Wim: … was sowieso der allergrößte Quatsch ist. Es gibt keine mittelalterlichen Seemannslieder. Aber die haben das ernst genommen.

Asteris: Die haben das immer alles ernst genommen. „Humor“ war eine unbekannte Kategorie bei denen …

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Castus: Wir wollten einfach mal was Surreales machen. Das waren ja alles Idioten. Die saßen da im FDJ-Blauhemd, und dann wurde über Folklore geredet …

Wim: Und es gab ganz viel Reglementierung. Zum Beispiel, dass man auf der Bühne keinen Alkohol trinken durfte, dass man dies und jenes nicht tun sollte, sonst war man kein „vernünftiger Kulturschaffender …

Castus: … der Deutschen Demokratischen Republik“ oder so was. Und da haben wir beschlossen: Jetzt machen wir erst recht genau das Gegenteil. Dann ging’s los. 14 Tage vorher ist Wim in einen Fischladen gegangen. Denn wenn man Seemannslieder macht, muss es ja auch ein bisschen nach Fisch riechen … Hat er 14 Tage vorher Fisch geholt. Kardinalsfisch.

Wim: Bin ich in den Fischladen: „Sagen Sie mal, welcher Fisch vergammelt denn am schnellsten?“ – „Na hören Sie mal, wir haben nur frischen Fisch hier!“ Ich sag: „Na, was geht denn am schnellsten? Wir haben da so was vor …“ – „Na hier, der Kardinalsfisch. Da sollte man schon vorsichtig sein. Der verdirbt schnell.“ Sag ich: „Na, dann nehme ich ein Kilo.“ Das wurde in Tüten eingepackt, und dann haben wir das noch in den Ofen gelegt und zwei Wochen da drin gelassen. Das war dann bei der Veranstaltung unser Entree, wo wir mit einem Fischernetz, in dem dieser „Fisch“ lag, in den Saal rein gegangen sind. Aber vorher musste einer von uns den ja erstmal aus dem Ofen holen. Ich weiß nicht … Drei oder vier Leute von uns haben das versucht. Die haben alle erstmal gekotzt. Das hat so gestunken! Das war ja inzwischen flüssig geworden. Mörderisch. Und dazu dann der Geruch von Kölnisch Wasser …

Einstufungskommission

Castus: Jeder hat vorher ’ne Knolle Knoblauch gegessen und sich ’ne Flasche Kölnisch Wasser über’n Kopf gegossen. Wir wollten ja mit allen Sinnen arbeiten. Aber die sollten möglichst auch ein bisschen verwirrt sein. Dann hatten wir vorher auf der Straße Musik gemacht und dadurch ein bisschen Westgeld. Also kauften wir im Intershop zwei Flaschen Whisky. Allerdings haben wir dann ’ne Wette verloren gegen einen aus dem Publikum, der bekam die eine Flasche. Also hatten wir immerhin noch die zweite. Und dann gab’s noch mehrere Flaschen mit Tee. Die Bonzen von der Einstufungskommission dachten natürlich, dass das alles Whisky ist und wir uns die ganze Zeit besaufen. Dass wir also genau das machen, was verboten war und uns total die Kante geben.

Wim: Und das auch noch mit Whisky aus dem Westen.

Castus: Noch was, das auch nicht erlaubt war: Wir sind gleich ins Publikum rein. Kamen aus dem Backstage-Bereich in den Saal und haben erstmal Geld gesammelt. Das haben die Bonzen überhaupt nicht gern gesehen. Und am Ende des Programms, da war dann einer im Publikum, der hatte ’ne Kerze und ’ne Blechdose. Der war unser Leuchtturm. Da haben uns die Funktionäre dann später vorgeworfen …

Wim: … Genau: „Aufruf zur Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik“.

Castus: Wegen des Leuchtturms.

Wim: Es stand auch ’ne große Babybadewanne, gefüllt mit Sand auf der Bühne, wo ein kleiner Globus drin war. An dem haben wir immer gedreht, um Ferne zu symbolisieren. Das war natürlich auch ein Aufruf. Einer von uns stand in einer zweiten Badewanne. Da hatten wir ’ne Tüte Salz reingekippt und natürlich nicht dran gedacht, dass eine Tüte Salz auf so wenig Wasser … Also der hatte danach rote Füße vom Salz. Und dann haben wir uns noch was geleistet, was sehr schlimm war: „Instrumentenzerstörung.“ Man zerstört ja eigentlich keine Instrumente, denn das ist ja irgendwie etwas … Na, das würden wir jedenfalls normalerweise nie tun, aber weil die ganze Angelegenheit uns so auf 180 gebracht hatte, haben wir erst recht alles zerstört. Später hieß es dann, das wäre ein „Aufruf zur offenen Gewalt“ gewesen.

Castus: Wir hatten uns aber natürlich Instrumente besorgt, die bereits kaputt waren. In eine Gitarre haben wir zum Beispiel hinten ein Loch rein gebohrt und haben dann mit Geigenbögen geschossen …

Wim: In einer der Wannen schwamm ein Haifisch, ein aufblasbarer. Nur Blödsinn.

Castus: Ich weiß gar nicht mehr, wie das Haus hieß, in dem diese Veranstaltung stattfand. Wie viele Leute werden da reingepasst haben? Vielleicht 500. Wenn wir spielten, war es immer voll. Wir hatten ja auch schon einen gewissen Ruf weg. Die Leute wussten, dass da immer was passiert, wenn wir auftraten. Bei dieser Einstufungsveranstaltung haben wir dann jedenfalls Spielverbot auf Lebenszeit bekommen.

Tippelklimper

Asteris: Und unter welchem Namen seid Ihr damals aufgetreten?

Castus: „Tippelklimper“. Das Lustige war auch: Dieser Jörg Foth, der hatte einen Dokfilm darüber gemacht. Und eines Tages sagte er uns dann, dass es ihm sehr leidtäte, aber das meiste von dem Filmmaterial sei in der Kammfabrik gelandet. Das wurde ja vernichtet, daraus wurden dann Kämmehergestellt, aus den zensierten Dokfilmen. Von dem Material, das der über uns gedreht hatte, konnte nur ganz wenig genommen werden.

Wim: Aber das Programm hatte eingeschlagen wie ’ne Bombe. Einer der Funktionäre … der hat dann behauptet, dass wir die Folklore-Szene der DDR damit zerstört hätten. Wir mussten deshalb zum Kulturamt. Dort wartete so ein Oberkultur-Alttyp auf uns, so ein vergilbter, der dann völlig verbittert rumgeschrien hat, dass sie uns zu Ulbrichts Zeiten sofort eingesperrt hätten. Da haben wir unsere Zigarren angezündet, die wir vorsorglich mitgebracht hatten. Wie schon des Öfteren zu solchen Anlässen.

Asteris: Die hatten einfach ’ne Meise. Die wussten nicht, worüber sie sprechen. Und außerdem hatten die sich die Selbstzensur ins Rückenmark gespritzt.

Castus: Das Lustige waren die Reaktionen des Publikums. Es gab die Punks. Die haben natürlich total gefeiert, die ganze Zeit. Dann gab’s die Funktionäre, die saßen da in ihrem Blauhemd und wussten nicht, wie das Ganze gemeint ist.

Am Ende unseres Programms kam das Lied „Ho, unser Maat hat schief geladen“, und das haben wir mit dem Publikum zusammen gesungen. Und auf einmal gehörten alle zusammen, alle sangen zusammen. Und bei diesem Stück, da gingen die Instrumente zu Bruch. Ich hab ein Solo gespielt und mich dann auf mein Instrument gesetzt und hab die Leute zum Klatschen animiert … Also, die Instrumente, die wurden nicht zerschlagen, sondern gingen „versehentlich“ zu Bruch … Überall hat’s gekracht. Überall, in allen Ecken, alle Instrumente waren hinterher Kleinholz. Und das Publikum klatschte dazu und sang mit.

Asteris: „Macht kaputt, was Ihr kaputt machen könnt!“

Wim: Genau! „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ So ist das aufgefasst worden …

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Asteris: Das Fehlen von Humor war wirklich sehr schlimm in der DDR. Aber das waren doch in gewisser Hinsicht ideale Zustände für Euch – Eure Auftritte waren spektakulär, Ihr hattet Euch einen Namen gemacht. Warum seid Ihr dann abgehauen?

Verboten

Castus: Weil wir kurz darauf verboten wurden. Dieses Programm machten wir ’89, Anfang des Jahres. Aber das mit den Verboten zog sich bereits durch unsere gesamte Bandgeschichte. Wir hätten höchstens noch beim Kirchentag spielen können oder so. Da hatten wir natürlich gar keinen Bock drauf. Es wurden also dann wieder Auftritte abgesagt, wie schon einige Male zuvor. Aber jetzt für immer und ewig. Und noch etwas. Es gab da diesen Mittelaltermarkt in der DDR. Den hatte ein Kumpel von uns organisiert. Wir machten diese Musik, und der hatte eben diesen Mittelaltermarkt. Der hatte Probleme, der Markt wurde auch verboten. Wir durften nicht mehr auftreten. Und da haben wir beide gesagt: So, es reicht.

Wim: Und dann kam noch hinzu, dass ich zur Armee sollte. Die wollten mich einziehen. Das war der zweite Punkt. Keiner von uns wollte zur Armee. Wozu? Also haben wir eines Tages beim 30. Gin-Tonic oder so beschlossen, dass wir abhaun.

Asteris: Über Ungarn?

Flucht

Castus: Ja. Das war aber noch vor der Massenflucht. Wir haben uns erstmal noch eine schöne Zeit in Budapest gemacht.

Asteris: In welchem Monat?

Wim: Im Juli. Zu dieser Zeit wussten wir ja noch gar nicht, wie sich die Dinge so entwickeln würden. Dadurch, dass wir uns vorher schon sehr viel in Osteuropa rumgetrieben hatten, hatten wir viele Freunde, gerade auch in Ungarn. Also sind wir dann nach Ungarn gefahren. Beantragten unser Visum. Wir hatten keinem was gesagt, auch in der Band nicht. Nur: „Wir fahren jetzt.“ Man konnte ja nicht mal in der Band so richtig darüber reden. Das haben wir dann erst in Ungarn kundgetan. Einer aus unserer Band hat dann gesagt: „Nee, ich bleib doch lieber im Osten.“ Der war Pfarrerskind und durfte reisen. Da waren die Bonzen ohnehin froh, wenn der weg war. Bei ihm bereitete es ihnen eher Kopfzerbrechen, was sie mit dem im eigenen Land anfangen sollten.

Asteris: Wie ist eure Flucht vor sich gegangen?

Wim: Unser ungarischer Freund hat uns mit Hilfe von tausend Leuten bis zur Grenze geschleust. Wir haben genau gewusst, wann die Kontrolle da lang kommt usw., wo der Grenzstreifen nicht vermint ist, wo man durchkann. Und so sind wir nachts tatsächlich da rüber.

Castus: Wir hatten jeder einen Riesensack voller Instrumente dabei.

Wim: Da gab es so einen Turm. Der war ziemlich weit weg. Wir hatten ein Zeitfenster von insgesamt vier Stunden. In zwei Stunden mussten wir bis zu diesem Turm gerobbt sein, weil die Grenzposten dann alles ableuchteten. Als sie kamen, lagen wir bereits genau unter dem Turm. Da konnten sie leuchten, wie sie wollten. Wir hatten uns gut getarnt mit Laub. Die haben uns nicht gesehen. Die sind drei Meter neben uns vorbeigelaufen. Verschärft.

Asteris: Und euer Herz …

Wim, Castus: Na ja … Wahnsinn.

Castus: Aber irgendwie hat es auch Spaß gemacht. Wir haben zwischendurch noch ein bisschen geflüstert: „Ist das cool …“

Wim: Vollmond. Dann sind wir über so einen Zaun geklettert. Da waren wir auf einmal auf einem Friedhof.

Castus: Also es war Vollmond, aber es war nicht so hell, dass wir hätten lesen können, was auf den Grabsteinen stand, ob das nun Ungarisch oder Deutsch ist.

Österreich

Wim: Tja, wo waren wir jetzt?

Castus: Überall Zäune. Wir wussten nicht: Wenn wir jetzt da rüber klettern, sind wir dann vielleicht gleich wieder im Osten? Auf einmal haben wir ein Licht gesehen. Da sind wir erstmal hingerobbt und haben gekuckt.

Wim: Dann standen da Leute auf der Straße. Da sind wir natürlich gaaaaanz unauffällig, mit den Schuhen in der Hand, barfuß … Mit den riesengroßen Säcken voller Instrumente, wo die Dudelsäcke rauskuckten, sind wir ganz unauffällig durch die Straßen gelaufen und haben gelauscht. Und dann haben wir gesagt: „Jetzt sind wir in Österreich. Jaaaaaaa!“

Asteris: Der Augenblick muss unglaublich gewesen sein.

Wim: Das war eine Feier ohne Ende. Eigentlich war es ja gar nicht so schwer gewesen. Aber vorher, dieses Pläneschmieden … Das ging ja über Monate. Obwohl … Den Plan vom Abhauen, den hat man ja eigentlich immer schon gehabt. So ist es ja nicht. Von klein auf.

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Castus: Jedenfalls, als ich die Aufforderung zur Einberufungsüberprüfung für die Armee in der DDR gekriegt hatte – das war der Schock für mich.

Asteris: Wie alt warst du da?

Armeedienst in der DDR

Castus: Ich war so 22. Wir wussten ja: Solche Menschen wie wir, die können nicht in der DDR zur Armee gehen. Mein ältester Bruder, der war als gewöhnlicher Soldat an der Grenze, und nach dem, was der erzählt hatte, wusste ich: Da geh ich nicht hin. Zu meiner Zeit durfte man auch schon sagen: Ich geh nicht an die Grenze, ich schieße sowieso nicht.

Wim: Also wir hatten bereits die Waffe verweigert. Und in der DDR war klar, wenn man die Waffe verweigert, dann kommt man nicht mit 18 zur Armee …

Castus: Das sollte uns nur recht sein. Wenn man dann zur Armee musste, dann normalerweise kurz vor Toresschluss, mit 26 oder so. Aber irgendwie haben sie mir dann doch dieses Ding geschickt, und ich war 23 … Ich hatte ne Psychiaterin, die Maria, und die hat dann gesagt: „Ok. Du bist homosexuell und Bettnässer.“

Asteris: Aber dann hätte Wim ein Problem gehabt. Da musste er sich auch was einfallen lassen. Das hätten sie Euch nie abgenommen: dass Ihr beide homosexuell seid und Bettnässer …

Castus: Na ja, ich meine, wir wohnten zusammen … Jedenfalls, das Blöde war: Diese sechs Wochen Grundausbildung, die musstest du trotzdem machen. In den sechs Wochen wärst du also ein „Homosexueller“ gewesen, der bei diesen knallharten Typen … Die haben dich ja dann extra zu solchen gesteckt. Und dann hättest du also mit Absicht jede Nacht einpissen müssen. Da hab ich gedacht: Nee, irgendwie ist mir das nichts.

Asteris: Wäre auf jeden Fall eine echte Herausforderung gewesen …

Wim: Und man hat ja vor allem auch gar nicht eingesehen, dass man so einen Scheiß machen muss.

Castus: Ich sowieso nicht. Ich kannte damals eine Frau aus Schweden. Die hab ich gefragt, ob sie mich heiratet. Und als wir dann gehört haben, dass der Grenzstreifen in Ungarn nicht mehr vermint ist – das war natürlich das Beste für uns.

Wim: Die Tür war offen …

Einstufung in der DDR

Castus: Also haben wir uns bei jener letzten Einstufungsveranstaltung so richtig einen Kulturspaß gemacht, weil wir wussten: Nach diesem Fisch-Programm werden wir auseinandergenommen. Und als wir dann danach zum Kulturamt mussten, überlegten wir uns: „Ok. wir nehmen uns einen Schriftführer mit.“ Haben wir in einem Café einen angesprochen: „Pass auf, du kommst mit …“ Und jeder von uns hat da ’ne Flasche Rotkäppchen-Sekt mit hingenommen und ’ne Don Pedro, eine von diesen langen Zigarren. Und dann haben wir uns da hingesetzt … War natürlich dekadent, aber irgendwie musste man ja diese Leute ein bisschen ärgern. Jeder hat seine Flasche Sekt geköpft und aus der Flasche getrunken und seine lange Zigarre geraucht, und der Typ aus dem Café, der hat dann mitgeschrieben, was die vom Kulturamt da sagen. Wir wollten einfach nur ein bisschen rumspinnen. Die Kulturamtsheinis sind auf die Barrikaden gegangen, haben uns mit Spielverbot gedroht und gefragt, warum wir das alles gemacht hatten. Dazu konnten wir allerdings nicht viel sagen.

Asteris: Ich hab übrigens zu DDR-Zeiten nie was von diesem Mittelaltermarkt gehört …

Wim: Das hatte sich erst mit der Zeit so entwickelt.

Castus: „Spektakulatius“ nannte der sich und war hier z.B. im Nikolaiviertel ’88 zum ersten Mal. Und dann wieder ’89, Pfingsten, glaube ich, da wussten wir schon, dass es bald losgeht.

Asteris: Gab’s da eine solche „Mittelalter-Szene“ in der DDR, in den 70er, 80er Jahren?

Wim, Castus: Nee.

Wim: Die hat sich wohl Mitte, Ende der 80er erst entwickelt.

Asteris: Spielten solche Musiker, die da auch zum „Festival des politischen Liedes“ kamen, wie „Zupfgeigenhansel“ und so weiter, spielten die ’ne Rolle?

Wim, Castus: Nee.

Folklore in der DDR

Wim: Aber gekannt haben wir die natürlich, über diese Folklore-Schiene. „Zupfgeigenhansel“ war allerdings aus dem Westen. Es gab in der DDR ’ne Folklore-Szene, und das Mittelalter-Ding, das war eine Seitenlinie. Wir waren da so was wie die „Punker“. Weil wir das ganz furchtbar fanden, dass diese Musik für irgendwelche politischen Aktionen genutzt, missbraucht wurde. Musik ist doch eigentlich was Freies. Kann man auch nutzen, wenn man will. Aber in der DDR war das ja von oben verordnet. Das war grauenhaft.

Castus: Da gab’s so ’ne komische Werkstatt. Die fand immer in Ilmenau statt.  Eine Folklore-Werkstatt. Dahin wurden wir einmal eingeladen. Aus jedem Bezirk kam eine Band. „Folklore-Werkstatt des künstlerischen Volksschaffens“. Und so wurden also auch wir dort einmal hingeschickt …

Asteris: Aus welchem Bezirk wart Ihr?

Wim, Castus: Bezirk Potsdam.

Castus: Also, wir wohnten ja früher in Potsdam.

Wim: Na, da war aber was los!

Castus: Das kam so: Wir haben fast nie am Schalter Fahrkarten gekauft, sondern meist erst im Zug. Sind immer durch den Zug gelaufen und haben gespielt. Kamen rein: „Guten Tag, wir sind das Reichsbahn-Unterhaltungsorchester, eine wuuuunderschöne Reise ….“ Dann haben wir immer gedudelt und abkassiert, dann sind wir zum Schaffner gegangen und haben ’ne Fahrkarte gekauft. Und dann war es natürlich immer so: Freitags fuhren alle Bauarbeiter nach Hause, die hatten dann schon so einiges getrunken, da gab’s immer Apricot-Brandy und so weiter …

Folklore-Werkstatt Ilmenau

Wim: Wie wir da angekommen sind, bei dieser Folklore-Werkstatt … Hör auf …

Castus: Dort haben wir Marken bekommen für die vier Tage, Essenmarken, Getränkemarken, und dann haben wir gefragt, ob man für die Essenmarken auch Bier kriegen kann. Konnte man.

Wim: Das haben wir gleich am ersten Abend alles versoffen.

Castus: Da waren alle Marken schon weg. Klar, wir leben gern. Aber anders war das Ganze da absolut nicht zu ertragen. Diese komischen Funktionäre! Und dann spielten die sich immer gegenseitig vor! Das war definitiv falsch. Da war nichts Echtes dran. Am nächsten Tag sind wir auf die Bühne gegangen und sprangen irgendwann ins Publikum rein. Und das fanden die alle total gut.

Wim: Weil es echte Musik war.

Castus: Damals war das noch gemischt. Wir haben sozusagen Folklore-Punk gemacht, unverstärkt, wir hatten ja keine Anlage. Also schon ganz schön punkig. Möglichst schnell, wir haben rumgebrüllt und hatten auch schon mittelalterliche Instrumente – Dudelsäcke, Drehleier. In Potsdam hatten wir einen Proberaum.

Wim: In einem runtergekommenen Haus natürlich.

Castus: Den Raum haben die irgendwann leergeräumt.

Castus Wim Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Asteris: Wann seid Ihr eigentlich darauf gekommen, selbst Instrumente zu bauen? War das im Westen erst oder schon zu Ostzeiten?

Castus: Schon im Osten.

Wim: Zu Ostzeiten, da hat man schon mal so rumgefummelt, aber so richtig gebaut noch nicht.

Castus: Wir haben eher aus alten Instrumenten was gemacht.

Wim: Ach doch! Ich hatte schon ’ne kleine Drechselbank. War tierisch schwer, sich so was ranzuholen. Die konnte man an den Tisch schrauben, damit fing es an, genau.

Asteris: Du warst ja Prothesenbauer …

Wim: Na ja, gut, ich hab das Handwerk gelernt, ja. Aber das Werkzeug und die Maschinen … Die hat man nicht gekriegt. Jedenfalls hatte ich von so einem alten Handwerker …

Asteris: Also ein zweites Bein kann ich von dir schon bekommen …

Wim: Ja klar.

Asteris: Ihr habt also angefangen, die Instrumente zu bauen … Und Wim lässt da auch keinen anderen ran?

Wim: Na ja, manchmal …

Castus: Die Feinarbeit macht er. Aber so grobe Sachen … Kostet auch viel Zeit … Wenn einer ein Instrument hat, dann muss er sich schon selber drum kümmern. Und so hatte es ja auch angefangen. Die Instrumente gab’s nicht zu kaufen. Man musste sich irgendwas einfallen lassen.

Asteris: Und wie seid Ihr darauf gekommen, neue Instrumente zu bauen?

Castus: Das ist ’ne ganz interessante Geschichte. In der DDR gab es so Folklore-Instrumente. Und wir mussten daraus was machen. Also wir wollten ’ne andere Stimmung, dass man Kirchentonarten damit spielen konnte. Da musste man also andere Saiten aufziehen auf die Instrumente. Ich hatte mir das mal angekuckt: So eine Sister – das war eigentlich ein ganz anderes Instrument, dafür nimmt man andere Saiten. Aber ich hab mir dafür eben eine neue Stimmung ausgedacht. Und heute kann man über eBay so eine Sister aus Rumänien kaufen, mit der Stimmung, die ich mir damals ausgedacht habe. Die gibt’s aber eigentlich gar nicht. Da fragt man sich: Was ist denn da passiert in der Welt?

Also Wim hat bei dem Dudelsack einfach den Bordun-Ton verändert, also die Stimmung des Instruments, so dass man damit die Kirchentonarten spielen kann, was ich eben auch mit der Cister gemacht habe. Und inzwischen spielen sie auf der ganzen Welt diese Instrumente, die ursprünglich wir uns ausgedacht hatten. ’85 oder ’86 wurde das Mittelalter von uns neu erfunden.

Asteris: Also geht Ihr davon aus, dass Ihr das initiiert habt?

Wim: Ja, natürlich. Zu der Zeit gab es in der Folklore-Szene so eine Unart: Die haben manchmal Originallieder bearbeitet für ihr Folklore-Zeug, was aber wiederum in den 20er Jahren mal von Wissenschaftlern aufgeschrieben worden war. Darum ging das auch immer alles im 6/8-tel Takt. Haben die eben einfach so gemacht. Was aber nie in Wirklichkeit so war. Und das andere Problem, wovon Castus gerade gesprochen hat, das war die Sache mit diesen Kirchentonarten: In den 80er Jahren, da wurde immer so auf lustig gemacht, so ein bisschen verkitschtes Mittelalter. Das fanden wir natürlich ganz abscheulich, weil das einfach mit dem Mittelalter nichts mehr zu tun hatte.

Also war für uns der nächste Schritt, von der technische Seite her, dass wir natürlich die Instrumente so bauen mussten, wie man das eben braucht für diese Musik. Wie gesagt, die konnte man nicht kaufen. Es blieb einem nichts weiter übrig, als diese Dinger selbst zu bauen. Mit den Dudelsäcken fing das an. Und dann hat sich das allmählich entwickelt, weil wir ja grundsätzlich akustisch gespielt haben. Da fiel uns dann auf: Das ist nicht laut genug. Da mussten wir uns was einfallen lassen, damit die Musik so laut wie möglich wurde, dass man bis zu 800 Leute akustisch erreichen konnte.

Daran habe ich dann sehr lange rumgeforscht und immer wieder gebaut und wieder und wieder was verändert, bis ich dann die geeignete Version hatte. Ich konnte mir auch immer sehr viel anschauen. In Osteuropa zum Beispiel. Die Instrumentenbauer dort, die waren sehr interessant, weil die an das Instrument-Bauen sehr unkonventionell rangehen. Und was ich mir auch oft angeschaut habe: in Frankreich oder in Spanien zum Beispiel, die Gaitas …

Asteris: Im Westen seid Ihr dann viel rumgefahren …

Castus: Na ja, so fing es an. Wir sind in Österreich angekommen und dachten: Ok. jetzt sind wir im Westen, jetzt treiben wir uns erstmal rum. Dann sind wir bei Leuten untergekommen für die Nacht, und da stand am nächsten Tag schon Polizei vor der Tür: „Wir haben gehört, Sie sind Flüchtlinge.“ Und wir waren frustriert, dachten: ‚Das ist ja wie im Osten hier.‘ Dann wurden wir erstmal nach Wien gebracht zur Deutschen Botschaft, dort haben wir ein Ticket gekriegt, dass wir nach Deutschland in so ein Lager fahren konnten, und da haben wir gefragt: „Können wir nicht erstmal noch ein bisschen hierbleiben? Wir waren nie vorher in Wien.“ Wir haben uns einfach auf die Straße gestellt und gespielt. Das ging richtig gut los, wir haben ganz viel Geld verdient und Leute kennen gelernt. Wir hätten eigentlich gleich in Wien bleiben können. Aber die meinten: „Nee, das geht nicht, das ist hier ein anderes Land.“

Asteris: Klar, Ihr brauchtet ja einen Pass.

Castus: Ja. „Ihr müsst nach Deutschland und erstmal die ganzen Legitimationen organisieren.“ Dann waren wir also in Deutschland. Das ist auch ’ne total lustige Geschichte. Da waren wir dann in diesem Lager in Schöppingen, bei Gießen. Dort trafen wir zwei Mädels, zwei Fans von uns, die meinten: „Wir kennen Euch. Ihr seid von „Tippelklimper“. Ihr müsst Euch drauf einrichten, 14 Tage, drei Wochen, vielleicht auch sechs Wochen müsst Ihr hierbleiben.“ Und wir: „Um Gotteswillen! In diesem blöden Lager!“

Asteris: Die Welt war offen und …

Wim: … und wir waren wieder in einem Lager!

Castus: Das war so eine Turnhalle mit Doppelstockbetten …

Wim: Wir sind erstmal in die Kneipe gegangen, in die Dorfkneipe, und von dem Geld, das wir verdient hatten, haben wir erstmal Bier getrunken. Und dann sind wir gleich morgens … Da waren so Baracken, die Fenster offen. Wir haben uns da gar nicht erst angestellt, sondern sind gleich ans Fenster und haben gesagt: „Hallöchen, wir woll’n bloß schnell unsern Pass. Weiter woll’n wir nischt.“ Und die: „Wie? Was?“ Und wir: „Morgen haben wir einen Auftritt in Holland, wir sind Musiker.“ Und die: „Hm. Ja. Na vielleicht können wir ’ne Ausnahme machen.“

Castus: Wir sahen abgefahren aus. Wir hatten Lederhosen an. Und hatten uns Frauenjacken in Rumänien gekauft, weil die so glitzerten, solche Zigeunersachen. Diese Dinger waren eher so wie Barockjacken. Teure Jacken. Die haben umgerechnet richtig viel Geld gekostet, und die uns die verkauft haben, waren auch total erstaunt, weil wir doch solche Straßenleute waren, wie wir dann mit so einem Sack voll Geld ankamen. Die Jacken, die waren gut für uns, das war ’ne super Kostümierung. Dann hatten wir auch unsere selbstgemachten Lederschuhe an. Unsere Kleidung war kunterbunt.

Wir haben immer gesagt: Ok., wenn irgendwas kaputt geht, dann darf man’s flicken, aber nicht vorher daran rumpopeln. Denn uns ging es ja darum, dass man möglichst irre aussieht. Und wenn wir was Interessantes gesehen haben, fragten wir immer: „He, das ist ja ein schöner Stoff, darf ich mir davon ein Stück abschneiden?“  Daraus wurde dann irgendwann eben wieder ein Flicken. Wir waren Originale, wir sahen wie irre Spielleute aus. Und überall, wo wir waren, haben wir auf der Straße gespielt, für Kost und Logis. Das hat wirklich geklappt.

Jedenfalls haben wir an diesem Tag im Lager tatsächlich unsere Entlassungspapiere gekriegt. Wir haben unser Ticket nach Osnabrück bekommen, und am nächsten Tag haben wir in Uettingen in Holland auf der Straße gespielt, da war zu der Zeit gerade auch ein Festival in Utrecht. Da war eine Instrumentenmesse oder so was. Und wir hatten ja in Deutschland auch das Begrüßungsgeld bekommen. Jeder 100 Mark. Für die 200 Mark haben wir dann so eine große Schalmei gekauft. Die hat Wim dann irgendwann in der Mitte durchgesägt …

Wim: Ich wollte kucken, wie die innen aussieht.

Castus: War wirklich interessant, was da passierte. Wir haben auf der Straße gespielt, und dann kam ’ne Schriftstellerin auf uns zu, die meinte, für ein paar Jahre würde sie nach Chile gehen, um da Entwicklungshilfe zu leisten oder so was, und sie wollte ’ne Abschiedsparty geben und uns als Musiker einkaufen. Da hatten wir also gleich unseren ersten Gig.

Wim: Gleich die erste Gage. Damit warst du nach zwei Wochen gleich aufgenommen. Das war gut, um irgendwie anzukommen.

Castus: Und mit dem Geld, was wir da verdient haben, sind wir dann nach England und haben uns dort erstmal ’ne Weile rumgetrieben.

Wim: Waren erstmal in Amsterdam, da hat uns jemand eingeladen.

Castus: Ein Kumpel von Peter Gabriel.

Wim: Weil der damals gerade sein Weltmusik-Projekt gemacht hat. Der wollte uns dafür haben. Nun war das Dumme aber, dass Peter Gabriel selbst zu der Zeit auf Tournee war, und wir hatten immer mit diesem Menschen zu tun. Ein furchtbarer Kiffer. Das war grauenhaft. Der konnte nur 20 Minuten am Tag arbeiten, dann war der fix und fertig. Da haben wir uns gesagt: Jetzt hauen wir ab, wir sitzen schon einen Monat hier rum.

Castus: Aber der hatte einen Sampler. Und wir haben das erste Mal erlebt, was ein Sampler bedeutet. Der Peter Gabriel hat ja viel mit Samples gearbeitet. Und das war so ein Ding, das acht Megabit hatte oder so. So ein Riesenkasten. Wir haben Dudelsäcke gesampelt und Maultrommeln, wir haben sehr lustige Musik gemacht. Das war sogar richtig gut. Wir haben dann das Band genommen, haben dem Typen aus dem Spielzeugladen so eine kleine Spielzeuggitarre gekauft, auf seinen Regiestuhl gelegt und das Band genommen … Wir wollten natürlich nicht, dass er mit unserem Zeug arbeitet. Dann sind wir nach Sheffield zum Dudelsack-Festival und haben da ’ne Gräfin kennen gelernt.

Asteris: Da wart Ihr immer zu zweit.

Castus: Ja. Wir waren ein gutes Jahr so unterwegs. Also so richtig zigeunermäßig, Straßenmusik, Leute kennen gelernt und so was. Wir hatten uns gesagt: Wir sind jetzt abgehaun, wir haben jetzt anderthalb Jahre Zeit gewonnen, die wir sonst bei der Armee gewesen wären. Diese anderthalb Jahre werden wir uns einfach rumtreiben und machen, was wir wollen, Spaß haben.

Castus Wim Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Wim: Am 9. November waren wir in London, bei ’nem Kumpel, der in der „School of Furniture“ studiert hat, wo er auch immer unsere Instrumente reparierte, und da haben wir am 09.11. abends bei den News gesessen und uns gefragt: Was ist denn das für ein abgefahrener Film, wo die Leute auf der Mauer rumtanzen? Für uns war das Thema Mauer ja eigentlich abgeschlossen gewesen. Aber nach drei Tagen kam uns dann der Gedanke: Mensch, da ist was im Gange! Wir haben versucht, irgendwen anzurufen mit diesen billigen Telefonen. Und dann hab ich endlich einen erreicht. Erst da haben wir das dann mitgekriegt. Gleich zurück. Wir haben uns sogar noch die DDR-Pässe wiedergeben lassen. Weil, dann war es für uns ok., die Welt. So hätte es bleiben können. Man lebt in der DDR und kann reisen …

Castus: Aber wir durften erst in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember einreisen.

Klaus: Warum?

Castus: So war es eben. „Straflos“ einreisen. So war das Gesetz. Leute, die abgehauen waren …

Asteris: Es gab also ein Amnestiegesetz … Jedenfalls zu Weihnachten durftet Ihr zurück.

Castus: Ja, wir mussten also erstmal abwarten, bis die auch wirklich Grünes Licht gegeben haben. Aber im September waren wir schon mal in Westberlin gewesen, da haben wir uns z. B. mit meiner Mutter getroffen, waren dann in der Friedrichstraße und sind auch mit der U-Bahn gefahren. Und auf einmal … Wir kannten uns ja nicht aus … Auf einmal waren wir wieder im Osten! Die U-Bahn fuhr ja durch den Osten. Dann hielt sie, und da stand neben dem Fenster, hinter dem wir saßen, so ein Grenzer mit Reiterhosen und MG. Und wir dachten: Scheiße, jetzt holen die uns raus! Man kennt das ja aus Filmen, wo man dann so ganz langsam und unauffällig die Bank runterrutscht … Ja, da haben wir noch mal Angst gehabt.

Asteris: Aber es waren zu der Zeit doch schon Tausende, die über Budapest …

Wim: Trotzdem, man hatte ja noch dieses Feeling. Plötzlich hämmerte es im Brustkorb. Jedenfalls haben wir uns dann weiter so rumgetrieben, und irgendwie war das für uns interessant, das Leben der Spielleute des Mittelalters auf diese Weise sozusagen zu erforschen. Einerseits kann man’s in Bibliotheken, andererseits war das aber eine Möglichkeit, es live zu erleben. Wir tingelten durch Europa. Ja, und im gewissen Sinne ist es ja immer noch so; wir sind als Band weltweit unterwegs …

Klaus: In der DDR hättet Ihr keine Straßenmusik machen können – oder?

Wim: Doch, haben wir auch gemacht, aber wir haben uns die Straßenmusikerlaubnis selber geschrieben. Wir haben ja alles auf den Kopf gestellt. Wir hatten einen Stempel. Und dann hatten wir auch einen Kumpel in Potsdam, der für diese Einkaufstraße in Potsdam zuständig war, der hat uns auch einen Stempel auf unser Papier gedrückt. Und damit sind wir dann zu den Kulturämtern, die haben auch ihre Stempel raufgedrückt. Da hatten wir sechs oder sieben Stempel und haben dann gespielt. Die Polizei kam. Wir hatten das Papier eingeschweißt in eine Folie, das haben sie dann gesehen und hatten einfach Respekt vor diesen ganzen Kulturstempeln. In Wahrheit war das natürlich überhaupt nichts wert. Du brauchtest ein Dokument vom Erlaubniswesen, so hieß das.

Castus: Aber alle glaubten: Ok, wahrscheinlich ist das bei den Ämtern jetzt so.

Wim: Allerdings in Leipzig oder Jena … Da wurde man ab und zu mal eingesperrt. Da kam man dann in Gewahrsam, war aber nach zwei Stunden wieder draußen.

Castus: Irgendwann hatte sich für uns dieses Thema mit der Spielgenehmigung und der Einstufung als Profi oder nicht Profi erledigt, denn wir haben in der DDR dann Musik für Märchenfilme gemacht und dann auch für Dokfilme, aber da waren die Spielleute zugleich auch Schauspieler. Die Steuern wurden automatisch abgeführt. Und von diesem Augenblick an galten wir in der DDR als Berufsmusiker. So ab ’88. Man wollte uns zwar trotzdem immer noch ein bisschen an den Karren pissen, konnte uns aber nichts mehr anhaben. Weil wir ein Filmprojekt hatten, waren wir Berufskünstler und Schluss.

Wim: Straßenmusik machten wir dann später immer weniger. Das hatte irgendwann keinen Sinn mehr. Es war nicht mehr dieses revolutionäre Ding wie zu DDR-Zeiten. Allerdings gab es noch ein paar Ausnahmen wie z. B. in Frankreich, in Avignon.

Klaus: Ich hab in Holland ’ne Band erlebt, die haben klassische Musik gespielt und dann auch Freejazz … In Deutschland gibt’s da ’ne strikte Trennung. Während in Holland … Da ist es ganz anders. Da gibt’s diese Trennung nicht. Da haben solche Bands unheimlich viel Erfolg gehabt. Die sagten abends: Wir machen jetzt Jazz, und tagsüber, da machten sie Straßenmusik. Die haben noch ein kleines Theater gehabt, in Amsterdam, da wurden alle Anarchistenopern gespielt.

Wim: Also, ich hab bestimmt solche Musik gehört. Kam immer beim RIAS-Nachtkonzert. Mit acht oder neun Jahren hab ich solche Musik gehört. Keine Ahnung, warum mich das so geritten hat. Ich hab ja weder selbst solche Musik noch sie irgendwo sonst gehört. Aber ich habe eben nachts immer heimlich dieses RIAS-Nachtkonzert gehört, Freejazz. Das war für mein Alter total abgefahren. Und als meine Eltern irgendwann das Radio gefunden haben, da haben die gesagt: „Was hört denn der Junge da? Der ist nicht ganz gesund. Der ist doch verrückt.“ Zuhause gab’s ja nur Klassik und Blasmusik.

Asteris: Und wie ging’s dann weiter, nach diesem einen Jahr „Armeezeit“ im Ausland?

Castus: Eigentlich war es so, dass wir erstmal das weitergeführt haben, was wir in der DDR auch gemacht hatten. Es war sozusagen das Studium des Lebens als Spielmann, um sich auszuprobieren. Zu DDR-Zeiten, da liehen wir uns mehrmals einen Esel von einem Kumpel aus. Der hatte dann noch solche Taschen gemacht, die man dem Esel über den Rücken legen konnte. Da steckten wir die Instrumente rein. Und dann haben wir noch so einen alten kleinen Bollerwagen gehabt, damit sind wir dann einfach über die Dörfer gezogen. Vorher hatten wir festgelegt: Keiner nimmt Geld mit; wir machen jetzt richtig auf Fahrende Spielleute. Wir waren fünf, sechs Leute, haben uns immer auf dem Marktplatz hingesetzt und nachmittags ausgerufen: „Die Spielleute geben heute ein Konzert!“ Das fand natürlich in der Kneipe statt, in einer ordentlichen Dorfkneipe.

Wim: Überall, wo wir hingekommen sind, erregte das Aufsehen. Das fanden die Leute irgendwie gut, dass da auf einmal ein Kulturprogramm läuft.

Doro: Also schon im Osten?

Wim: Ja.

Castus: Im Westen haben wir das auch gemacht, aber da war das … Also da mussten wir nach 14 Tagen abbrechen, denn es hat keinen Spaß mehr gemacht. Man war dort auf einmal so was wie ein Penner, merkwürdigerweise. Das war ’ne andere Situation. Das war da nichts Besonderes. Also es war schon was Besonderes, aber eher aus dem Blickwinkel der Leute: „Haut bloß ab hier, Ihr wollt ja nur … Das ist ja keine Kultur, die wollen uns nur das Geld aus der Tasche ziehen.“ Das war in der DDR anders mit dieser Straßenmusik. Es gab ein dankbares Publikum, weil die Leute gewusst haben: Das ist was Ungewöhnliches.

Wim: Nichts von oben Verordnetes. Darum hat’s allen auch Spaß gemacht.

Asteris: Anarchie …

Wim: Anarchistisches Volkskunsttheater.

Castus: Auch wenn die Leute das gar nicht so als Antihaltung gesehen haben, aber es gab immer einen Auflauf auf dem Dorfplatz. Da stand auf einmal so ein oller Wagen, wo noch so ’ne Fahne dranhing. Wir hatten damals auch noch einen Raben dabei, der immer mitgeflogen ist.

Asteris: Darum „Corvus Corax“?

Castus: Ja.

Wim: Handel haben wir übrigens auch getrieben. Wir hatten riesige Stoffballen dabei. Jemand hatte uns diese Gardinenstoffballen geschenkt. Die wollte aber keiner. Nicht mal geschenkt. Irgendwann wollten wir sogar noch 1.000 Mark dazugeben, und trotzdem wollte das Zeug keiner. Das war verschärft. Die Leute wollten nur Musik hören. Der Gardinenstoff hat die nicht interessiert.

Castus: Und Puppenspiel gab’s auch. Da hat sich einer von uns hinten in den Wagen reingesetzt und dann für die Kinder Puppenspiel gemacht, wir haben Balladen erzählt von Francoise Villon „Jean, Jaques und Nicolo“, kennt man ja wahrscheinlich. Wir sind richtig gut über die Runden gekommen. Sechs Wochen zogen wir so über Land. Und für den Winter hatten wir dann ein Goldsäckel.

Asteris: Und geschlafen habt Ihr in dem Wagen? Oder seid Ihr ins Hotel gegangen?

Castus: Nein! Überall, bei Leuten, im Stroh, in der Scheune, im Stall.

Doro: Im Stall! Wahrscheinlich bei irgendwelchen Frauen!

Wim: Bei Frauen natürlich noch lieber! Ist ja klar! Das gab allerdings manchmal Ärger, wenn es die Frau vom Pastor war oder so.

Asteris: Das ist auf dem Dorf nicht so einfach …

Wim: Na, die Frauen waren immer ganz begeistert, aber die Männer …

Asteris: Obwohl … Die Männer hätten dankbar sein müssen … Ihr seid ja dann wieder weg gewesen …

Castus: Interessanterweise war das so in Mexiko. Also da ist das so: Die Frauen dürfen sich ein bisschen rumtreiben, denn wir sind ja dann weg. Und dann wissen die Männer: okay, es ist dann auch wieder Schluss.

Asteris: Ihr habt ein bisschen Spaß, sagen die, und uns geht’s auch gut.

Castus: So sehen die Männer da schon aus … Ja, und dann war’s so nach den anderthalb Jahren, dass wir uns gesagt haben: Jetzt machen wir es mal ein bisschen anders. Schon weiterhin mit viel Spaß, aber jetzt versuchen wir das mal ein bisschen zu organisieren. Dann haben wir ein Theater organisiert und so weiter. Und dann waren wir ja in Japan.

Asteris: Von Berlin aus aber – oder?

Castus: Berlin war inzwischen unser fester Platz. Es kam also das Angebot aus Japan, für ein Vierteljahr. Da gab es so einen „Glück Okoku“. Das ist ein Milliardär, der hat da eine deutsche Stadt erdbebensicher hinbauen lassen, also eine mittelalterliche Stadt und ’ne Kirche und ’nen Marktplatz, und da haben wir ein Vierteljahr gespielt.

Wim: Und ein Schloss hat er sich auch hingestellt.

Asteris: Nein! Ist nicht Dein Ernst!

Wim: Doch.

Castus: Ein ganz verrückter Typ. Da gibt’s also diese Stadt. Und dahinter ein Karussell, eine Achterbahn, ein Vergnügungspark, aber ein deutscher eben. Total abgefahren. Da machten wir also zweimal auf dem Marktplatz ein Marktplatzkonzert und einmal in der Kirche, mit Dolmetscherin, wo man eben so ein bisschen höfischere Musik gemacht hat. Total abgefahren. Dieser Kulturschock! Aber für uns natürlich genau das Richtige. Das ist ja das Richtige für Spielleute. Sich da sozusagen einfach noch mal ein bisschen von etwas anderem beeinflussen zu lassen.

Wim: Unser Anliege war schon immer, die europäische Musik in ihrer Vielfalt wahr- und aufzunehmen. Oftmals stehen die Leute in anderen Ländern doch nur auf ihre eigene traditionelle Musik. Und ein weiterer Punkt ist auch immer gewesen: Deutschland. Wir wollten zeigen, dass auch Deutschland etwas mit der europäischen Kultur der damaligen Zeit zu tun hat. Wir waren und sind total offen für andere Einflüsse und haben viel davon verarbeitet, Einflüsse von überall in Europa, speziell aber aus Osteuropa, und das haben wir dann eben im Laufe der Zeit auch hier auf die Bühnen gebracht. Wie die Typen früher, im Mittelalter, die überall was auflasen, Melodien, die sie dann woanders hinbrachten, und auch Geschichten; die waren ja so eine Art Nachrichtenerzähler. Fernsehen gab’s ja nicht. Das ist bis heute unser Anliegen.

Uns ist irgendwann aufgefallen, dass immer sehr viel gesprochen wird von der Bedeutung der Seidenstraße, die sie damals hatte. Und auf der waren diese Spielleute ja wirklich unterwegs. Mit denen, die Handel trieben, kamen auch die Spielleute. Da wurde alles aus der Ferne mitgebracht. Schrift und gerade eben auch Musik und Instrumente. Aus diesem Grund haben wir schon lange einen Traum: Dass wir mal diese Seidenstraße langziehen, am besten auch mit so einem Eselskarren. Früher ging das leider noch nicht wegen China. Aber im letzten Jahr haben wir da gespielt, und da stellten wir fest, dass es letztendlich wohl doch möglich wäre, mal so ein Unternehmen in die Wege zu leiten.

Castus: Der Traum ist sozusagen der: Zum Karneval in Venedig haben wir ja schon mal gespielt … Also wieder zum Karneval in Venedig zu spielen und dann die Route – es gibt ja zwei Routen, einmal die nördliche und einmal die südliche – bis Peking zurückzulegen. Zwischendurch mal sehen, ob das mit Mädels dann klappt. Sonst muss man eben einen modernen Eselskarren nehmen.

Wenn man sich überlegt, was musikalisch eigentlich alles aus Asien kommt, alle Dudelsäcke, die meisten Saiteninstrumente. Seit dem 8., 9. Jahrhundert, da hat man hier fast immer noch auf Stein gehauen. Da gab es hier fast keine Musikkultur. Und all das kommt aus Osteuropa oder von noch weiter her. Der Dudelsack aus Indien. Und verschiedene Blasinstrumente sind eben wirklich aus China. Wenn man das alles schon theoretisch zurückverfolgt hat, ist es eigentlich ganz logisch, dass man da einfach mal kucken will und dass man mit den Leuten, die vor Ort traditionelle Musik spielen, auch was zusammen macht.

Wim: Wir wollen praktisch die Route abfahren und nachweisen, dass man mit allen Musikern, die in Orten entlang dieser Route ansässig sind, auch noch heute zusammen musizieren kann. Und das wird hundertprozentig klappen. Gar kein Problem.

Castus: Vielleicht muss man hin und wieder mal ’ne Stimmung ändern …

Wim: Oft ist es so, dass das, was da heute so zelebriert wird, nichts mit mittelalterlicher Musik zu tun hat. Das ist ja Folklore-Rock mit Billigtönen, mal schnell so runtergespielt. Find ich schrecklich. Kein Wunder, dass viele Leute da so eine Abneigung haben. Also so was machen wir auf keinen Fall.

Doro: Na, Ihr hab ja auch Stücke wie z.B. die „Tusca“ oder „Mazedonischer Tanz“ oder „Seikilos“. Ich hab jetzt gegoogelt über’s Wochenende. Da gibt es so eine griechische Gruppe, die spielen das auch und sagen: Das Stück haben sie bei Euch entdeckt, diesen Tanz.

Castus: Das hat natürlich was. Dass wir irgendwas ausgraben aus der Musikkultur eines anderen Landes. Und dass die Leute von dort das dann später hören und ganz erstaunt sind, was sie ursprünglich in ihrem eigenen Kulturschatz hatten.

Wim: In Portugal war das auch so. Die spielen inzwischen aus der Cantiga de St. Maria. Wir mussten das natürlich erst noch bearbeiten. Weil wenn man aus der Cantiga de St.Maria spielt ist das ok. Wir empfinden es so, dass das wirklich Folklore in der damaligen Zeit war – oder komponierte Musik, die wie Folklore klang. Daraus wurde dann geistliche Musik, und dann wurde das irgendwann später, als es aufgeschrieben war, von wieder anderen Musikern sehr ernst genommen und so gespielt. Wenn man das heutzutage nun alles ein bisschen frischer interpretiert – dann klingt es wieder ursprünglich. So ist das mit der meisten Kirchenmusik, wenn man sich die ankuckt. Wenn man die doppelt so schnell spielt, merkt man: Aha, das ist Eure Folklore.

Castus: Das wird immer so akademisch gesehen, aber das muss man eigentlich gar nicht. Einmal haben wir bei den „Tagen der mittelalterlichen Musik“ in Leipzig gespielt, und dann kam ein Musikprofessor nach dem Konzert zu uns und meinte: „Ihr habt mir die Augen geöffnet. Ich hatte ganz vergessen, dass es im Mittelalter auch junge Leute gegeben haben muss, die einfach gute Laune hatten und dann einfach auch ein bisschen doller, ein bisschen derber gespielt haben.“  Das war nicht nur bei einer Bauernhochzeit so, sondern auch bei Hofe, überall. Partymusik. Wo die Leute tanzen können und richtig ausflippen. Wir haben einfach alles doppelt so schnell gespielt.

Wim: Oder lauter. Dazu haben wir „LSD“ gesagt: Laut, schnell und dorisch. Dorisch – das ist diese eine Kirchentonart.

Castus: Für diesen Professor war das schon relativ wichtig, das sozusagen in echt mal zu erleben. Es gibt natürlich diese „höfischen Bands“, die dann mit so einer Klamotte da stehen. Und dann sieht dieser Mann auf einmal diese richtig wilden Spielleute, die sozusagen aus …… gekommen sind und quer durchs Land ziehen. Und da meinte er: Ok., klar muss es damals schon so was wie die Rockmusik gegeben haben.

Wim: Man kann es ja interpretieren, wie man will. Die Freiheit haben wir uns immer genommen. Wer sagt denn, wie es damals war? Das kann keiner sagen. Und auch wir kommen jetzt nicht daher und sagen: So, wie wir es machen, ist es eigentlich im Mittelalter gemacht worden.

Asteris: Der Akademismus hat, denke ich, eine recht negative Rolle gespielt, überhaupt, in der Literatur, in der Sprache. Das einfachste Beispiel ist: Zum Beispiel ist die Aussprache des Altgriechischen von deutschen Altphilologen im 19. Jahrhundert festgelegt wurde. Es ist einfach absurd. Kein Mensch hat je so gesprochen. Aber die haben das irgendwie durchgesetzt, weil die glaubten, dass es so war. Inzwischen ist es zwar üblich, dass man so Altgriechisch spricht, aber alle wissen, dass es Nonsens ist.

Wim: Hast du das Seikilos-Lied von uns schon mal gehört?

Castus: Da singen wir Altgriechisch. Erst sind wir hier zur Hochschule gegangen. Ganz oft gehen wir zur Hochschule. Aber dann haben wir immer öfter griechische Freunde gefragt, und die meinten: Hundertprozentig kann man das nicht sagen, wie dies und das ausgesprochen wird, aber es sei schon in Richtung des Griechischen. Und dann gibt’s eine CD, wo wir antike Musik gemacht haben. Da ist auch dieser Seikilos mit drauf. Also der Seikilos, der hat auf seiner Grab-Stele schreiben lassen, dass es gut ist zu leben; man weiß nie, wann es zu Ende ist, man soll immer genießen. Das ist 2.300 Jahre alt. In Silben verfasst. Also damals wurde auf Silben – so ähnlich wie Do Re Mi Fa Sol, so ähnlich wurde die Musik auf die Silben geschrieben. Wir haben uns sehr damit beschäftigt, haben das ganze Ding noch mal neu bearbeitet. Weil es schon Überarbeitungen gab, wo aber irgendwas in der Musik nicht stimmte. Da haben wir noch mal einen ganz neuen Weg gefunden, von der antiken Musik hin zu dem.

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Asteris: Ich glaube, ich hab irgendwo gelesen, Ihr habt auch mal ein Techno-Projekt bzw. ein Projekt mit Techno-Musik gemacht?

Wim: Ja, das wird immer so gesagt, aber das war eigentlich mehr Rock’n’Roll. Techno … vielleicht mit technischen Einflüssen. „Tanzwut“ heißt das.

Doro: Nee, ich glaube, er meint nicht „Tanzwut“. Ihr habt doch auch eine Tanzplatte gemacht, nicht „Tanzwut“ …

Castus: Du meinst „Electronica“, genau, das sind Remixe.

Wim: Delgado hat da z.B. auch was gemacht. Sehr schön. Ist gut geworden.

Castus: Das ist schon sehr interessant gewesen. Der hat nicht wie die anderen Techno-Produzenten mit dem Computer gearbeitet, sondern er kam mit einer Play Station zu uns. Das war echtabgefahren …. bei uns unten im Studio … und das mit der PlayStation …

Asteris: Das ist ja das, was Du vorhin sagtest: Im Grunde genommen ist der Ursprung dieser gesamten Musik – die „Tanz-Wut“ – der Tanz. Selbst Bach und Mozart, das sind ja alles Rondos usw., Tänze, die sie als musikalische Motive benutzt haben. Erst als die Absolute Musik im 19.Jahrhundert sich durchsetzte, änderte sich das … Die ganze andere, volkstümliche Musik beruht auf Tänzen, und zwar seit der Antike. Darum kam ich darauf und finde Remixe von Euren Stücken so interessant, denn da geht es auch nur noch um „Tanz“. 

Castus: Es gab ja im Mittelalter – 1348 fing das an – die Tanzwut-Bewegung oder auch die Veitstanz-Bewegung. Als in Italien dieses Schiff mit den Pest- und Todkranken ankam. Das war, glaube ich, 1347. Da kam diese Pestepidemie über Europa, wo wohl ein Drittel der Menschen gestorben ist. Und da gab es Spielleute, die machten das, was wir machen, mit Dudelsack und Trommel, die sind über Land gezogen oder durch die Stadt und haben einfach gepredigt, dass es keinen Sinn mehr hat, das normale Leben weiterzuführen, denn man würde sowieso sterben. Die Welt ginge unter. Man würde sterben. Man solle lieber alles verkaufen, alles stehen- und liegenlassen und mit den Spielleuten mitziehen.

Wim: … Also zig Spieler, die kamen dann und haben getrommelt …

Castus: Wahrscheinlich spielten da auch gewisse Drogen wie Fliegenpilz eine Rolle. Das wurde so beschrieben, dass die Leute dann einfach mit dem Kopf an die Wand geschlagen haben, bis sie tot waren. Totale Ekstase. Die Spielleute haben gepredigt, haben einen Haufen Geld verdient. Und es wird beschrieben, dass es Tausende Leute waren, Tausende Leute sind mit denen mitgezogen. Vorn die Spielleute, dann die Besessenen und ganz hinten die Familienangehörigen der Besessenen, die Angehörigen, die sie vom Gegenteil überzeugen wollten.

Wim: Das muss ein irres Bild gewesen sein.

Castus: Und das hat natürlich nur mit dem Tanz zu tun. Die Leute wollten sich tot tanzen.

Klaus: Was ich erlebt habe auf Kreta … Diese Musik der Berge… Im Laufe der Jahrhunderte hatten die Schafhirten Zweizeiler gesammelt, das war die textliche Grundlage der Musik. Die haben sie dann früher eine Woche lang gespielt, bei Hochzeiten. Das ist heute noch so. Ich hab das mal zwei Tage hintereinander miterlebt. Das ist ein Grundrhythmus, auch mit arabischen Einflüssen, der dich wirklich zur Ekstase treibt, weil der immer und immer, Tag um Tag …

Asteris: Ja, an zwei, drei Tagen immer nur der eine Rhythmus. Ununterbrochen.

Wim: Das gibt es auch ganz viel in Osteuropa, bei Hochzeiten, drei, vier Stunden wird immer das gleiche Lied gespielt. Es kann sein, dass die Musiker sechs Stunden spielen. Immer, sobald wieder ein Gast kommt, müssen die einen trinken, dann wird das Geschenk übergeben, dann sitzen die da, und dann spielen sie wieder das gleiche Lied.

Asteris: Das gibt’s in Griechenland so nicht. Es ist nicht dasselbe Lied, das die Musiker spielen. Und da werden auch keine Pausen gemacht, sondern die spielen ununterbrochen.

Wim: Ja, das hab ich mit eigenen Augen gesehen. Ich hab das nicht geglaubt, aber es stimmt tatsächlich. Jedenfalls, was ich da vorhin erzählt habe… Also damals war ich illegal in der Sowjetunion. Da gab’s ja diese Möglichkeit mit einem Durchreisevisum nach Rumänien, also ’ne ganz abstrakte Geschichte. Aber so kam man eben nach Mittelasien. Ich war dann auch an der chinesischen Grenze und bin dann wirklich die nördliche Seidenstraße zurück, hab also schon Teile selber bereist, zu DDR-Zeiten. Buchara, Samarkand, Ashkhabad. Ich war damals schon fasziniert, hab damals auch schon Leute kennen gelernt, hab meinen Dudelsack mitgehabt und hab da wirklichschon Musik gemacht, aber noch nicht zusammen mit den Leuten von dort, sondern ich hab einfach nur so mit meinem Dudelsack da gestanden und für die Leute gespielt. Damals denke ich mal, es war zwar schon zu Gorbatschows Zeiten … da war das schon ein bisschen offener. Wann war ich denn da? ’87. Aber da war das trotzdem noch nicht so, dass da einfach die Leute auf der Straße spielen konnten. Das war alles noch ganz schön krass. Also man merkte diese Sowjetunion in diesen Gegenden noch extrem.

Castus: Also, unser Traum wäre, zu starten in Venedig wie Marco Polo, und dann nicht übers Meer, sondern weiter über Aserbaidschan. Da haben wir ja auch schon ein bisschen Musik, da können wir also auch schon was einbringen und da spielen. Und dann einfach die Tour bis Peking machen, und von Peking dann mit der Transsibirischen Eisenbahn über Ulan Bator bis Moskau fahren …

Doro: Wieso Moskau …

Castus: Weil der Zug von Peking nach Moskau fährt und nicht nach Paris.

Wim: Kann man viel Wodka trinken unterwegs, ist doch gut.

Asteris: Weil Du sagst: In Russland leben ja 100 Völker. Das wäre was Spannendes …

Wim: Das wäre allerdings sehr interessant für uns. Ich will mich seit Jahren schon mit richtig alter russischer Musik beschäftigen, hatte aber noch nie die Initialzündung, dass es mich so richtig packt. Da würde ich mich sofort in die Bibliothek setzen; ich hab auch sehr viel Material zuhause, würde sagen: Ok., wir nehmen uns ein sehr altes Stück, aus der russischen mittelalterlichen Musik – bloß keine kirchliche Musik, denn am liebsten mögen wir es weltlich.

Castus: Aber das ist nicht so einfach …

Wim: Doch doch … Da gab es sogar schon ein paar Handschriften.

Asteris: Ihr kennt ja Andrej Rubljow, den Film von Tarkowski?

Wim: Ja klar.

Asteris: Da kommt das sehr zum Ausdruck, diese Tradition, am Scheitelpunkt zwischen dem Zarentum und dem „niedrigen“ Volk, der Kampf der Kulturen, die Kirche im Mittelpunkt, daneben das Heidnische, die Hexe, derer sich der Ikonenmaler Andrej Rubljow zeitweilig annimmt, Ihr erinnert Euch: Strawinsky, „Das Frühlingsopfer“, ein junges Mädchen tanzt sich zu Tode, das war ein heidnischer slawischer Brauch … All das prallte da in Russland aufeinander.

Wim: Ja genau.

Asteris: Ich finde das sehr spannend: „Corvus Corax“ und die Begegnung mit diesen anderen Kulturen, und immer wieder der Tanz …

Castus: Ja, bei uns ist das so. Als wir in China waren oder wenn wir anderswo sind, dann sind wir auch immer so etwas wie Kulturbotschafter in dem Augenblick. Wenn wir in China dieses „Chou Chou Cheng“ spielen – das ist 3.000 Jahre alt. Das ist wahrscheinlich das älteste überlieferte Musikstück, das es gibt. Wenn wir das dann spielen, und in China kennt das keiner, und dann erfahren die Leute dort die Story dazu … dann finden die das total abgefahren. Aber wir haben solche Stücke natürlich bearbeitet. Es ist, wenn wir es spielen, immer „Corvus Corax“. Wenn wir z.B. was Russisches bearbeiten, wäre es dann auch „Corvus Corax“.

Asteris: Klar. Und es kann natürlich sein, dass dann bei der Begegnung mit Musikern vor Ort natürlich noch ganz andere Stücke entstehen. Spielleute on the Road. China, Griechenland, Türkei, z.B. in so einer Stadt wie Istanbul, wo sich ganz Vieles trifft.

Wim: Das ist extrem interessant. Da kommt alles zusammen …

Asteris: Griechisch-Osmanisches, Byzantinisches …

Wim: Arabisches …

Castus: Ein Besuch in Konstantinopel!

Asteris: Zugleich eine Reise zwischen dem realen Leben und der digitalen Welt, zwischen Mittelalter und Moderne. Das ist auch unglaublich spannend.

Wim: Haben wir ja sozusagen gerade gemacht.

Asteris: Diese Dualität, das finde ich schon aufregend. Wir leben heute in einer virtuellen Welt. Musiker, Spielleute, die, denen dieses Mittelalterliche anhaftet, plötzlich in dieser digitalen Welt. Wie kommt das zusammen? Der Tanz, das Handgemachte, die PC-Welt: dieser extreme Widerspruch. Das ist einfach ein Konflikt. Lassen diese beiden Welten sich vereinen? Kommt da etwas zusammen?

Castus: Was Du da erzählst, das ist total interessant. Für China: Fernsehen – und dann aber auch Internet. Wim und ich, wir sind ein bisschen länger in China geblieben und hatten dort bei ’nem Internet-Fernsehsender einen Fernsehauftritt. Und wenn man dann denkt: Internet-Fernsehen, Internet-Radio, dann stellst du dir immer vor: 5.000 Zuschauer oder Zuhörer. Aber dort: 90 Millionen! Da waren 90 Millionen live am Computer, als wir da gesprochen haben. Das ist doch irre. Wir dachten: Das kann doch wohl nicht wahr sein. „Ja, das ist hier der größte Sender.“ Die haben teilweise mehr Publikum als das Staatliche Fernsehen. Weil es eben für junge Leute ist.

Wim: Das ist ja dasselbe Thema: Dass diese Medien, die alten, eigentlich gar nicht mehr funktionieren, CDs usw. Das läuft inzwischen alles über Computer … Ich hab mir da in China fünf, sechs CDs mit traditioneller chinesischer Musik gekauft. Da stand dann auch noch ‚Made in Germany‘ drauf, weil: Es ist natürlich klar, dass die traditionelle chinesische Musik in Deutschland produziert wird …. und die haben das Stück für 1,50 Euro verkauft. Waren aber wirklich gut gemacht …

Castus: Wir sagen uns seit Jahren in der Band, scherzenshalber: Eigentlich wollen wir mal den Tag erleben, wo es auf einmal keinen Strom mehr gibt. Denn: Wir können immer noch spielen. Auf irgendwelchen Festivals – wo andere Bands dann einfach einbrechen würden, da spielen wir immer weiter.

Wim: Ja, bei uns, die Dudelsäcke … Da wird immer geschrieen … „Hallo!“

Castus: Wie sich das entwickelt hat … Man hört das auch bei unseren CDs. Die ersten CDs, da sind die Aufnahmen noch aus der DDR; die haben wir bei der DEFA aufgenommen, nachts.

Wim: Damals haben wir was für einen Märchenfilm gemacht. Da haben wir den Hausmeister bestochen, und dann haben wir nachts das Studio gekapert und haben über Nacht dort ’ne Platte aufgenommen. Und wir sind morgens gerade so fertig geworden. Die Bänder sind noch gerollt, die konnten wir gerade so noch rausnehmen, haben uns versteckt, bis der dann aufgeschlossen, Licht angemacht hat, und dann sind wir raus.

Asteris: Herrlich.

Castus: Die Bänder sind im Laufe der Zeit verloren gegangen. Aber die Aufnahme, die gibt’s natürlich, digital.

Wim: Leider ist die erste Corvus-Corax-Aufnahme, die wir beide im holländischen Nachrichtenstudio aufgenommen hatten, verschrottet worden, zusammen mit meinem alten Auto. Als wir da bei einer holländischen Schriftstellerin zu Besuch waren, da gab es so einen sehr zarten Freund von ihr – einen Jüngling, der war irgendwie Nachrichtensprecher bei einem niederländischen Radiosender, und der hat uns da mit hingenommen, und dann haben wir da unsere erste Produktion gemacht. Das war noch im Oktober 1989. Und das klang eigentlich auch gut. Also für ’ne Kassette hätte man auf alle Fälle noch was rausholen können, aber leider … Da fuhr meine Frau dann damals aus ’ner Parklücke raus, und da ist ein LKW über die Motorhaube rüber, da war das natürlich platt. Ihr ist nichts passiert. Sie rief mich an und meinte: „Das Auto ist hin.“ Die Kassette war im Kassettendeck gewesen, und die hat sie vergessen, da raus zu nehmen. Das war das Master. Wir haben versucht, Leuten zu finden, die eine Kopie vom Master besaßen. In Holland haben wir einen Freund, der das aber auch nicht mehr findet. Wir haben schon eine Nachricht ins Internet gestellt und fragen, wer das vielleicht noch hat. Aber bis jetzt haben wir es noch nicht gefunden. Das wäre natürlich der Hammer, wenn man das doch irgendwann noch mal irgendwie kriegen würde … Aber wer hört heute noch Kassetten, oder wer kuckt im Schrank nach, ob er die Kassette da liegen hat?

Asteris: Ich schon … aber sonst keiner, denke ich … 

© Asteris Kutulas, 2010

*** *** ***

Das Gespräch fand Ende 2009 in meinem Büro im Prenzlauer Berg statt. Ausser Wim und Castus von Corvus Corax waren auch Doro Peters, ihr Hund, der ständig herumwuselte, und Klaus Salge anwesend.
Ein Jahr zuvor hatte ich als Manager und Partner von Gert Hof dessen Beteiligung als Regisseur und Lichtdesigner bei der Produktion „Cantus Buranus II“ von Corvus Corax mit Doro verhandelt und organisiert. Genauso wie seine Beiteiligung bei einer China-Reise mit dieser Produktion. Liebe Coraxe, liebe Doro, vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit und für dieses äußerst spannende Gespräch. A.K.

All photos © by Sabine Wenzel – Corvus Corax concerts with „Cantus Buranus II“ in March 2009 (Berlin & Munich) – Directed by Gert Hof, Technical Equipment: Helicon, Technical Director: Gerd Helinski, Promoted by Manfred Hertlein 

Gert Hof & Asteris Koutoulas, 11 Jahre

Abschied und Neuanfang

Liebe Partner, Kollegen & Freunde, ich möchte Euch hiermit mitteilen, dass Gert und ich nicht mehr im Managementverhältnis zueinander stehen. Wir haben uns im guten Einvernehmen geeinigt, stattdessen ab jetzt projektgebunden zu kooperieren.

Wir möchten Euch für das jahrelange Vertrauen in unsere Zusammenarbeit danken.

Asteris Koutoulas, 22.9.2009

P.S. Eine unglaubliche Story

Was uns beiden jedenfalls bleibt, nach 11 rasanten Jahren, ist die unglaubliche Story einer unglaublichen Beziehung und eines unglaublichen Werdegangs. Hier die short-Variante:

Nach so viel gemeinsam verlebter Zeit ist es also nicht verwunderlich, dass da einiges zusammengekommen ist. Wir haben die halbe Welt umrundet und einige Licht-Zeichen gesetzt. Viel gelernt und viel gelacht. Und unsäglich viel Stress gehabt. „Der Schmerz ist dein Freund.“ Das Leben, wie es ist und wie es sein soll in der besten aller möglichen Welten. Das falsche im richtigen Leben oder umgekehrt, das ist die Frage. Halte aus. Halte durch. Bleib nicht stehen. Salute, capitano Gert!

Asteris Kutulas Gert Hof
AidaDIVA christening, Hamburg 2007, Directed by Gert Hof & Produced by Asteris Kutulas | Photo © by Sabine Wenzel

Und noch ein Dankes-Wort an Meister Gert

Ich habe sehr, sehr viel von Gert gelernt. Die Weiterentwicklung einer Idee habe ich besonders ihm zu verdanken, obwohl ich mich nur einmal mit ihm darüber unterhalten habe. Bereits 1999 – als Gert eine neue Art der multimedialen Licht-Show kreierte und ich außerdem für ihn bei der Dionysos-Opernproduktion als Dramaturg und Regieassistent arbeitete –, entwickelte ich die Idee eines „liquiden Bühnenbildes“, das dem Medium Film eine neue Rolle in einer entsprechend gestalteten „Theaterbühne“ geben und eine neue Art von Show-Produktion ermöglichen würde. Der Grundgedanke dieses „Liquid Staging“-Konzepts besteht darin, dass man einen „FILM“ für die Bühne produziert, also nicht das Medium Film benutzt, um ein bereits bestehendes Stück oder eine bereits bestehende Show-Produktion damit – wie auch immer – „zu vervollständigen“. 

Und im Gegensatz zu Gerts Ästhetik, die von Brecht beeinflusst und auf dem deutschen Bauhaus-Prinzip beruhte, also mehr „abstrakter Natur“ war, folgte meine Idee dem Weg des „Einfühlens“, entsprechend der Hollywood-Film-Tradition. Schon 1991, während meines Studiums, hatte ich „Abstraktion und Einfühlung“ – Wilhelm Worringers Dissertation von 1907 – gelesen und fühlte mich dem antiken klassischen „Einssein mit der Welt“ (Einfühlung) mehr verbunden als der „dualistischen Trennung von Geist und Materie“ (Abstraktion).

Ich habe inzwischen dieses Konzept für ein Theaterbau-Projekt entwickelt, und ich hoffe, dass eine erste konzeptionelle architektonische Umsetzung bald realisiert werden wird. Gert, danke für die inspirative Zeit mit Dir!

Asteris Kutulas, 22.9.2009

Asteris Kutulas Gert Hof
AidaDIVA christening, Hamburg 2007, Directed by Gert Hof & Produced by Asteris Kutulas | Photo © by Sabine Wenzel

Team (Gert Hof Produktionen)

Wir mussten in einigen Fällen nicht nur unter extremen klimatischen Bedingungen arbeiten, wie z.B. bei minus 15 Grad und furchtbarem Glatteis an der Dresdner Semperoper oder bei plus 60 Grad und Sandsturm im Oman, wir hatten es auch mit politisch diffizilen Veranstaltungen zu tun, die unser diplomatisches Geschick herausforderten, so im Jahr 2000 beim Millennium-Event in Peking, wo Mentalitäten und verschiedene politische Kulturen aufeinanderprallten. Kompliziert gestaltete sich auch die Galaveranstaltung am Berliner Gendarmenmarkt anlässlich der EU-Osterweiterung am 1.5.2004, immerhin musste man dabei den Interessen von 25 europäischen Nationen in einer Fernsehproduktion gerecht werden.

Eine Herausforderung ganz anderer Art waren unsere Events auf bzw. an denkmalgeschützten Gebäuden; am extremsten gestaltete sich die Arbeit für unsere Pyro- und Lichttechniker auf der – durch die griechische Verfassung geschützten – Akropolis, aber nicht minder hart waren die Auflagen der Behörden z.B. für das mittelalterliche Fort St.Angelo in Malta oder den Magdeburger Dom.

Sehr oft musste sich unser Team auch mit dem Sicherheitsaspekt der Events auseinandersetzen, bedingt durch die Dimension der Veranstaltungen (nicht selten bis zu mehreren Millionen Zuschauer), die Komplexität der eingesetzten Mittel (Feuerwerk, Licht, Stromversorgung, Helium-Ballons, Lasertechnik, Neon-Equipment etc.) oder auch durch die politische Dimension vieler unserer Shows (Anwesenheit hoher in- und ausländischer Staatsgäste, wichtige nationale Feiertage, Terrorismus-Gefahr etc.).

Unser Team war nicht selten gezwungen, Events unter enormem Zeitdruck zu realisieren, mal mitten in Großstädten unter komplizierten verkehrstechnischen Bedingungen, ein anderes Mal in Häfen bei laufendem Schiffs- und Fähr-Betrieb, aber auch im Hochgebirge oder auf dem Meer. Wir arbeiteten oft mit einer Vielzahl von Firmen unterschiedlicher Nationalität zusammen, manchmal mit bis zu 4.000 Mitarbeitern bei einem Event, und dabei ist es hin und wieder erforderlich gewesen, mit einer komplizierten internationalen Logistik fertig zu werden oder mit Fernseh-Sendern zu kooperieren, die unsere Shows live übertrugen.

Und schließlich haben wir auch mit namhaften Künstlern zusammengearbeitet, so dass unsere Techniker gleichzeitig Bühnenshow, Megaevent und Fernsehproduktion unter einen Hut zu bringen hatten, so geschehen mit Mike Oldfield an der Siegessäule in Berlin, mit den Scorpions auf dem Roten Platz in Moskau und mit Mikis Theodorakis an der Akropolis in Athen. Dank Euch Leute!

Asteris Kutulas, 2010

Gert Hof Asteris Kutulas
Unser Event auf dem Roten Platz in Moskau 2003 mit den Scorpions und Thomas Anders, Directed by Gert Hof & Produced by Asteris Kutulas | Photo © by Sabine Wenzel

DANKSAGUNG/ACKNOWLEDGMENTS

We give MUCH THANKS to our partners, above all Achim Perleberg in Bochum, Tim Dowdall in Budapest, Sebastian Turner, Markus Mahren, Westbam, Peter Massine and Rainer Schaller in Berlin, Morten Carlsson and Jens Zimmermann in Hamburg, Andrew Zweck in London, Rafaela Wilde in Cologne, Marek Szpendowski in Warsaw, Michael Sladden in New York, Alexander Strizhak in Moscow, Dimitris Koutoulas, Vassilis Riziotis, Dimitra Rodopoulou and Dimitris Tziotis in Athens, Gerhard Seltmann in Magdeburg, Udo Hoffman and Sun Xiangyan in Beijing, Stephan Reichenberger in München, Michael Shurygin in St. Petersburg, Gil Teichmann in Tel Aviv und Eduardo Hübscher in Jerusalem, Stephan Gorol in Bonn, Linas Ryskus in Vilnius, Michael Thamm in Rostock, Robert van Ommen in Amsterdam, Ruslana in Kiew, Ivan Nestorov in Sofia and Tewe Pannier in Dubai. Without them the events that were documented here would not have been possible. We thank you from the bottom of our hearts.

Many thanks to our partners, friends and colleagues Peter Amend, Anton Attard, Anouk, Petra Bandmann, Bruno Baiardi, Laci Borsos, Giovanni Broccu, Jack Calmes, Nigel Camillieri, Michael Casper, Scott Cooper, Anna & George Dalaras, Rene Dame, Sven Dierkes, Thomas Erbach, Maria Farantouri, Klaus Feith, Valery Feofanow, Knut Foeckler, Mike Finkelstein, Matthias Frickel, Christine Friedrich, Toni Froschhammer, Tim Geladaris, Steve Gietka, Jörn Gläske, Thilo Goos, Phil Grucci, Anne Hansen, Laszlo Hegedüsz, Andreas Heine, Christoph Heubner, Wolfgang Hörner, Klaus Jankuhn, Alexandros Karozas, Hans-Georg Kehse, Joey Kelly, Pericles Koukos, Alexander Koutoulas, Ina Kutulas, Dominika Kulczyk, Hansjörg Kunze, Marcus Kurz, Ralph Larmann, Denis Leonov, Till Lindemann, Sabina Linke, Panos Livadas, Zülfü Livaneli, Peter Madai, Jannis Mihas, Gerda Milpacher, Pavlos Nanos, Ivan Nestorov, Marco Niedermeier, Nikos Moraitis, Mike Oldfield, Fotis Papathanassiou, Rena Parmenidou, Anja Pietsch, Linda Powers, Alkistis Protopsalti, Ramin Rachel, Theodoros Roussopoulos, Lutz Rainer-Seidel, Rammstein, Peter Reiner, Uta Richter, Jens Rötzsch, Savas Savas, Scorpions, Susanne Schäfer, Volker Scherz, Henning Schmiedt, Klaus Schulze, Daniel Schwartz, Oliver Schwarzkopf, Melanie Sievers, Thanos Stavropoulos, Christian Steinhäuser, Andrea Szabo, Mikis Theodorakis, John Totaro, Donald Trump, Christine Uckert, Spiros Vergos, Matthias Weinert, Sabine Wenzel, Michael Wilde, Roger Waters, Arne Weingart, Elisabeth Wülfing, Giedre Zemaitiene

& especially

Sven Asamoa, Ross Ashton, Norman Bauer, Steffen Brandt, Daniel Brune, Gerd Helinski, Guido Karp, Markus Katterle, Spiros Nanos, Jens Probst & Oliver Schwendke

A&O Lighting Bremen, Art Hellas Athens, Art in Heaven GmbH, Bauer Concept Berlin, Black Box Music Berlin, Cleverbank Athens, Ellinika Petrelea, Esernyo Kft. Budapest, E/T/C UK Ltd. Projecting London, FansUNITED GmbH, FX Factory Berlin, Gil Teichmann Company, Helicon GmbH, Intracom Athens, JSA Moscow, Jerusalem Municipality, laserfabrik showlaser, Kulczyk Tradex Sp. z.o.o., Lufthansa-Büro Dresden, Maltese Government, Multimedia International Budapest, Nanos Fireworks Athens, Government of Oman, OPAP Athens, Orama Athens, Piraeus Port Authority S.A., Procon MultiMedia AG Hamburg, Pyro-Art Berlin, Sensible Events London, Silvretta Seilbahn AG, Scholz & Friends AG, Skoda Auto Polska S.A., Space Canon Italy, TuiR Warta S.A., Tourismusverband Ischgl, Trump Organization

Gert Hof & Asteris Kutulas, 2011

Gert Hof Asteris Kutulas
Mit Gert Hof in Abu Dhabi (Photo © by Asteris Kutulas)

Adolf Endler in memoriam

„Ich schreibe wie jemand, der sich die Pulsadern aufschneidet“, notierte der Dichter Giorgos Seferis am 7.9.1926 in seinem Tagebuch – was zumindest eine pathetische Umschreibung für den „existentiellen“ Wert der Dichtung in seinem Leben war. Adolf Endler hat genauso geschrieben, gefühlt und gelebt. Er war „Dichter“, durch und durch. Eine Mischung aus Transportarbeiter des Worts, belgischem Bohemien, antifaschistischem Eremiten und „böhmischem Zigeunergeiger“. Er erschien mir immer wie ein pulsierendes Intellektum, ein energiegeladenes Bündel.

Ich „entdeckte“ Endler 1979 über seine wunderbaren Nachdichtungen der Gedichte des Alexandriners Konstantin Kavafis, die mir in gewisser Weise Vorbild waren für meine spätere eigene Arbeit:

Ihr Plätze und ihr Viertel, Gegend, wo ich wohne,
Die ich vor Augen habe und durchmesse, Tag für Tag:
Ich war’s, der euch erfand in größtem Glück und tiefster Traurigkeit,
Die vielen Episoden, mannigfachen Wesen –
Jetzt ganz und gar voll Leben und Gefühl, sei’s nur für mich …
usw.usf.

Endler war für mich eine ernste Angelegenheit, sein Alter Ego Bubi Blazezak ein polternder universeller Geist. Endler gewann eine knisternde Klarheit in seinen ausschweifenden Texten, und zugleich durchdrang ihn ein entwaffnender Humor, den er mehrfach in diversen Samistad-Drucken, z.B. in den „Bizarren Städten“, kucken ließ. Denn von Endler wurde kaum was veröffentlicht zu DDR-Zeiten, dafür konnte man ihn oft im kleinen Kreis erleben, lesen hören, und ab und an schwang er auch sehr gekonnt außer-literarische Fahnen.

Adolf Endlers Existenz war einer der Gründe, warum man es als Intellektueller noch in der DDR aushielt. Ich empfand es jedenfalls damals so. Er war der Tarzan des „Prenzlauer Bergs“, ich war der Neger in Pankow. Endler bedeutete für mich eine Art Heimat in der transzendentalen DDR-Obdachlosigkeit – und seine Texte, frei schwebend, ein Quell reiner Leselust.

Asteris Kutulas

Veröffentlicht in: „Partisanen“, Herausgegeben von Holger Wendland, Detlef Schweiger & KulturAktiv e.V., Dresden 2009

Adolf Endler veröffentlichte diverse Texte sowohl in unserem Zeitschriftenprojekt Bizarre Städte als auch im Sondeur.

Begegnungen mit Jannis Ritsos (Tagebücher 1982-1989)

Asteris Kutulas: „Auch Statuen und Gedichte altern“ – Begegnungen mit Jannis Ritsos

[Im folgenden Text veröffentliche ich neben verstreuten Gedanken zur Persönlichkeit und zum Werk von Jannis Ritsos (1909-1990) auch einen Großteil meiner Notizen über unsere Begegnungen, die zwischen 1982 und 1989 zumeist während meinen Griechenland-Aufenthalten stattfanden. Ich habe meine ehemals flüchtigen Aufzeichnungen lediglich einer stilistischen Überarbeitung – ohne nachträgliche Hinzufügung oder inhaltliche Korrektur – unterzogen.]

Jannis Ritsos & Asteris Kutulas
Jannis Ritsos, Eri Ritsou & Asteris Kutulas, Athens 1983 – Photo © by Rainer Schulz

18.3.1982, Athen | “Kommen Sie doch bitte zu mir!” Eine helle und klare Stimme aus dem Telefon. Trotz des Trubels, der allmittäglich die Kioske mit ihren zwei oder drei Telefonen im Zentrum Athens einhüllt, war sie deutlich zu hören; interessiert und höflich. “Kommen Sie doch bitte zu mir! Haben Sie meine Adresse? … Ich wohne Koraka-Straße Nummer 39. Kennen Sie den Weg hierher? … Nicht! Sie sind jetzt im Zentrum? … Gut. Dann steigen Sie am besten in die U-Bahn am Omoniaplatz, fahren aber nicht Richtung Piräus, sondern nehmen die Bahn nach Kifissia und steigen an der Haltestelle Heiliger Nikolaos aus. Könnten Sie um eins bei mir sein? … Also, ich erwarte Sie.”

Zwei Zimmer im vierten Stock eines Athener Mietshauses. Plebejisches Viertel. Vom Balkon schaut man auf eine Schule mit riesigem Hof, eingekeilt zwischen leergefegten Straßen und schlohweißen mehrstöckigen Häusern. Ein Brausen aus Motorgeräuschen, Rufen und Kindergeschrei hält sich hartnäckig in der Luft. Links das große Wohnzimmer, das sich durch eine offengehaltene Schiebetür teilen ließe. Rechts Küche und Bad, gegenüber das Schlafzimmer. Der Raum vollgestopft mit Büchern, Briefen, Gemälden, Andenken, Stoffbären in allen möglichen Farben und Variationen, Schallplatten (vorwiegend Bach), ein kleiner, nicht mehr neuer Recorder und die dazugehörigen Kassetten (vorwiegend Bach). Auf Fußboden, Stühlen und Tischen plaziert, in hierarchischer Ordnung, Hunderte von bemalten Steinen, Knochen, Wurzeln. Zwei Sessel für Besucher und zwei Stühle gegenüber seiner Couch, auf der sich links und rechts Briefe und Bücher stapeln.

12.11.1982, Athen |  Von 12 bis etwa 4 Uhr nachmittags bei Ritsos. Ich hatte mich um zwanzig Minuten verspätet, worauf er mich freundlich aufmerksam machte. Ritsos pocht auf Pünktlichkeit, läßt nicht einmal die chaotische Verkehrssituation in Athen gelten. Eri, seine Tochter, ist zu Besuch. Sie hat in Großbritannien Anglistik studiert und kehrte vor kurzem nach Griechenland zurück.

Warum die Zahl 3 in seinen Gedichten so oft vorkommt, will ich wissen. Das war mir bei der Übersetzung der “Monochorde” aufgefallen. “Kommt die 3 oft vor, ja? … Tatsächlich, es sind 336 Monochorde… Warte mal! Ich habe noch zwei Reihen ‚Monochorde‘ geschrieben, die unveröffentlicht sind.” Er steht auf, geht zum schwarzen Schreibtisch, kommt zurück mit einem in Leder gebundenen Block. “Diese Reihe hier besteht aus 332 Monochorden, die andere kann ich jetzt nicht finden … Ja, die 3 scheint wirklich meine Lieblingszahl zu sein. Vielleicht, weil man von jeder anderen Zahl irgendwie auf die 3 kommt. Sie ist das Zeichen christlicher Dreieinigkeit und für vieles ein Symbol. Aber eigentlich liebe ich die 9 noch mehr. Ich weiß selbst nicht warum. Es hat aber nichts mit Mystik zu tun. Vielleicht, weil ich im Jahre 1909 geboren wurde. Wegen dieser 9? Natürlich mag ich auch den Klang dieser beiden Zahlen, TRIA, TRIA, ENEA, ENEA … Und das ist mir besonders wichtig.”

Bedächtig zündet er sich eine nächste Zigarette an. “Als ich mich vor kurzem mit einem französischen Freund darüber unterhielt – er stellte mir dieselbe Frage -, hatte er die Idee, meine Vorliebe für die 9 rühre vom soixante-neuf her, von Liebe auf Französisch, also vom gegenseitigen Oralverkehr.” Er lacht, nimmt eine Zigarettenschachtel und malt mir eine liegende 69 auf. “Das könnte auch der Grund sein, ich weiß es nicht.” Neugierig sieht er mich an und führt die Zigarette zum Mund.

Jannis Ritsos & Asteris Kutulas & Hans Maquardt
Jannis Ritsos, Asteris Kutulas & Hans Maquardt, 1984 in Leipzig

17.9.1983, Athen | Gestern bei Avra Partsalidou gewesen. Alte Genossin der Kommunistischen Partei Griechenlands. Sie selbst wollte uns kein Interwiev über Ritsos gewähren. Sie kenne ihn zu wenig. Erzählte aber folgende Geschichte: “1968 wurde ich auf Jaros deportiert. Unter meinen Mitgefangenen befand sich auch Jannis Ritsos. Er lebte im Männertrakt, ich in der Frauenabteilung. Die Lagerleitung bestimmte die Belegung der Betten im Gefängnis. Ritsos durfte sich sein Bett nicht auswählen. Ihm wurde ein Bett direkt in der Mitte des Gefängnisraums zugewiesen. Das war eine bewußte Schikane. Man wollte ihn in die Mitte zwischen Dutzende andere Gefangene stellen, ins Zentrum des Lärms, um ihm das Nachdenken zu erschweren. Aber während der Stunden, da wir uns gegenseitig besuchen durften, fand ich ihn immer, auf dem Bett sitzend, mitten in dieser Unruhe, ruhig, still, schreiben oder malen. Ihn störte das alles nicht.”

26.9.1983, Athen | Dreharbeiten. Ritsos in bester Laune. Als ich ihn fragte, ob ihn Kritiken noch berühren, meinte er: “Ich habe einen Punkt erreicht, wo Lob und Tadel mich nicht mehr tangieren. Ich versuche, das zu machen, was den anderen ‘nützt’, und natürlich mir selbst.”

Jannis Ritsos & Asteris Kutulas
Photo © by Rainer Schulz

28.9.1983, Athen | Während eines unserer Interviews, fragte mich Ritsos eher beiläufig: “Übrigens, warum rauchst du nicht? … Du ignorierst diese heilige Handlung, die ein Drittel, ja, ein Viertel des Lebens ausmacht? … Kennst du nicht die Gier nach einer Zigarette nach dem Liebesakt? Wenn man das Streichholz anreißt und dabei die winzigen Funken schlagen und dann im flackernden Licht die Brüste der Frau und der Penis des Mannes sichtbar werden …” Den Einwand – das Zimmer wäre bald vollgesmokt, man müsse aufstehen, das Fenster öffnen und würde sich, der Kälte wegen, nicht mehr aus dem Bett trauen – ließ er nicht gelten: “Du vergißt, daß liebende Körper gegen Kälte gefeit sind. Außerdem: Denk an den herrlichen Akt des Fensteröffnens, wenn der ganze Himmel mit all seinen Sternen ins Zimmer tritt. Denk auch an Lady Chatterley von Lawrence. Wie ihr Liebhaber während ihrer ersten gemeinsamen Nacht nach dem Beischlaf aufsteht, zum Fenster geht, es öffnet – und als er zum Bett zurückkommt, ist er schon wieder erregt. Das überwältigt Lady Chatterley, die nach seinem Penis greift und nun mit ihrer Hymne auf Gott, auf ihr Ein und Alles beginnt.”

Rauchen mache aber krank, versuchte ich dagegenzuhalten. Er zeigte auf die Zigarette zwischen seinen gelblichen Fingern und fuhr fort, ohne meinen Einwand zu beachten: “Oft ist es ja so, daß die Gedanken so schnell ablaufen, daß die Hand gar nicht mit dem Schreiben nachkommt. Erinnerungen, die sich beim Schreiben einstellen – Erlebnisse aus der Kindheit, verloren geglaubte Räume und Landschaften, alltägliche Ereignisse – kannst du gar nicht schreibend einholen … Aber dann greifst du zur Zigarette, bläst den Rauch aus, immer schneller, hastiger, als wärst du eine große Lokomotive, deren Räder sich immer schneller drehen – so hast du durchs Rauchen den Eindruck, schneller zu werden, Gedanken und Schreiben in Einklang zu bringen.” Er nahm die flache Zigarettenschachtel in die Hand, drehte sie um, betrachtete sie.

“Oft meine ich, ein unbändiges Feuer lodere in mir. Dann habe ich, wenn ich den Rauch ausblase, das Gefühl, ich würde etwas Dampf ablassen, was mich sehr erleichtert.” Und sofort fiel ihm noch etwas ein: “Klingelt es an der Tür oder das Telefon läutet, wird dein Gedankengang unterbrochen. Eigentlich müßtest du neu ansetzen oder das Angefangene vernichten. Doch die Zigarrette wird zu einer Brücke, zu einer weißen Brücke vom unterbrochenen Gedanken zu einem neuen. Du stellst dir einfach vor, die Unterbrechung geschah nur, um eine neue Zigarette anzuzünden – ein Streichholz anzureißen, die Zigarette zum Mund zu führen.” Er öffnete die Schachtel mit den Papastratos-Zigaretten und bot mir eine an. Ich lehnte dankend ab und sagte, in diesem Augenblick wirklich verärgert über seine Argumentation, ich würde das Rauchen verbieten. Seine lakonische Antwort beendete unsere Zigaretten-Debatte: “Die Revolution gegen alle Verbote bedeutet wirkliche Freiheit.”

Jannis Ritsos & Asteris Kutulas
Photo © by Rainer Schulz

4.10.1983, Monemvassia | Die Insel Monemvassia, ganz in Licht gehüllt – ein Felsen, bizarr aus dem Meer ragend. Die Hitze lastet schon seit Tagen neblig-trüb auf den niedrigen Häusern.

Monemvassia hat eine viertausendjährige Geschichte, sagte der Wächter der Archäologischen Gesellschaft, als er uns zum Geburtshaus von Ritsos führte, hier finden Sie alles Mögliche: antike Säulen, klassizistische Mauerreste, byzantinische Kirchen, die venezianische Burg, türkische Bauten. Dann, betrübt, seine Sorgen: Wenn einige Touristen könnten, würden sie ganze Blöcke von Marmor mitnehmen.

Wir passierten den Vorhof einer alten, halbzerfallenen Kirche. Zwischen zwei graugrünen Feigenbäumen blitzte das Mirtoische Meer. Bei gutem Wetter, sagte der Wächter, kann man Kreta erkennen, zweihundert Kilometer von hier entfernt. Mir fiel der Vers von Ritsos ein, seine Assoziation: “fern der Rauch der Schiffe die dunstgezeichnete Insel Kreta das Blau und das andere Blau”. Und seine Erklärung: “Der Dichter empfindet Geschichte vermittelt über konkrete Erlebnisse, gegenständliche Eindrücke, Kindheitserinnerungen.”

15.11.1983, Dresden | … Und zu warten (worauf nur?) ist so trostlos. Letzteres Wort scheine ich sehr zu “lieben”, jedenfalls in letzter Zeit. Stammt irgendwie von Ritsos, aber doch auch von mir.

22.11.1983, nachts, Leipzig | Arbeit am Szenarium. Langes Gespräch mit Uwe. Mein Grundgedanke: Ritsos verwendet in seiner Poesie Dinge/Gegenstände (Tisch, Baum, Spinne, Schlüssel, Statue usw.), die ihn an sich interessieren, in ihrer scheinbar bedeutungslosen Alltäglichkeit. Dieses Ansich verwandelt sich jedoch sofort in ein Fürsich, nämlich in dem Augenblick, da über diese Gegenstände eine Begegnung mit dem/einem ANDERN und dadurch wiederum mit SICH SELBST möglich wird. Eine seltsame Kausalität entsteht: Die Vergegenständlichung der “Welt” führt zu einer Verwirklichung des “Menschen”, zu einem Sich-Auflösen der Entfremdung durch ein “Treffen”, eine “Begegnung”. So entwickeln sich poetische Gegenstände=Archetype (keine Metaphern), die wiederum in Momenten, da sich Ästhetik im Widerstand befindet, zu einfachen, elemantaren Haltepunkten werden.

23.11.1983, Leipzig | Uwes zentrale Frage: Wie machen/schaffen es bestimmte Leute, sich eine Ideal anzueignen und es dann – allen Widrigkeiten und Anfechtungen zum Trotz – ein Leben lang aufrechtzuerhalten? Ich weiß nicht, ob er das positiv meinte, aber vielleicht ist es gar nicht so positiv. Außerdem merke ich, wie die Begriffe nicht zutreffen, nichts erfassen, ins Bodenlose weisen.

Ritsos hatte, bevor ich ihn im September besuchte, die Geschichte der Mutter eines Mithäftlings von Makronissos erfahren und mir mit Anteilnahme weitererzählt: Als ihr Mann Ende der vierziger Jahre hingerichtet wurde, blieb sie, die blind war, allein mit ihren Kindern, völlig mittellos. Um ihren Mann begraben zu können, mußte sie zu einem Tischler außerhalb der Stadt gehen, der ihr einen Sarg zimmern würde. Sie bat eine Nachbarin, sie zu ihm zu führen. Die beiden Frauen zogen los, die Greisin führte die junge Blinde. Der Tischler machte ihr den Sarg, und sie schleppte ihn auf dem Rücken nach Hause. Die Nachbarin konnte ihr beim Tragen nicht helfen, konnte sie nur führen. Inzwischen war es Nacht.

Ritsos machte eine Pause und schaute mich an: Stell Dir dieses Bild vor, es läßt mich nicht los. Ist schon zu einem Gedicht geworden. Diese Frau nun ließ sich zu jedem 1.Mai die Fahne beschreiben, die aus ihrem Fenster hing. Als ihr Sohn dafür eine Metallstange nahm, wurde sie zornig: Die Fahnenstange, rief sie, muß aus Holz sein, ans Holz wurde auch Christus geschlagen. Und das Tuch muß lang sein, bis auf die Straße muß es reichen, daß es jedem Passanten gegen die Schulter schlägt.

Das erzählte Ritsos voller Bewunderung, und mir wurde klar, wie unterschiedlich wir gleiche Sachen bewundern. Und das nicht nur auf poetischer Ebene. Seine Voraussetzungen: Erlittenes Unrecht, erlebte Utopie. Meine?

24.11.1983. Leipzig, nachmittags | Ein “Gesprächsfilm” mit Ritsos ist fast unmöglich. Wir machten die Erfahrung, daß er immer wieder bemerkte: “Das habe ich aber schon in einem Gedicht gesagt.” Er zitierte auch wiederholt Gedichte, um das (seiner Meinung nach) Eigentliche auszudrücken. Oder solche Bemerkungen: “Aber wie Du merkst, ist das Gedicht viel präziser als meine Interpretation”.

Zweitens, die Aussage von Ritsos, seine Biografie spiele keine Rolle, um seine poetische Gedankenwelt zu erfassen.

Drittens, der “medienscheue” Ritsos. Interessant. Und ein Klischee. Was mir auffällt: So sehr er die große Öffentlichkeit liebt, gibt er doch wenig Interviews. Nicht die Medien. Sein Medium ist die Poesie. Und zur Poesie – der Kreis schließt sich wieder – gehört für ihn das “Volk” … (Wie unterschiedlich dieses Wort im Deutschen klingt. Wenn man schon den Unterschied bedenkt, den das Wort im Griechischen in einem Vers von Ritsos und im Mund eines Politikers bedeutet, dann verlischt jegliche “griechische” Bedeutung dieses Wortes im Deutschen.)

Auf jeden Fall irrig die Annahme, man könne Ritsos “packen”, indem man bestimmte historische Ereignisse der griechischen Geschichte darstellt, und die Dichtung Ritsos’ daraus “deduziert”. Reinster Soziologismus. (Kunert macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die Konsequenz dieser Ansicht wäre, daß man Leid und Not erfahren müsse, um ein großer Dichter zu werden.) Nur wenn man über seine Gedichte spricht, spricht man über ihn. Oder andersherum. Nur wenn man (wirklich) über ihn spricht, spricht man über seine Gedichte. Dieses “(wirklich)” hats in sich. Er selbst meinte, sich zum Marxisten erklärend, daß sich durch Übernahme/Verarbeitung marxistischen Ideengutes keinesfalls automatisch eine andere künstlerische Verarbeitung ergäbe. Den “Marxismus” nehme er als Künstler auf, nämlich durch individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen …  Seine aristokratische Mutter, die 1918 durch das Haus lief, einen roten Schal um den Hals, und rief: “Ich bin Bolschewikin! Ich bin Bolschewikin!”

Völlig uninteressant erscheint mir heute, an seiner Person die Einheit von Künstler und “Politiker” exemplifizieren zu wollen. Er hält an einem politischen Ideal fest. Das machen aber viele andere auch. Nur oft entgegengesetzter “Tendenz” …

Jannis Ritsos & Asteris Kutulas
Hans Marquardt, Asteris Kutulas, Jannis Ritsos, Thomas Nicolaou im Gohliser Schlößchen Leipzig 1984, Reclam Verlag, Photo © by Privatier/Asti Music

19.1.1984, Leipzig | Traf heute Quang, der gerade die “Mondscheinsonate” ins Vietnamesische übersetzt. Konfuses Gespräch über die volksfront-poetische Potenz in Ritsos’ Iphigenie-Gestalt. Und: Was interessierte Goethe an Iphigienie? Die Bewahrung, Erhaltung, Ausstrahlung einer elementaren Humanität in einer sie bedrohenden (und damit die Humanität an sich bedrohenden) Umwelt. In solch einer Lage sah sich wohl auch Goethe selbst befangen, zumindest dürfte er das aus der italienischen Distanz so reflektiert haben. Man braucht nur die Tagebücher und Briefe von Anfang 1779 lesen. Tasso ist der andere direktere Verweis auf das existenzielle (geistige) Problem eines humanistischen Künstlertums, das die politische Emanzipation als menschliche postulieren muß … Ausdruck dieses poetischen Konzepts ist Fürstenerziehung einerseits und Hinwendung zum Volk andererseits. Die Seele eines Menschen zu treffen und den Humanismus in ihm zu stärken, unabhängig davon, ob er Bauer oder Fürst ist, Linker oder Faschist. Iphigenie als Symbol, den Humanismus innerhalb einer inhumanen Welt bewahren und behaupten zu können! Das ist wohl schon bei Euripides angelegt. Also “Iphigenie” nicht als Problem der UTOPIE, sondern als reales “politisches” Problem des Dichters.

Im Zug nach Magdeburg | Ritsos läßt einen gewöhnlichen Menschen sprechen, allerdings einen Menschen, der eine  Etikette bekommen hat, z.B. die Maske Iphigenies oder Orests oder Elektras usw. Dieser gewöhnliche Mensch spricht nun über seinen Alltag, aber auch über seinen “Nachruhm”, über den er eigentlich nicht sprechen könnte, über seine von der Nachwelt bestimmte Geschichte. Damit weist Ritsos darauf hin, daß diese in der Mythologie verschlüsselten Konstellationen heute ebenso bestehen, nur unscheinbarer. Zum anderen wird der Mythos selbst kritisch beleuchtet: seine Beständigkeit gegenüber einer anderen – modernen – Umwelt, dem Griechenland der faschistischen Junta beispielsweise.

19.4.1984, Athen | Gestern unterhielt ich mich mit Ritsos über die geschichtsphilosophischen Wurzeln des Pessimismus. So kamen wir auf Schopenhauer zu sprechen. “Schopenhauer war Pessimist”, sagte Ritsos, “weil er der erste desillusionierte Realpolitiker auf philosophischem Gebiet war. Trotzdem suchte auch er, möglicherweise unbewußt, nach dem Prinzip Hoffnung. Ich erinnere mich an eine Stelle in seinen ‚Parerga und Paralipomena‘, wo er dem Gedanken nachgeht, ob es auf anderen Planeten Zivilisationen gäbe, die ihr Leben anders gestalteten als die Menschheit.”

Später befragte ich ihn zu seinem Iphigenie-Monolog. Goethes Iphigenie habe er nicht gelesen. “Ich wollte die Geschichte einer Frau schreiben. Jenseits vom ‚Mythos‘. Sie spricht über ihre alltäglichen Sorgen und Probleme. Sie erinnert sich ihres ganzen normalen Lebens, das das Schicksal der Atriden natürlich einschließt.”

Ritsos schenkte mir ein Exemplar seines soeben erschienen Romans “Mit dem Stoß des Ellenbogens”. Dann las er ein Kapitel aus dem gerade abgeschlossenen Manuskript “Der Alte mit dem Papierdrachen”. Die Geschichte ist einfach: Ein alter Mann beobachtet im Frühling ein paar Jungen, die Drachen steigen lassen. Er beneidet sie und würde am liebsten mitmachen. Aber er schämt sich, zu den Kindern auf die Wiese zu laufen und es ihnen gleichzutun. Eines Abends geht er auf das Flachdach seines Hauses und läßt einen selbstgebauten Drachen steigen. Zwei Kinder von nebenan entdecken ihn und fragen: “Opa, was machst du da, läßt du etwa einen Drachen fliegen?” Der Alte fühlt sich ertappt und beschwichtigt: “Nicht doch, Kinder, ich habe diesen Drachen gerade gefunden. Er wird irgendeinem Kind gehören und hat sich in meiner Veranda verfangen.” – “Dann gib ihn uns!” Darauf der alte Mann: “Das geht nicht, ich muß herausfinden, welchem Kind der Drachen gehört, und ihn zurückgeben.” Er packt den Drachen ein und geht schnell ins Haus.

Jannis Ritsos Asteris Kutulas
Jannis Ritsos & Peter Zacher, Dresden 1984 (Photo © by Asteris Kutulas)

21.4.1984, Sernikaki | Noch im Gespräch mit Ritsos: Längere Unterhaltung über den Ausschluß des Komponisten Thanos Mikrutsikos aus der Kommunistischen Partei. Diese Entscheidung scheint ihn zu beschäftigen. Ritsos meinte dazu, daß die kommunistische Bewegung in Griechenland nur dann eine Chance habe, wenn jeder auf seinem Gebiet das Beste gibt und vor allem: geben kann, um diese Bewegung zu stärken. Aber dem stehe natürlich die Anmaßung bestimmter Funktionäre entgegen, die glauben, auch auf Spezialgebieten “eine Linie” vorgeben zu müssen. (Er habe Mikroutsikos angerufen und ihm gesagt, er soll sich das nicht zu Herzen nehmen und, seinem Gewissen folgend, weitermachen.) Und erzählte folgende Geschichte:

“Als wir im Dezember 1944 die Schlacht um Athen gegen die britischen Truppen verloren hatten, erhielten die Partisanenabteilungen den Befehl, sich aus der Hauptstadt zurückzuziehen und im Norden Griechenlands eine zweite Republik zu gründen. In der Stadt Lamia wurde der Befehl erlassen, ein Theater aufzubauen. Wir stellten in kürzester Zeit zwei Theatergruppen mit sehr erfahrenen und begabten Schauspielern und Regisseuren zusammen. Da keine Stücke für ein Repertoire existierten, mußten wir selbst welche schreiben. So entstand damals mein lyrisches Drama ‘Die Mutter’, um das eine harte Diskussion entbrannte, weil die Politkomissare die Meinung vertraten, es sei zu schwer für die Soldaten, die oft erschöpft von der Front direkt ins Theater kamen. Ich hatte nämlich längere Monologe verfaßt und, der antiken Tradition folgend, Chorpartien eingeschoben. Die Monologe sollten als ‘subjektivistisches Element’ eliminiert werden, wogegen ich aber protesierte: ‘Kameraden, ich verstehe Eure Bedenken, aber ich werde keine Zeile ändern. Dann wird das Stück eben nicht gespielt. Und ich glaube, daß ihr die Menschen unterschätzt. Auch ohne umfassende Bildung besitzen sie doch einen Instinkt für das Schöne. Und außerdem verstehe ich mehr von künstlerischen Dingen als ihr. Ich mische  mich auch nicht in eure Belange ein, für die ihr die Verantwortung tragt – und dasselbe nehme ich für mich in Anspruch. Sollte das Stück ein Mißerfolg  werden, so können wir es immernoch absetzen. Gebt aber dem Publikum die Chance, selbst zu entscheiden. Das Stück wurde ein großer Erfolg, und gerade die Monologe kamen sehr gut an.”

Mit Nachdruck beharrte er darauf, daß man nur so, innerhalb der eigenen Reihen, etwas unternehmen könne. Und fast beschwörerisch: “Wir haben alle von den eigenen Genossen so viel einstecken müssen, daß wir wissen, wie schwer das ist. Aber nur so kann sich etwas entwickeln.” Mein Gott!

23.5.1984, Dresden | Heute flogen Mikis, Mirto, Eri und Ritsos nach Moskau. Gestern Gespräch mit Ritsos über einen “Ritsosfilm”. Ein solcher Film, so Ritsos, müsse die Verwurzelung seines Werks in der Antike deutlich machen. Seine Beziehung zur Antike sei keine “philologische”. Sie bestimme in großem Maße sein Schreiben und in gewisser Hinsicht auch sein Leben. Der Geist seiner Dichtung ließe sich viel präziser in einer Filmszene mit einer Statue einfangen, als durch alle möglichen theoretischen Abhandlungen.

Dann wäre ja dieser Film, meinte ich, schon formal, kompositorisch eine Abstraktion … Ja, erwiderte Ritsos, Fakten könne jede Biographie liefern. Der Film aber solle von Phantastik durchdrungen sein – wie seine Poesie. Er stelle sich Szenen mit Schlüsseln vor, mit nackten Frauen und Männern, und immer wieder mit Statuen.

Vorgestern in Leipzig Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ritsos, den Eri begleitet. In seiner kurzen Ansprache machte er auf einen merkwürdigen Zufall aufmerksam: “Die Leipziger Universität wurde 1409 gegründet, und ich wurde 1909 geboren, also genau 500 Jahre später. Sie feierten in diesem Jahr Ihr 575. und ich meinen 75. Geburtstag. Ich bin in gewisser Weise ein Altersgenosse Ihrer Universität, nur 500 Jahre jünger. Rechnet man mir die griechische Tradition zugute, die in meinen Adern kreist, bin ich natürlich ein paar Tausend Jahre älter. Auf jeden Fall bin ich stolz darauf, Ehrendoktor einer Universität zu sein, an der ein Lessing, ein Leibniz und ein großer, ein sehr großer Autor, nämlich Goethe, studiert haben. Und auch weil mein Freund Pablo Neruda den Titel eines Ehrendoktors hier erhalten hat.”

6.9.1984, Athen | Ich erzählte Ritsos, daß mir die “Perser”-Aufführung im Herodes-Attikus-Theater nicht gefallen habe, ich aber den Text als äußerst modern empfände. “Das Interessante im Stück”, sagte Ritsos, “ist die deutlich artikulierte Liebe des Aischylos zu den Persern. Dieses Werk ist ein Antikriegsstück, weil Aischylos mehr die Niederlage und den Schmerz des persischen Volkes besingt, als den Sieg der Griechen. Man fühlt: Er klagt mit den Persern. Seine Überwindung des ‘hellenischen Nationalismus’ war äußerst wichtig für die gesamte antike Kultur.”

Ich sprach mit ihm über moderne Adaptionen des Mythos. Ritsos: “Gestalten aus der antiken Mythologie wie Orest, Iphigenie, Ismene konzentrieren in sich ganze Welten, deren Ursprünglichkeit und Wesenhaftigkeit durch den Umstand bewiesen werden, daß sie elementar in andere Literaturen Eingang fanden und deren Ausgestaltung mitbestimmten. Schon Platon und Aristoteles sind in ihrer Wirkung für die Literatur insgesamt nicht zu überschätzen. Was wäre ein Goethe ohne die Antike und um wieviel ärmer wäre die deutsche Literatur ohne die Gestalt von Hölderlins Diotima. Was wäre ein Brecht ohne Mythologie, obwohl bei ihm Anknüpfung und Entgegenung Hand in Hand gehen. Ich meine das alles nicht nationalistisch, aber gerade weil die Konstellationen, die die mytholgischen Gestalten repräsentieren, in ihrem Wesen allgemeinmenschlich sind und alle Grundmuster menschlichen Verhaltens in sich bergen, hatten sie diese internationale und diachronische Ausstrahlung.”

Warum er immer einen Bogen um zwei zentrale antike Figuren mache, fragte ich ihn, Ödipus und Klytämnestra treten in seinen Dichtungen nie als Protagonisten auf. “Du hast recht”, antwortete Ritsos, dieses Ausgeliefert-Sein des Ödipus behagt mir nicht. Daß er, ohne es zu wissen, seinen Vater Laios erschlägt und seine Mutter Iokaste heiratet. Alles bei Ödipus ist im voraus bestimmt. Er hat keine Chance. Sogar seine Blindheit ist schicksalsgegeben. Sein Name taucht zwar in vielen meiner Gedichte auf, aber ich gab ihm nie die poetische Eigenständigkeit eines Orest, Agamemnon, Ajax oder einer Chrysothemis. Bei Klytämnestra ist es anders. Auch sie tritt in keinem Gedicht als Protagonistin auf, ist aber in allen den Atridenmythos tangierenden Gedichten anwesend. Diese Frau ist allgegenwärtig; so, wie sie jeder sehen kann – mit ihren Sorgen und befangen in einem verzweifelten Kampf.”

Ritsos erzählte, daß er eine Einladung zu einer Vortragsreihe in die USA mit Poetik-Vorlesungen abgelehnt habe. Es lohne nicht den Aufwand, meinte er.

“Außerdem”, fügte er hinzu, “ich bin nicht stolz darauf, ein ‘Künstler’ zu sein, sondern wäre stolz, als Wort-Arbeiter zu gelten, als Be-Arbeiter des Logos.”

Asteris Kutulas, Jannis Ritsos

13.10.1984, Athen | Mit Hans und Barbara auf der Akropolis, einer belagerten Hohen Burg; schon Trümmerhaufen oder erst im Evakuierungszustand? Man wartet vergeblich auf Momente, in denen sich “ehrfürchtiges Erschauern” einstellt. Anschließend mit den beiden Ritsos besucht. Hans sprach von der entblößenden Helligkeit des griechischen Lichts. “Das ist richtig”, erwiderte Ritsos, “und für die spezifischen – klimatischen und landschaftlichen – Bedingungen, unter denen in Griechenland Kunst entsteht, ist das sehr wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, daß immer nur aus Antinomien heraus große Kunstwerke entstehen. Aus dieser lichtüberfluteten Mittelmeerlandschaft mit ihrer stechenden Helle erwuchs die psychologisch düstre Welt der Tragödie. Die Griechen haben eine impulsive, widersprüchliche Mentalität. Um diese zu kompensieren, wenigstens ein geistiges Gleichgewicht herzustellen, entwickelten sie in der Antike das vernunftgemäße Denken (orthos logos): Ein Offenlegen der Abgründe des menschlichen Geistes durch das überall eindringende und das alles durchdringende griechische Licht, ein oft gelungener Versuch, die Gegensätze auszugleichen, ein immer tieferes Erfassen der sich offenbarenden Antinomien. Auch die Liebe basiert auf diesem Prinzip, das Platon als erster beschrieb: Nicht von Anfang an existiert, sondern nach einer Reihe von Berührungen und geschlechtlichen Vereinigungen, am Ende einer Kette von Liebesbeziehungen, entsteht Diotima als Inkarnation der liebens-würdigen Frau. Bei Shakespeare finden wir dasselbe: Julia ist nicht die erste Liebesbeziehung von Romeo, sondern steht am Schluß vieler Liebschaften.”

Und auf seine eigene Beziehung zu Licht und Dunkelheit befragt: “Ich selbst bin so: brauche Licht, viel Licht überall, und auch beim Lieben. Ich bin ein Mensch des Sehens, nicht so sehr des Hörens. Darum liebe ich offene Fenster. Dunkelheit oder Halbdunkel mag ich nicht. Mein Gehör ist eigentlich nur für eins wirklich geschult: für Musik …”

Zum Abschied gab uns Ritsos den Rat, unbedingt Delfi zu besuchen. Dann verstünden wir seine Worte besser.

15.10.1984, Athen | Heute von Delfi nach Athen zurückgekehrt. Ich erzählte Ritsos am Telefon, daß wir dort spontan beschlossen hätten, ein Buch über den antiken Ort Delfi zu machen. Ritsos‘ Antwort: “Wenn ihr nach Mykene fahrt, beschließt ihr, über Mykene ein Buch zu schreiben, und das gleiche wird euch auf Kreta und an jedem Ort in Griechenland widerfahren.”

26.10.1984, Athen | Die Zeichnungen, die uns Ritsos heute für unsere Ausgabe gab, entstanden zu verschiedenen Zeiten. Die meisten aber während eines Krankenhausaufenthaltes 1975. Wir schilderten ihm unsere letzten Eindrücke von Griechenland. Sprachen auch über die antiken Überbleibsel in der griechischen Landschaft. Hans schwärmte von Delfi, von Delfi im Abendlicht, dieser einzigartigen Symbiose von Bauwerk, Landschaft und Licht. Daraufhin Ritsos: “Ich bin ein absolut visueller Mensch. Man kann sicher viele archäologische, historische und soziologische Bücher lesen, aber entscheidend ist, eine kleine Säule in einer bestimmten – ihr zugehörigen – Landschaft zu sehen. Was natürlich die Sensibilität des Betrachters voraussetzt.”

Jannis Ritsos & Asteris Kutulas, Mikis Theodorakis
Mikis Theodorakis, Jannis Ritsos & Asteris Kutulas, Dresden 1984, Kulturpalast, Photo © by Privatier/Asti Music

1.4.1985, Athen | Arbeit in Ritsos’ Archiv. Während ich einige seiner unveröffentlichten Manuskripte durchlas, kam plötzlich Frau Miranda in die Wohnung und brachte für Ritsos einen Teller mit Klößchen aus Reis und Hackfleisch. Er lud mich so beharrlich zum Essen ein, daß ich meine Ablehnung nicht aufrechterhalten konnte …

“Ich bin gebeten worden”, erzählte er kauend, “René Char ein Gedicht zu widmen. Ich habe aus diesem Anlaß wieder Gedichte von ihm gelesen, die mir sehr gefallen. Aber weißt du, was mir dabei auffiel? Daß ich einen bedeutenderen Dichter als Char kenne. Weißt du, wen ich meine?” – “Ich glaube schon.” – “Natürlich kennst Du ihn”, erwiderte er lächelnd. “Jannis Ritsos.”

Dann: “Das Mysterium besteht in der Nacktheit”. Er kenne wirklich nichts Geheimnisvolleres. Und auch nichts Unerschöpflicheres.

17.4.1985, Griechenland | Ich wollte seine Meinung zu den aktuellen Diskussionen wissen, die über sein Werk insgesamt und seine Romane insbesondere geführt werden. Zur Kritik einiger jüngerer Kollegen. “Die jungen Leute hassen mich, und das verstehe ich auch. Sie werfen mir vor, ich hätte in meiner Dichtung keine Idee ausgelassen, keinen Gegenstand, keine Form. Aber sie haben unrecht, denn ich glaube, daß es noch so viel gibt. Das Schreiben ist außerdem nicht nur eine Sache von Talent, auch nicht nur von Arbeit. Sondern es spielt auch eine Rolle, ob dein Leben verbunden ist oder in Beziehung steht mit dem allgemeinen Leben der Gesellschaft. Wenn also was passiert um dich herum, und du bist ein introvertierter Typ und lebst in deiner Stube vor dich hin, dann kriegst du das alles nicht mit. Diese soziale Beziehung ist also sehr wichtig.

In der für mich ruhigen Zeit der 50er und 60er Jahre erreichte ich eine ausgewogene Poetik, einen stabilen Stil. Doch hätte ich “Chrysothemis”, “Graganda” oder gar “Milos geschleift” geschrieben, wenn nicht die Junta gekommen wäre? Sicher nicht. Oder nimm den “Sondeur” – einen der wichtigsten Texte der letzten fünfzehn Jahre. Hätte ich die “Viertel der Welt” geschrieben, wenn nicht der Bürgerkrieg gekommen wäre, wenn ich nicht Makronissos, Agios Efstratios, Kondopuli auf Limnos kennengelernt hätte? Sicher nicht. Ich hatte dieses Gedicht während der Besatzungszeit begonnen, ahnte, was ich machen wollte. Aber ich hätte es niemals zuende gebracht, ohne diese konkreten Erlebnisse.”

28.8.1985, Vrachati | Ritsos auf Samos angerufen. Er sagte, er befände sich in einem Zustand von Entrückung. Er habe in 19 Tagen einen Roman und in weiteren 15 einen zweiten geschrieben. Er schlafe kaum, könne fast nichts essen, arbeite ununterbrochen, zwanzig Stunden am Tag. “Roman” – natürlich, was er darunter versteht.

21.11.1985, Berlin-Pankow | Nocheinmal den “Ariost”-Roman gelesen, der 1942 den meiner Meinung nach zutreffenderen Titel “Übungen in Ehrlichkeit” hatte. Ich mußte an Monsieur Teste denken: “Ich hatte mir eine innere Insel geschaffen, die auszukundschaften und zu befestigen ich meine Zeit verlor …”

“Kleine Einzelheiten, unnütz, ohne jedes Zentrum” – diese Zeile aus dem Gedicht “Das Begräbnis von Orgaz” könnte als Motto dem Buch “Ariost der Vorsichtige berichtet Augenblicke seines Lebens und seines Schlafes” von Jannis Ritsos vorangestellt werden. Beide entstanden zur gleichen Zeit, im Oktober 1942, wobei der aus 49 kurzen Kapiteln bestehende “Ariost” die erste Prosa-Arbeit des Lyrikers Ritsos war.

Der Verfasser des Buches berichtet im ersten Kapitel, er habe sich selbst den Namen Ariost zugelegt, wann und warum wisse er nicht mehr, aber der Name gefalle ihm jetzt, weil er durch eine einfache Buchstabenverschiebung zum Aorist, zum Unsichtbaren werden kann; das Versteckspiel, der Ernst des Lebens, kann beginnen. Der Leser ahnt kaum etwas von der permanenten Bedrohung – so sehr ist alles hinter einem Schmunzeln verborgen.

“Ariost der Vorsichtige”, der Mensch, der sich beobachtet fühlt, obwohl er unbeobachtet ist und eigentlich doch beobachtet wird, versucht durch Ironie, gleichsam lachend, seine Neurosen und Komplexe zu bewältigen. Seine Sucht nach Sauberkeit, moralischer wie körperlicher, läßt den Verdacht aufkommen, er müsse sich wehren gegen die jenseits von ihm okkupierte Wirklichkeit; die wurde allerdings in der Enstehungszeit des Buches von deutschem Faschismus, Hunger, Kälte und Tuberkulose bestimmt.

Doch davon selten ein Wort. In diesem Buch, dessen Kapitel wie  aneinandergereihte lyrische Fotos wirken, wird die den Dichter durchströmende Wirklichkeit surrealistisch seziert in verschiedene Augenblicke des Lebens und des Schlafes, die stets von Träumen, Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten durchzogen sind. Und gerade darüber berichtet “Ariost der Vorsichtige” und offenbart dem Leser die Struktur seiner Psyche: ein scheinbar unnützer, sinnloser und kleiner Akt des Widerstands: Seht her, ich bin verrückt! Man schaut hin, und das Lachen bleibt einem im Halse stecken.

Und immer wieder: “Kleine Einzelheiten, unnütz, ohne jedes Zentrum” – Menschen, die ihr Tagwerk verrichten, nach Hause gehn, einsam sind. Handbewegungen, kurze, abgehackte Sätze. Menschen, die nichts Genaues wissen, wissen wollen, Vorsicht walten lassen, gegenüber sich selbst, der sie umgebenden Welt, den andern. Eine Atmosphäre, in der die Wirklichkeit und die andre Wirklichkeit des Traums, auch des Tagtraums, besonders diese, ineinander greifen, sich verdichten zu poetischen Bildern.

Die Konzentration auf die “kleinen Einzelheiten” ist gewaltig; ihr entspringt, scheinbar unwillkürlich, so etwas wie eine automatische Schreibweise – doch wird der Bilder-Strom aus dem Unterbewußtsein noch reguliert, denn die ungeteilte Aufmerksamkeit gilt den sinnlichen Gegenständen, die gerade im Blick sind, alles andre wäre zu gefährlich; und mit den konkreten Dingen hat man schon genug zu kämpfen. Ariost legt Zeugnis ab von diesem Kampf, von diesem Festhalten – von diesem Seiltanz über den Abgrund.

Juni 1986, Berlin-Pankow | Das ähnelt sich sehr: Pasolinis Foto-Essay “Vergilbte Ikonographie” und Ritsos’ Romanfolge “Ikonostasion anonymer Heiliger”. Nicht nur die Verwandtschaft im Namen, sondern auch die ästhetische. Und die inhaltliche zu Peter Weiss: “Wer aber, fragte ich, vermittelt die Geduld, mit der die meisten hier leben, da es doch grade zum Wesen dieser Geduldigen gehört, alles, was den eignen Zustand betrifft, als der Mitteilung für nicht wert zu erachten …”

Nicht mehr der esoterische Raum, jene “innere Isel”, eines Ariost, nicht mehr die öffentliche Verwandlung, das Hineinschlüpfen – vor den Augen aller – in eine fremde Haut, keine Indizien mehr, die der “Autor” seinem irregeleiteten Fotografen “schier mit Sinn” und wie zufällig hinterläßt, eine farbige Feder etwa oder ein Stück Zeitung, “die über Lodovico Ariosto, den diplomatischen Agenten des Kardinals Ippolito d’Este” schrieb; nichts von alledem im 1983 geschriebenen Prosaband “Was für seltsame Dinge. Roman?”

Hier flaniert der Ich-Erzähler nicht mehr durch die geistigen Passagen Ariosts, sondern bewegt sich im sozialen und historischen Umfeld seiner Biografie, ohne fremden Namen; er heißt Ion. Durch die tagebuchartige Struktur des Schreibens schrumpft die Distanz zwischen ihm und Ion auf einen hauchdünnen Unterschied zusammen: Ion ist nur das veräußerlichte Medium des Dichters. Der “Roman?” der ebenso zufälligen wie notwendigen Tagebuch-Aufzeichnungen, der Reflektion, dahinter sich der neue Ariost, der bei weitem unvorsichtigere, verbergen kann.

Unwillkürlich assoziert man den von Platon verspotteten “Rhapsoden” Ion, den, wie ihn der Philosoph verächtlich nennt, “Sprecher der Sprecher”. Und darum geht es allemal: Wie die Sprachlosen durch den Dichter ihre eigne Sprache finden, wie der Dichter zum Chronisten wird für das alltägliche unheroisch-heroische Leben der andern: “Würde Lefteris Gedichte schreiben und die Technik des Schreibens beherrschen, könnte er Rimbaud und Lautreamont in seine kleine Westentasche stecken”. Denn die Wunden der Geduldigen, der anonymen Heiligen, klaffen weit auseinander; gleich dem von Pfeilen aufgerissnen, aber entrückten Blickes, nichtleidend-leidenden Heiligen Sebastian auf dem Bild von Jannis Zaruchis, das in Ritsos’ Wohnung hängt. Aber Lefteris kann nicht schreiben.

Die ehemals kleinen, unbedeutenden Gegenstände erhalten eine neue Gewichtigkeit, ein “Zentrum”. Ebenso die Vielzahl der Bilder, Erinnerungen, Gespräche, philosophischen und ästhetischen Exkurse, eingeschobenen Zitate und Gedichte. Ein Experimentierfeld des poetischen Bewußtseins. Eine surrealistische Verarbeitung der Kindheit, ein assoziativ-anarchisches Sich-Ausleben, in einer bedingungslos erfahrenen Welt. Eine offene Konzeption, die sich aus der Notwendigkeit des “uneingeschränkten Sprechens” ergibt. Bislang noch nicht Aussprechbares, so die Alpträume eines Freundes auf Makronissos, in denen er eine von den Engländern erhängte Partisanin am Galgen vergewaltigt, kann artikuliert werden, das einst aus politischen und moralischen Gründen Verdrängte strömt heraus, es gleicht einer Befreiung – dieser rhapsodische Fluß.

Nicht zufällig also dieser augenzwinkernde Ion, der sich bei Platon allein der homerischen Tradition verpflichtet fühlt, nicht zufällig die Form dieser Gedichte in Prosa, auch hier Übungen in Ehrlichkeit.

Ina Kutulas, Jannis Ritsos, Asteris Kutulas
Ina Kutulas & Jannis Ritsos, Karlovassi auf Samos, 1986 (Photo © by Asteris Kutulas)

18.8.1986, Karlovassi, mittags | Ritsos erzählte gestern: “Als die Zeitschrift ‘Nea Grammata’ 1936 einige Gedichte von mir veröffentlichte, wußten die Redakteure nicht, daß sie von mir sind. Da mich dieser Kreis, zu dem auch Katsimbalis, Karandonis und Seferis gehörten, ständig bekämpfte und boykottierte, wollte ich wissen, ob die Gründe hierfür mehr künstlerischer oder eher weltanschaulicher Natur waren. Ich schickte also der Zeitschrift einige Gedichte unter dem Pseudonym Kostas Eleftheriou. Die Redaktion war begeistert und druckte sofort meine Texte ab. Als bekannt wurde, daß sie von Ritsos stammen, waren sie dort außer sich.”

Nachmittags | Die beiden Hauptgestalten seiner neun Kurzromane Ariost und Ion seien zwei Seiten einer Medaille. Schließlich gäbe es ein Zusammentreffen der beiden im letzten, dem neunten Roman, wo sich Ariost weigere, heiliggesprochen zu werden. Diese Weigerung bedeute seine Heilung. Ariost ist der nach Innen gewandte, während Ion eher eine äußere Beziehung zur Welt habe. Nach einer diesbezüglichen Frage meinte Ritsos, daß natürlich gewisse Beziehungen zum Ion von Euripides bestünden. Genauso habe er einige Anspielungen auf philosophische Exkurse von Platos Ion gemacht. Dieser Name habe jedoch am meisten mit ihm selbst zu tun: Ioannis Ritsos: Ion. Eine andere wichtige Roman-Gestalt, Petros, habe er als das reine kommunistische Prinzip aufgebaut.

Als ich ihn fragte, wie er Anfang der achtziger Jahre darauf gekommen sei, Romane zu schreiben, erzählte Ritsos: Er hatte einen wunderbaren Traum, den er unbedingt aufschreiben wollte, der aber keine lyrische Form zuließ. So mußte er eine andere Form wählen: Prosa. Als er zu schreiben begann, konnte er nicht mehr aufhören. Er schrieb wie in einer Zwischenwelt. Nach dem fünften Band wurde ihm klar, daß er neun Romane schreiben müsse. “Je älter ich werde, desto mehr beschäftigt mich, woher ich komme, die Erinnerung an meine Kindheit und an die Träume meiner Kindheit. Im ‘Ungeheuren Meisterwerk’ sind übrigens die meisten autobiographischen Angaben enthalten, die ich je in einem meiner Werke mitteilte.”

Nachts. Im Hotel mit Blick aufs dunkle Meer | Allgemein zu den Romanen: “Einen solchen Ton in der Prosa gibt es in der Weltliteratur bis heute nicht. Ich sage das, weil ich weder im französichen Nouveau  Roman, noch in verschiedenen Anti-Romanen, die ich gelesen habe, noch im amerikanischen Romanschaffen eines Updike, Kerouac, Baldwin usw. solch eine dichte Sprache entdecken konnte. In meinen Romanen kann jede Seite, jedes Kapitel auch als eigenständiges Gedicht gelesen werden. Ich meine das im übertragenen Sinn. Alle Figuren wie Petros, Kiparissis, die Tante Alexandra usw. haben ihre eigene Gewichtigkeit und sind keiner Hauptfigur oder irgendeiner Handlung untergeordnet.”

Gestern und heute mit Ritsos lange über Surrealismus gesprochen. Diese Richtung, sagte er, habe vielen Schriftstellern viele Türen geöffnet und besonders jenen geholfen, die sich seine Technik nutzbar machen konnten, aber dabei eins der wichtigsten Elemente des menschlichen Daseins, die Logik – entgegen dem surrealistischen Kanon – nicht ausklammerten, sondern als Denk-Möglichkeit akzeptierten. Denn die Dichtung sei eine komplexe Angelegenheit, und man könne nicht einen wichtigen Teil dieser Komplexität, nämlich die Logik, eliminieren. Zudem stelle sich das für ihn auch anders dar: Durch die strenge Ausklammerung von Logik entstünde eine noch strengere Logik, die ihrerseits jede Nichtlogik ausschließe.

Irgendwie so kamen wir auf die Neue Musik: “Experimente”, sagte Ritsos, “sind immer gut, weil sie die Technik der Kunst vorantreiben. Aber was von dieser Neuen Musik wirklich Bestand haben wird, weiß man nicht. Mir gefällt das alles nicht besonders. Natürlich, einzelne Werke liebe ich sehr, beispielsweise ein, zwei von Stockhausen … Aber allgemein würde ich sagen, eine Musik, die gänzlich der Berechnung von Computern oder anderen Zufallsfaktoren überlassen ist, ist für mich kein künstlerischer Ausdruck, weil sie eines der wichtigsten Elemente des menschlichen Daseins, das Gefühl, ausklammert und programmatisch ausklammern will.” Bach sei für ihn der höchste Ausdruck der Ausgewogenheit. Überhaupt seien Bach, Picasso und Ritsos darum die drei größten Künstler aller Zeiten, weil sie diese Ausgewogenheit zwischen Gefühl und Denken in ihren Werken erreichten. Er lachte.

Gestern schon: “Fortschritt in der Kunst” bedeute seiner Meinung nach niemals Bruch mit der Tradition. Große Werke entstehen nur, wenn der Künstler die Tradition  ausgezeichnet kennt. “Fortschritt ist die Fortführung und Fortsetzung, keine Nachahmung oder Wiederholung, dessen, was bereits existiert. Unsere eigene Generaton der dreißiger Jahre hat doch genau das gemacht. Und zwar in einer Situation, da es schien, daß gar keine neuen Ausdrucksmöglichkeiten möglich wären. Da ‘herrschten’ Kavafis, Sikelianos, Varnalis, Palamas. Und trotzdem erreichten viele von uns eine erstaunliche und eine erstaunlich neue poetische Qualität.”

Ina fragte ihn heute, ob er jemals das Gefühl hatte, nicht mehr schreiben zu können. Seine Antwort: Nein. Niemals. Inas zweite Frage: Ob ihm schon mal vorgeworfen wurde, daß seine Gedichte zu schwierig wären und nicht verstanden werden könnten. Seine Antwort: Ja, schon oft, aber er hatte niemals Probleme damit, weil er genau wußte, daß alle seine Gedichte “verstehen” würden. Dieser Vorwurf sei vor allem von Links gekommen. Aber in letzter Instanz haben solche Leute wie er und Theodorakis die linke Kultur in Griechenland gerettet und das, “weil wir, zumindest in Kunstdingen, niemals dogmatisch waren”.

Ob es ihn sehr gestört habe, wollte ich wissen, daß ihm niemals, obwohl er oft vorgeschlagen worden sei, u.a. von Aragon und Sartre, der Literaturnobelpreis verliehen wurde. “Den Literaturnobelpreis möchte ich nur aus einem Grund bekommen: um ihn abzulehnen. So habe ich zwar den Poesie-Preis von Knooke-le-Zoot verliehen bekommen, bin aber niemals hingereist, um ihn in Empfang zu nehmen, weil er durch die belgische Königin verliehen wird. So habe ich weder Urkunde noch Geld bis zum heutigen Tag. Übrigens haben mir bestimmte Erklärungen von Neruda nach seiner Literatur-Nobelpreis-Verleihung nicht gefallen. So hat er beispielweise erklärt: ‘Endlich ist das Wunder geschehen, und ich habe den Nobelpreis bekommen.’ Er ist  nämlich vierzehn Mal – ich elf Mal – vorgeschlagen worden. Als hätte ein Neruda den Nobelpreis nötig! Das hat mir nicht gefallen.”

Ich lenkte das Gespräch wieder auf die Beziehung zwischen Künstlern. Ritsos: “Die großen Dichter haben niemals das Problem, frei nach ihrem Gewissen zu loben und ihre Meinung zu sagen. So hat mich Palamas 1938 gelobt. Und der Literaten-Kreis der Zeitschrift ‘Nea Grammata’ schäumte vor Wut, als Palamas sein Gedicht auf mich verfaßte. Und einige Autoren von ‘Nea Grammata’ wandten sich gegen ihn. Aber auch Kazantzakis und Sikelianos schickten mir ihre Bücher und Widmungen. Und natürlich: Das, was Aragon für mich getan und wie er über mich geschrieben hat, ist phantastisch. Er hat mich in Frankreich erst bekannt gemacht. Aber er verhalf auch anderen Autoren, Hikmet zum Beispiel, zu Ansehen und setzte sich für sie ein. Unter großen und bedeutenden Dichtern ist das üblich. Nur die kleinmütigen und mittelmäßigen Dichter sind sich untereinander feind und neiden einander alles. Die großen nämlich wissen sehr gut, daß der dichterische Ausdruck so unendlich ist, daß hundert weitere neben ihnen Platz haben und sie trotzdem nicht eingeengt werden.”

Er schwärmte von Oshimas Film “Im Reich der Sinne”. Dieser Streifen sei ein einziges Gedicht. Er habe ihn sehr beeindruckt. Ritsos erzählte ganze Szenen daraus.

Heute. Abends: Wir – Ina, Falitsa, Ritsos, Fereidun – fuhren gegen 21 Uhr zur Kirche des Heiligen Nikolaos. Bis zum Horizont das Meer, in dem sich die untergehende Sonne spiegelte. Wir zündeten Kerzen für die Seefahrer an, die der Heilige auf ihren Reisen beschützt. Ritsos zitierte mit singender Stimme aus dem “Lacrimae rerum” von Lambros Porfiras und der “Alten Violine” von Ioannis Polemis. “Im ‘Ungeheuren Meisterwerk’ spreche ich mit Ironie über die ‘Alte Violine’ von Polemis, der kein so bedeutender Dichter war, obwohl ihn damals alle bewunderten. Während das ‘Lacrimae rerum’ von Porfiras tatsächlich ein großes Gedicht ist.”

Asteris Kutulas, Jannis Ritsos
Jannis Ritsos & Asteris Kutulas, 1984, Gohliser Schlösschen, Leipzig 1984

19.8.1986, Karlovassi | Er liest gerade die  Novellen von Kleist, die ihm aber zu überladen mit Tragik sind und ihm nicht gefallen (Erdbeben von Chili, Marquise von O). “Mich interessiert der traditionelle Roman, der eine Handlung verfolgt oder auf ‘Helden’ setzt, eigentlich gar nicht mehr. In meiner Prosa wechseln ständig die Personen, und alle werden so behandelt, als seien sie Hauptfiguren.”

Max Frisch habe als erster über die Schlüssel in seiner Dichtung geschrieben. “Und sie sind tatsächlich einer der wichtigsten Topoi in meiner Dichtung.”

Wir fahren jeden Tag mit Ritsos baden. Falitsa fährt uns mit dem Auto zum Strand und holt uns nach einer Stunde wieder ab. Ritsos schwimmt eine Weile, dann raucht er mehrere Zigaretten. Die Leute versuchen, in Kontakt mit ihm zu kommen. Touristen aus Athen baten ihn, ihre elfjährige Tochter mit ihm fotografieren zu dürfen. Ritsos setzte einen Strohhut auf, legte sich ein Badetuch um die Schultern, zündete sich eine neue Zigarette an und stellte sich zum Fotografieren neben das Mädchen.

20.8.1986, Karlovassi | Nach Fragen von mir zu seiner Biografie gab Ritsos gestern folgende Antworten: “Als Kalligraph habe ich in einem Anwaltsbüro gearbeitet, gleich nach meiner Ankunft in Athen Ende der zwanziger Jahre. Ein Jahr lang. Dann erkrankte ich und mußte ins Krankenhaus und anschließend ins Tbc-Asyl ‘Sotiria’. Von 1934 bis 1944 und dann wieder nach 1952 habe ich als Korrektor und Lektor beim Govosti-Verlag gearbeitet. Ich habe sämtliche Dostojewski-Werke lektoriert, so ‘Schuld und Sühne’, ‘Die Karamassows’, den ‘Idioten’ oder Romain Rollands ‘Jean Christoph’, aber auch viele Werke von Stendhal, Lew Tolstoi und Alexej Tolstoi, zum Beispiel ‘Der Leidensweg’. Ich nahm mir die verschiedenen Übersetzungen vor und ging sie zusammen mit einem ehemaligen Russen, der viele Sprachen beherrschte, durch.”

Nachts | Heute Mittag ein langes Gespräch zwischen Ritsos und Ina über’s Gedichteschreiben. Anlaß: ein Gedicht von Ina. Ein Vers mußte heraus. Ritsos erzählte: “1945/46 leitete ich einen Bildungskurs bei der EPON. Zu den Teilnehmern gehörten u.a. Livaditis und Argiriou. Ich behandelte ästhetische Probleme, beschäftigte mich aber auch mit Poetologie. So mußten alle ihre Gedichte vortragen und untereinander kritisieren. Dann analysierte ich die Kritiken und sprach auch über Poesie. Oder ich las ihnen Übersetzungen von Gedichten Aragons, Eluards, Lautreamonts und anderen vor und ließ sie darüber sprechen. Sie sollten auf diese Weise herausfinden, was das Eigentliche in der Dichtung ist: nämlich die Genauigkeit des Ausdrucks. Ich erklärte ihnen, daß es Schönes und Schlechtes in der Dichtung nicht gibt. Es gibt Notwendiges und Überflüssiges. Entweder es gibt Verse, die dem Gedicht helfen, ein Gedicht zu sein, oder sie müssen gestrichen werden. So schön ein Vers auch sein mag, wenn er nicht notwendig ist, muß er gestrichen werden.”

21.8.1986, Karlovassi auf Samos, morgens | Sprach gestern mit Ritsos über Computer und die fortschreitende Technisierung der Welt. Er: “Die Welt ist so schnellebig geworden, die Bilder wechseln einander so rasch ab, eine Stunde jagt die andere, ein Tag den anderen. Die große Gefahr besteht heute darin, daß keine großen Kunstwerke mehr geschaffen werden, die dieser modernen Geschwindigkeit eine neue Langsamkeit entgegenstellen, der Langsamkeit eine neue Gewichtigkeit geben. Denn die Kunst gibt dem Augenblick ein solches Gewicht, das wieder eine Verwirklichung des Menschen, der ja nur im Augenblick lebt und nicht in der Unendlichkeit, möglich macht.”

Heute ein ausgelassener, fratzenziehender Ritsos, ein Ritsos, der Unfug macht und sich vor Lachen nicht halten kann. Der vom Tod spricht, wie von einem alten bekannten Gefährten, aber immerhin.

Ich fragte ihn zur Begebenheit aus dem “Ungeheuren Meisterwerk” (“damals übertrug ich die Chorpartien aus der Antigone des Sophokles ins volkstümliche Hochgriechisch”). “Unser Gymnasialdirektor war ein fanatischer Anhänger des antikisierenden Neugriechisch (Katharevussa). Als ich die Chorstücke der ‘Antigone’ aus dem Altgriechischen in die Umgangssprache (Dimotiki) übersetzte, wurde ich von ihm hart bestraft. Und ich hatte sogar eine Rede über meine Übersetzung gehalten.”

“Mit 4 Jahren ging ich in die Schule, mit 12 ins Gymnasium. Damals gab es keine Altersbegrenzung. Mit 16 beendete ich das Gymnasium.”

Gestern abend: Über Beziehung von Kunst und Politik, von Künstler und bürokratischer Machtstruktur. Er präzisierte auch etwas, scheint mir, eine alte Antwort zur Chance der Jugend. Während er damals, vor vier Jahren, die Antwort auf eine subjektive Ebene, des individuellen Kampfes gegen den Tod, stellte, antwortet er jetzt konkreter: “In den Augenblicken, wo es diese Widerstände und Widersprüche gibt, die du mir jetzt genannt hast (Unfreiheit und Machtmißbrauch in den sozialistischen Ländern usw.), bedeutet Kunst die Überwindung genau dieser Widerstände. Zusammen mit den täglichen Erfahrungen, dem Reisen, Musikhören, Bildersehen usw. hat man so viel zu geben, so viel zu schaffen, zu erleben.”

Er regte sich auf (Falitsa versuchte zu schlichten) – über meine desillusionierte Sicht auf die Verhältnisse in der DDR. Er war rigoros: “Du hast kein Recht auf Pessimissmus. Der künstlerisch Tätige hat die verdammte Pflicht, sich mit der praktischen Ausübung und dem Mechanismus der Machtausübung auseinanderzusetzen und diese zu begreifen. Erst wenn man diese Dialektik richtig erfaßt hat, kann man bestimmte Phänomene verstehen, die sonst nur moralisch und idealistisch gedeutet werden können. Alle progressiven Kräfte unseres Jahrhunderts haben sich als Machtstruktur und Parteiapparat in Momenten der äußeren Bedrängung konstituiert. Zum Beispiel die EAM-Führer der verschiedenen Stadtbezirke in Athen vor den Dezemberereignissen oder später in Nordgriechenland. Das waren gute und kluge Köpfe während der Kriegshandlungen, hatten eine ausgezeichnete Partisanentaktik bewiesen. Dann, in den ruhigen Zeiten, bekamen sie natürlich andere Aufgaben, denen sie möglicherweise intellektuell nicht gewachsen waren. Sie waren ja einfache Bauern, Fischer usw., zum größten Teil ungebildet, einige sogar Analphabeten.

Das zweite sind die Künstler selbst, die auf bestimmte Ereignisse ganz bestimmt reagieren. Du kennst vielleicht die Schrift von Gorki gegen die Bolschewiki und gegen Lenin gleich nach der Revolution. Lenin riet Gorki daraufhin, nach Italien zu reisen, um sich ein distanziertes Bild von der Revolution zu machen. Als er wieder zurückkehrte, holte ihn Lenin persönlich vom Flughafen ab. Solche Reaktionen von Künstlern gibt es viele.

Drittens ist natürlich die Machtstruktur an sich das Wichtigste: die konkrete Machtstruktur zum Beispiel in den sozialistischen Ländern hat sich in einem ganz bestimmten historischen Moment nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Diese Struktur, die allerdings fast unverändert weiterbesteht, ist längst von der Entwicklung überholt worden, wahrscheinlich bereits zwei, drei Jahre nach ihrer Konstituierung. Es gibt die starke Tendenz zur Verfestigung, so daß man neuen Situationen nicht mehr gewachsen ist. Und es ist bezeichnend, daß genau dieselben Fehler ständig reproduziert werden, genau weil das mit der Natur der Sache an sich zu tun hat.

Das muß man begreifen, und versuchen, aus der Partei heraus sein ganzes Wissen einzubringen und zur Veränderung beizutragen. Man darf allerdings niemals sein Wissen über das der anderen stellen, niemals einer Arroganz verfallen. Zum andern muß man das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt haben, wann man etwas durchsetzen kann und wann es sinnlos ist, es zu versuchen. Natürlich ist das Ganze, was in der Sowjetunion z.B. mit Pasternak und Achmatowa passierte, verbrecherisch. Das ist klar. Ich sage nicht, das es notwendig, sondern daß es unter den gegeben Umständen unumgänglich war.”

23.8.1986, Patmos | Vorgestern mit Ritsos und Fereidun die letzten beiden Stunden unseres Samos-Aufenthaltes zusammen verbracht. Ich fragte Ritsos, ob er am Anfang eines Gedichts oder Romankapitels den Schluß desselben bereits wisse. “Nein, niemals. Ich fange an und lasse mich treiben von der erschaffenden Kraft der schreibenden Feder. Ich arbeite sehr assoziativ. Meine Technik läßt sich mit der moderner Filmemacher vergleichen. Als ich vor kurzem die Schriften von Sergej Eisenstein las, beeindruckte mich, wie fortschrittlich und aktuell seine Gedanken noch immer sind. Man kann sehr leicht viele meiner Gedichte verfilmen, sie als ein Filmszenarium ansehen. Ich habe einst auch einem Gedicht den Untertitel ‘Kleines Szenarium für einen Film’ gegeben.”

Er betonte noch einmal seine assoziative schöpferische  Arbeitsweise. “Natürlich gibt es bei bestimmten Gedichten, z.B. den mytholgischen ‘Wiederholungen’, einen Unterschied, einfach weil sie einen inhaltlichen Punkt haben, auf den sie hinauslaufen und eine vorausbestimmte Handlung, auf die ich von heute aus hinlenke. Darum hat mich aber Ödipus niemals interessiert. Bei ihm ist nichts umzudeuten, alles ist von den Göttern vorausbestimmt. Ich verstehe nicht, warum er sich geblendet hat. Er konnte ja doch nichts gegen sein von anderen festgelegtes Schicksal tun. Er trug für nichts eine Verantwortung.”

Wir kamen auf Familiengeschichten zu sprechen. “Mein Onkel Nikos Ritsos, Offizier der Königlichen Marine, fiel 1912 während der Expedition zur Befreiung der Insel Chios von türkischer Okkupation. Als ich 6 oder 7 Jahre alt war fand in seiner Schule ein Programm zu Ehren meines Onkels statt, bei dem auch ich eines der zahlreichen meinem Onkel gewidmeten Gedichte zu rezitieren hatte – und das ich immer noch auswendig kann. Während der Veranstaltung saß ich neben meiner Mutter. Doch plötzlich hatte ich überhaupt keine Lust mehr, das Gedicht aufzusagen und flehte meine Mutter an, das Gedicht nicht aufsagen zu müssen. Sie flüsterte mir zu, ich solle mich zusammenreißen, ich könne sie doch jetzt nicht im Stich lassen und blamieren, er sei immerhin mein Onkel. Ich aber: ‘Nein, ich will nicht’, schon ganz weinerlich. ‘Los, steh auf jetzt’, sagte meine Mutter und zwickte mir in die Schenkel. Ich ging vor und trug schluchzend das Gedicht über den tragischen Tod meines Onkels vor. Alle waren begeistert. Sie sagten: ‘So ein kleines Kind und begreift schon das Edle der Tat seines Onkels. Und meine Mutter, mit Tränen in den Augen: ‘Erst murrst du derart herum, und dann rezitierst du so teilnahmsvoll.’ Daraufhin erwiderte ich: ‘Mutter, es war nicht wegen des Gedichts, es war, weil Sie mir so wehgetan haben’.”

Dann erzählte er, wie er in der Verbannung Ende der vierziger Jahre lernte, Kaffe zu kochen, “eine Kunst, sag ich dir!”, Knöpfe anzunähen und Tomatensalat zu machen: “Zuerst die Zwiebeln kleinschneiden, diese dann in dem Saft von den geschnittenen Tomaten mit der Gabel zerdrücken, bis sie sich vollgesaugt haben. Und die Marinade mit den Tomatenstückchen vermischen, Salz und Pfeffer hinzugeben und erst am Schluß das Öl.”

Oktober 1986, Berlin-Pankow | “Das ungeheure Meisterwerk”: Ein Mann kehrt an altbekannte Orte seiner Kindheit und Jugend zurück, um sie fotografisch festzuhalten, stellt jedoch fest, daß sich die Bilder ständig verändern. Nur Momentaufnahmen möglich. Das lyrische Gebilde zerfasert. Eine Splittersammlung, das Fotoalbum. Flanieren durch bekannte-unbekannte Orte. “Es wird zerschlagen, umgruppiert, aber nicht aufgelöst” (Adorno). Das Ziel: “Im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum entdecken” (W. Benjamin). Erfahrung, Erinnerung, Analyse, Vision, Traum vereint in einem rhapsodischen Bilderstrom, durchdrungen von einem pragmatisch-sokratischen Skeptizismus. Mit dem erweckten Anschein, mehr Objekt als Subjekt der Geschichte gewesen zu sein, wird eine Tabula-rasa-Welt vorgetäuscht, in der ein Unbeteiligter Eindrücke empfängt und sie als Chronist ordnet, verwaltet, wiedergibt.

5.11.1986, Athen | Ich befragte Ritsos zu seiner Essayistik. Warum gab er seinen Essays die Überschrift “Meletimata” (Betrachtungen)? Seine Antwort: “Voraussetzungen für ‘Dokimio’ (Essay) zu anderen Dichtern sind wissenschaftliche Arbeit, Bibliographie, Sekundärliteratur. Ich hab das alles nicht gemacht. Sondern ich stelle meine eigenen ‘Meletes’ vor, die ich aus Bescheidenheit ‘Meletimata’ nannte. Über Ehrenburg als Dichter z.B. hatte es in Griechenland noch nichts gegeben – und ich verglich ihn mit Solomos.” Warum habe er erst in den sechziger Jahren mit Essayistik begonnen?, wollte ich wissen. “Ich habe schon vor 1945 Essays geschrieben, z.B. über Kavafis und Papadiamandis, aber das alles verbrannte 1945. Ich verlor danach die Lust, wie bei der Prosa. Erst 40 Jahre später, Anfang der Achtziger, beschäftigte ich mich wieder mit dem Ariost-Roman. Der Majakowski-Essay entstand dann nach Aufforderung zur Zusammenarbeit mit der Zeitschrift ‘Probleme des Friedens und Sozialismus’. Das jedenfalls war der äußere Anstoß. In der Verbannung auf Ai Stratis hatte ich wieder Hikmet und Majakowski auf Französisch gelesen und einige Hikmet- sowie Majakowski-Gedichte übersetzt. Dort las ich auch das Buch von Elsa Triolet über Majakowski. Den Gedichtzyklus ‘Der Baum’ von Ehrenburg übersetzte ich aus dem Französischen. Beim Übersetzen kamen mir Gedanken über die Geschichte der Lyrik, die ich aufschrieb. So entstand der Essay über Ehrenburg, der mehr von Dichtung allgemein als von Ehrenburg handelt. Darin kannst du meine Gedanken zum eigenen Metier finden.

Der Besuch von Ehrenburg 1956 war übrigens der Anlaß, daß mir erstmals ein Paß gegeben wurde. Bei einem offiziellen Empfang für Ehrenburg, den Konstantin Karamanlis gab, wurde dieser vom sowjetischen Botschafter angesprochen, der ihm erklärte, daß doch die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern besser geworden seien, und daß es jetzt an der Zeit sei, daß einige griechische Künstler die Sowjetunion besuchen. Karamanlis stimmte dem zu. Daraufhin kam eine Einladung an verschiedene Leute aus Moskau. Der einzige kommunistische Künstler darunter war ich. Der damalige Außenminister Averof verweigerte mir aber den Paß, bis ihn EDA-Abgeordnete besuchten und ihn dazu bewegten, Karamanlis in dieser Sache anzurufen. Als Averof dies tat, gab Karamanlis sofort die Anweisung, mich fahren zu lassen. Zwanzig Tage später trat ich meine erste Auslandsreise an. Und zwar ging es mit dem Zug von Athen über Thessaloniki und Belgrad.

Der Majakowski-Essay war eine direkte Abrechnung mit der Shdanowschen Theorie, ohne dessen Namen zu erwähnen. Ohne in Frage stellen zu wollen, daß die Dichtung in gewisser Hinsicht eine Widerspiegelung der Realität und Historie darstellt, beschränkt sie sich doch keineswegs darauf! Sie behandelt genauso das gesamte literarische Erbe, die Ontologie und Psycholgie, den Traum und die Phantasie. Und ich vertrat immer die Meinung: Wenn man die Freiheit des Dichters einschränkt, schafft man die Dichtung ab.”

Ob er denn die Zusammenführung der Shdanowschen Theorie mit den verurteilten Katzen der Achmatowa im “Ungeheuren Meisterwerk” ironisch gemeint habe. “Natürlich ist das ironisch gemeint, aber auch so, wie ich es schon mal sagte: Ich akzeptiere das Verlangen nach einer kämpferischen, visionären, optimistischen Kunst, fühle mich aber zugleich solidarisch und stark angezogen von der Haltung der Achmatowa, die wunderschöne Gedichte geschrieben hat und ihrer wegen verurteilt wurde. Man warf ihr vor, sie verfasse Gedichte, in denen sie ihre Einsamkeit besingt, in denen sie beschreibe, wie sie auf ihren Geliebten wartet, während ‘draußen’ die Leute im Krieg umkommen. Aber das war ja gerade das Großartige, daß sie diese existenziellen Dinge tief empfand und so exzellent und präzise in poetische Bilder fassen konnte.”

Januar 1987, Berlin | Beendete spät in der Nacht die Übersetzung von Ritsos’ “Delfi”.

Du fragtest mich, Was wird aus Delfi, in besseren Zeiten?, und ich konnte dir nicht antworten, in besseren Zeiten. Ostberlin kam mir in den Sinn.

Apollo tötete Pytho, die mythische Schlange, vertrieb die Göttin Gäa, die Herrin von Delfi, errichtete auf den Trümmern des alten Heiligtums seinen Tempel, ließ durch sieben ihm treu ergebene männliche Priester die Orakel der “außer sich geratenden” Pythia, die schon vor seiner Ankunft dieses Amt bekleidete, interpretieren, sie zu “vernünftigen”, zumeist gereimten Sprüchen machen und stellte später das Dogma auf, Am Anfang der eigentlichen Geschichte stünde das Wort, der Logos, also Er selbst. Am Anfang der Welt sei das Licht gewesen und nicht die Nacht.

Und Apollos hellenische Priesterschaft, Anhänger der delischen Weltauffassung, und die homerischen Sänger, besonders aber die an seiner Ideologie interessierten Seefahrer der ägäischen Inseln, die verständlicherweise nur an Koexistenz und Handel verdienten und erfolgreich die im Raum des Schwarzen Meeres herrschende, blutrünstige Geburtsgöttin Iphigenie zu einer Dienerin der eigenen aufgeklärten, jüngfräulichen Artemis degradierten – um nur das bekannteste Beispiel anzuführen -, sie alle also zusammen, sorgten für eine rasche Verbreitung der neuen olympischen Religion.

DIE INSEL TAURIS

würden wir uns anders vorstellen – sagte er -, konkreter, nicht so abgehoben in abgeschiedene Denkregionen, nein, die Insel, durch eine Gemeinschaft von Verrückten zum Gefängnis um- und ausgebaut, ist unser runder Erdball, eine zum Kreis abgebogene Spirale, denn die schlechten Unendlichkeiten sind uns abgewöhnt worden. Die Insel also, unser Ozean, in den hinein wir geworfen werden, Goethe hätte heute umsonst versucht, das lichte Hellas zu erreichen, unendliches Taurien, in das wir geworfen sind. Hellas, in unserem heutigen Denken die unauffindbare Insel, müßte neu geschaffen werden: in uns. Und sicher, kleine Kinder statt Ferkel verspeisen wir nicht mehr, dafür lauter kleine kreisförmige Gegenstände, deren Beschaffenheit uns ein Rätsel bleibt.

Theseus, König von Athen, erschlug die ihn über alle Maßen liebende Amazonenkönigin Antiope, die ihm Hippolytos geboren hatte. Theseus, der Repräsentant der neuen olympischen Religion, Antiope, das Sinnbild der alten matriarchalischen Gesellschaft. Alle Mythologie läßt sich in Symbolik auflösen. Die Athener Baumeister hielten diese Szene auf einer Metope in Delfi fest; lächelnd und fast entrückt gibt ihr Theseus den wohl plazierten Todesstoß. Apollo, dem diese marmornen Abbildungen auf dem Fries geweiht waren, hatte sich von klein auf an solche Paradoxa gewöhnt, ja sie, durch eine höhere Macht getrieben, gesucht; vor den Augen seiner Mutter Leto, der Erdgöttin, hatte er mit einem Pfeil Pytho getötet, die chthonische Ausgeburt der Nacht und sich damit von seinem Ursprung abgenabelt. Es folgte die jahrhundertlange systematische Verdrängung dieses Ursprungs; so die Überlieferung, wonach er, der Sonnengott Apollo, unter der Erde geboren wurde; Apollo Smintheus, “Mäuse-Apollo”, ist einer seiner frühesten Titel.

Das ist alles hinlänglich bekannt. Heute, da sich das apollinische Denkprinzip durchgesetzt hat, versuchen sich die Götter und ihre Zeichen, die Statuen, vergeblich vor dem Vergessen zu retten: in den Antike-Museen laufen strenge Wärter herum und fuchteln wild mit den Armen in der Luft, sobald sie einen Touristen entdecken, der sich zusammen mit den Statuen fotografieren will; “Keine Menschen!”, schreien sie, “Halt! Nur die Statuen!”: die Götter haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Und die Menschen, begierig, sich mit ihnen, mit ein wenig marmorner Luft, auf einem Stück Papier zu verewigen – blasphemisch sogar in den Augen der orthodoxen Kirche; was man mit dem einen Glauben macht, macht man auch mit jedem anderen. Aber schon seit dem Beginn des Neuen Zeitalters hatten sich fanatische Mönche und andere christliche Gläubige am modernen Aussehen der Statuen beteiligt; abgeschlagen wurden die Nasen der weiblichen Koren, abgetrümmert die Penisse der männlichen Statuen. Gleich die Gebärden mächtig werdender Religionen.

„Sagt es dem Herrscher: zerstört ist die kunstgesegnete Stätte
Phoibos hat kein Heim mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
Nicht mehr dient ihm die Quelle, verstummt ist das murmelnde Wasser.“

Der letzte Spruch der Priesterin aus dem Jahre 363, die letzte delfische Weissagung. Keine Andeutung mehr, keine Kraft mehr zur Andeutung: “Der Herrscher, dem das Orakel in Delfi gehört, verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an”, schreibt Heraklit.

14.8.1987, Samos-Stadt | Sahen uns im Archäologischen Museum den vier Meter hohen Kuros an. Er ist der bisher größte Kuros, der je gefunden wurde. Ritsos (gestern): “Ihr müßt ihn euch unbedingt ansehen. Er hat das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa, Jahrhunderte vor ihr. Und seine Hände, ähneln denen des David von Michelangelo, oder, besser, die Hände des David ähneln denen des Kuros. Ihr müßt ihn euch unbedingt auch von hinten ansehen, sein langes Haar, das ihm in Wellen bis auf die Schultern fällt.”

Yannis Ritsos & Asteris Kutulas & Achim Tschirner
Während der Dreharbeiten unseres Ritsos-Films im September 1983 mit (von links) Asteris Kutulas, Achim Tschirner und Jannis Ritsos, Photo © by Rainer Schulz

10.11.1989, Athen | Gestern bei Ritsos gewesen. Er war sehr niedergeschlagen wegen der allgemeinen politischen Situation. “Was habe ich mit all dem zu tun? Welche Beziehung habe ich zu einem Ceausescu, zu einem Breshnew, zu dem greisen Honecker, zu all diesen anderen Leuten und ihren Handlungen?”, fragte er mich. “Weißt Du, was die Sowjetunion für mich war? Als ich 1956 Moskau besuchte, ging ich ins GUM-Kaufhaus und wollte eine Tschaikowski-Schallplatte kaufen. Ich glaube, die 2.Sinfonie. Die Verkäuferin holte aus dem Regal eine Platte, die keine Hülle hatte, denn es gab damals noch keine Schallplattenhüllen in der Sowjetunion. Sie wickelte mir die Schallplatte in Packpapier ein, das man genauso für Fische oder Kleidung benutzte und band eine Schnur drumherum. Das war für mich kolossal: Die Kunst in den Alltagsgebrauch überführt, ohne weiteren Schnickschnack. Das war es. Der innere unentfremdete Wert.”

“Weißt du, was ich noch entdeckt habe? Sogar die Statuen und selbst die Gedichte werden älter.”

Als ich gestern abends in Berlin-Schönefeld landete, war das Land DDR, in das ich ankam, ein anderes, als in dem Augenblick, als ich losflog: die Mauer war „gefallen“.

Oktober 1990, Eggersdorf | Ritsos geht es schlecht. Ich habe erfahren, daß Theodorakis ihn besucht hat. Mikis: “Ich folge meinem Gewissen, dem ich allein Rechenschaft ablege. Ich denke, mein Gewissen ist rein”. Und Ritsos, wie zum Abschied: “Dein Gewissen ist rein und klar und du wirst immer voranschreiten und neue Wege eröffnen. Und ich bin mir sicher, daß all jene, die dich heute wegen deiner Ideen beschimpfen, sich eines Tages bei dir entschuldigen werden.”

Ich habe auch erfahren, daß Ritsos nichts mehr zu sich nimmt, nur noch Wasser trinkt, und das auch nur, weil Falitsa darauf besteht. Die geistige Wirklichkeit war für ihn immer primäre Wirklichkeit, nun wird sie von der Realität schwer mißhandelt. Ab einem bestimmten Punkt ist selbst der Glaube ein Schwieriges. “Der Untergang einer Epoche”, wie Ritsos 1956 in der “Mondscheinsonate” schrieb. Den Untergang seiner Epoche vermochte er nicht zu ertragen.

November 1990, Eggersdorf | Vor Tagen die Nachricht. Ritsos ist “erloschen”. Er hatte wochenlang das Essen verweigert. Als ich das Telegramm in den Händen hielt, erinnerte ich mich plötzlich an eine Geschichte, die er mir vor Jahren erzählt und die ich vergessen hatte: “Alle meine Gäste, nicht nur Freunde und Verwandte, sondern auch Leute, die mich zum ersten Mal besuchen, erzählen mir ihre Sorgen und Probleme mit Beruf, Familie, Politik. Es gab nur eine Ausnahme. Vor einigen Wochen bekam ich regelmäßig Anrufe, bei denen sich aber keiner meldete, wenn ich abhob. Eines Tages klingelte es an meiner Tür. Als ich aufmachte, stand ein junges langhaariges Mädchen davor. Ich hatte kaum geöffnet, da drehte es sich um und rannte die Treppen hinunter. Es nahm nichtmal den Fahrstuhl, obwohl ich im vierten Stock wohne. Einige Tage später stand es wieder vor der Tür, mit einer Umhängetasche über der Schulter. Diesmal ging das Mädchen, ohne eine Wort zu sagen, an mir vorbei ins Wohnzimmer. Ich folgte ihm, und als ich mich auf das Sofa hinsetzte, legte es sich auf den Fußboden hin und schloß die Augen, seine Umhängetasche mit verkrampften Händen festhaltend. Beim Hinlegen waren ihm Haarsträhnen ins Gesicht gefallen, die ich wegstreichen wollte. Bei dieser fast unmerklichen Berührung sprang das Mädchen auf und rannte aus der Wohnung. Seitdem hab ich nichts mehr von ihm gehört. Es rief mich nur einmal an und sagte: ‘Ich bin das Mädchen, das Sie besucht hat. Es ist gut, daß es Sie gibt.’ Sie war also der einzige Mensch, der mich je besucht hat, von dem ich nichts weiß. Vielleicht aber weiß ich darum alles über sie. Vielleicht ist das der Punkt, in dem wir uns gleichen, der uns eint in dieser Welt.”

© Asteris Kutulas, 2009

George Dalaras – 4 Notate über eine griechische Institution | Mit 3 Fotos © by jORGO

Das Ego und das Lied

Der Sänger Giorgos Dalaras ist heute noch geblieben, was er bereits zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn war: sich selbst treu. Nicht nur seine unverwechselbare Stimme prägte den typischen Dalaras-Stil, sondern ebenso ein ungebrochenes Engagement, sein Ego ins Lied einzubringen, in beinah jedes seiner Lieder, als sei jedes Lied ein aktueller Ausdruck für Griechenland.

Dalaras bleibt sich treu, Griechenland ändert sich; Ortschaften mit verzerrtem Gesicht – George Dalaras spiegelt dieses Gesicht, manchmal bis zur Entfremdung. Befremdet aber wird weniger der Hörer sein, der selbst in Griechenland lebt und es sich jede Woche in eine andere Richtung graduell verschieben spürt. Befremdet wird derjenige reagieren, der in Griechenland eine Wirklichkeit  sucht, die ein azurblaues Meer sein könnte, verstaubt und zur Wüste verkommen, also etwas, was mit dem jetzigen Griechenland kaum noch etwas gemein hat.

George Dalaras, Lob dir!, singt noch immer ab und zu „sein“ Rebetiko und damit das Volkslied der Großstadt, zusammen mit dem Rap eines Luna-Parks aus der Peripherie Athens. Es ist ein moderner, an Griechenlands Dynamik gemessen zeitloser Stil, dessen Motor der Herzschrittmacher Athens gewesen sein könnte. Oder Beograds, Thessalonikis, Sofias, Lamias … Hatte Dalaras vor Jahren mit „Latin“ ein Zeichen gesetzt, tat er es später mit den „balkanischen“ Liedern des Serben Goran Bregovic. Und überdies – Dalaras blieb immer der Dynamik der Großstadt Athen gegenüber aufgeschlossen. Die Allüren der Leute geben Rhythmus und Inhalt seiner Lieder vor. Und in seinen Liedern mag man sich selbst gegenübertreten und zurückschrecken. Auf jeden Fall versucht er immer wieder einen neuen Klang mit einer neuen, sehr eigenen – unerwarteten – Produktion zu vereinen, die einmal mehr beweist, wie schöpferisch Dalaras als Musiker geblieben ist. Und das trotz der vielen Anfeindungen und des Hohns vieler griechischer Kollegen. Aber, was solls, Griechenland ist klein, provinziell und schmort im eigenen Saft. Da kann man nichts machen. Halte durch, George …

Ina & Asteris Kutulas, 2001

George Dalaras, Photo © by jORGO, Asteris Kutulas
Photo © by jORGO

Der Seiltanz und das Rebetiko

George Dalaras gehört zweifellos zu den besten und erfolgreichsten Interpreten der populären Musik Griechenlands. Sein Image und seine charakteristische Stimme sowie die bewusste Ablehnung von Star-Allüren verhalfen ihm dazu, eine neue Unmittelbarkeit, einen direkten Kontakt zu seinen Hörern aufzubauen. Entscheidend dazu beigetragen hat auch sein soziales Engagement. So war er ständig bemüht, das Lied als Teil der Kultur und die Kultur als Teil der Geschichte seines Heimatlandes zu definieren: „Die griechische Kultur verhält sich wie ein Seiltänzer. Auf der einen Seite wird sie von äußeren Faktoren bedroht, auf der anderen Seite läuft sie Gefahr, an ihren Errungenschaften zu ersticken. Sich in ihrem Narzissmus selbst zu zerstören. Diese Spannung, die sie in der nötigen Balance auf dem Seil hält, ist, was sie überleben lässt.“

Dalaras bewegt sich in einem musikalischen Umfeld, das Anfang der sechziger Jahre von Mikis Theodorakis und Manos Chatzidakis geschaffen wurde. Viele ihrer Kollegen folgten Theodorakis und Chatzidakis auf diesem sich als lukrativ erweisenden Weg und machten, unterstützt von der Schallplattenindustrie, aus dem sogenannten „Künstlerischen Volkslied“ in den letzten drei Dezennien einen florierenden Zweig der Unterhaltungsindustrie, der u.a. das falsche (oberflächlich-seichte) Bild eines von schwülstigen Buzuki-Klängen erfüllten Griechenlands erzeugte. Dalaras gelang es – wandelnd auf dem schmalen Grat zwischen Anpassung an den Publikumsgeschmack und schöpferischem Drang nach Ungewöhnlichem –, die Authentizität des musikalischen Stils des Künstlerischen Volkslieds zu bewahren.

Neben diesem, mit seinem zumeist hohen textlichen Niveau, sind es Rebetika, die Volkslieder der Großstädte, die Dalaras seit Anfang der siebziger Jahre sang. Die Rebetiko-Musik entstand in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in den von kleinasiatischen Emigranten bewohnten Slums um Athen und Piräus. Weil diese Musik aus der Subkultur und Haschisch-Szene kam, weil sie von den Ausgestoßenen und Entwurzelten, den an den Rand der Gesellschaft Gedrängten gesungen wurde – was u. a. zum Vergleich mit dem Jazz führte –, war sie seit ihrer Entstehung bis in die fünfziger und zum Teil bis in die siebziger Jahre verboten bzw. verpönt. Die zwangsweise aus Kleinasien nach Athen, Piräus und Thessaloniki umgesiedelten Griechen brachten nicht nur ihre Wehmut und Trauer um die verlorene Heimat mit, sondern auch eine reiche, von orientalischen Einflüssen geprägte Kultur, die sich im neuen Umfeld weiterentwickelte. Dalaras nahm die Rebetika als das, was sie waren: als Protestlieder, als einen echten Ausdruck sozialer Erfahrung und Verzweiflung, und holte sie heraus aus dem kulturellen Abseits.

Dalaras’ Ansinnen war von Beginn an, den originalen Klang dieser traditionellen Musik mit einem modernen Arrangement zu verbinden. Er initiierte auf diese Weise Mitte der Siebziger eine Renaissance des eigentlich überlebten Rebetiko, indem er ein jugendliches Publikum anzusprechen vermochte, das sich vor allem während und kurz nach der Juntazeit mit der Lebenshaltung des Outsidertums identifizierte. Immerhin ergab sich dabei für Dalaras eine fruchtbare Zusammenarbeit mit bedeutenden Vertretern des Rebetiko, wie Vassilis Tsitsanis und Apostolos Kaldaras. Diese Produktion der “Rebetika” wurde in Griechenland mit über 500.000 verkauften Alben zum größten Verkaufserfolg einer Schallplatte.

Asteris Kutulas, 2002

George Dalaras, Photo © by jORGO, Asteris Kutulas
Photo © by jORGO

Biografische Notiz

Der 1949 in Piräus geborene George Dalaras kam durch seinen Vater schon sehr früh mit der griechischen Musik in Berührung. Außer durch das Elternhaus wurde er sicherlich auch durch die Hafenstadt mit ihrem mondänen Charakter und ihrer ausgeprägten Volkskultur beeinflusst. Mit fünfzehn gab Dalaras sein erstes Konzert – er sang und spielte dazu auf der Gitarre –, und bereits drei Jahre später produzierte er seine erste Schallplatte, die auf Anhieb ein Erfolg wurde. Inzwischen hat er über fünfzig LPs bzw. CDs herausgebracht und kreierte dabei einen sehr persönlichen Gesangsstil, der auch Grundlage für seine Popularität ist. Eine wichtige Rolle spielten ebenfalls die sorgfältige Auswahl seiner Lieder und deren Bearbeitung, gemäß der Persönlichkeit des Künstlers und dessen Intention. Das trifft besonders auf die Rebetika und die Folk-Balladen verschiedener jüngerer Komponisten zu.

1974, im Jahr, da die Junta stürzte, kam es zu einer ersten Zusammenarbeit mit Mikis Theodorakis, der Dalaras die „18 kleinen Lieder der bitteren Heimat“ gab, einen Zyklus mit vertonten Gedichten des Lyrikers Jannis Ritsos, den dieser während der Zeit der Junta geschrieben hatte. Es ergab sich dann eine Freundschaft mit dem Liedermacher Manos Loizos, dessen bekannteste Lieder Dalaras interpretierte, wie auch die von Stavros Kujumtzis, Apostolos Kaldaras und Jannis Markopoulos, um nur die wichtigsten zu nennen. Vor allem die Zusammenarbeit mit den herausragenden Vertretern der griechischen Volksmusik und das Gespür für die jeweils im Publikum vorherrschende Sensibilität brachten Dalaras hohe Verkaufsziffern seiner Schallplatten und ausverkaufte Konzerte.

1980 begleitete er Theodorakis – dessen neuen Zyklus ”Radar” er gesungen hatte – auf einer Tournee durch Australien und Lateinamerika. Er vertrat Griechenland im Februar 1982 beim EUROPALIA-Festival und gab danach eine Reihe von Konzerten in den USA, in Kanada, Australien, Frankreich und in der BRD, sowie in Moskau und London. Seit Ende der achtziger Jahre führen ihn regelmäßig Tourneen durch Europa, Australien und die USA.

In den neunziger Jahren begann er, mit Liedermachern und Bands zu kooperieren (z.B. Brüder Katsimicha, Lavrentis Macheritsas, Pix Lax), deren Lieder er sang und die er in seine Konzerte einlud. Dalaras arbeitete aber auch mit so bekannten Musikern wie Paco de Lucia und Al di Meola. Das zeigt, dass er ein äußerst innovativer Künstler ist, der sich immer wieder auf die Suche nach neuem musikalischen Material begeben hat. So kam es in den achtziger Jahren zu einer gemeinsamen Platte mit Manos Chatzidakis und schließlich auch mit Thanos Mikroutsikos. Und die etwas später erschienene CD mit Liedern des Serben Goran Bregovic bewies, dass diese Suche noch lange nicht abgeschlossen war. Griechenland ändert sich; Ortschaften mit verzerrtem Gesicht – George Dalaras spiegelt dieses Gesicht, manchmal bis zur Entfremdung. Befremdet aber wird weniger der Hörer sein, der selbst in Griechenland lebt. Befremdet wird derjenige reagieren, der in Griechenland eine Wirklichkeit sucht, die ein azurblaues Meer sein könnte, verstaubt und zur Wüste verkommen, also etwas, was mit dem jetzigen Griechenland kaum noch etwas gemein hat. Seine letzten CDs lassen moderne – an Griechenlands Dynamik gemessen – zeitlose Stücke hören, deren Motor der Herzschrittmacher Athens gewesen sein könnte. Oder der von Beograd, Thessaloniki, Sofia, Lamia … Dalaras bleibt der Dynamik der Großstadt Athen gegenüber wach. Die Allüren der Menschen geben Rhythmus und Inhalt seiner Lieder vor. Und in diesen Liedern mag man sich selbst gegenübertreten und zurückschrecken.

Er selbst sagte einmal: „Alle Lieder, die ich singe, sind mein Leben. Ich habe sie erlebt. Ich habe in mir einen Vorrat von musikalischen Genres, Rhythmen und Stilrichtungen. Ich fühle, dass ich mit der Musik lebe. Viele sagen, das sei ein Nachteil. Ich sehe es als großen Vorteil.“

Asteris Kutulas, 1997

George Dalaras, Photo © by jORGO, Asteris Kutulas
Photo © by jORGO

Lieder für Griechenland

Will man wissen, welche Musik in Griechenland die letzten 70 Jahre angesagt war, so höre man sich die Schallplatten und CDs von George Dalaras an. Während seiner gesamten Sänger-Karriere war Dalaras Interpret griechischer Lieder unterschiedlichster Art. Liebeslieder, Volkslieder, Lieder aus der Zeit des Widerstands, Rebetika, Pop- und Rocksongs – viele der Platten und CDs verkauften sich massenhaft, als hätte das Land nur darauf gewartet, einige, wie z.B. die Rebetiko-Auswahl, sind legendär. Es gibt wohl kaum einen Griechen, der Dalaras nicht kennt. Zu singen ist seine Passion, wobei diese Leidenschaft sich stets paarte mit strenger Disziplin, Entdeckungslust, Risikobereitschaft. Ein so facettenreiches Spektrum an griechischer Musik wie in George Dalaras’ Repertoire ist wahrscheinlich bei keinem anderen Sänger seines Landes zu finden. Der Sänger hatte das Glück, dass einige der bedeutendsten Komponisten Griechenlands wie z.B. Mikis Theodorakis, Manos Loizos und Stavros Kougioumtzis Lieder speziell für ihn schrieben. Er trat gemeinsam mit Weltstars wie Al di Meola, Paco de Lucia, Sting, Peter Gabriel, Bruce Springsteen, Emma Shapplin auf. Im Lichte seines Ruhmes hat sich der Sänger nie allein gesonnt, sondern viele Jahre besonderen Wert auf die Förderung junger Talente gelegt, die er zur Mitwirkung bei seinen Bühnenshows einlud und die er bekannt machte. In der Kunst- und Kulturszene ist George Dalaras mehr als nur eine sehr namhafte Größe. Vermutlich hat er sich inzwischen den Status eines Grandseigneur erworben, und als solcher tut er auch heute noch das, was er von Anfang an getan hat: Er singt die Lieder, die er selbst am meisten liebt, die es ihm angetan haben, die, wie er glaubt, Griechenland braucht, um Heimat sein zu können.

Asteris Kutulas, 2005

Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land

Jannis Tsarouchis & der Heilige Sebastian

Jannis Tsarouchis, befragt von Asteris Kutulas, über den Heiligen Sebastian, Jannis Ritsos und über die „Ewigkeit des Menschen“

September 1983, Athen

Asteris Kutulas: Herr Tsarouchis, als wir bei Jannis Ritsos waren, haben wir ein Bild von Ihnen bei ihm hängen sehen, den „Heiligen Sebastian“. Können Sie uns dessen Geschichte erzählen?

Jannis Tsarouchis: Als ich vor vielen Jahren den Louvre besuchte, entdeckte ich das Bild eines deutschen Malers, auf dem der Heilige Sebastian nackt in der Mitte stand und links und rechts die beiden Soldaten in Kriegskleidung des 16. Jahrhunderts. Und ich fand, es wäre eine gute Idee, den Heiligen Sebastian mit zwei griechischen Soldaten zu malen, die ihn töten. Das war eine klare Botschaft, denn damals waren bei uns die Militärs an der Macht. Ich fand also einen griechischen Dichter, der im Pariser Exil wie ich lebte, und bat ihn, Modell zu stehen, und zwar für alle drei Figuren, sowohl für die beiden Soldaten als auch für den Heiligen Sebastian. Dadurch bekam das Werk von allein eine symbolische Bedeutung: Dass der Mensch den Menschen tötet. Und dass der Soldat, der den Heiligen Sebastian tötet, sich selbst tötet. Es war das erste Mal, das ich mich mit diesem Thema beschäftigte, das alle möglichen Maler seit der Renaissance in Bilder umgesetzt hatten.

St.Sebastian by Giannis Tsarouchis
San Sebastian by Giannis Tsarouchis

Asteris Kutulas: Was symbolisierte der Heilige Sebastian für Sie?

Jannis Tsarouchis: Der Heilige Sebastian war, geschichtlich gesehen, Polizeibeamter gewesen, und seine Arbeit bestand darin, die Christen davon zu überzeugen, eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie an die herrschenden Idole und natürlich auch an den Herrscher glaubten, der sich selbst zum Gott erhoben hatte. Dieser Sebastian aber ging, wie viele andere Heilige auch, wie der Heilige Giorgos oder Dimitris, zu denen, die er ob ihres Christentums verurteilte und riet ihnen, nicht zu unterschreiben. Die Herrschenden ließen die Familien zu den Gefängnissen bringen und drohten: unterschreibt! Was wird aus Euren Kindern, aus Euren Häusern … Und viele wurden wankelmütig und unterschrieben. Der Heilige Sebastian aber half ihnen. So wurde bekannt, dass er gegen die Anordnungen der Herrscher handelte und seine systemtreuen Kollegen probierten ihre Pfeile an seinem Körper, der von ihnen ganz übersät war. Wie eine griechische Version dieser Legende berichtet, war er zu einem Igel geworden. Er wurde bewusstlos, und alle dachten, er sei tot. Aber einige Jungfrauen gingen zu ihm, darunter die Heilige Irene. Sie brachten ihn in ein Haus und zogen alle Pfeile aus seinem Körper, und der Heilige Sebastian kam wieder zu sich. Die Römer erfuhren, was passiert war und kamen mit Keulen wie denen von Herakles und erschlugen ihn.

San Sebastian by Giannis Tsarouchis
San Sebastian by Giannis Tsarouchis

Asteris Kutulas: Wie kommt es, dass Ihr Bild bei Jannis Ritsos hängt? Warum haben Sie es ihm geschenkt?

Jannis Tsarouchis: Zu der Zeit, als mir der Dichter Modell stand, hatte ich meine Brille verlegt und kein Geld, eine neue zu kaufen. Ich beschloß deshalb, das kleinformatige Bild, das ich fertig hatte, zu vergrößern und das Bild dann Stück für Stück noch einmal großformatig zu malen. Für größere Formate brauchte ich nämlich keine Brille. Dieses Bild vollendete ich dann auch, in Übergröße, während das Original nur 1,30 m hoch und 90 cm breit ist. Es gibt dazu noch eine weitere Geschichte: Zusammen mit vielen meiner Skizzen und anderen Bildern wurde es von einem Griechen gestohlen. Der schnitt es in vier Teile. Das Werk ist also im Ganzen nicht mehr erhalten, sondern so nur auf einem Foto zu sehen. Und an den Teil, der gerettet wurde, klebte ich andere und malte das Bild neu.

Ritsos hatte den Leninfriedenspreis erhalten und besuchte mich. Das Bild mit dem Heiligen Sebastian gefiel ihm sehr. Es war mit Reißzwecken an die Wand geheftet, und man sah, daß es aus vier oder fünf Teilen bestand. Ein Spezialist klebte die Teile dann zusammen, und sie wurden zu einem Bild. Und weil es noch unfertig war und Jannis es schnellstens haben wollte, vollendete ich es bei ihm zuhause. Er hatte Angst, dass ich es behalten würde.

Asteris Kutulas: Warum war das Bild ihm so wichtig?

Jannis Tsarouchis: Seiner Meinung nach war es ein gutes Bild. Ich selbst behielt das kleinere, das Original, nach dem das große entstanden war. Es gibt noch eine weitere Studie. Ich habe unzählige Studien gemacht, oft die Modelle wechselnd. Aber jenen Griechen, der Gefahr lief, verurteilt zu werden, bevorzugte ich. Weil er dem Mythos näher war.

Asteris Kutulas: Ritsos sagte, daß ihm das Bild gefalle, weil der Heilige Sebastian, trotz der Bedrohung, ein schöner Mensch bleibt, der sich nicht fürchtet. Er steht über dem Tod, er ignoriert die blutigen Pfeile.

Jannis Tsarouchis: Das ist der Zweck von Kunst: die Ewigkeit des Menschen zu offenbaren. Denn es gibt einige, die glauben, dass der Mensch eine Schöpfung des Teufels und Gott selbst der Teufel ist. Also verachten sie den Körper, denn, wenn er Teufels Werk ist, lohnt es nicht, ihm zu huldigen. Aber für jene, die glauben, dass der Mensch Gottes Sohn ist, hat dessen Korper etwas Göttliches, selbst wenn er leidet. Das symbolisiert auch die Kreuzigung. Die Schönheit und das Leben über den Tod hinaus. Das sind jedoch metaphysische Überlegungen, und wenn ich male, dann denke ich nur an die Organisation der Farben. Die Philosophie entsteht dann daraus und im Nachhinein, ich entwickle sie nicht vorher.

Asteris Kutulas: Es gibt ein konkretes Symbol in diesem Werk, den Polytechnikum-Aufstand, das Jahr 1973 …

Jannis Tsarouchis: Ja, wir lebten täglich mit diesen Ereignissen. Ich zeigte meinen Widerstand gegen die Folterungen und das Leid. Der Heilige Sebastian mußte schön sein, jung und ausgeglichen, damit das Verbrechen deutlicher zutage treten konnte. Ich habe kein expressionistisches Bild gemalt, weil das eine andere Aussage bedeutet hätte. Der Heilige Sebastian glaubte an den Schmerz, an das Unglück und daran, dass daraus Kraft zu schöpfen ist. Während die griechische Auffassung darin besteht, daß es kein Unglück gibt, wenn wir fest glauben. Die Geschichte hat doch sehr viel Heilige Sebastiane hervorgebracht. Wir sehen, wie die Byzantiner Christus dargestellt haben. Als würde er schlafen. Nicht aus Feigheit davor, den Tod zu zeigen, sondern weil sie an das Göttliche im Menschen glaubten.

Asteris Kutulas: Wann lernten Sie Ritsos kennen?

Jannis Tsarouchis: Ritsos lernte ich 1941 kennen. Alle Künstler, Schriftsteller und Musiker gingen ins Archäologische Museum, in den Saal, wo heute die mykenischen Goldschätze stehen. Damals war er voller Kopien von minoischen Wandmalereien. Heute ist er weiß getüncht. Und vor den Bildern teilte man Erbsensuppe aus, oder besser gesagt Wasser, in dem man Erbsen gekocht hatte. Dort sah ich auch Sikelianos, der zwei, drei mal dorthin kam. Viele ältere Leute wurden ohnmächtig vor Hunger. Oft gab es Streitereien, weil sie mehr Essen wollten. Es waren schwierige Zeiten. Nach dem Essen, das man uns in Konservenbüchsen reichte, gingen wir zu Ritsos in die Wohnung und unterhielten uns über verschiedene Dinge. Sowohl bei mir als auch bei ihm war das der Anfang von vielem, was wir später gemacht haben. Ob auf dem Gebiet des Theaters, des Kinos oder in der Dichtung. Wir sprachen viel über Theater, über Ballett.

Jannis Ritsos Asteris Kutulas
Jannis Ritsos & Peter Zacher, Dresden 1984 (Photo © by Asteris Kutulas)

Asteris Kutulas: In einem Essay, den Sie vor vier Jahren über Ritsos schrieben, stellen Sie fest, daß in seinen Werken ein tiefes Gefühl von Gerechtigkeit existiert …

Jannis Tsarouchis: Ja, in der Verbannung, wo er lange ausharren musste, hat er wie ein Asket gelebt, und zeigte Interesse für die nicht so bedeutenden Angelegenheiten der anderen. Einem kleinen Insekt, einem vom Wind aufgewirbelten Blatt begegnete er mit derselben Liebe, mit der die Humanisten den Menschen umfangen.

Alle Griechen, wenn sie in ihrem natürlichen Zustand verbleiben, sind Humanisten. Wenn sie sich von einer fremden Theorie beeinflussen lassen, verlieren sie im selben Maße ihr inneres Gleichgewicht. Kazantzakis wollte den Humanismus überwinden, um zum Nihilismus zu kommen. Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat. Wie der Afrikaner von Natur aus dunkel ist, so ist der Grieche Philosoph und Humanist, ohne diese Eigenschaften zwangsläufig ausgebildet zu haben, er hat aber die Voraussetzung dafür, dies zu tun.

© Interview by Asteris Kutulas

Jannis Tsarouchis war seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Maler Griechenlands. Ich besuchte ihn Anfang der achtziger Jahre mehrmals in seiner Villa in Maroussi. Es war das märchenhafte Haus eines alten, weißhaarigen Künstlers, mit einem Riesenspinnenweben im Eingangsbereich – dem größten Spinnenweben, das ich je in meinem Leben gesehen habe –, mit vielen schönen jungen Männern, die das ganze Haus bevölkerten, den Maler inspirierten und ihm Modell standen. Eine Lithographie („Der Eros gegen den Krieg“), die er mir schenkte, stellt mehrere nackte langhaarige Jünglinge dar, bekleidet nur mit schwarzen Stiefeln – nachdenkliche Wesen mit Schmetterlingsflügeln. Oft, wenn ich dieses Bild anschaue, muß ich an Jannis Tsarouchis denken, wie er zwischen seinen hunderten von Drucken, Büchern und Malereien verharrte und erzählte … Asteris Kutulas

Begegnungen mit Jannis Ritsos (Tagebücher 1982-1989)

 

Georg Lukács’ Romantheorie – Utopie des Epos

Über die Monumentalität der unendlichen Monotonie des Lebens

(Vortrag, gehalten im Januar 1982 im Oberseminar „Romantheorie“ bei Prof. Dr. Claus Träger – Sektion Germanistik/Literaturwissenschaft, Universität Leipzig)

1. Kapitel – Vorgeschichte

Lucien Goldmann stellt den ungetrübten Optimismus deutscher Gelehrter dar, der bis unmittelbar zu Kriegsbeginn währte. Nicht daß ihre Positionen unangefochten waren, nein im Gegenteil, aber man hatte sich an langwährende Wissenschaftsperioden gewöhnt. Mit Dilthey war die Lebensphilosophie kathederreif, die Geisteswissenschaft trat mit dem Anspruch auf, die Einzelwissenschaften zusammenzufassen, denn ein Punkt war erreicht, wo „das Bedürfnis nach einer Deutung der gesammelten Materialien erwachte“ (Werner Krauss, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: Studium und Aufsätze, Berlin 1959, S. 35), zweitens das Bedürfnis nach Besinnung zu stellen und drittens die Welt an sich zusammenzufassen. 

Große Synthesen wurden versucht: 1905 erschienen vier Aufsätze über Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin unter dem Titel „Das Erlebnis und die Dichtung“ von Wilhelm Dilthey: der Titel war Programm. Der Versuch, das Grunderlebnis, die psychologische Begebenheit zu ermitteln, aus der die Gesinnung des Dichters und damit die konkreten Werte erklärt werden konnten. Die Wirkung musste nach einem halben Jahrhundert positivistischer Wissenschaft sehr groß gewesen sein. Programmatisch klingen die einleitenden Sätze zu „Goethe und die dichterische Phantasie“: „Die Phantasie des Dichters, ihr Verhältnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Überlieferung, zu dem, was frühere Dichter geschaffen haben, die eigentümlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus dieser Beziehung entspringen: das ist der Mittelpunkt aller Literaturgeschichte. Und die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemäße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Literatur und ihrer Geschichte.“ (Leipzig 1906, S. 137)

Im gleichen Jahr erschien „Die Jugendgeschichte Hegels“ von Wilhelm Dilthey und die „Philosophie des Geldes“ von Georg Simmel, dem späteren Lehrer von Lukács. Beide Werke bereiten die nach 1910 vollzogene Wende vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus vor. Nach Lukács eigener Aussage befand er sich beim Niederschreiben der „Theorie des Romans“ in diesem Prozess. Schimmert bei Dilthey der Hegel ganz mystisch durch, so hatte Simmel mit seinem Werk die Absicht, den Marxismus zu ergänzen, ihm einen Stock unterzubauen, so dass eben „jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden konnten.“ (Philosophie des Geldes, Berlin 1958, S. VIII).

Ich führe das hier nur an, erstens um die Zeit und die Umwelt Lukács zu charakterisieren und zweitens, um die Vermittlung von Marx, von Hegel deutlich zu machen: es war eben ein Simmelscher Marx, ein Diltheyscher Hegel. Und in den 20-er Jahren wurde Marx zum Beispiel über Lukács, Mannheim und Korsch vermittelt.

Die Relevanz einer solchen Diltheyisch-Simmelschen Methode für Lukács postuliert dieser in etwas abgewandelter Form in seinem 1909 geschriebenen Aufsatz über Kierkegaard, der neben Novalis und Dostojewski die für ihn paradigmatischen Vorbilder sind. Er versucht, „psychoanalytisch die Seele Kiekegaards zu fassen, dessen individuell-seelische Wirklichkeit, und glaubt dadurch den Kristallisationspunkt des Lebens als auch des Werks dieses Philosophen zu erfassen. Dass aber Lukács diese Methode mit einem Geist der Utopie verband, und dass es ihm, wie er immer wieder betont, um die ethische Fragestellung geht, beweist seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Vorstellungen.

Sein Kommilitone und Freund Ernst Bloch, der im gleichen Jahr wie Lukács geboren wurde, nämlich 1885, drückte dies in der Zeit, als Lukács die „Theorie des Romans“ schrieb, 1914/15, so aus: 

„… schon seit achtzig Jahren sind auch … (die Philosophen) mit dem geistigen Niedergang beschäftigt …/ so steht man in diesen Tagen, nachdem schon so lange die gewaltige Gegenwart eines echten Philosophen verschwunden ist, vor der Tatsache, dass sogar das ganz allgemeine Bewusstsein darum, was Philosophie eigentlich ist … verloren gegangen ist …/ Wenn schon die ältere Generation fast unlösbar mit allen Fragestellungen und Denkmöglichkeiten im Neukantianismus verstrickt blieb, so wird es hier noch hoffnungsloser, seine unerheblichen Gedanken an Hegels feurigem Begriffswesen aufwärmen zu wollen und derart die philosophische Renaissance dem sogenannten Neuhegelianismus zu erwarten …

Darum insgesamt: wie ist es möglich, dass erwachsene, sittlich gefestigte Männer, Lehrer, die sich über ihre Begabung längst im Klaren sein könnten und was sie ihnen erlaubt, nicht nur, wie es wohl noch denkbar wäre, Methodenlehre traktieren, obgleich auch hier die metaphysische Gesamtanschauung alles ist, sondern an das Ungeheure gehen, aus bloßer Erkenntnistheorie heraus Mystik, negative Theologie, korrigierten Neuplatonismus, Geltungsmetaphysik zu probieren, im gleichen Raum des Gedankens, wo bereits Symposion, Ethica, Kritik der Urteilskraft stehen?“ (S.245/246/248, München und Leipzig, 1918)

In diesem formlosen Chaos der wissenschaftlichen Akademien beginnt der junge Lukács seine Studentenlehrjahre: 1903 studiert er Jura und Nationalökonomie an der Budapester Universität. Später wechselt er zur Philosophischen Fakultät über. Im Oktober 1906 promoviert er zum Doktor der Staatswissenschaften. Ein Jahr später lernt er Simmel persönlich kennen und wird dessen Schüler, weshalb er auch von 1908 bis 1909 nach Berlin geht und Simmels Vorlesungen hört. Ein Jahr zuvor schreibt er noch zwei Bände über „Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“, ein Buch, das nach Zoltan Kenyeres „bis heute die umfangreichste Bearbeitung der Entwicklung der dramatischen Kunst zwischen dem 18. Jahrhundert und dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts“ beinhaltet (Dialog und Kontroverse, S.15). 

Im Frühjahr 1912 geht Lukács nach Heidelberg, wo er die ersten drei Kapitel seiner „Philosophie der Kunst“ bis zu Kriegsbeginn schreibt. In Heidelberg ist er Mitglied des Max-Weber-Kreises und ein Freund des Philosophen. In der Universität „gab es nicht die mindeste Kontrolle über den Besuch von Vorlesungen“ – schreibt Jürgen Kuczynski in seinen Memoiren – „… War die Vorlesung langweilig und glaubte man den Stoff auch einem Buch entnehmen zu können, ersparte man sie sich, um etwas Vernünftiges zu tun: lesen, schreiben, diskutieren. War die Vorlesung gut, ging man mit Freude hin. Alle Professoren hielten Seminare ab, zum Teil für Assistenten und die besten Studenten, und es bedeutete eine Ehre, daran teilnehmen zu dürfen. Der Kontakt zwischen den Professoren und den wirklich guten Studenten war wissenschaftlich eng, bisweilen auch persönlich freundlich.“  (Berlin, Weimar, 1981/3, S.74)

Hier wird der junge Gelehrte mit Emil Lask, mit Stefan George und Friedrich Gundolf bekannt. Er ist Hörer bei Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband. Diese Namen sollen hier für einen geistigen Kosmos stehen, unter dessen Horizont Lukács 1914 sich anschickte, eine größere Dostojewski-Monographie zu schreiben, deren Ausarbeitung durch seine Einberufung zum Militärdienst unterbrochen wird. Das fertiggestellte erste Kapitel erscheint 1916 unter dem Titel „Die Theorie des Romans“ in Max Dessoirs „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft“.

Asteris Kutulas, Georg Lukacs

2. Kapitel – Die Theorie des Romans

„Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt.“/22/ Der erste Satz der „Theorie des Romans“ führt den Leser in das „Weltzeitalter des Epos“ /23/, in dem es „nur Antworten, aber keine Fragen … nur Formen, aber kein Chaos“ /24/ gibt: in dem die Seele noch eins ist mit sich, ja sie ist inmitten der Welt. Und das Wichtigste: Leben und Wesen sind identische Begriffe /23/; das meint: dass vor dem Menschen ein weiter Weg liegt, aber kein Abgrund in ihm; das meint: dass der Sinn noch im Leben verankert ist. Später wird dieser Sinn aus dem Leben entweichen: die Menschen werden Suchende. Denn am Ende steht die Entzweiung von Sein und Schicksal, von Leben und Wesen.

In diese Entwicklung hinein projiziert Lukács die sich entfaltende Welt der Dichtkunst, die schon zur Zeit des Griechentums die „großen, die zeitlos paradigmatischen Formen des Weltgestaltens: Epos, Tragödie und Philosophie/28/ ausbildete. Sie zeigen den Weg von Homer über Sophokles zu Platon. Mit Platon jedoch wird (nach Lukács) auch die „Totalität des Seins“ /27/ zu Grabe getragen. Kein Phänomen mehr, keine Einzelerscheinung wird als etwas „Geschlossenes vollendet sein“/27/ können. Seit dem Christentum ist das Antlitz der Welt für immer zerklüftet /32/.

Die „Theorie des Romans“ nennt Lukács im Untertitel einen „geschichtsphilosophischen Versuch“. Was bedeutet das ausdrückliche Attribut? Erstens soll es als Hinweis auf die Hegelsche Behandlungsart, Lukács Nähe zu dessen Philosophie bekunden und zweitens macht es auf die philosophische Behandlung eines ästhetischen Problems aufmerksam. Was wir darunter verstehen können, erläutert er selbst in einem 1962 geschriebenen Vorwort: „Die ‚Theorie des Romans ist tatsächlich ein typisches Produkt der geistes/wissenschaftlichen Tendenzen … Es wurde Sitte, aus wenigen, zumeist bloß intuitiv erfaßten Zügen einer Richtung, einer Periode etc. synthetisch allgemeine Begriffe zu bilden, aus denen man dann deduktiv zu den Einzelerscheinungen herabstieg und so eine großzügige Zusammenfassung zu erreichen meinte.“/6 f./ 

Auf diese Weise reichen die zwei vorhin entwickelten Reihen, nämlich Leben-Wesen-Sinn sowie Form-Seele-Totalität aus, um die Entwicklung vom Weltzeitalter des Epos zur gegenwärtigen „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“ dazustellen. Mit dieser Fichtischen Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft endet das Buch und kennzeichnet den Zustand des Autors nach Kriegsbeginn, der auch das auslösende Moment zu Entstehung der „Theorie des Romans“ war. 

„Sie entstand also – wie Lukács im Vorwort schreibt – in einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand.“/6/ Jedoch, und da kann man Lucien Goldmann zustimmen („Dialektische Untersuchungen“), ist eine „tragische Weltanschauung“ bei Lukács im Gegensatz zum Optimismus der Akademiker in Deutschland schon in seinen zwischen 1905 und 1911 entstandenen Aufsätzen ausgeprägt. Hier soll nur auf die Relevanz dieser Weltanschauung für den sich in den 20-er Jahren durch Heidegger entwickelten Existentialismus hingewiesen werden. 

Dass dies Auswirkungen auf Lukács’ Romantheorie hat, liegt im Zeitgeist selbst. So lesen wir in seiner Rezension von Manns „Königlicher Hochzeit“ aus dem Jahren 1909: „das Resultat des heute Erschauten … (ist) … der Weg führt bergab … Dies ist die Monumentalität einer grauen Monotonie, einer unendlichen Monotonie und Kleinlichkeit; und es ist das Gefühl, dass die kaum übersehbare Menge von kleinen und grauen Ereignissen, die den eigentlichen Roman ausmacht, bloß ein verschwindend kleiner Teil der unendlichen Monotonie des Lebens selbst ist, die der Monotonie ihre Unendlichkeit, ihre Monumentalität verleiht.“ („G.L. zum siebzigsten Geburtstag“, Berlin 1955)

Der Gegenstand der Epik ist für Lukács das Leben, aber: lebensphilosphisch. Das Problem der modernen Welt besteht nun darin, dass die Entfremdung (bei Lukács der Auseinanderfall von Leben und Wesen – das Wesen ist jenseitig geworden – der Sinn des Lebens hat sich verflüchtigt), dass also die Entfremdung zur Entmenschlichung des Menschen geführt hat; es gibt aber andererseits eine Sehnsucht, eine Liebe nach dem substanzvollen Leben. So ist die Form des Romans Ausdruck dieser transzendentalen „Obdachlosigkeit“, die „Grundgesinnung des Romans als Psychologie der Romanhelden: sie sind Suchende“. Diese bestehenden Verhältnisse führen zum „vereinzelten Einzelnen“, dem bürgerlichen Individuum.“ Dem gegenüber ist der Gegenstand des Epos „kein persönliches Schicksal, sondern das einer Gemeinschaft.“

Den Romanhelden charakterisieren Innerlichkeit, die Einsamkeit der Seele und das sich daraus ergebende Problem des Vertrauens! Diese schon bei Hegel befindlichen Topoi werden bei Lukács begleitet von einem permanenten Utopismus, die erwähnte Sehnsucht nach einer neuen Welt, nach einem neuen Epos. Schon 1909 glaubt er in den Balladen und Novellen Storms „ein Element jener Materie“ zu erkennen, „aus welcher dereinst ein großes Epos entstehen soll, das große Epos des Bürgertums.“ (Die Seele und die Formen, Berlin und Neuwied, 1971, S.97)

In der „Theorie des Romans“ ist er sich über die Illusion des Bürgerlichen im Klaren; da heißt es: „Aber diese Wandlung (– zu erneuerten Formen der Epopöe –) kann niemals von der Kunst aus vollzogen werden (trotz der Behauptung W. Mittenzweigs, der junge Lukács höbe „in seinen Schriften hervor, dass sich die Kunst von innen heraus erneuern müsse.“ – Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács, Leipzig 1975, S.11f.): die große Epik ist eine an die Empirie des geschichtlichen Augenblicks gebundene Form und jeder Versuch, das Utopische als seiend zu gestalten, endet nur formzerstörend, aber nicht wirklichkeitsschaffend. Der Roman ist die Form der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit, und muß die herrschende Form bleiben, solange die Welt unter der Herrschaft der Gestirne steht.“/157/

Bereits im Vorwort der „Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“ von 1909 gibt es erstaunliche Feststellungen, immerhin in einer nach Steigerwald „lebensphilosophisch-neukantianisch-positivistischen Periode Lukács’.“ Im besagten Vorwort geht es um das Miss-Verhältnis zwischen ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau. Wir lesen: „Zu bestimmten Zeiten sind nur bestimmte Lebensauffassungen möglich, und wenn auch die Literatursoziologie sich nicht damit beschäftigen kann, was es ist, das diese Lebensauffassungen, diese Weltanschauungen erzeugt, so stellt sie doch fest: bestimmte Weltanschauungen bringen bestimmte Formen mit, ermöglichen sie, schließen andere genauso von vornherein aus /73/ … Und so spielen die wirtschaftlichen Verhältnisse selbst nur eine untergeordnete, als Grundtatsache wirkende Rolle, die direkt wirkenden Ursachen sind ganz anderer Art.“/74/ 

Das Vorwort endet mit dem Versuch einer Skizze: „Wirtschaftliche und kulturelle Verhältnisse – Lebensauffassung – Fom (beim Künstler als a priori des Schaffens) – das Leben als geformtes – Publikum – (hier wieder als kausale Reihe: Lebensauffassung – wirtschaftliche und kulturelle Verhältnisse) – Wirkung – die Reaktion auf die verschiedenen Wirkungen des Kunstwerks – usw. ad infinitum.“ /74/ (Georg Lukács, Literatursoziologie, Neuwied u. Darmstadt, 1977/6) 

Die „geschichtsphilosophische Bedingtheit“ des Romans kommt in dessen Gestaltungsmittel zum Ausdruck: der Ironie. Sie entspricht dem gespaltenen Individuum, denn sie bedeutet die „Selbstaufhebung“ der zu Ende gegangenen Subjektivität“/93/, die zwischen Abstraktheit und Innerlichkeit steht. Die utopische Innerlichkeit, die glaubt, aus sich heraus die Welt aufbauen zu können, einerseits, und die die Verhältnisse durchschauende Abstraktheit, die jedoch nur eine formale Einheit herstellen kann, andererseits, kennzeichnen die für das bürgerliche Individuum konstitutive Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit. Für den Roman bedeutet das ein Schweben zwischen einem Begriffssystem (des Sollens) und einem Lebenskomplex (des Seins).

Diese Gegenüberstellung von Abstraktion und Innerlichkeit oder wie es in der zeitgenössischen Diskussion hieß, und „Einfühlung“, gab es bei Hegel noch nicht; dazu war er zu ausgeprägt dialektisch, um geschichtswissenschaftlichen Methoden als allein gültige auf die Kunstbetrachtung anzuwenden. Der „Einfühlung“ wurde um die Mitte bis zum Ende des 19. Jh. der Platz einer normativen Kunstbetrachtung zugewiesen. Alles wurde mit den Blütezeiten der Antike und Renaissance verglichen, das Übrige zu Verfallszeit der Kunstentwicklung gerechnet, eine Anschauung, der auch Lukács verpflichtet ist. 

Dabei überwindet natürlich Lukács punktuell seine geisteswissenschaftliche Methode durch die dialektische Hegels. Wilhelm Worringer – der mit seiner Programmschrift „Abstraktion und Einfühlung“ 1907 die Abstraktion als Antithese behandelte und so die beiden Begriffe zu einer Synthese führte – schreibt im ersten Kapitel seiner Arbeit: „Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis zwischen den Menschen und den Außenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsgrad die Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transzendentalen Färbung aller Vorstellungen.“/15/

An diese Gedanken knüpft Lukács an, obwohl er sich in der Heidelberger „Philosophie der Kunst“, die zwischen 1912 und 1914 entstand, von Worringer distanziert.

Doch zurück zur Ironie, die Ausdruck dieser Diskrepanz ist. Indem das schaffende Subjekt seine Welterkenntnis, eben in Form der Ironie, auf sich selbst anwendet, „sich selbst – wie es bei Lukács steht –, geradeso wie seine Geschöpfe, als freies Objekt der freien Ironie zu nehmen; kurz gefasst: sich in ein rein aufnehmendes, in das für die große Epik normativ vorgeschriebene Subjekt zu verwandeln.“/73/ schafft, kann der Roman seiner Aufgabe gerecht werden, nämlich: „Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung einbezogen … werden.“ Denn für die große Epik „ist die jeweilige Gegebenheit der Welt ein letztes Prinzip“! 

Das Vergessen des Subjekts im schöpferisch-künstlerischen Akt, nur „schauendes Weltauge“ sein, geht auf Schopenhauers Objektivation des Willens zurück und diese Konzeption wird für die gesamte Phase des bürgerlichen Realismus relevant, am ausgeprägtesten wohl bei Thomas Mann, den Schopenhauer auch nach Meinung von Antal Madl viel elementarer beeinflusste als Nietzsche und Wagner. Durch diese nur hinnehmende Subjektivität ist ein Erfassen der epischen Totalität möglich. Die angemessenste äußere Form ist die biographische: sie überwindet die schlechte Unendlichkeit des Romanstoffes. So stellt sich uns die Ironie als die Objektivität des Romans dar.

Asteris Kutulas, Georg Lukacs

3. Kapitel – Die Krise des Romans

Die Krise des Romans ist selbstverständlich in erster Linie Ausdruck eines in Krise geratenen bürgerlichen Bewußtseins: Menschliches, Allzumenschliches ist allein unter der Voraussetzung der Umwertung aller Werte möglich, und doch führt diese „Radikalität“ nur wieder zum philiströsen Credo, es gäbe viele Wahrheiten, also keine. Und da ist nur ein Zeichen des Umbruchsverständnisses der bürgerlichen Intellektuellen zur Zeit der „Menschheitsdämmerung“. In der Literatur beherrschten schon vor dem Krieg Weltendahnungen und Katastrophensymbolik die dichterischen Darstellungen, ob im sich herausbildenden Expressionismus oder in Hauptmanns Roman „Atlantis“, in Kafkas „Amerika“ oder in Kellermanns „Der Tunnel“, überall scheint die Erkenntnis von der notwendigen Veränderung der bestehenden Verhältnisse durch. Auf diesen, auch bei Lukács existenten Utopismus habe ich schon hingewiesen. Dazu kommt in diesen und auch in anderen Werken wie z.B. in Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910) die Tendenz der Verinnerlichung der Prosadarstellung, die von Lukács in seinem Werk erörtert und analysiert wird.

Er geht im zweiten Teil seiner Schrift, beim Versuch, eine Typologie der Romanform zu entwickeln, vom Begriff der Seele aus, bzw. von ihrer Beziehung zur Umwelt: ist sie schmäler als diese, führt sie zur Dämonie des abstrakten Idealismus, ist die Seele breiter als die Schicksale des Lebens, entspricht sie der Desillusionsromantik des 19. Jh. Beide gehen aber von der Inadäquatheit von Seele und Wirklichkeit, von Ideal und Wirklichkeit, von Individuum und Gesellschaft aus, eine Inadäquatheit, die erst durch den Erziehungsroman in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ aufgehoben bzw. vermittelt werden kann; durch eine Vermenschlichung der Gesellschaft, durch eine Vergeselligung des Menschen.

Die strukturbestimmende Problematik in der Romanform des abstrakten Idealismus, dessen dichterischer Ausdruck Cervantes’ „Don Quichote“ ist, also die strukturbestimmende Problematik besteht im vollständigen Mangel an innererProblematik: alles geht in die äußere Handlung auf, weil der Held das Ideal als seiende Wirklichkeit annimmt und ihm demzufolge seine Tat genügt, seine Seele jedoch vermag nichts zu erleben.

Es ist der Augenblick, in dem der Gott des Christentums die Welt verlässt und der Mensch einsam wird. Die Desillusionsromantik, die geschichtsphilosophisch den abstrakten Idealismus ablöst, nimmt die entgegengesetzte Stelle ein: hier ist es die inhaltlich erfüllte, rein innerliche Wirklichkeit, die mit der äußeren in Wettbewerb tritt. Die innere Wichtigkeit des Individuums hat ihren Gipfelpunkt erreicht: / die Weltanschauung der Romantik, die Welt aus sich heraus, aus der Seele zu erbauen. Auch äußere Konflikte werden, wenn überhaupt, im Inneren ausgetragen. Dazu müssen jedoch sekundäre Ausdrucksmittel, nämlich Stimmung und Reflektion verwendet werden, die in sich die Gefahr einer subjektiv-lyrischen Stellungnahme bergen, deren undichterischer Charakter formzersetzend wirkt.

Jacobsen und Gontscharow versuchten das Problem der größten Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit, das Problem der Zeit vergeblich zu lösen. „Darum ist es, dass durch die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee, der Roman, Bergmanns „durée“ in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien aufnimmt.“/124/ „Im Roman“, schreibt Lukács, „trennen sich Sinn und Leben und damit das Wesenhafte und Zeitliche“: 125f./, und weiter: „So wird die zeit zum Träger der hohen epischen Poesie des Romans: Sie ist unerbittlich existent geworden, und niemand vermag der eindeutigen Richtung ihres Stromes nunmehr entgegenzuschwimmen, noch seinen unvorhergesehenen Lauf mit den Dämmen der Apriorität zu regeln.“/127/ Das einzelne Individuum vermag immer schwerer seine Individualität zu wahren in Beziehung zur Außenwelt. 

Aus der fatalen Geschichtssituation heraus bleibt dem Roman nur noch die Selbstauflösung seiner Form in Pessimismus: die Resignation ergibt sich aus einer Richtung ohne Sinn. „Und aus diesem resigniert-mannbaren Gefühl entsteigen die episch echtgeborenen, weil Taten erweckenden und aus Taten entsprossenen Zeiterlebnisse: die Hoffnung und die Erinnerung.“/127/.

Einerseits der Glaube, dass etwas Neues, Ersehntes kommen wird und andererseits die Macht der „durée“, durch ihr „ungehemmtes und ununterbrochenes Strömen“/128/, die innere Brüchigkeit des Helden wie seiner Umwelt zu überwinden und – wenigstens in der Erinnerung – eine erlebte Einheit von Persönlichkeit und Welt, eine Lebenstotalität aufzubauen. Es zeugt von Lukács’ großer Genialität, dass er die neue Funktion der Zeit im Roman artikuliert, als Proust und Joyce in D. noch unbekannt waren und damit eine der wichtigsten Entwicklungen der Romankunst im 20. Jh. vorwegnimmt. Auch hinter den ersten Äußerungen Thomas Manns über die „Krise des Romans“ verbirgt sich die gleiche Erfahrung, die er beim Schreiben des „Zauberberg“ gemacht hat, ein Roman, der nach zwölfjähriger Schreibunterbrechung des Dichters 1924 erschien; er spricht im Jahren 1926 „von der Herrschaft des Romans im Reiche moderner Dichtung und von der Krise, worin er sich eben jetzt als Kunstform befindet und aus der er als etwas Neues, Ungekanntes und Geistigeres hervorgehen wird.“ (Bd. 11, S.177)

Der Utopismus, der den „Gralssucher“ Heinz Costorp prägt, symbolisiert Manns Intention, eine neue Humanität, eine neue Lebensform zu erschaffen. Und di ein der Zauberberggesellschaft aufgehobene Zeit macht er zum „humoristisch behandelten Bestandteil der Erzählung“ selbst. Die großen Romane haben (und da ist das Zeitproblem nur ein Symptom – wenn auch ein ausschlaggebendes –) eine Tendenz zum Transzendieren auf die Epopöe hin.

Der „Wilhelm Meister“ steht in der Darstellung Lukács’ zwischen abstraktem Idealismus und Desillusionsromantik: der Menschentypus und die Handlungsstruktur „sind also hier von der formalen Notwendigkeit bedingt, dass die Versöhnung von Innerlichkeit und Welt problematisch, aber möglich ist“/135/. Der Widerspruch zwischen Prosa d. Verh. und Poesie des Herzens wird durch Erziehung des Helden einerseits und durch Romantisierung der Wirklichkeit andererseits überwunden. Die Humanität (Verwandtschaft zu Thomas Mann) ist die Grundgesinnung dieses Gestaltungstypus.

Die Ironie bekommt hier eine entscheidende Bedeutung: die Gemeinschaft, die Gesellschaft, in der das Individuum integriert ist, muss eine größere, objektivere Substantialität besitzen. „Diese objektivistische Aufhebung der Grundproblematik muss aber den Roman der Epopöe annähern.“/145/. Und weiter bei Lukács: „Die westeuropäische Kulturwelt wurzelt so stark in der Unentrinnbarkeit der sie aufbauenden Gebilde, dass sie niemals fähig sein kann, sich anders als polemisierend ihr entgegenzustellen“/149 (z.B. Balzac).

Erst „die größere Nähe zu den organisch-naturhaften Urzuständen, die der russischen Literatur des 19. Jh. gegeben waren, machen eine solche schaffende Polemik möglich“. Tolstoi hat die Form des Romans mit der stärksten Transzendenz zur Epopöe geschaffen, jedoch hat „das Hinausgehen über die Kultur … nur die Kultur verbrannt, kein gesichertes, wesenhafteres Leben an seine Stelle gesetzt“/156/. „Bei Tolstoi waren Ahnungen eines Durchbruchs in eine neue Weltepoche sichtbar: sie sind aber polemisch, sehnsuchtsvoll und abstrakt geblieben. Erst in den Werken Dostojewskis wird diese neue Welt, fern von jedem Kampf gegen das Bestehende, als einfach geschaute Wirklichkeit abgezeichnet … Dostojewski hat keine Romane geschrieben … Er gehört der neuen Welt an.“/157f./ 

Natürlich sind dies nur „Anzeichen eines Kommenden, das noch so schwach ist, dass es von der unfruchtbaren Macht des bloß Seienden wann immer spielend erdrückt werden kann“. /158/

4. Kapitel – Georg Lukács‘ Romantheorie

Wenn wir Lukács Positionen zusammenfassen, so müssen wir diese immer in der Dialektik mit den gesellschaftlichen und künstlerischen Phänomenen seiner Zeit betrachten. Ausgehend von einer „tragischen Weltanschauung“, gelangt Lukács über die Darstellung der epischen Form (was bei ihm keine Gattung konstituiert) zur utopistischen Forderung nach Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse (wobei das eine für diese Zeit normale Stimmung war) und damit des Romans, so ein neues Epos begründend, das Ausdruck des Sich-Wiederfindens der Seele ist. 

Als Gegenstand der Epik bestimmt Lukács das wirkliche Leben, wie es ist. Da der Sinn, also das Wesen jenseitig geworden, wird eine Sehnsucht und eine Suche des Romanhelden als dessen Situation relevant. Aus dieser Diesseits-Jenseits-Problematik des Lebens, was auch Ausdruck der Spaltung des Menschen in Privat- und ein gesellschaftliches Wesen ist, entspringt die Notwendigkeit der ironischen Weltbetrachtung, die die nötige Distanz des Schriftstellers und die Objektivität im Roman schafft. Die epische Totalität schließlich ist nur durch die Überwindung der Zeit möglich.

Asteris Kutulas, 1981/82

Vortrag, gehalten im Januar 1982 im Oberseminar „Romantheorie“ bei Prof. Dr. Claus Träger – Sektion Germanistik/Literaturwissenschaft, Karl-Marx-Universität Leipzig

Georg Lukacs, Asteris Kutulas

Nachtrag: Georg Lukács und Thomas Mann

Thomas Mann geht (wenn man es so sagen kann) in seinem Idealismus noch weiter als Lukács: „Der Romancier – schreibt er 1930 im Aufsatz über „Die geistige Situation des Schriftstellers in unserer Zeit“ (Thomas Mann, Ges. Werke, Stuttgart 1974) – formt das Leben nicht nur in seinem Buch, er hat es oft genug auch durch sein Buch geformt: wenn man nicht fragte, wer oder was zuerst gewesen sei: die französische Gesellschaft des 19.Jh., wie wir sie aus Balzacs Werk kennen, oder Balzac, so wäre ich gar nicht abgeneigt zu antworten: Balzac“. Und eine Möglichkeit zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts wird postuliert (Bd.10, S.302): unter der Voraussetzung, dass „geistige Wirklichkeit … auch Wirklichkeit (ist); sie ist vielleicht sogar primäre Wirklichkeit“. (Bd.10, S.299)

Das bedeutet jedoch, dass die gesellschaftlichen Widersprüche im Geist gelöst werden können, in einer zwar bedrängten, aber existierenden Innerlichkeit. So kann vielleicht die Gegenwart die Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit sein – der Geist thront im Himmel und hat nichts anderes zu tun, als sich zu perfektibilitieren.

Der Roman ist nicht, wie bei Lukács, abzulösen, im Gegenteil (und hier beweisen sich die 25 Jahre, die vergangen sind und auch die bisweilen eingeschränkte Sicht Lukács’) – Lew Tolstoi „ist einer der Fälle, die uns in Versuchung bringen, das von der Schulästhetik behauptete Verhältnis von Roman und Epos umzukehren und den Roman nicht als eine Verfallsform des Epos aufzufassen, sondern in dem Epos eine primitive Vorform des Romans zu sehen“. (Bd.10, S.355) 

Die dialektische Sicht zeigt in den klaren Gedankengängen in der „Kunst des Romans“ ihre Überlegenheit über die geisteswissenschaftliche Methode in der Betrachtung der „Theorie des Romans“!

Thesen zu Thomas Manns Romankonzeption

Dieser „historische Betrachtungsort“ dient Mann im Aufsatz, um die Entwicklung von der archaischen Welt des Epos zur modernen Welt des Romans nachzuweisen. Und im Gegensatz zu Lukács, bei dem die Gattungen nach der Antike symbolisch werden und die Form das Bestimmende ist, postuliert Mann: „Die Kunstform wird gleichgültig, wenn der Genius der Kunstgattung selbst in seiner Souveränität und freien Größe hervortritt“. Hier wird die Grenze zwischen Roman und Epos aufgehoben: hier herrscht das „Ewig-Epische“, der Genius der Epik.

Der geschichtliche Weg, den dieser Geist gegangen, ist der der Verinnerlichung, die Kunst des Romans nun, der die höchste Stufe der Innerlichkeit anzeigt, ist, das Kleine interessant zu machen, „das, was eigentlich langweilig sein müsste, interessant zu machen.“ Dass hier wieder auf Schopenhauer verwiesen wird, beweist den Stellenwert seiner Realismuskonzeption, auf die ich vorhin hingewiesen habe.

Dieses Interessantmachen des Kleinen sowie die Objektivität und die Aufhebung des „Geistes der verzauberten Langeweile“, der „unendlich Zeit“ hat, sie nur mit Hilfe des „Gottes der Ferne“, des „Gottes der Distanz, der Objektivität“, des „Gottes der Ironie möglich.

„Objektivität ist Ironie – schreibt Mann – und der epische Kunstgeist ist der Geist der Ironie.“ Die spöttisch-kritische Haltung manifestiert schon im Begriff, dass sie tatsächlich nur eine geistige ist und unbefleckt von Materie bleiben muss.

Die gegenüber Lukács richtige Einschätzung des modernen Romans im 19. Jh. führt Mann zur Frage, warum der deutsche bürgerliche Roman des 19. Jh. „europäisch nicht recht mitzählen will“. Er erklärt dies mit einem wesentlichen Unterschied zwischen dem „Gesellschaftsgeist“ des französischen Werkes und dem „mythisch-urpoetischen“ Geist des deutschen Werkes, der seine Entsprechung in Richard Wagners Musik gefunden hat. Das ist eine Meinung, die sich zur Zeit der deutschen Frühromantik (Tieck und Wackenroder) gegen die Musikkonzeption der Aufklärung richtete, dass Mystik eine Aussage haben, dass sie rational erklärbar sein müsse. E.T.A. Hoffmann prägte dann den Begriff der „absoluten Mystik“; jetzt war, im Gegensatz zur Periode von der Antike bis zur Aufklärung, die Instrumentalmusik, die eigentliche Musik. Diese Meinung wurde dann theoretisch über Schopenhauer, Wagner und Nietzsche vollkommen in das europäische Bewusstsein installiert. Ähnliches finden wir bei allen Ästhetikern Anfang des 20. Jahrhunderts.

Hermann Hesse drückte dies 1927 im „Steppenwolf“ (101f.) wie folgt aus: „Lange hatte ich auf diesem Nachtgang auch über mein merkwürdiges Verhältnis zur Musik nachgedacht und, einmal wieder, dies ebenso rührende wie fatale Verhältnis zur Musik als das Schicksal der ganzen deutschen Geistigkeit erkannt. Im deutschen Geist herrscht das Mutterrecht, die Naturgebundenheit in Form einer Hegemonie der Musik, wie sie nie ein anderes Volk gekannt hat. Wir Geistigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos, dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt, statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen, hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft frondiert und mit der Musik geliebäugelt.“ Ich glaube, damit ist eine treffende Charakterisierung nicht nur des Verhältnisses des deutschen Geistes zur Musik, sondern gleichzeitig eine Charakterisierung der geistigen Lage des deutschen Intellektuellen gegeben.

Thomas Mann ist einer der wenigen, die den seelischen Balanceakt ein Leben lang durchhielten.

Ein anderer großer Romancier seiner Generation, Stefan Zweig, beging 1942 Selbstmord.

Asteris Kutulas 

(geschrieben im Dezember 1981 und im Januar 1982 in Leipzig)

Giorgos Seferis

3 Texte über Giorgos Seferis 

„Wohin ich auch reise, Griechenland verwundet mich …“ – Über die Einsamkeit des Giorgos Seferis

Eines der letzten Gedichte von Giorgos Seferis, es heißt „Verwitterte Inschrift“, besteht aus nur einer Zeile:

… Tote Wörter. Warum habt ihr sie getötet? …

Die epigrammatische Kürze und der Titel, so kann man vermuten, sollen eine antike Tafel assoziieren, auf der die in pendelischen Marmor gehauenen Buchstaben, archaisch streng, dorisch, kaum noch zu entziffern sind. Oder aber die Orchestra eines Theaters mit dem Ein- und Ausgang des Chores und zwischen den stillen Unendlichkeiten der drei Punkte: ein leises Murmeln. Weiter nichts.

Doch meint der Dichter keine Urworte antiker Barbarei, sondern die Losung der 1968 herrschenden Junta: „Griechenland Christlicher Griechen“. Wie so oft in unserer „phantasmagorischen Epoche“, wie sie Franz Fühmann nannte, kein Paradoxon frei nach Tertullian: Unter einem eisenstarrenden Himmel und wehenden Transparenten mit der Aufschrift „Griechenland Christlicher Griechen“ fahren 1967 in Athen Panzer auf. Und obwohl Seferis zeitlebens jeder öffentlichen Stellungnahme ausgewichen war, wendete er sich im März 1969 mit einer offenen Erklärung gegen das Militärregime: „Zwei Jahre sind bereits vergangen, seitdem uns ein System aufgezwungen wird, das im krassen Gegensatz zu den Idealen steht, für die unsere Welt, für die so aufopferungsvoll auch unser Volk im letzten Weltkrieg gekämpft hat.“

Diesen Zwiespalt ist er niemals losgeworden: Die Achtung vor dem „Volk“, dessen Kultur ihm als lebendige Quelle für die künstlerische Inspiration gilt und zum andern das Wissen um das manipulatorische, skrupellose Funktionieren der Macht in Griechenland, die er aus nächster Anschauung als Angehöriger des Diplomatischen Korps (1926-1962) kennengelernt hatte. Seine Erfahrung mit der praktischen Politik erzeugt in ihm eine tiefe Abscheu ihr gegenüber – zusammen mit der Illusion, Politik an sich sei, unter der Voraussetzung, man habe als Regierender das richtige Verantwortungsbewusstsein, moralisch unanfechtbar zu praktizieren – und führte zu einer ihn quälenden Resignation und zum Glauben, auch das „Volk“ sei korrumpierbar. Natürlich, Seferis war Empiriker; für ihn sind die weltanschaulichen Ideen, egal ob bürgerliche oder kommunistische, und ihre politischen Vertreter, einzelne Politiker oder Parteien, abgeschlossene ideelle Phänomene, die er nicht nach den sie treibenden wirtschaftlichen oder sozialen Interessen beziehungsweise Kräften hinterfragt. Um es einfach zu sagen: Er hat sicher, wie Thomas Mann, in der geistigen Wirklichkeit die primäre gesehen.

George Seferis, Asteris Kutulas
Giorgos Seferis, Drossel, Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas

Hinzu kommt seine Einsamkeit. Er, der mit unserem „tyrannisierten und zerstückelten Jahrhundert“ in der kleinasiatischen Stadt Smyrna als Sohn eines Rechtsanwalts und Dichters Geborene, der nach Abschluss eines Athener Gymnasiums mit seiner Mutter und seinen beiden andern Geschwistern 1918 dem Vater nach Paris folgt, in der französischen Hauptstadt von 1919 bis 1924 Jura studiert und anschließend London seine Englischkenntnisse verbessert, kehrt 1925 nach Athen zurück und versucht – vergeblich, wie man seinen Tagebüchern entnehmen kann -, Griechenland als geistige Heimat zu finden. Noch 1936 ist Griechenland für ihn „ein Alptraum mit wenigen lichten Augenblicken voller schwerer Sehnsucht. Sehnsucht haben nach deinem Land, da du in deinem Land lebst; es gibt nichts, was bitterer ist“.

Solche Sätze kann man immer wieder finden. Dieses Allein-Sein hat ihm schwer zu schaffen gemacht, denn Seferis, der zu allen politischen Parteien ein gebrochenes Verhältnis hat, der schon früh die Fatalität erahnt, die Europa in den zweiten Weltkrieg treibt, dient ab 1926 als Attaché, Pressesprecher und, später, Botschafter diesem Staat, mit dem keine Identifikation möglich, und in einem politischen System, dessen verbrecherische Verantwortungslosigkeit er sarkastisch umschreibt: „Es ist einfacher, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr paßt, als dass ein griechischer Politiker Griechenland begreift“. Das notierte er im Dezember 1937, zu einer Zeit, da er bemüht ist, durch die Loslösung der Idee des „Hellenismus“ vom realen Hellas, sich einen neuen theoretischen Zugang zu seinem Griechenland zu verschaffen. Und um jedes Missverständnis von vornherein auszuräumen, erklärt er: „Hellenismus – als Idee der menschlichen Würde und Freiheit, nicht als archäologische Idee.“

Doch die politische Realität hatte ihn längst wieder eingeholt: Bereits 1936 war der faschistische General Metaxas durch einen Putsch an die Macht gekommen und beschwor die „Dritte Hellenische Zivilisation“, das „Neue Perikleische Zeitalter“. Die herrschende Morbidität, ein Wort, das Seferis selbst verwendet, begleitet ihn sein ganzes Leben: 1941 die Zusammenarbeit vieler ehemaliger Regierungsbeamter mit der deutschen Besatzungsmacht, ab Dezember 1944 der „organisierte“ Bürgerkrieg, Mitte der fünfziger Jahre die englische Zypernpolitik, 1967 der Militärputsch der Obristen – und gibt dem bekannten (ironisch gefärbten) Vers von 1937 eine gleichsam prophetische Bedeutung:

Wohin ich auch reise, Griechenland verwundet mich.

Man muss dieses Leiden an Griechenland nicht unbedingt als strukturbestimmend für seine Lyrik annehmen, es übt aber einen großen Einfluss auf sie aus; sein Schreiben erhält einen zunehmend autobiografischen Charakter, bis hin zur Konsequenz, drei seiner Gedichtbände Logbücher   zu nennen. Man könnte Giorgos Seferis als einen eigenwilligen Chronisten bezeichnen, der die im Athen der dreißiger Jahre verbreitete Poesie pure ebenso wie die aus dem konsequenten Surrealismus stammende automatische Schreibweise als für seine Zwecke ungeeignet ablehnt, jedoch ihre Errungenschaften systematisch ausbeutet. So drängt authentische Erfahrung immer stärker ins Gedicht, ganz im Gegensatz zu den Produktionen der literarischen Mode-Bewegung des „Karyotakismus“, die besonders seit dem Ende der zwanziger Jahre noch einmal voller Weltschmerz und Dekadenz sind.

Asteris Kutulas Seferis
Giorgos Segeris, Alles voller Götter – Essays, Herausgegeben und übersetzt von Asteris Kutulas

Die bohrende Suche nach Griechenland, nachzulesen in Seferis‘ Gedichten und Essays, die für ihn etwas Notwendiges war, ein Orientierungspunkt in einer für ihn undurchschaubaren Welt, führt zu einem Pessimismus, der keinen Augenblick des Nicht-Schmerzes oder – gefühlsmäßig – des Nicht-Verlustes zuläßt. Wir werden in keinem seiner Gedichte den hymnischen Ton eines Palamas, Sikelianos oder Varnalis finden, aber auch nicht Momente einer fast mystischen Entfremdungslosigkeit wie zum Teil in der Lyrik von Giorgos Sarandaris oder die pantheistische Übereinstimmung mit der Natur wie in bestimmten Gedichten Ende der dreißiger Jahre zweier so unterschiedlicher Dichter wie Odysseas Elytis und Jannis Ritsos. Man stößt wohl bei Seferis auf kaum eine Zeile, die seelische Ruhe oder unbedrohte Freude vermittelt – und wenn, dann nur als Ausdruck eines längst entschwundenen Zustands der Kindheit.

Seferis – ein kritischer Realist also, dem es stets um die größtmögliche Genauigkeit des Ausdrucks geht, doch nicht um des Ausdrucks willen. Seine Texte charakterisiert – anders als die seines berühmten Zeitgenossen und Freundes T.S. Eliot –, trotz Pessimismus und Resignation, ein idealistischer Glaube an das Gute oder, anders ausgedrückt, ein Moment des Utopischen, das 1963 während der Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur ausformuliert wird: „Wir müssen den Menschen suchen, wo er sich auch befindet.“ Und genau diese Suche, die Hoffnung, im Menschen (bzw. Leser) vielleicht oder gerade durch die Kunst einen Widerstand gegen alles Unmenschliche (das Nicht-Leben im weitesten Sinn) aufzubauen, ist der Punkt, worauf die Anstrengung des Dichters abzielen soll. Möglicherweise ist das Bild vom – historisch belegten – Kampf der Katzen gegen die Schlangen in dem Gedicht von 1969, unmittelbar nach jener andern „Verwitterten Inschrift“ entstanden, eine Metapher für das bürgerliche Ringen eines Mannes, der in seinen Gedichten versucht, das Prinzip des Bösen mit den zwar beschränkten, angeschlagenen, aber ehrlichen Mitteln zu bekämpfen, die ihm zur Verfügung stehen.

© Asteris Kutulas

Seferis, Akropolis, Asteris Kutulas
Giorgos Seferis, Sechs Nächte auf der Akropolis – Roman, Herausgegeben und übersetzt von Asteris & Ina Kutulas

Notiz zu Giorgos Seferis

Hinter den geschliffenen, gleich Marmorblöcken hingesetzten Worten schon seines ersten Gedichtbandes Wende (1930) verbirgt sich eine selbständige, an Verlaine, Poe und Valéry geschulte Stimme, aber eine Stimme, die unverbrauchte Bilder mit den für die sprachliche Intensität wichtigen Möglichkeiten der griechischen poetischen Tradition verbindet. Doch nicht das macht einen Dichter aus, jedenfalls nicht nur das. Eher die Gestaltung, die Verdichtung seiner skeptischen Sicht auf die Welt, an deren Sinnhaftigkeit Seferis seit dem ersten Weltkrieg nicht mehr glaubt. Und so antwortet er auf die Aufforderung von Paul Valéry, den Elfenbeinturm wieder aufzubauen, unmissverständlich:

„In einer Epoche, in der sogar die Götter orthodox geworden sind und eine lebendige Blutspur hinterlassen, bin ich sehr neugierig zu erfahren, was wir in diesem Gebäude überhaupt machen sollen.“

Giorgos Seferis schlägt vor, dem Elfenbeinturm einen anderen Namen zu geben: den der „Werkstatt“ – einer Werkstatt, wo der Dichter anständig seine Arbeit machen könne.

Die parnassische Ataraxie ebenso wie die schwelgende Sentimentalität haben keinen Platz für den Hass auf die Welt und für die Liebe zu ihr, keinen Platz für die Zerrissenheit und das Fragmentarische der menschlichen Erkenntnis, keinen Platz für eine elementare Kommunikation und Verständigung mit den andern. Um aber diesen mehr stillen Räumen eine gültige poetische Aussage zu entreißen, bedarf es einer riesigen Anstrengung, die Giorgos Seferis mit „Präzision“ umschreibt. Denn unter den Bedingungen des Verfalls der Zivilisation „in einer sehr dunklen, unerträglichen Zeit“ scheint dem Dichter die Präsentation des Gedichts als formale oder inhaltliche Totalität, als ein lyrisch intaktes Weltbild, äußerst demagogisch und verantwortungslos zu sein. Die „Werkstatt“ wird zur „Poetik“ ausgebaut: Seferis arbeitet nicht nur Verse und andere Notizen aus seinen Tagebüchern in entstehende Gedichte mit ein, sondern auch seine Schwierigkeiten mit dem Text selbst; das Metrum wird immer freier und zerfasert, der Reim taugt nur noch in Einzelfällen zur formalen Klammer für die scheinbar oder tatsächlich zusammenhanglosen Momente des zerfließenden, sinnentleerten Lebens.

© Asteris Kutulas

George Seferis & Asteris Koutoulas

„Was suchen denn unsere Seelen reisend?“ – Ein Essay über Giorgos Seferis

Giorgos Seferiadis, der sich später Seferis nannte, wurde am 13. März 1900 in Smyrna geboren, einer kleinasiatischen Stadt, die, größtenteils noch von Griechen bewohnt, zum türkischen Reich gehörte. Sein Vater, Stelios Seferiadis (1873-1951), arbeitete dort als Jurist, nachdem er in Frankreich studiert hatte und Dozent an der Juristischen Fakultät in Paris gewesen war. Nebenher beschäftigte er sich mit Dichtung und übersetzte vor allem Gedichte und Stücke aus dem Altgriechischen und Französischen ins Neugriechische. 1902 wurde Seferis‘ Schwester Ioanna geboren und 1905 sein Bruder Angelos.

In Smyrnas Vorort Skala, wo die Familie die Sommerferien verbrachte, wuchs Seferis‘ Leidenschaft für das Meer, das später zum wichtigsten Topos seiner Lyrik wurde. In Seferis’ Erinnerung verband sich Skala – „der einzige Ort, den ich Heimat nennen kann“ – mit einer Harmonie, die sich niemals wieder einstellen sollte. Als Seferis 1951, also fast vierzig Jahre später, diese Gegend besuchte, hielt er in seinem Tagebuch fest: „Das Gedächtnis arbeitet mit absoluter Präzision: Ich habe das Gefühl, erst vor einem Jahr hier gewesen zu sein…“

1914, kurz nach Ausbruch des 1.Weltkriegs, zog die Familie nach Athen. Der Ehrgeiz des Vaters, sein Sohn möge in der Schule und im Studium der Erste sein, und der daraus erwachsende Druck überschatteten die nächsten Jahre des jungen Seferis. Die aufflammende Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Königs, der an einen Sieg der Deutschen glaubte, und den Anhängern des republikanischen Politikers und mehrmaligen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos, der zur Entente hielt, spaltete die griechische Gesellschaft. Dieser Streit bestimmte die griechische Politik bis Mitte der dreißiger Jahre. Seferis – wie sein Vater Venizelos-Anhänger – war in zunehmendem Maße bestrebt, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, welche ihm allerdings bereits die Ansätze für seine spätere Theorie von den „politischen Orthodoxien“ lieferte, die in vielen Essays durchschimmert: Für eine allein von Rhetorik und Egoismus getragene politische Kultur, die für ihn mehr mit Fanatismus als mit Vernunft zu tun hatte, empfand schon der junge Seferis nur Abscheu. Als 1935 nach einem Putsch von Venizelos-Anhängern die demokratischen Strukturen in Griechenland für Jahrzehnte beschädigt worden waren, wandte er sich endgültig vom „politischen Spiel der Parteien“ ab. Aus Seferis’ Ablehnung jeglicher Ideologisierung von Kunst erklärt sich auch seine These: „Die Autonomie der Kunst ist ein Axiom“, die ihn aber nicht zum Anhänger der l’art pour l’art-Bewegung macht.

Der Vater, der in Paris als Rechtsanwalt großen Erfolg hatte, holte die Familie 1918 nach. Seferis blieb in der französischen Hauptstadt und studierte bis 1924 an der Sorbonne Jura, während seine Familie 1919 nach Athen zurückkehrte. Sehr bald entdeckte er die Dichtung von Jules Laforgue, den er einen „zehn Jahre älteren Bruder“ nannte. In dieser Zeit kam in Paris der Surrealismus auf. Seferis, der diese literarische Entwicklung in Frankreich und in Griechenland – von wo er sich regelmäßig Bücher und Zeitschriften kommen ließ – genau verfolgte, bewunderte die Dichtung Paul Valerys, die von den Surrealisten abgelehnt wurde, stimmte aber nicht mit dessen Theorie der reinen Poesie überein. Seine Skepsis gegenüber der automatischen Schreibweise und der Hegemonie des Unbewußten bewahrte Seferis sich bis in die dreißiger Jahre, als er sich im „Dialog“ und im „Monolog über die Dichtung“ von der konsequenten Methode auch des griechischen Surrealismus distanzierte. Doch im literarischen Griechenland der zwanziger Jahre, wo uneingeschränkt Kostis Palamas herrschte – der 1931 in einem Brief sein Unverständnis im Hinblick auf Seferis‘ Dichtung artikulierte –, gab es noch keine avantgardistische Bewegung. Seferis, für den bereits um 1920 feststand, daß er Dichter werden wollte – was für ihn mit Sprach-Arbeit zu tun hatte –, stellte sehr bald desillusioniert fest: „Um sich der Sprache widmen zu können, braucht man Geld“. Sein Broterwerb war fortan die Diplomatie.

Dieser Zwiespalt und ein Gefühl tiefer Einsamkeit, das Seferis nie mehr verließ, versetzten ihn in einen derart melancholischen Zustand, dass dieser auch in seinen ersten poetischen Versuchen und in den Briefen, die er in jenen Jahren schrieb, sehr deutlich wahrzunehmen war. In seinen Tagebüchern ist diese Grundstimmung sogar später noch vorherrschend: „Absoluter Punkt: meine Einsamkeit“ (8.8.25). Seferis’ Hoffnung, mit Hilfe der Literatur aus „dieser schrecklichen Isolation, dieser Verlassenheit, die Selbstmord in kleinen Raten bedeutet“, ausbrechen zu können, erfüllte sich nicht. Er übersetzte John Keats und Theodore de Banville, las Homer, Rimbaud, Apollinaire, Lautréamont, Poe, Verlaine, Barbey d’Aurevilly und Jean Moreas, über den er 1921 seinen ersten Vortrag im Klub griechischer Studenten hielt. Er begann, auf Französisch zu schreiben – wofür er sich in einem Brief selbst verdammte – und war bestrebt, alles, was in seiner Dichtung romantisch angehaucht wirken könnte, auszumerzen, weshalb er Dutzende seiner griechischen Texte vernichtete: Von den Gedichten, die er zwischen 1924 und 1930 geschrieben hatte, nahm er nur siebzehn in seinen ersten Band „Wende“ (1931) auf. Seferis beschäftigte sich ausgiebig mit der französischen Literatur – von Racine und Malherbe bis Baudelaire und Proust –, in der er sich immer mehr heimisch fühlte, was ihn in seiner poetischen Entwicklung nachhaltig beeinflußte und ihm später eine besondere Stellung innerhalb der griechischen Dichtung verschaffte. Die europäische Tradition gehörte seitdem in Seferis‘ Selbstverständnis zum unabdingbaren Erbe eines jeden griechischen Schriftstellers, genauso wie die antike Tradition und wie jene Tradition, die mit den Evangelien begonnen hatte und in die demotische Literatur mündete. Angeregt durch seine Auseinandersetzung mit der französischen Lyrik setzte er sich mit dem Problem der „musikalischen Dichtung“ auseinander, entwickelte eine meditative Beziehung zur Musik – vor allem zu Bach, Debussy, Strawinsky, zum späten Beethoven –, aus der er bis in die dreißiger Jahre hinein zeitweise mehr schöpfte als aus der Dichtung. In einem Brief an die Schwester vom 4.1.1921 beschrieb er seine Verfassung wie folgt:

„Alles, was ich sehe, wird in mir zu einem Thema, zu einer tragischen Konstellation, die ich ausdrücken möchte. Leider bringe ich nur meine Ideen aufs Papier und wiege sie womöglich in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt. Mein Schubfach ist zu einem Friedhof geworden … Von früh bis abends denke ich nur an die Kunst, alles andere ist für mich nebensächlich, und trotzdem sind die Resultate nichts, nichts, nichts. Denk dir, wie schön ich schreiben würde, wenn ich ein Dichter wäre“.

Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Unterdrückung der Griechen durch den türkischen Staat bedrohliche Ausmaße an, zumal sich immer mehr griechische Gebiete gegen das osmanische Reich auflehnten und nacheinander von ihm abfielen. Der nicht-chauvinistische Gedanke an ein Griechenland, zu dem – wie in der Antike – auch Kleinasien gezählt wurde, wurzelte tief im Denken aller kleinasiatischen Griechen.

Seferis erfuhr im Sommer 1922 von der Kleinasiatischen Katastrophe – einem Ereignis, das, nach eigener Aussage, wie kaum ein anderes seine psychische Struktur und seine Geisteswelt erschüttert und geprägt hat. Die griechische Armee, ausgezogen, um die „Große Idee“ zu verwirklichen und Kleinasien wieder nach Griechenland „zu holen“, wurde in der Türkei von den Truppen des Kemal Atatürk vernichtend geschlagen. Der Friedens-Vertrag von Lausanne, 1922 unterzeichnet, zementierte die noch heute gültigen Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei und vereinbarte einen Bevölkerungsaustausch, der 1,5 Millionen Griechen zwang, ihre kleinasiatische Heimat zu verlassen und sich in Griechenland niederzulassen (und fast eine Million Türken aus Griechenland in die Türkei überzusiedeln). Für Seferis bedeutete dieses Ereignis den tiefsten Einschnitt in der Jahrtausende alten Geschichte des griechischen Volkes: „Das, was man für gewöhnlich als ‚griechische Diaspora’ bezeichnete und wir das „Genos der Hellenen“ nannten, war verschwunden. Zum ersten Mal war das gesamte Griechentum, von einigen Ablegern abgesehen, innerhalb der Grenzen des griechischen Staates konzentriert.“ Noch 1947 schrieb Seferis, auf dieses Phänomen zurückkommend: „Wir sind uns dieses Ereignisses und seiner Auswirkungen noch immer nicht ganz bewußt“.

So begriff Seferis die Kleinasiatische Katastrophe als eine nationale Wunde, die Folgen auch für das schöpferische Denken und das Schreiben zeitigen mußte. Für die Politiker, so meinte er, leite sich ohnehin eine größere Verantwortung ab. Nur aus dieser Überlegung heraus läßt sich Seferis‘ Einsatz für Zypern in den fünfziger Jahren erklären, als er in seiner Funktion eines Sonderbotschafters maßgeblich an der Lösung des Zypern-Konflikts beteiligt war. Auf Zypern – „wo die Wunder noch funktionieren“ – „empfindet man (plötzlich) Griechenland weiter, größer. Das Gefühl, daß es eine Welt gibt, die griechisch spricht; griechisch ist. Die nicht von der Griechischen Regierung abhängt, was dieses Gefühl der Weite überhaupt erst ermöglicht.“ (6.11.53) Der Zypern gewidmete Gedichtband „Logbuch III“ – der zwei der schönsten Gedichte von Seferis enthält: „Helena“ und „Gedächtnis II“ – und der Briefwechsel mit dem zypriotischen Maler Adamandios Diamandis zeugen vom Stellenwert dieser Insel in Seferis‘ „Griechenland“-Verständnis.

Auch der als schicksalhaft empfundene 2.Weltkrieg und der diesem folgende griechische Bürgerkrieg – der im Dezember 1944 zwischen der linken Einheitsfrontbewegung EAM und den von englischen Truppen unterstützten profaschistischen Bataillonen offen ausbricht und den Seferis im Exil vorausgesehen hatte – reihten sich für den Dichter ein in seine „tragischen Visionen“, um eine Formulierung von Giorgos Savidis zu gebrauchen. Nach den wiederholten Enttäuschungen im Außenministerium, dem für Seferis schmerzlichen Tod von Venizelos 1935, dem Putsch des Generals Metaxas 1936 und der Erfahrung von der Unfähigkeit der griechischen Regierung, im Verlauf des 2.Weltkriegs Entscheidungen im nationalen Sinne zu treffen, löste der Bürgerkrieg bei ihm eine große persönliche Krise aus. „Griechenland: ein gekreuzigter Körper, den alle tollwütig ans Kreuz nageln“, notierte er am 21.12.1944 und am 1.1.1945: „Nichts Schrecklicheres als die letzten zwei Monate“. Selbst ein Jahr später verfolgte ihn der Alptraum des Dezember: „Besser sterben, als das noch einmal sehen müssen“. (6.12.46)

Asteris Kutulas & George Seferis

In dieser „dunklen und mysteriösen Welt“ (6.7.42), deren herausragendes Merkmal die sinnlos verstrichene Zeit war, konnte auch die Literatur nicht mehr als totalitäres, in sich abgeschlossenes, ästhetisches System aufgefaßt werden. Seferis versuchte, vielleicht, um sich zur komplexen Realität poetisch in Beziehung setzen zu können, in seinen Gedichten eine „körperliche Haltung“, die „Anwesenheit des menschlichen Körpers“, wie er es ausdrückte, zu bewahren: „Wenn sie mich einst verurteilen werden, dann wegen meiner Sensualité“ – dieser Satz aus den Tagebüchern könnte das Credo seines dichterischen Konzepts der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sein. Im modernen Ausdruckstanz fand Seferis das verwirklicht, was seiner Meinung nach ein ideales Kunstwerk ausmachen müßte: Bewegung und Bewegtsein. Nach einem Besuch des Balletts „Frühlingsopfer“ von Strawinsky, in der kargen und präzisen Choreographie von Vaslav Nijinski, schrieb Seferis 1932 das Gedicht „Nijinski“, in dem die Figur des Tänzers mit der des Dichters verschmilzt. Diese Sehnsucht nach einem wirklichen Bewegtsein, poetisch verarbeitet u.a. in den Gedichten „Raven“ und „König von Asine“, beherrschte ihn bis zu seinem Tod. Doch auch in seinem letzten Gedichtband „Drei geheime Gedichte“ (1966) blieb diese Sehnsucht ungestillt – blieb Sehnsucht:

Du musst diesem Schlaf entkommen;
dieser gepeinigten Haut.

In diesem Sinne sind Seferis‘ Gedichte und Texte, die er seit Anfang der zwanziger Jahre bis zu seinem Tod schrieb, als „work in progress“ zu sehen, Variationen zu einem Thema, das als Konstante seines Schaffens verstanden werden kann: zum Thema der Verantwortung des Dichters, die sich in dessen Verantwortung gegenüber der Sprache zeigt. Die Konzentration auf die Sprache, bei Seferis wegen der äußeren Umstände und seiner psychischen Befindlichkeit vor allem Anfang der zwanziger Jahre zwingend notwendig, führte zu einer neuen poetischen Ausdrucksweise und befähigte die neugriechische Lyrik – wenn man an so unterschiedliche Dichter wie Ritsos, Elytis und Gatsos denkt – neue Sachverhalte auf originäre Weise zu verarbeiten. Nicht zuletzt profitierten auch oder gerade die Nachkriegsautoren (wie z.B. Takis Sinopulos, Manolis Anagnostakis und Nasos Vagenas) mit ihrer desillusionierten Weltsicht von der Präzision einer anti-rhetorischen Sprache, in der ein jedes Wort seiner Gewichtigkeit zwischen den anderen Wörtern gerecht werden muss – was vor Kavafis und Seferis nicht der Fall war.

Bei Giorgos Seferis’ Beerdigung am 22. September 1971, zwei Tage nach seinem Tod, nahmen Hunderttausende Athener an der Prozession teil, die zu einer Kundgebung gegen die damals herrschende Junta wurde: offenbar lag hier ein Mißverständnis vor. Die wenigsten nämlich kannten den, den man gerade zu Grabe trug, als Dichter oder gar dessen Bedeutung für die neugriechische Literatur im 20. Jahrhundert – obwohl ihm 1963 der Literaturnobelpreis verliehen worden war; immerhin erschienen in den dreißiger Jahren die ersten fünf Gedichtbände von Seferis in einer Auflage von jeweils nur 50 bis 356 Exemplaren, die erst nach Jahren verkauft werden konnten, woran sich auch später nur graduell etwas änderte. Und auch als Politiker war er niemals durch irgendetwas in Erscheinung getreten, was solchen Zulauf hätte rechtfertigen können. Die Teilnehmer der Kundgebung sangen die 1932 geschriebenen Verse eines Mannes, den sie bis dahin kaum dem Namen gekannt hatten:

Nicht mehr lang
und wir werden die Mandelbäume blühen sehen
die Marmorsteine leuchten in der Sonne
des Meeres schäumende Wellen
Nicht mehr lang
– richten wir uns noch etwas weiter auf.

Dieses und einige andere von Mikis Theodorakis Anfang der sechziger Jahre vertonte Gedichte, sowie Seferis‘ 1969 verfaßte „Erklärung“ gegen die Obristendiktatur hatten ihm unverhofft Popularität eingebracht. Dabei waren dieser „Erklärung“, der ersten und letzten öffentlichen „politischen“ Stellungnahme in seinem Leben, etwa vierzig Jahre Loyalität als Diplomat gegenüber allen – auch monarchistischen, faschistischen und ultrarechten – Regierungen von 1926 bis 1962 vorausgegangen, trotz seiner persönlichen Ablehnung einiger dieser Machtstrukturen. Wäre Seferis kein Dichter gewesen, der die „großen Ideen“ (gemeint sind: Dogmen) von seinem Werk fernhalten wollte, „um nicht als Künstler zerstört zu werden“ (13.5. 33) Seferis lebte in dieser Wirklichkeit als Diener „zweier Herren“ (1.3.27), wie er sich selbst ausdrückte: Diener sowohl des Berufs (die „äußere Unterwerfung, die mich mein Leben lang verwunden wird“) als auch seiner Berufung als Dichter, und er achtete auf die sorgsame Trennung von diplomatischem Beruf einerseits und Privatleben und Dichtung andererseits. Zu vergleichen eher mit dem Reformator Goethe als mit dem Rebellen Beethoven – ein vereinfachtes (nicht ganz stimmiges) Bild, das Seferis selbst in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Giorgos Theotokas, benutzte. Seferis bewegte sich Zeit seines Lebens, wie der Weimarer Dichter Goethe, fast ausschließlich im Umkreis des „Hofes“, huldigte dessen Ritualen  und genoß dessen Privilegien, was Theotokas im Vorwort zu seinem Briefwechsel mit Seferis sehr umsichtig beschreibt; Seferis’ „Rebellion“ (oder wie er es sah: sein Schmerz) – mächtig für die einen, dürftig für die anderen, da sie sich in suggestiven dunklen Versen aussprach, wenn man an Texte wie „Drei geheime Gedichte“ oder „Drossel“ denkt – fand in seiner Kunst statt. Denn sein moralischer und patriotischer Anspruch war in keinem Augenblick seiner vierzigjährigen Beamtenlaufbahn mit der von der jeweiligen Regierung betriebenen Politik in Übereinstimmung zu bringen. Seferis blieb der Diplomatie verhaftet, was seine soziale wie poetische Optik beeinflußte, einengte und zugleich, im Bestreben aus dieser Enge auszubrechen, in andere – existentielle – Bereiche weitete. Seferis bezeichnete die Regierenden, seine Vorgesetzten, in Tagebüchern und Briefen gelegentlich als psychopathisch, verantwortungslos, verkrüppelt, engstirnig, durchtrieben und korrupt, bis er zur Schlußfolgerung kommt: „Du mußt zu einer Mumie werden, um das alles auszuhalten… Das Gefühl, in Schlamm zu waten… Ich muß ein für allemal begreifen: Ernsthaftigkeit und Politik sind zwei ihrem Wesen nach voneinander verschiedene Dinge.“ (18.11.1942)

Doch Seferis‘ Beamtentum provozierte nicht nur solchen Widerspruch, über den er sich wiederholt in seinen Tagebüchern und Briefen – in gewisser Weise selbstquälerisch – äußerte, sondern dieses Beamtentum bedeutete zugleich die ständige Versetzung von einem Ort zum anderen. London, Koritsa, Alexandria, Kairo, Johannesburg, Ankara, Beirut, London sind einige Stationen seiner diplomatischen Laufbahn zwischen 1931 und 1962. Nicht verwunderlich scheint daher, daß das Bild der „Reise“ und das der „neugriechischen Diaspora“ nach Ausbruch des 2.Weltkrieges den durchschimmernden Hintergrund für seine Gedichte und Essays abgeben. Positiv, nämlich wenn man das als einen wichtigen poetologischen Ansatz versteht, hat es am ehesten noch Henry Miller beschrieben, der Ende der dreißiger Jahre mit Seferis befreundet war; in seinem Buch „Der Koloß von Marussi“ ist zu lesen: „Alles, was er betrachtete, war griechisch in einer Art und Weise, die ihm nicht vertraut gewesen war, als er sein Land noch nicht verlassen hatte.“

Asteris Koutoulas & George Seferis

Seferis‘ Suche nach „Griechenland“ – „diese unentrinnbare Verlockung“ (16.2. 1925) –, die 1931 mit seiner Versetzung als Botschaftsrat nach London begann, bestimmte bis zu seinem Tod Inhalt und Struktur fast aller seiner Gedichte und Essays. Da ihm aber eine Identifikation mit dem Staat, dem er diente, zu keinem Zeitpunkt möglich war, schien ihm auch eine Identifikation mit seinem Land unmöglich, das er nur durch das Raster seines vom Beruf okkupierten Alltags oder seiner theoretischen Studien zur Kulturentwicklung sah und in dem das Volk genauso korrumpierbar wie seine politischen Führer zu sein schien. Bei Seferis tritt das „Volk“ nur zweimal als selbstbewußte Kraft in der neueren griechischen Geschichte auf: 1821, während des Aufstandes gegen die türkische Herrschaft, und im nationalen Befreiungskampf während des 2.Weltkriegs. Damit ist nicht gemeint, daß sich Seferis nicht als Grieche fühlte; er fühlte sich eher als einer der letzten „Menschen des Griechentums“, die in Verbindung mit der „ewigen und vielgestaltigen griechischen Idee stehen“, wie er Theotokas am 20.8.1932 schrieb. Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins steigerte sich ins schier Unermeßliche: „Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das „Griechentum“ denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen“, notierte er am 5.1.1938 in seinem Tagebuch, und etwas später, während Thomas Mann in den USA in seiner Rede über Arthur Schopenhauer der pessimistischen Gesinnung eine große Zukunft voraussagte, poetisierte Seferis eben diese Grundhaltung im Gedicht „Der letzte Tag“ oder in der folgenden Tagebucheintragung: „Das, was sich am massivsten bemerkbar macht, ist dieses Faulende, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen, raushängende Zunge, schlaue erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe es sich noch leben?“ (27.11.39)

Um dieses Gefühl von realer „Heimatlosigkeit“ – also die Sehnsucht nach dem realen Griechenland – verdrängen zu können, um eine wenigstens geistige Heimat zu finden, entwickelte Seferis Mitte der dreißiger Jahre das „Dogma des Griechentums“, das losgelöst von den konkreten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen gedacht wurde, und die Vorstellung von einem „griechischen Volk“, das es so wohl nur in der Anschauung des Dichters gegeben hat. „Hellenismus“ nämlich, verstanden als „Auffassung von der menschlichen Würde und Freiheit, nicht als historischer Begriff“. (5.1.38) Aus solch einem Impuls heraus – das spezifisch „griechische Element“ in der neueren Literatur zu entdecken – entstanden vermutlich auch seine Reden zu Kostis Palamas und Angelos Sikelianos sowie der Essay zu Andreas Kalvos.

Der naive Maler Theophilos, auf den Seferis 1934 durch den Psychoanalytiker und surrealistischen Dichter Andreas Embirikos aufmerksam gemacht wurde, und General Makrijannis, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine „Memoiren“ verfaßt hatte, galten dem Dichter als Bürgen und DNA-Träger dieses „Dogmas“. In ihren Werken – die für Seferis in einer Traditionslinie mit der antiken Klassik und dem, was er selbst noch schreiben würde, standen – nahm er echte Ergriffenheit wahr und unverfälschte künstlerische Vollkommenheit. Diese beiden Künstler erreichten seiner Meinung nach das, was für den Sensualisten Seferis die größte Aufgabe des Dichters darstellte: die Seele des Menschen zu berühren, ihn zu sensibilisieren. „Ich schreibe wie jemand, der sich die Pulsadern aufschneidet“, steht am 7.9.1926 in seinem Tagebuch – was zumindest eine pathetische Umschreibung für den „existentiellen“ Wert der Dichtung in seinem Leben ist.

Auf der anderen Seite – und auf einer anderen, d.h. literarischen Ebene – standen für Seferis jene drei Dichter, die den künstlerischen Anspruch in die neugriechische Literatur eingebracht hatten: Dionissis Solomos, Andreas Kalvos und Konstantin Kavafis – „unsere drei toten Dichter, die kein Griechisch sprachen“ (Essays I, 63f.), mit denen Seferis sich zum Teil identifizieren konnte und mit deren Gedichten er sich sein Leben lang auseinandersetzte. Über Solomos hat Seferis zwar keine eigenständige Arbeit geschrieben, aber in fast jedem seiner Essays bezieht er sich auf ihn. Wie diese drei Dichter sprach auch Seferis zunächst „kein“ Griechisch und lebte wie sie jahrzehntelang außerhalb Griechenlands. Vor allem Solomos und Kavafis hatten einen ähnlichen Prozeß der Suche und des Forschens nach einem ihrer Epoche adäquaten poetischen Ausdruck durchgemacht. Bereits 1925, nachdem Seferis fast sechs Jahre in Frankreich und England gewesen war, stellte er, kaum in Athen angekommen, fest, daß „die Aufgabe der Jüngeren“ darin bestehe, „eine neue Sprache zu entwickeln“ (25.7.25), und wiederholt verglich er sich selbst mit einem Handwerker. In der 1935 gegründeten Zeitschrift „Nea Grammata“ veröffentlichte Seferis eine Reihe von Essays, in denen er sich einsetzte für: die gesprochene Sprache Dimotiki; einige Schriftsteller der älteren Generation wie Palamas und Sikelianos, die von manchen Kritikern als „überholt“ bezeichnet wurden; die Präsentation von jüngeren griechischen Autoren wie Elytis und Andoniou, die sonst keine Artikulationsmöglichkeit gehabt hätten.

Dieses praktische und theoretische Ringen um eine neue dichterische Sprache ging einher mit einem ausgiebigen Studium der englischen und vor allem der französischen Moderne. Seine Schwester Ioanna Tsatsou berichtete, mit welcher Ausdauer und Beharrlichkeit Seferis 1927/28 ein Kapitel aus Valerys’ „Monsieur Teste“ übersetzte und dabei an seinem eigenen Stil feilte, „einem einfachen Stil“ – so schrieb sie – in der Dimotiki (der gesprochenen Volkssprache), neben sich die Bücher von Solomos und Makrijannis. Seferis, nach dessen Auffassung der Mensch sich im Stil offenbart, entdeckte sein Griechenland zunehmend im griechischen Wort. Als er 1931 bzw. 1935 seine Gedichtbände „Wende“ (1931) und „Mythistorima“ (1935) herausbrachte, hatte er die Erneuerung der dichterischen Sprache nicht nur angestrebt, sondern sie auch erreicht. Der Pomp, das Pathetische und Überschwängliche, das es in den Texten der bis dahin maßgeblichen Dichter Palamas, Sikelianos und ihrer Epigonen gegeben hatte, war einem prosaischen, kompakten, gestischen Ausdruck gewichen. Im Gegensatz zur Manier der Neo-Symbolisten Uranis, Agras, Lapathiotis und den Anhängern der Strömung des Kariotakismus, die vor allem 1928, nach dem Selbstmord von Kostas Kariotakis dessen Weltverneinung als poetisches Lebensgefühl übernahmen, nicht aber dessen literarische Qualität, befreite Seferis seine Dichtung von jedem unnötigen Ballast und reinigte sie von jedweder „Ästhetisierung“. An die Stelle der bis dahin üblichen Dithyramben auf Liebe, Natur und Nation trat eine pessimistische Grundstimmung, die das, was man „Modernes Bewußtsein“ oder „Tragische Weltanschauung“ nennt, in poetischen Bildern verdichtete. Eingang ins Gedicht fanden Tagebuchaufzeichnungen, Zitate, Träume, Schilderungen der Probleme des Dichters beim Verfassen des Gedichts, Fragmente aus anderen Gedichten. Ähnlich assoziativ entstanden auch viele Essays, von denen einige aus Tagebüchern kompiliert wurden. Und nur, weil Seferis sich nicht an die (auch eigene) theoretische Forderung nach dem spezifisch „griechischen Element“ in der Dichtung gehalten hat, sondern sich nach den Standarts der „Weltpoesie“ richtete, blieb seine Dichtung auch nach 1940 substantiell, als sich jüngere Dichter wie Sinopulos und Anagnostakis zunehmend gegen das „Dogma des Griechentums“ auflehnten, weil sie für ein solches keine Notwendigkeit sahen.

Der große Unterschied zur bisherigen poetischen Praxis in Griechenland – mit Ausnahme von Kavafis‘, der aber in Ägypten gelebt hatte und in Griechenland aus mehreren Gründen noch unbekannt war – zeigt sich auch darin, daß Seferis bei keinem zeitgenössischen griechischen Dichter Anfang der dreißiger Jahre ähnliche Bestrebungen oder Tendenzen wie in seinen Schaffen erkennen konnte, wohl aber bei T.S. Eliot, dessen Gedichte er 1931 kennenlernte, was ihn zu der Feststellung veranlaßte, Eliot sei der erste Dichter, den er beeinflußt habe. Und während Eliot seine apokalyptischen Bilder im „Wüsten Land“ der Großstädte angesiedelt hatte, beschrieb Seferis im Gedicht „Argonauten“ die als utopielos empfundene Welt mit der Metapher des auf den uferlosen Meeren umhertreibenden modernen Ulysses:

Was suchen denn unsere Seelen reisend
auf verfaultem Meergehölz
von Hafen zu Hafen?

– um vielleicht damit über sein eigenes Unterwegs-Sein zu reflektieren. „So verbringen wir unser gesamtes Leben, an ein paar Planken geklammert, die früher zu unserem schönen Schiff gehörten“, steht in einem Brief von 1923 an seine Schwester Ioanna, und die einzige Hoffnung, die Seferis sein Leben lang nährte – „den Menschen zu finden, wo er auch ist“, so formuliert in seiner Nobelpreisrede von 1963 –, versuchte er sich durch das Auswerfen der „Flaschenpost“, in die er seine Gedichte steckte, zu bewahren.

So wäre also – im besten Fall – die zunehmende Anerkennung seiner Dichtung und jene Manifestation anläßlich seiner Beerdigung doch kein Mißverständnis gewesen, sondern die Konsequenz seiner Suche nach „Griechenland“, bis ihn Griechenland zur Stunde des Todes selbst fand. Daß er die Obristen ebenso wenig wie die Regierungen zuvor in Übereinstimmung mit seiner Auffassung von „Griechenland“ sah, machte er nicht nur mit seiner „Erklärung“ von 1969 deutlich: Aus Protest gegen die Junta veröffentlichte Seferis seit dem Putsch 1967 nichts mehr in Griechenland und lehnte am 27.12.1967 in einem (nicht-offenen) Brief an Franklin Ford von der Harvard-Universität das Angebot zu den berühmten Poetik-Vorlesungen für das akademische Jahr 1969/70 mit einer Begründung ab, die seinen Standpunkt und seine Tragik eindeutig umreißt: „Ich gehöre keiner Partei an, weder der Rechten noch der Linken. Ich beschäftige mich ausschließlich mit schöpferischer Arbeit; und genau hier beginnen die Probleme. Wie Sie wissen, ist seit dem vergangenen Frühling in meinem Land eine Zensur verhängt; und ich denke, daß das geschriebene Wort ohne die Freiheit des Ausdrucks nicht gedeihen kann; ich meine nicht nur meine eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit eines jeden andern, meine Ideen zu bekämpfen (…) Wenn es im eigenen Land keine Freiheit des Ausdrucks gibt, dann gibt es sie nirgendwo auf der Welt. Der Zustand des Selbstexilierten gefällt mir nicht; ich will aber bei meinem Volk bleiben und sein Schicksal teilen.“

© Asteris Kutulas, Eggersdorf-Süd, Frühjahr 1989

Asteris Koutoulas & Giorgos Seferis

Mit Seferis, dem Literatur-Nobelpreisträger von 1963, habe ich mich Ende der 1980er Jahre beschäftigt, seine Texte jedoch sehr gemocht, vor allem seine Essays und seinen wunderbaren Roman „Sechs Nächte auf der Akropolis“. Folgend die Ausbeute meiner diesbezüglichen Beschäftigung in Buchform. A.K.

Giorgos Seferis. Poesiealbum, Auswahl von Asteris Kutulas, Übertragen von Asteris Kutulas und Steffen Mensching, Verlag Neues Leben, Berlin 1988

Giorgos Seferis. Alles voller Götter. Essays, Herausgegeben, Übersetzt, mit Nachwort, Anmerkungen und Register von Asteris Kutulas; Reclam-Verlag, Leipzig 1989
Dieses Buch ist ein 1990 als Lizenzausgabe bei Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M. 1990) erschienen.

Giorgos Seferis. „Drossel“. Mit Original-Illustrationen von Gottfried Bräunling, Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas; editions phi, Echternach 1990

Giorgos Seferis, Sechs Nächte auf der Akropolis, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übersetzt von Asteris und Ina Kutulas; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1995 (Neuausgabe: 2020)

Giorgos Seferis, Essays, Asteris Kutulas
Giorgos Segeris, Alles voller Götter – Essays, Herausgegeben und übersetzt von Asteris Kutulas

Georg Lukacs oder Ich bin das Suchen (Ein Hörspiel)

Georg Lukács Hörspiel. Irgendwie entdeckte ich während meines Germanistik-Studiums den „jungen Lukács“. Seine extrem idealistische Lebensphilosophie von um 1900 entsprach sehr meiner damaligen seelischen Verfassung in Leipzig und Dresden Anfang der achtziger Jahre. Die Seele und die Formen eben. Geistigkeit als Fluchtpunkt. Und der Glaube, im Idealischen irgendwie doch Freiheit und Erfüllung einer transzendentalen Sehnsucht zu finden.

Zur selben Zeit war ich glühender Anhänger von Ingeborg Bachmann, unter anderem wurde ich geprägt durch ihre Hörspiele. Das beflügelte mich, Mitte der achtziger Jahre auch ein „philosophisches“ Hörspiel zu schreiben, nachdem ich den Sog der Existenzialisten geriet, unter anderem Schopenhauers, Kierkegaards, Nietzsches und des jungen Lukács‘. A.K.

Update 22.7.2008: Ich habe meinem Hörspiel einen Nachtrag angehängt, der den phänomenalen Augenblick des Wandels des jungen Lukács vom Idealisten zum Materialisten, vom Freigeist zum Kommunisten zu skizzieren versucht.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas
Erstveröffentlichung in: Zeitschrift Temperamente, 4/1985

Asteris Kutulas
Der junge Lukacs oder Ich bin das Suchen – Ein Hörspiel (Funk-Essay)

1. Sprecher: Philosoph (ungeduldig, aufbauschend, Zweifler)
2. Sprecher: Lukacs-Forscher (ruhig-dozierend, wissend)
Georg Lukács (helle, expressive Stimme)
Sprecher für Irma Seidler, Hilda Bauer, Leo Popper, Ernst Bloch, Gertrud Bortstieber, Korrespondent

*** *** ***

Lukacs: Die Weltanschauung ist ein tiefes persönliches Erlebnis des einzelnen Menschen, ein höchst charakteristischer Ausdruck seines inneren Wesens, und sie widerspiegelt gleichzeitig bedeutsam die allgemeinen Probleme der Epoche.

1. Sprecher: Da haben Sie es wieder! Selbst Lukacs relativiert auf diese Weise alles. (ironisch) Was kann man schießlich dafür?! Mißverständnisse, Dogmen, Verbote, Widersprüchlichkeiteiten – das gehört zum Leben, und das wenigstens ist gestattet … Es läßt sich alles erklären und verstehen – immerhin ein Genie!

2. Sprecher: Ganz im Gegensatz zu Ihnen bewundere ich seine Ernsthaftigkeit. Wie wäre er sonst Kommunist geworden? Und erst recht geblieben? Doch gehen wir von der Realität aus und fragen: Es gibt Kommunisten. Wie sind sie möglich?

1. Sprecher (einfallend): Die Frage steht bei Lukacs! Nur im anderen Zusammenhang – nämlich in seiner „Heidelberger Philosophie der Kunst“ von 1914, mit ästhetischer und nicht politischer Motivation: „Es gibt Kunstwerke. Wie sind sie möglich?“

2. Sprecher: Ich wollte nur sehen, ob Sie Ihren Lukacs kennen. Immerhin verblüffte er damit den bedeutenden bürgerlichen Soziologen Max Weber, ungeachtet von Lukacs‘ späterer Abscheu gegenüber aller Soziologie. Sie wissen ja, die jugendlichen Sünden verachtet man im Alter.

1. Sprecher (einfallend): Das gebe ich zu. (nachdenklich) Wenn man nicht zum Fetischisten seiner Erinnerungen wird! Scheint Ihnen aber kein Widerspruch zu bestehen zwischen seiner sogenannten kommunistischen Wende und der Kontinuität seiner idealistisch-philosophischen Prämissen? Jener von Ihnen adaptierten Frage nach objektiven Kunstkriterien ging er sein ganzes Leben nach, um sie 1962 – wie er meinte – nur „teilweise“ auf 1.500 Seiten seiner Schrift „Die Eigenart des Ästhetischen“ zu beantworten …

2. Sprecher (froh-eifrig): Was für eine Ausdauer? Und insofern haben Sie recht, als daß Lukacs‘ spätere philosophische Sympathien in seiner vormarxistischen Zeit schon keimten. Tatsächlich ist er damit nie fertig geworden. Doch als er Mitglied der Kommunistischen Partei wurde …

1. Sprecher (einfallend): Ach, was Sie nicht sagen! Diesen Schritt tat Lukacs im Dezember 1918, und das einzige, was ich daraus schließen kann, ist, daß er vom bürgerlichen Dasein die Fresse gestrichen voll hatte. Und nicht das soziale Elend des Proletariats – nein, wo denken Sie hin! –, die Fruchtbarkeit marxistischen Denkens war ihm Grund genug, diesen Entschluss zu fassen.

2. Sprecher (verärgert): Mein Lieber, vergessen Sie nicht, Lukacs kam zum Kommunismus über das Geistige, über die Theorie. (bewundernd) Er war so herrlich konsequent! Lukacs handelte nur, wenn seine Handlung im Einklang mit seinem Denken stand. Stellen Sie sich vor, in seiner Person vereinte er „Theorie“ und Leben! Wo finden Sie das heute noch? Ich sagte Ihnen doch, diese Ernsthaftigkeit …

1. Sprecher (einfallend, leise zitierend): „Aber dann in allem furchtbaren Ernst, ohne Ausblick anderswohin.“

2. Sprecher (mahnend): Was soll dieser ironisch-tragische Ton? Bedenken Sie den erforderlichen Mut und die Ehrlichkeit, die ein großbürgerlicher Intellektueller braucht, um subjektiv seine objektive soziale Stellung und Herkunft abzulehnen. Der Arbeiter dagegen muß sich „nur“ seiner Klassenzugehörigkeit bewußt werden und die Konsequenz daraus ziehen. Sagen Sie, was einfacher ist!

1. Sprecher: Ach, was! Der Arbeiter war weitsichtiger als der Philosoph und hat in den Industrienationen für seine „Ausbeuter“ gestimmt. In Bezug auf den Philosophen jedoch scheint mir dieses Argument einzuleuchten. Was meinen sie, wie konnte Lukacs zu dieser Fehlsicht gelangen?

2. Sprecher: Gestatten sie mir, von vorn zu beginnen. Georg Lukacs stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, die auf der Pester Seite der Donau wohnte, in der aristokratischen Leopoldstadt. Sein Vater, Josef Löwinger, war bereits 1885, bei der Geburt seines zweiten Sohnes Georg, Direktor der ungarischen Niederlassung der Britisch-Österreichischen Bank …

1. Sprecher: Soso, Aristokrat ist er gewesen, der Lukacs, dann ist es allerdings interessant, wie er zum Marxismus fand. Man kennt ja nur seine Bücher, wissen Sie … Doch wieso hieß der Vater Löwinger?

2. Sprecher: Die Familie trug bis 1899 diesen Namen, dann erwarb sich der Vater den Adelstitel „von Lukacs“ …

1. Sprecher: Was heißt das, „erwarb sich“?

2. Sprecher: Nun, er kaufte ihn sich. Das war in der damaligen Zeit so üblich. Dadurch stieg das gesellschaftliche Ansehen, und die Geschäfte gingen besser.

1. Sprecher: Ich ahne schon, wie es in solch einer Familie zugegangen ist, wo alles Äußere von so großer Wichtigkeit war! Wie hat Lukacs in dieser Umgebung reagiert – oder war die Mutter das ausgleichend Prinzip?

2. Sprecher: Im Gegenteil! Seine Mutter Adele Wertheimer, eine gebürtige Österreicherin, war strenge Sachverwalterin des Protokolls im Hause. Mit ihren drei Kindern – Georg hatte noch eine jüngere Schwester – sprach sie nur deutsch, und ansonsten fügte sie sich ganz in die geheuchelte Atmosphäre dieser Gesellschaftsschicht. Gegen ihre konventionellen Anschauungen führte Lukacs einen „Guerillakampf“, der zuerst darin bestand, daß er als Kind die zahlreichen Onkels und Tanten, die er nicht kannte, nicht grüßen wollte.

1. Sprecher: Eine außerordentliche Sünde! Jetzt brauchen Sie mir nur noch zu sagen, daß im Haus die berühmte dunkle Kammer existierte, wo alle eingesperrt wurden, die nicht folgten.

2. Sprecher: Ganz genau so war’s! Und weil der Unterricht am Evangelischen Gymnasium von Leopoldstadt die protokollierte Ideologie des Elternhauses weiterführte, dehnte der junge Lukacs seine Abneigung auch auf die Schule aus, die er zwischen 1894 und 1902 besuchte.

1. Sprecher: Aber fleißig muß er gewesen sein! (anerkennend) Wenn man sich so seine Theaterkritiken durchliest, die er bereits als Gymnasiast schrieb!

2. Sprecher: Ich muß Ihnen widersprechen. Fleißig für die Schule war er nicht gerade, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, da er, auch ohne viel zu lernen, in der Schule besser war als sein Bruder Janos, das Lieblingskind der Mutter.

1. Sprecher (zusammenfassend): Lassen sie mich bitte an dieser Stelle eine These aufstellen, die mir ganz klar vor Augen schwebt: Ich denke, ein Grund für seinen späteren Parteieintritt war schon der Umstand, daß ihm in seiner Kindheit die Mutter fehlte. Noch 1914 klagt er über die „transzendentale Obdachlosigkeit“ und wie viele andere bürgerliche Intellektuelle wendet er sich dann der Partei zu wie zu einer Mutter, die ihn davor retten könnte. Auch der Philosoph Ernst Bloch sagt in einem Interview, für Lukacs sei die Partei „Stütze und Zuflucht“ gewesen.

2. Sprecher (verärgert): Bitte, bitte, keine Freudschen Erklärungen! Das sind gesellschaftspolitische Vorgänge! Zugegeben: Sein langjähriger Jugendfreund Bloch hatte allen Grund, dies später zu behaupten. Und es ist auch wahr, daß der „Partisanenkrieg“ gegen die Mutter von Lukacs später wiederholt wurde: innerhalb und gegen die Parteiinstitutionen. Doch bleiben wir bei der Kindheit und den Fakten! Lukacs‘ Antihaltung zeigt sich im Verherrlichen der von seiner konservativen Umwelt verachteten westlichen Moderne.

1. Sprecher: Ist ja nicht zu glauben! Da sieht man schon, was für ein außenseiterisches „Gehirntier“ Lukacs schon in jungen Jahren war.

2. Sprecher (überlegen): Lukacs findet in der Bibliothek des Vaters Max Nordaus Buch „Entartung“, und weil diese Literatur dem offiziösen Geschmack zuwiderläuft, begeistert er sich für Baudelaire, Swinburne, Ibsen, Verlaine, Zola.

Asteris Kutulas, Georg Lukacs
Georg Lukacs

Lukacs: Dieser Oppositionsgeist kam zuerst in meinen Schulaufsätzen zum Ausdruck, die bei den Lehrern heftige Entrüstung auslösten. Das und meine Hinwendung zum internationalen Modernismus waren meine Versuche, mich geistig von der intellektuellen Sklaverei des offiziellen Ungarn zu befreien.

1. Sprecher (interessiert): So! Er befriedigt seine Oppositionslust durch Literatur. Das finden Sie bei einigen introvertierten Individualisten noch heute … Übrigens, wir sind unversehens ins Präsens abgerutscht!

2. Sprecher: Macht nichts. Lassen Sie uns so weitermachen. Das wichtigste Merkmal seiner Kindheit ist: Er hat keine Freunde. Das ändert sich erst in seinem fünfzehnten Lebensjahr, da er jenes Interesse für Literatur entwickelt, das die Basis wird, sich mit anderen darüber zu verständigen. Doch jene Vereinsamung hinterläßt Spuren in der Psyche des jungen Lukacs. Die krankhafte Selbstüberhebung des eigenen Ich geht einher mit der Vergötterung der nun gefundenen Freunde.

1. Sprecher: Dieser fast schizophrene Zustand wundert mich nicht bei dem Elternhaus. Haben Sie Anhaltspunkte dafür, ob die jüdische Herkunft auch eine Ursache für das Emanzipatorische in Lukacs Wesen ist?

2. Sprecher: Nein, das dürfte keine unmittelbare Rolle gespielt haben. Bezeichnend dafür ist ein Ausspruch von Lukacs‘ Vater, der am Anfang der zionistischen Bewegung sagte, er wolle bei Konstitution des jüdischen Staates Konsul in Budapest werden. Natürlich färbt dies Selbstbewusstsein auf den jungen Lukacs ab, von dem der Vater verlangt, er solle sich so verhalten, daß er – der Vater – stolz auf ihn sein könne. Dafür gibt er ihm jede materielle Unterstützung.

1. Sprecher: Sehr nobel! Den Vater als Mäzen zu haben, stelle ich mir äußerst amüsant vor. Wann legt er nun sein eremitisches Dasein beiseite?

2. Sprecher: Etwa mit fünfzehn Jahren findet er erste wichtige Freunde und beschließt, Schriftsteller zu werden.

1. Sprecher (einfallend): Diese Hybris der jungen Leute ist bewundernswert! Und mit Erfolg?

2. Sprecher (bedeutsam): Jene Ernsthaftigkeit, die ich zu Beginn unseres Gesprächs so hervorhob, zeigt sich hier zum ersten Mal. Seine Opposition tritt in ihre produktive Phase, der aber Aktionismus allein nichts bedeutet. Denn als Korrektiv wirken ab jetzt seine Freunde. Zunächst Marcel Benedek und Laszlo Banoczi, die ihm das unspekulativ-wissenschaftliche Herangehen an Literatur sowie die moralitè als Lebensmaxime vermitteln.

1. Sprecher: In Ihrem Munde klingt „moralitè“ so bedeutsam. Könnten Sie erläutern, was gemeint ist?

2. Sprecher: Diese Haltung entspricht Lukacs‘ Kindheitserfahrungen, weil sie gegen die Erfolgssucht seiner familiär-bürgerlichen Umwelt den Wert der eigenen moralischen Wahrheit behauptet. Das hatte Lukacs schon als Kind in seinem Lieblingsbuch „Der letzte Mohikaner“ gefallen.

1. Sprecher: Wozu führen die neuen Erfahrungen?

2. Sprecher: Sie werden’s nicht für möglich halten! Lukacs gesteht sich ein, daß er auf schriftstellerischem Gebiet ein Dilettant ist, und schreibt keine Theaterkritiken mehr, die er als Oberprimaner im expressionistischen Stil eines Alfred Kerr für verschiedene ungarische Zeitungen verfaßt hatte.

Lukacs: Und was meine an Hauptmann und Ibsen orientierten Dramen betrifft: Gott sei Dank ist davon nichts geblieben. Mit ungefähr achtzehn Jahren verbrannte ich all meine Manuskripte, und von da an hatte ich ein geheimes Kriterium für die Qualität von Literatur, nämlich was auch ich verfassen könnte ist schlecht.

1. Sprecher: Ich verstehe, seine Revolte erhält damit qualitativ höhere Ansprüche.

2. Sprecher: Ja, er verfaßt vier Jahre lang nichts mehr. Seine Energie widmet er in dieser Zeit der „Thalia-Gesellschaft“, einer freien dramatischen Bühne nach Berliner und Wiener Vorbild, sowie seinen philosophischen Studien.

1. Sprecher: Er studiert also Philosophie?

2. Sprecher: Ja und nein. Dem väterlichen Wunsch entsprechend, studiert Lukacs von 1903 bis zu seiner Promotion 1906 Jura an der Budapester Universität. Doch ihm steht, wie wir sahen, der Sinn nicht nach bankdirektoraler Karriere. Darum vertieft er sich in die abstrakt-idealistischen Philosophien der Jahrhundertwende.

1. Sprecher (einfallend): Was liest er denn?

2. Sprecher: Alles mögliche! Schopenhauer, Nietzsche, Lessing, die Frühromantiker, den Schiller-Goethe-Briefwechsel, Kierkegaard. Das sind wohl die wichtigsten. Bald kommen Dilthey, Simmel und Marx hinzu. Aber entscheidender als die Lektüre ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr, die Lukacs im Elternhaus von Laszlo Banoczi kennenlernt. Der Vater seines Freundes und Studienkollegen gehörte zu den namhaftesten Denkern Ungarns. Er hatte unter andrem auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ übersetzt, die Lukacs nun studiert.

1. Sprecher: Ach dieses unleserliche Buch!

2. Sprecher (gefällig): Lukacs verschlingt es geradezu.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas
Georg Lukacs

1. Sprecher: Sie deuteten noch Öffentlichkeitsarbeit in dieser Zeit an!

2. Sprecher: Zusammen mit Marcel Benedek und Laszlo Banoczi gründet er im Herbst 1903 die „Thalia-Gesellschaft“, die ab 1904 moderne westliche Stücke zur Aufführung bringt, Strindberg, Wedekind, Shaw, d’Annunzio, aber auch Tschechow und Gorki.

1. Sprecher: Wollte Lukacs durch elitäres Verhalten die etablierte Gesellschaft schockieren?

2. Sprecher: So könnte man es umschreiben, aber sie inszenieren auch für Arbeiter. Nur, daß Lukacs selbst vorwiegend organisatorische Aufgaben in dieser bohemisierenden „Kaffeehausgesellschaft“ erfüllt, nachdem seine Regieversuche fehlschlagen. Eigentlich beginnt er sich ab dieser Zeit in seinen geistigen Konstruktionen einzuigeln. Ach ja, er übersetzt Ibsens „Wildente“ für die „Thalia-Bühne“.

1. Sprecher: Schriftsteller: nichts! Regisseur: nichts! Ihm bleibt nur noch die Philosophie!

2. Sprecher (berichtigend): Die wichtigste Frucht dieser Periode ist eine zweibändige „Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“. Darin fließen natürlich seine Erfahrungen aus der „Thalia“ mit ein. Aber von seinem Vorhaben, Literaturhistoriker zu werden, nimmt er nach einer Studienreise durch Deutschland wieder Abstand. Ihm erscheint die professorale Analyse, warum die Augenfarbe von Lotte in Goethes „Werther“ blau und nicht wie in Wirklichkeit schwarz gewesen sei, äußerst abwegig und nichtwissenswert. Insofern haben Sie recht, es bleibt die Philosophie als grundlegende Orientierung.

1. Sprecher: Mir fiel schon bei Ihrer Aufzählung seiner Lektüre auf, daß die deutsche Literatur im Mittelpunkt steht. Und jetzt sprachen Sie von einer Deutschlandreise.

2. Sprecher: Er liebt die deutsche Wissenschaftlichkeit – natürlich jene, die den gesellschaftlichen Boden unter den Füßen nicht verliert. Jetzt verstehen Sie vielleicht seine Distanz zur ungarischen, unambitionierten Intelligenz – so dürfte Lukacs sie gesehen haben. Da ist das Flair des Berliner Philosophen Georg Simmel ein ganz anderes gewesen. Im Wintersemester 1906/07 hört Lukacs erstmals Simmels Vorlesungen, die ihn tief beeindrucken.

1. Sprecher (hastig): Dessen Buch „Die Philosophie des Geldes“ kenne ich gut, wo Simmel den längst „überholten“ Marxismus weiterführt, indem er ihm ein Stockwerk unterbaut, so daß die wissenschaftlichen Formen als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen erkennbar werden.

2. Sprecher (ärgerlich): Dürft ich fortfahren?! Der zweite starke Impuls geht von Wilhelm Dilthey aus, von dem Sie sicher auch wissen, daß er der Begründer der Geisteswissenschaften war und Nietzsche in Deutschland kathederreif gemacht hatte …

1. Sprecher (einfallend): Gestatten sie mir noch eine Frage. Wie verträgt sich das mit Lukacs‘ Aktivitäten in Ungarn? Oder wendet er sich gänzlich von der Heimat ab?

2. Sprecher: Das kommt etwas später. Vorerst entfaltet er eine rege, wenn auch distanzierte Tätigkeit. Er schließt sich der radikal-bürgerlichen „Soziologischen Gesellschaft an, hält im Galilei-Zirkel der revolutionären Studentenschaft Vorträge und wird stark von Endre Adys Buch „Neue Gedichte“ beeinflußt. Ab 1906 veröffentlicht er auch wieder in verschiedenen Zeitschriften Rezensionen und Essays.

1. Sprecher: So war der deutsche Einfluß nur geistiger Natur?

2. Sprecher: Nur! Sie werden sich wundern! Um seinem Dramenbuch ein soziologisches Fundament zu schaffen, liest Lukacs 1908 das „Kapital“ von Marx und analysiert in einem Vorwort tatsächlich die Beziehung von materiellen Verhältnissen und künstlerischen Produkten.

1. Sprecher: Dann ist’s ja ein Katzensprung zum Marxismus! Warum dauert das noch zehn Jahre?!

2. Sprecher (überlegend): Bedenken Sie doch, daß wir Bücher niemals unvoreingenommen lesen, sondern borniert – durch unsere „ideologische“ Brille, durch die wir beständig die geistigen Phänomene betrachten und blind bleiben. Sehen Sie, nach der Marx-Lektüre setzt er in diltheyischer Manier das nur hermeneutisch faßbare „Leben“ voraus und kommt zu dem Schluß, daß das wirklich Soziale in der Literatur die Form sei!

1. Sprecher: Eine fürwahr unmarxistische Deduktion. Was ist denn mit „Form“ gemeint?

2. Sprecher: „Form“ bedeutet für den jungen Lukacs alles und nichts! Eine wahre Formenmetaphysik! Eine Flut von Verwaschenheit.

1. Sprecher: Das müssen sie mir schon näher erläutern! Bis jetzt hab ich folgendes begriffen: Durch Verinnerlichung der modernen Literatur verinnerliche Lukacs uch das Krisengefühl dieser Literatur. Das ist ihm wohl nicht gut bekommen?!

2. Sprecher (einlenkend): Sozusagen… (bestimmt) Die im Verständnis von Lukacs a priori existierenden „Formen“ verdeutlichen sein pubertäres Ungenügen mit der Welt. Hätte er nur zu Drogen oder Aspirintabletten gegriffen! Stattdessen erblickte er die angemessene Heilslehre in der geisteswissenschaftlichen Methode Diltheys, die sich als Kunstlehre ausgibt, mit deren Hilfe man schriftlich fixierte
Lebensäußerungen mühelos auf sich übertragen könne.

1. Sprecher: Ds könnte von einer hinduistisch-meditativen
Neureligion stammen!

2. Sprecher (fortfahrend): Durch „Hineinversetzen“ in paradigmatische Personen aus der Vergangenheit, könne man der schlechten Gegenwart entfliehen…

1. Sprecher: Sagen Sie, Lukacs nimmt dies Rezept gegen sein Weltwehweh ernst?!

2. Sprecher (kalt): Lukacs lebt danach! Vor allem Kierkegaard ist es, dem er sich wahlverwandt fühlt und dessen Leben er versucht, nachzubilden und zu „verstehen“. Das ist das Wesen dieser sogenannten „Essayperiode“.

1. Sprecher (kategorisch): Ihre gelobte Einheit von Theorie und Leben bewähewährt sich hier in sehr fataler Weise. Lukacs fehlt einfach eine Frau!

2. Sprecher: Zu spät!

1. Sprecher (ironisch): Sagen Sie bloß, er ist zu „ernsthaft“ dafür.

2. Sprecher: Mein Lieber, das sind keine Hirngespinste eines bürgerlichen Intellektuellen! Lukacs empfindet schmerzlich die tiefe Zerrissenheit um ihn herum als „radikale Lebensnot“. Hier einige Beispiele:

Lukacs (nachdrücklich): Das Resultat des heute Erschauten ist: der Weg führt bergab. Dies ist die Monumentalität einer grauen Monotonie, und es ist das Gefühl, daß die kaum übersehbare Menge von kleinen und grauen Ereignissen bloß ein verschwindend kleiner Teil der unendlichen Monotonie des Lebens selbst ist. Mein Leben ist nicht bunt, aber auch nicht weiß; kein still ruhender Bergsee, sondern Eile, Lärm und ewiges Rennen – wohin?… Ich weiß: Ich habe nur Taten, nur Taten machen mich zum Menschen, und doch können meine Taten mich nicht zum Menschen machen, weil sie nicht die meinen sind, weil sie aufhören, die meinen zu sein, sobald sie geschehen sind. Sokrates aber wußte, daß das, wonach wir uns sehnen, für immer fremd ist, daß es für unser Sehnen nie eine Erfüllung geben kann. Darum ist das Leben nichts, das Werk ist alles, das Leben ist lauter Zufall, und das Werk ist die Notwendigkeit selbst.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas
Georg Lukacs

2. Sprecher: Dieses Lebensgefühl von Vereinsamung und Entfremdung fängt Lukacs sehr prägnant in einer Reihe von Essays ein, die in Buchform 1910 unter der Überschrift „Die Seele und die Formen“ erscheinen. Vielleicht interessiert es Sie, zu erfahren, daß Thomas Mann seine Schriftsteller-Situation der Vorkriegszeit in diesem Buch ausgedrückt fand und aus dem Philippe-Essay ganze Passagen in seiner Novelle „Tod in Venedig“ einarbeitete!

1. Sprecher: Worauf wollen Sie hinaus?

2. Sprecher (zusammenfassend): Zweifellos ist dies Erleben der Dichtung, die fragmentarisch-neuromantische Lebensform eine Reaktion auf die „heile“ Welt des Elternhauses und die oberflächlich-glatten Umgangsformen seiner Gesellschaftsschicht.

1. Sprecher: Darum ließ er wohl nach seiner Wende zum Marxismus nur die großen synthetischen Formen gelten?

2. Sprecher: Vielleicht wurde die spätere Dogmatisierung in diesem jugendlichen Erleben vorgeprägt. Doch in der Essayperiode unterhält er freundschaftliche Beziehungen zu vielen zeitgenössischen Schriftstellern und zu der konstruktivistischen Malergruppe „Die Acht“. Malerin ist auch seine große tragische Jugendliebe Irma Seidler, die er im Dezember 1907 kennenlernt.

1. Sprecher: Wieso tragisch?

2. Sprecher: Weil Lukacs jenes Kopieren von Originalen sehr ernst nimmt und auf die Spitze treibt! Er ahmt zum Beispiel Kierkegaards mißverständliche Haltung gegenüber dessen Verlobten Regine Olsen gründlich nach. Nur: Lukacs verlobt sich gar nicht erst, schreibt aber dafür den Kierkegaard-Essay und denkt, das aus der Romantik überkommende Problem der Vermittlung von Kunst und Leben durch eine prosaische Geste zu lösen: Er negiert das wirklichkeitsbefleckte Leben und erhofft sich Seligkeit durch eine rein geistige Liebesbeziehung.

1. Sprecher: Sie finden mich sprachlos. Und dies Platonisieren führt zu einer Katastrophe?

2. Sprecher: Noch nicht. Irma Seidler ist eine schöne, selbstbewußte Künstlerin, übrigens zwei Jahre älter als Lukacs, die gehofft hatte, mit seiner Hilfe und durch seine Liebe ihre innere Vereinsamung zu überwinden. Nun trifft sie aber auf einen philosophierenden Jüngling, der sich ganz seinem Werk widmen will und sie als intellektuelle Mätresse behandelt.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas Irma Seidler
Irma Seidler

1. Sprecher: Ein unerhörter Narzissmus! Und eigentlich feige.

2. Sprecher (bestimmt): Aber konsequent! Natürlich beendet Irma Seidler die Halbheit ihres „kampfähnlichen Beisammenseins“, indem sie im November 1908 einen ungarischen Malerkollegen heiratet. Einen Monat zuvor schreibt sie noch einen verzweifelten Abschiedsbrief:

Seidler: Ich machte in Ihrem Leben, in Ihrer Entwicklung eine große Etappe mit Ihnen zusammen durch, und Sie schenkten mir seelische Erlebnisse – insbesondere über das Geistige. Doch waren wir nicht zusammen dort, wo sich mein entsetzlich menschliches, aus Blut und pulsierendem Stoff bestehendes, in handgreiflichen Dingen lebendiges Leben abspielt. Wir waren nicht zusammen mit allen Teilen unseres Wesens. Denn riesengroß sind in mir die primitiv menschlichen, einfachen, großen Sehnsüchte. Auch das Kunstgefühl in mir ist von solcher Art. Und für das Leben haben eben sie die Dominanz. Und ebenso stark ist in mir die Vorliebe für die in keinerlei Kunstkategorien vorkommenden und in ihnen nicht ausgedrückten Freuden.

1. Sprecher: Der Vorwurf einer Frau kann wirklich nicht elementarer sein! Und die Offenheit der Irma Seidler ist regelrecht erschreckend! Wie reagiert Lukacs?

2. Sprecher: Dem Vorwurf angemessen, antwortet Lukacs mit einer Selbstmordankündigung.

1. Sprecher (erstaunt): Hätte mir das früher jemand gesagt, ich hätt es ihm nicht abgenommen! (ironisch) Es wundert mich aber gar nicht, daß er’s nicht tut!

2. Sprecher: Nein, er hatte es „nur“ theoretisch vor, was für Lukacs damals viel entscheidender war, als wenn er es wirklich getan hätte. Immerhin galt ihm die geistige als primäre Wirklichkeit… Dafür nimmt sich Irma Seidler drei Jahre später das Leben – ohne schriftliche Ankündigung! Darauf komme ich noch zurück. Jetzt will ich sie auf die Sackgasse aufmerksam machen, in der sich Lukacs befindet. Er versteht, daß nicht mal der Tod die Vollendung seiner Philosophie hätte sein können! Gerade das bestimmt aber seine Sicht auf Novalis und dessen „Lebensphilosophie des Todes“ in einem Essay über den Frühromantiker …

1. Sprecher (einfallend): Jetzt verstehe ich den Ausspruch von Ernst Bloch über den jungen Lukacs, nämlich daß dieser sich nicht damit begnüge, über Ethik zu schreiben, er lebe auch danach! Erkennt er nicht, daß auch das alltägliche, egoistische, gemeine Leben real und nicht wegzuphilosophieren ist?

2. Sprecher: Sehr langsam! Vorerst gefällt er sich in einer Apologie des psychischen Leidens nach Nietzsches Vorbild, schafft es aber nicht, die „undurchdringliche Maske“ seiner Klugheit abzulegen. Aus dieser weihevollen Untergangsstimmung reißen ihn sein bester Freund der Essayperiode, der Kunsthistoriker Leo Popper, und Hilda Bauer, die Schwester von Bela Balazs. Fünf Monate nach der Trennung von Irma Seidler geht er mit ihr das neue Liebesverhältnis ein, zumal Hilda Bauers Mentalität eine völlige Ergebenheit ausdrückt:

Bauer: Schonen Sie die Frauen nicht, bedauern Sie sie nicht, damit entwerten Sie sie. Wir sind nicht da, um Hindernisse, sondern um Stufen zu sein, über die die Männer höher steigen.

1. Sprecher: Das läßt sich Lukacs nicht zweimal sagen!?

2. Sprecher: Sehr richtig! Im Sommer 1909 fährt er zu ihr nach Ammerland, wo es zu „Entgleisungen“ kommt.

1. Sprecher (erstaunt): Wie alt ist Lukacs, da er seine asketische Erstarrung aufgibt?

2. Sprecher: Vierundzwanzig. Die Beziehung wird nicht fortgeführt, das breitere Fundament der Ehe verursacht ihm schon als Vorstellung schlaflose Nächte.

1. Sprecher: Ich verstehe. Seine Ablehnung des von Doppelmoral gekennzeichneten bürgerlichen Lebens umfaßt auch die bürgerlich-sanktionierten Institutionen, wie beispielsweise die Ehe …

2. Sprecher (ausrufend): Bei dieser „gesellschaftlichen Moral“ der puritanistischen High-Society in der Habsburger Doppelmonarchie! Was erwarten Sie!? Zudem dürfte sich Lukacs noch sehr gut an das steril-protokollierte Ehegebaren seiner Mutter erinnert haben. Oder an die damals von ihm verlangten „Küß die Hand“-Floskeln … Nein, Ehe wird für den aristokratisch verzogenen und frustrierten jungen Mann erst möglich, wenn sie den Rahmen der Bürgerlichkeit sprengt.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas, Hilda Bauer
Hilda Bauer

1. Sprecher (ironisch): Wir leben zum Glück nicht mehr in der „Welt von Gestern“… Sie wollten noch über den Freund erzählen, den er so vergöttert:

2. Sprecher: Ja, Leo Popper, den Lukacs als Genie bewunderte. Für Popper sind die verschiedenen Essays Lukacs‘ – über Storm, George, Sterne, Kassner, Paul Ernst – „Lebensbewältigungen“, insofern ist er der einzige, der Lukacs durchschaut. Er hatte im Juni 1908 Irma Seidler und Lukacs nach Florenz begleitet und das Werden wie das Ende ihrer Liebe beobachtet. Durch seine Kritik will er die humorlose, ins Tragisch-Düstere stilisierte Weltanschauung seines Freundes in eine heitere Region verwandeln.

Popper: Äußerlich sieht es so aus, als sammelst du für die Dichter-Monographien Lebenserfahrungen, nur wer gut hinschaut, bemerkt, dass es umgekehrt ist. Und innerlich, was die auf Dich fallenden Reflexe deiner Schriften anbelangt: Sie enthalten so viel Resignation und Trauer, daß sie der vorherigen, äußerlichen Auffassung gleichsam als Nährboden dienen. Wie ich Dich kenne, fürchtest Du dich schon jetzt, man könnte etwas von Deiner Lyrik merken und davon, dass Literatur für Dich nur eine Gelegenheit zum Selbstporträtieren ist. Doch darf man aus den Menschen nicht die Frage herauskitzeln, wie der Kassner dazu kommt, den Georg Lukacs zu symbolisieren. Dass Deine Essays lyrisch sind, wissen die Leute schon daher, dass sie sie nicht verstehen. Warum soll also das einzige, was sie endlich mitbekommen, soviel sein, dass das ganze Mysterium der Verfasser selbst ist?

1. Sprecher: Hilft die radikale Kopfwäsche? Oder hat sich Lukacs so sehr in seine essayistische Lebensweise vernarrt, dass er die Sehnsucht nach einem wirklich eigenen Ich nicht mehr spürt?

2. Sprecher: Sie haben das zentrale Problem getroffen, sein Essayband hätte auch „Die Sehnsucht und die Formen“ heißen können! In den lebensphilosophischen Essays steht nicht, wie im Dramenbuch, die soziologische, sondern die existentielle Problematik im Vordergrund. Doch stets wird jene mitgedacht. Entgegen dem gebräuchlichen neukantianischen Modell, welches das Sein umstandslos sich nach Denken richten läßt strebt Lukacs eine Versöhnung der Antinomien durch seinen Formbegriff an! „Form“ wird so zum Lebenselixier.

1. Sprecher (einfallend, zitierend): „Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird“ …

2. Sprecher (fortfahrend): Von Leo Poppers Kunstphilosophie beeinflußt, zählt er jedes künstlerische Werk, das das Formprinzip sprengt, zerstört zum Kitsch. Diesen Ordnungsfimmel hat er sich bis ins hohe alter bewahrt.

1. Sprecher (leise): Das Schlimme ist nur, daß andere ein Dogma draus machten.

2. Sprecher: Wir wollten nicht auf diese späten Debatten, die unfruchtbar-selbstzerstörerisch waren, eingehen! (fortfahrend) Für Lukacs bedeutet die ausbleibende Reaktion auf seinen 1910 erschienenen Band „Die Seele und die Formen“ eine persönliche Niederlage. Sicher, Lukacs ist ein bekannter Mann, was ihm auch sein Freund Bela Balazs bestätigt, doch die erhoffte Anerkennung bleibt aus. Da nützt es nichts, daß seine Aufsätze und ersten Bücher von den ungarischen Insidern gelesen werden, daß er eine bedeutende philosophische Zeitschrift gründet, die zwei Nummern erlebt, dass er mit Balazs versucht, aus der Zeitschrift „Renaissance“ ein eigenes Organ zu machen. Er bleibt im geistigen Leben Ungarns ein Outsider: durch die starke geistige Bindung an die deutsche philosphisch-dichterische Tradition, durch die strikte Ablehnung seiner anachronistischen Heimat, dem habsburgischen Österreich-Ungarn, das ihm wie eine zur Zerstörung bestimmte Sinnlosigkeit erscheint. Im selben Jahr reist er für mehrere Monate nach Berlin und Florenz. Aus Berliner Ferne zieht er resigniert Bilanz, die zugleich ein Loslösen von der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik anzeigt:

Lukacs: Was ich im Frühjahr anfing, ist, wie es scheint, gelungen: die Ausschaltung des „Lebens“. Das bedeutet nicht unbedingt Askese. Das bedeutet lediglich, daß der Schwerpunkt von allem endgültig und nunmehr unerschütterlich in der Arbeit liegt. Jene Art von „Liebe“, die es da gab – Liebe als ganzes Leben sozusagen – ist jetzt erledigt. Daneben sind Frauen, vielleicht sogar eine Ehe durchaus möglich. Nur hat alles einen ganz anderen Wert als damals. Ich muß so unendlich viel lernen, bis die Dinge in mir vollends klar werden, bis das, was ich sage, wissenschaftlich stichhaltig wird – daß ich nicht weiß, wie weit ich bin. (Unter „wissenschaftlich“ verstehe ich, was zum Beispiel Hegel dazu sagen würde; nicht dasselbe wie im Frühjahr.) Was mir zu leisten gestattet ist, das bin ich; wissen kann ich das nicht, nur es suchen, doch ich: ich bin eben das Suchen…

2. Sprecher: Wie Sie sehen, wir haben’s mit einer doppelten Neuorientierung zu tun – wenn ich das so sagen darf. Die erste ist die Entscheidung, sich ganz dem Werk zu widmen, eine Sache, die sich lange ankündigte und der er bis zu seinem Lebensende treu bleibt. Man erzählt sich, Lukacs konnte bis ins hohe Alter nicht einen Nagel in die Wand schlagen. Auch hierin bleibt er also konsequent! Die zweite, für seinen Weg zum Marxismus äußerst entscheidende Neuorientierung bedeutet seine Wende zu Hegel. Die Ethik der essayistischen Lebensform überwindet er und damit auch die Verzweiflung, die aus dem uralten Zwiespalt dieser Form entsteht.

1. Sprecher: Was für einen Zwiespalt meinen Sie?

2. Sprecher: Den zwischen Kunst und Wissenschaft. Lukacs löst ihn zugunsten des letzteren auf, behält aber im Mittelpunkt seiner weiteren wissenschaftlichen Forschungen das künstlerisch-brisante Problem der Totalität und Entfremdung …

1. Sprecher (einfallend): Und das ist auch das Neue, das Lukacs Anfang der zwanziger Jahre in die philosophische Diskussion um den Marxismus mit seiner Schrift „Geschichte und Klassenbewusstsein“ einbringt. (überlegend) Wie kommt er aber auf Hegel, der ihm diese Sicht überhaupt erst ermöglicht? Sie sagten doch, daß in Ungarn vor allem Kant gelehrt wurde.

2. Sprecher: Er kannte natürlich Diltheys „Jugendgeschichte Hegels“ von 1906, die zusammen mit anderen Schriften den allgemeinen Übergang vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus vorbereitete. Aber ausschlaggebend war die Bekanntschaft mit dem gleichaltrigen Philosophen Ernst Bloch, den er 1910 in Budapest kennenlernt. Bloch, der Marx und Karl May für die originellsten Schriftsteller hält, tut so, als hätten nach Kant, Hegel und Marx keine anderen Philosophen existiert. Das beeindruckt Lukacs. Bloch dagegen ist von Lukacs nach ihrer ersten Budapester Begegnung enttäuscht. die Schriftstellerin Emma Ritook erzählt es Lukacs. Seine Antwort, daß man als guter Philosoph kein Menschenkenner sein muß, gefällt Bloch so gut, daß sie zur Grundlage einer langen Freundschaft wird.

1. Sprecher: So finden sich nur große Geister… Ist das nicht die Zeit, da Lukacs nach Heidelberg geht und dort sein zweites Buch „Die Theorie des Romans“ in Deutschland veröffentlicht?

2. Sprecher: Seien Sie nicht so ungeduldig! Tatsächlich findet die Übersetzung des Essaybandes in Deutschland einen größeren Anklang, und seine Freunde dort, Paul Ernst, Franz Baumgarten, sowie sein ehemaliger Lehrer Georg Simmel, aus dessen Kreis euch Bloch stammt, setzen sich für das Werk Lukacs‘ ein. Doch erst nachdem 1911 Irma Seidler nach einer unglücklichen Ehe und einem mißglückten Liebesverhältnis mit Balazs Selbstmord begeht und Leo Popper wenige Monate später an Tuberkulose stirbt, hält ihn nichts mehr in Ungarn.

Lukacs: Das Alleinsein, das ich wollte, stürzte jetzt auf mich ein als Urteil des Lebens. Wenn irgend jemand sie hätte retten können, wäre ich es gewesen…, und ich wollte und konnte es nicht: ich war ihr „guter Freund“, ich weiß – doch nicht dies hatte sie nötig. Anderes. Mehr. Dann starb Leo. Jetzt ist alles anders. Jetzt bin ich wieder in mich selbst zurückgesunken. Nacht und Leere umgeben mich. Alle Bande sind gerissen. Und jetzt gibt es nur Zielgemeinschaften; und Dinge; und Arbeit.

2. Sprecher: Lukacs packt seine Koffer und fährt nach Florenz, wo er den ganzen Winter bleibt und, von Bloch dazu aufgefordert, an einer systematischen Ästhetik arbeitet. Bloch ist es auch, der ihn im Frühjahr 1912 überredet, sich in Heidelberg niederzulassen, dem damaligen geistigen Zentrum Deutschlands.

1. Sprecher: Bis wann bleibt Lukacs in Heidelberg?

2. Sprecher: Mit kleineren oder größeren Unterbrechungen bis 1918. In Heidelberg verschaffen ihm seine Beziehungen und seine Schriften schnell den Zugang zu den sonntäglichen Teenachmittagen bei Max Weber und den soziologischen Abenden bei dessen Bruder Alfred Weber.

1. Sprecher: Nach der tragischen Zeit in Ungarn muß ihm die sture deutsche Geistigkeit in diesem Brutkasten bürgerlichen Theoretisierens sehr wohlbekommen sein. Studiert er bei Max Weber?

2. Sprecher: Lukacs studiert bei niemandem! Er kommt nach Heidelberg als geltungsbedürftiger, aber selbstbewußter Philosoph. Er führt zwischen 1912 und 1914 den Plan einer „Heidelberger Philosophie der Kunst“ aus. Und den Gegensatz zu den edlen Vertretern des süddeutschen Neukantianismus dokumentiert schon die geistige Symbiose mit Bloch. Sie waren sich so in ihren Anschauungen, daß sie wie „kommunizierende Röhren“ funktionierten und einen „Naturschutzpark der Differenzen“ bauen mußten, um vor dritten Personen nicht dasselbe zu sagen!

1. Sprecher: Alles beginnt mit Hoffnung! Auch wenn’s nicht zum Prinzip werden kann. Nach dem Fragmentarismus seiner früheren Jahre erscheint ihm wohl die Hegelsche Philosophie wie eine Offenbarung.

2. Sprecher (sachlich): Anders als der Neukantianismus und Positivismus ermöglicht der Hegelsche Idealismus eine synthetische Weltsicht. Totalität in ihren kosmischen Dimensionen ist Lukacs‘ neues Schlagwort.

1. Sprecher (lacht): Jetzt wird mir einiges klar! Beispielsweise seine fast pathologische Abneigung in den
folgenden Jahrzehnten gegenüber allem Montierten,
Expressionierten, Surrealen … kurz: gegenüber allen totalitären Kunstformen. Für ihn war das alles der Rückfall in eine romantisierende Fragmentphilosophie. (barsch) Übrigens glaube ich, Lukacs wählt das Hegelsche System auch aus Gründen der Eitelkeit: Erstens mißtraut er zutiefst allen institutionalisierten Philosophien, seit seiner Kindheit hält er grundsätzlich zur Opposition; zweitens hegelianisiert außer seinem Freund Bloch kein anderer weit und breit. Er ist immer Individualist geblieben.

2. Sprecher (kritisch): Sie sind also wie Bloch der Meinung,
Lukacs sei ab dieser Zeit ein ausgekochter Neoklassizist
gewesen, der alles Formzerstörende als dekadent und als
„Falschmünzerei“ bezeichnet!

1. Sprecher (bedeutsam): Wer will es ihm verübeln, daß er
das Klassisch-Universale auch noch in den Himmel hebt?! Das
zeugt doch nur von seiner – wie Sie sagen – konsequenten
Haltung: die Welt als Psychotest!

2. Sprecher (intervenierend): Das geht zu weit! Sie
quacksalbern! (ruhig) Ich werde Ihnen das erklären… Im
Mittelpunkt von Lukacs‘ Heidelberger Kunstphilosophie steht
die Suche nach dem „Begriff“, der die „leer und sinnlos
werdende Wirklichkeit“ zumindest benennen könnte. Doch die
theoretisch-ästhetische Klärung gelingt nicht. Die Ästhetik
scheitert gerade daran: weil in der Wirklichkeit der Sinn
fehlt. Und worin, denken Sie, erblick Lukacs die
Alternativen zur bürgerlichen Welt! (auftrumpfend) In den
gegen den Zarismus gerichteten Bomben der russischen
Anarchisten und in den Werken Dostojewskis, die die bürgerlich-frigide Pseudomoral total negieren. Was, meinen Sie, sollten die Bomben anderes bewirken, als die bestehende gesellschaftliche Formation zu zerstören und wenn möglich in die Luft zu jagen?

1. Sprecher: Das ist purer Extrextremismus!

2. Sprecher (überlegen): Auch als Philosoph kann man extrem
sein. Wir haben ja heute noch die Schriftsteller… Doch
Lukacs geht einen Schritt weiter: Er heiratet!

1. Sprecher (entgeistert): Was! Er heiratet?

2. Sprecher: Eine russische Anarchistin! So ist – unter
solchen Vorzeichen – von vornherein eine bürgerliche Ehe,
wie sie Lukacs fürchtete, nicht möglich. Übrigens ist es Ihr
vielgeliebter bloch, der Lukacs‘ Frau, die Malerin Jelena
Grabenko treffend charakterisiert:

Bloch: Sie war eine aktive Revolutionärin, die während der
Revolution von 1905 in der Ukraine an Bombenattentaten
mitgewirkt hatte. Bei einer dieser Aktionen war zum Beispiel
eine Bombe in einem Kissen versteckt worden, auf dem ein
Baby lag, als deren Mutter sich die Grabenko ausgab; sie
hatte den Auftrag, diese Bombe explodieren zu lassen. Dabei
konnten sowohl das Baby wie auch sie selbst ums Leben
kommen. Dies beeinflußte Lukacs‘ Ethik in durchaus
erotischer Weise.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas, Jelena Grabenko
Die Malerin & Anarchistin Jelena Grabenko, Ehefrau von Georg Lukacs

1. Sprecher: Ein bombenliebender der Hegelianer – Sie müssen
schon entschuldigen, das ist zuviel!

2. Sprecher: Was wollen Sie! Im Grunde ist es doch ein
religiöser Glaube an die spontan-menschliche Veränderbarkeit
der Welt. Ein bodenloser Utopismus, den sich Lukacs über das
intensive Erleben der modernen Literatur erworben hatte.
Denken Sie nur an Rilke, Zola, Kafka, Gorki und an die
Gedichte des Ungarn Endre Ady.

Lukacs: Bei Ady ist von Anfang an jene „Ich lasse mich nicht
kommandieren“-Stimmung vorhanden, die bei mir Hegels Phänomenologie und Logik immer als Begleitmusik untermalt
hat. Auf diese Weise kam eine Mischung zustande, die in der
damaligen Literatur nicht existiert hat, daß jemand als
Hegelianer gleichzeitig einen linken und sogar bis zu einem
gewissen Grad einen revolutionären Standpunkt einnahm.

2. Sprecher: Mit dieser geistigen Verfassung lernt Lukacs
also 1913 in der italienischen Küstenstadt Bellaria Jelena
Grabenko kennen und heiratet sie ein Jahr später in
Heidelberg.

1. Sprecher (zweifelnd): Geht nun diesmal alles gut?

2. Sprecher: Je nachdem, was Sie darunter verstehen. Zwischen den beiden harmoniert es nicht besonders. Bela Balazs, der Lukacs in Italien begleitet hatte, vermerkt in seinem Tagebuch, daß für Lukacs Lena eine „Versuchsstation, eine menschliche Realisierung seiner Probleme und ethischer Imperative“ sei.

1. Sprecher: Die Ehe als „Versuchsstation“, als Exotikum,
als in der Realität nicht existierender Ort anarchisch
vollendeter Freiheit: das passt wieder zu Lukacs – und zu
Hegel! Sehen sie, das Idealische, das Durchgeistigte läßt sich nicht unterkriegen!

2. Sprecher: Da mögen Sie recht haben. In dieser Beziehung ist Lukacs ein Pragmatiker. Eine Heirat nämlich bedeutet für die aristokratisch-intellektuellen Kreise Heidelbergs die erste Stufe bürgerlicher Seriosität. Und da Lukacs Habilitationsabsichten hegt, muß er auf Konventionen achten!
Doch während des Krieges, der auch verhindert, dass er zu
einem „interessant-exentrischen Privatdozenten“ wird,
trennen sie sich. Lena lebt bis zum Kriegsende mit einem
Musiker zusammen, Lukacs bleibt loyal! Er läßt sich erst
nach dem Krieg von ihr scheiden. Eigentlich zeigt seine Ehe
mit ihr nur einen verzweifelten Versuch, nicht nur geistig,
sondern auch im realen Alltagsleben der Bürgerlichkeit zu
entkommen. Seinem Ausspruch: „Das Äußere ist nicht zu ändern – schafft eine neue Welt aus dem Möglichen!“ folgt er als erster.

1. Sprecher: Ist es nicht traurig!?

2. Sprecher: Was?

1. Sprecher: Wie er sich rumquält, wie er sich ernst nimmt, wie er aus jedem theoretischen Gedanken, von dessen Richtigkeit er überzeugt ist, eine praktische Konsequenz zieht …

2. Sprecher (verblüfft): Wieso ist das traurig? Heute ist’s doch viel trauriger, da schon die Sehnsucht nach Substanz verlorengeht und die Jugend nur immer melancholischer wird, selbst nicht wissend, daß es so ist!

1. Sprecher: Da pflichte ich Ihnen bei. Der Himmel ist immer noch geteilt, doch die Hoffnung fiel in die Spalte zwischen den Hälften.

2. Sprecher (betont): Ich würde diese extreme Formulierung nicht unterschreiben. Bei ihrer Bloch-Verehrung und bei dessen Einfluß auf Lukacs. Ich erhebe Bloch nicht zum marxistischen Theoretiker! Er ist für mich ein Künstler, ein Sprachkünstler, mit einer tiefen marxistischen Gesinnung. Seine Schriften sind immer essayistisch geblieben, durchtränkt von einer religiösen Zuversicht in die Zukunft. Er tut nicht den Schritt zur praktischen Politik, während Lukacs immerhin langjähriger Funktionär der Kommunistischen Partei Ungarns gewesen ist. Doch das ist keine Forderung! In unserer Zeit ist Blochs Hoffnungsphilosophie mit ihrem phantasievoll aktivierendem Optimismus sehr wichtig. Die sollten Sie sich zu eigen machen. Die beeindruckt 1913 auch Lukacs. Von beiden ging in Heidelberg die Sage, sie seien Gnostiker. Auf die Frage nach den vier Evangelisten antwortete man damals: Marcus, Matthäus, Lukacs und Bloch! doch zurück zu Lukacs‘ Ehe. Bloch als auch Balazs machen auf jenen Irrtum aufmerksam: Lena Grabenko gleicht nach beider Zeugnis so sehr einer Schöpfung Dostojewskis, daß Lukacs es schwer hat zu begreifen, daß sei keine ist!

1. Sprecher: Vielleicht würde uns eine solche fatamorganisierende Erscheinung auch nicht schaden! Der Hintergrund dafür sind 1914 die antibürgerlichen Moralauffasungen Dostojewskis? Ich kann das gut nachvollziehen, zumal Dostojewski für viele radikale Intellektuelle die einzige Alternative bietet, weil die Analyse seines Lebens und Werks Lösungen verspricht – so schreibt Karl Mannheim bereits 1912 an Lukacs – und auch auch weil Dostojewskis Welt mit ihrer eigenen in hohem Maße verwandt ist, samt all ihren Missständen, Unerfülltheiten und Verzerrungen.

2. Sprecher: Diesen Messianismus überträgt Lukacs in seiner
ersten marxistischen Periode auf die Arbeiterklasse. Für mich ist nur neu, daß seine Hinwendung zur Ethik, die ihn schließlich zur Revolution führt, schon vor dem ersten Weltkrieg beginnt.

1. Sprecher: Ja, noch 1913 hofft Lukacs, der entsetzt ist „vom geistigen Niedergang Deutschlands“, auf ein „Wiedererwachen der deutschen Philosophie und Religiosität“, auf die Gemeinschaft einer „unsichtbaren Kirche“ für das desorientierte, verlassene Individuum. Die ethische Komponente macht deutlich: Lukacs wird zu einem Zoon politikon! Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges treten die ästhetischen Fragestellungen noch mehr in den Hintergrund, und an ihrer Stelle kommt Geschichtsphilosophie.

2. Sprecher: Ich würde so weit gehen und behaupten, daß Lukacs mit Kriegsbeginn das akademische Theoretisieren bleiben läßt und in der „Theorie des Romans“, die das Einleitungskapitel einer nicht fertiggestellten Dostojewski-Monographie bildet, die ganze existierende Gesellschaft als unmenschlich verwirft.

1. Sprecher (stolz): Ist mir bekannt! Mit Fichte charakterisiert er die Gegenwart als eine „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“ und den sie widerspiegelnden Roman als „Epopöe der gottverlassenen Welt“. Darum mißt er der Innerlichkeit eine immer größere Bedeutung bei, aber daß die politische Konsequenz von Lukacs gezogen wird – das scheint mir zu überintepretiert!

2. Sprecher: Natürlich kann in Lukacs‘ Verständnis jeder Mensch für sich das Primat der Seele behaupten. Doch gerade im Krieg wird die Nivellierung des einzelnen in der sich schlachtenden Masse offenkundig, ist eine unentfremdete Lebensform völlig ausgeschlossen, ja erweist sich „die Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, die Inkongruenz von Seele und Tat“, als eigentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft.

1. Sprecher: Und wie steht er zu den verschiedenen politischen Systemen?

2. Sprecher: Lukacs lehnt alle am Krieg beteiligten Staaten mit ihren verschiedenen Systemen als unmoralisch und wertzerstörend ab: das zaristisch-absolutistische Russland, die westlichen Demokratien Frankreichs und Englands, die Monarchien der Hohenzollern und Habsburger.

Lukacs: Es ist eine Todsünde an den Geist, was das deutsche Denken seit Hegel erfüllt: jede Macht mit metaphysischer
Weihe zu versehen. Eine metaphysische Realität besitzt aber
nur die Seele, nicht der Staat. Und hier muß – um die Seele
zu retten – gerade die Seele geopfert werden: Man muß, aus
einer mystischen Ethik heraus, zum grausamen Realpolitiker
werden und das absolute Gebot, das „Du sollst nicht töten“,
verletzen. Aber im letzten Wesenskern ist es ein uraltes
Problem, das vielleicht Hebbels Judith am schärfsten
ausspricht: „Und wenn Gott zwischen mich und meine Tat eine
Sünde stellen würde, was bin ich, das ich mich ihr entziehen
dürfte?“ Nur die Situation ist neu, und die Menschen sind neu.

1. Sprecher (beeindruckt): Vom Haß gegen die Heuchelei des
bourgeoisen Elternhauses bis zum Haß gegen alle bürgerliche
Staatsformen: Es war mühsam erlebte Erkenntnis. Lukacs ist,
da er das 1915 schreibt, dreißig Jahre alt. Und er ist in
seiner politischen Anschauung radikalisiert. Ich verstehe,
wenn Sie sagen, daß die Oktoberrevolution jenen Ausweg aus
dieser alternativlosen Welt bedeutete.

2. Sprecher: Den Übergang zum Kommunismus vollzieht er theoretisch im Herbst 1918 mit der kleinen Studie „Taktik
und Ethik“, die auch mit dem Hebbel-Zitat endet und die
moralische Rechtfertigung für die revolutionäre Gewalt
beinhaltet! Auch in diesem Fall folgt der theoretischen
Versicherung der praktische Beitritt zur Kommunistischen Partei Ungarns im Dezember 1918, einen Monat nach deren Konstituierung.

1. Sprecher: Ja, weil Lukacs‘ Kommunismusauffassung durch und durch idealistisch geprägt ist, und wie Bloch richtig bemerkt, bedeutet die Oktoberrevolution für Lukacs eine Erfüllung im theologischen Sinn – er findet endlich das Zuhause, das lang ersehnte. Der wahre Christus führt die Revolution an – wie in Alexander Blocks Poem „Die Zwölf“…

2. Sprecher: Die Wende zur kommunistischen Theorie ist noch ganz anders heilsam. Sie haben zwar den permanenten Widerspruch zwischen einer eher konservativen Lebensphilosophie und einer linkstragischen Weltanschauung angedeutet, aber nicht ausgesprochen. Dieser Widerspruch wird nun aufgelöst: anstelle der „rechten Erkenntnistheorie“ tritt der Marxismus.

1. Sprecher: Ja, das meinte ich, die psychotherapeutische Heilwirkung. Doch sagen Sie, kommt dieser Schritt im Dezember 1918 nicht auch etwas unvermittelt?

2. Sprecher: Mir scheint er eher logisch. Auch die drei Jahre unmittelbar davor bereiten den Entschluss Lukacs‘ vor. Er muß vom Herbst 1915 bis zum Sommer 1916 nach Ungarn zurückkehren und kann, trotz eines ärztlichen Attestes vom Psychologen Karl Jaspers, seine Befreiung vom Militärdienst nicht verlängern. Er dient als Hilfssoldat bei der Briefzensur, nachdem der Einfluß des Vaters Schlimmeres verhindert hatte. In dieser Zeit tritt er sich im Hause Balazs‘ jeden Sonntag mit Karl Mannheim, Emma Ritook, Arnold Hauser und anderen, um über Literatur, Philosophie und Religion zu sprechen.

1. Sprecher (einfallend): Der berühmte „Sonntagskreis“, der
von fünfzehn bis drei Uhr morgens tagte. Arnold Hauser macht
darauf aufmerksam, daß zehn von zwölf Stunden Lukacs sprach
und daß Politik kaum eine große Rolle spielte. Die Basis des
Kreises bildete wohl die Kriegsgegnerschaft. Wenn man die
unpolitische Haltung dieses eher pazifistischen Kreises
bedenkt, verblüfft der Schritt zur KP noch mehr.

2. Sprecher: Der abgrundtiefe Haß macht, daß Pazifismus nicht zum Problem wird, nicht zu einer neuen Sackgasse in einer ausweglosen Welt. Zudem wird seine politische linke Ethik radikalisiert; er liest Rosa Luxemburgs Schriften und lernt über Ervin Szabo, den marxistischen Führer der linken Sozialdemokratie, die Theorie der französischen Syndikalisten kennen.

1. Sprecher: Ach, Sorel muß ihm sehr entsprochen haben: seine Unerbittlichkeit gegenüber jedem Opportunismus und auch die Mystifizierung der „Partei“ … Dann konnte er ja in der Revolution die Verwirklichung seiner inneren Vision sehen!

2. Sprecher: Doch zu diesem Entschluss bedurfte es noch des Anstoßes einer Frau.

1. Sprecher: Hat er nicht genug von ihnen?

2. Sprecher (bedeutsam): Jetzt sind es doch Lebensentscheidungen und keine Experimente mehr! Der Partei und der neuen Frau bleibt er bis zu seinem Lebensende treu!

1. Sprecher: Soso!

2. Sprecher: Die Liebe fürs Leben ist Gertrud Bortstieber, die später bekannte Marxistin und Nationalökonomin, die für Lukacs eine Art „Weltidee im Weibe“ repräsentiert!

1. Sprecher: Was meinen Sie denn damit?

2. Sprecher: Gertrud Bortstieber, die inzwischen mit einem
Mathematiker verheiratet ist und zwei Kinder hat, kennt
Lukacs seit seiner frühen Kindheit. Schon 1906 schreibt sie ihm einen Brief, wo sie das nur freundschaftliche Stadium ihrer Beziehung bedauert.

Bortstieber: Ihre Gedanken habe ich ohne jeglichen Widerstand aufgenommen – kritisieren will ich nicht, halte mich auch nicht kompetent genug dazu, und schließlich wünschen Sie ja auch nicht das, sondern nur, daß ich „aufnahmebereit“ lese. Diese Rolle übernehme ich jederzeit gerne, wann immer Sie einen Leser brauchen, stehe ich Ihnen mit größtem Vergnügen zur Verfügung. Ich bedaure sehr, daß ich kaum eine Gegenleistung von Ihnen werde erbitten können.

1. Specher (amüsiert): Gut, das überzeugt mich. Und sie rät
ihm, in die Partei einzutreten?

2. Sprecher: So ist’s! Und er widmet ihr das geistige Produkt dieses Umwandlungsprozesses, sein Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Wie er zuvor „Die Seele und die Formen“ Irma Seidler sowie „Die Theorie des Romans“ Jelena Grabenko widmete.

1. Sprecher (bewundernd): Für jede Etappe seines Lebens ein
Buch und eine Frau – wahrlich, da kann man wirklich von „gelebten Denken“ sprechen!

Lukacs: Ich weiß nicht, ob ohne Gertrud die innere Umwandlung meines Denkens zwischen 1917 und 1919 verwirklichbar gewesen wäre. Nicht nur, weil jetzt – zum ersten Mal  im Leben – weltanschauliche Entscheidung = Änderung der ganzen Lebensweise, sondern zugleich als Weltanschauung Alternativen ganz anderer Art.

Georg Lukacs, Asteris Kutulas
Gertrud Bortstieber, zweite Ehefrau von Georg Lukacs

1. Sprecher: Und so wird der Sohn eines der reichsten Bankiers Ungarns, eben dieser Georg von Lukacs, über Nacht zu einem der wichtigsten Organisatoren der Ungarischen Revolution von 1919?

2. Sprecher: Ja, bereits im Januar 1919, einen Monat nach seinem Beitritt zur KP, wird er in das sogenannte „zweite Zentralkomitee“ kooptiert und nach Ausrufung der Ungarischen Räterepublik im März ist er stellvertretender, ab dem Sommer allein verantwortlicher Volkskommissar für Unterrichtswesen und Politkommissar der 5. Roten Division an der Front gegen die Armeen der Entente. In dieser Funktion läßt Lukacs sechs Soldaten erschießen, da sie beim ersten Feuer der Schlacht davonlaufen. Hier merken Sie sehr deutlich jene Ernsthaftigkeit, auf die ich hindeutete.

1. Sprecher: Sie haben mich überzeugt, besser gesagt, Ihr Nachvollzug von Lukacs‘ Beharrlichkeit hat mich überzeugt … Außerdem denke ich, daß dieser Widerspruch zwischen aristokratisch-bürgerlicher Herkunft und revolutionärer Gesinnung sich als fruchtbare Quelle für die Produktion eines ganzen Lebens erweist!

2. Sprecher: Ja, diese Antinomie fiel schon damals auf, z.B. dem englischen Korrespondenten von der Front im Sommer 1919:

Korrespondent: Lukacs geht in einer Lederjacke umher, ein ernsthafter kleiner Professor, sehr gebildet und intelligent, liebenswürdig und humorvoll, seine plötzliche Umwandlung amüsiert ihn riesig. Aber auch er kämpft mit, geht mit den Soldaten in die Schlacht.

1. Sprecher: Verblüffend! Aktivismus ist nun nicht mehr Anarchie, es ist verwirklichte Sehnsucht? Wär’s nur heute auch möglich – im Zeitalter der Fernziele und Sternenkriege! Aber bedenkt man, was noch folgt in Lukacs‘ Leben, findet der Spruch „Ende gut, alles gut“ keine rechte Anwendung!

2. Sprecher: Völlig richtig, jetzt fängts erst richtig an – das, was er selbst später als Lebenswerk gelten lassen wird!

1. Sprecher: Und was wird man von unserem Gesagten gelten lassen? …(zitierend) „Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen“!

2. Sprecher: Resignieren Sie nicht, auch wenn die Zeit danach sein sollte – Rilke schrieb sich heraus aus den Verzweiflungen seiner Zeit. Uns beiden aber wird bleiben: das ernsthafte, oft ausweglose Suchen nach der persönlichen Wahrheit, nach einer unentfremdeten Seinstotalität. Vielleicht ist gerade dieses Suchen die neue Substanz, der neue Widerhall in diesem so abgedroschen klingenden Satz:

Lukacs: Die Weltanschauung ist ein tiefes persönliches Erlebnis des einzelnen Menschen, ein höchst charakteristischer Ausdruck seines inneren Wesens, und sie widerspiegelt gleichzeitig bedeutsam die allgemeinen Probleme der Epoche.

© Asteris Kutulas, 1984-85

(Erstveröffentlichung: Zeitschrift Temperamente, 4/1985)

*** *** ***

Nachtrag

Als Georg Lukács im Januar 1919 ins „zweite Zentralkomitee“ der Kommunistischen Partei Ungarns (nach der Verhaftung der Mitglieder des „ersten Zentralkomitees“ unter Bela Kun) berufen wurde, war er gerade erst seit einem Monat Mitglied der Arbeiterpartei. Der adlige Sohn der reichsten Bankiers Ungarns und einer der bekanntesten bürgerlich-liberalen Philosophen nahm schon drei Monate später den Posten des Volkskommissars für Kultur und Unterricht in der Ungarischen Räterepublik an und beteiligte sich als Politkommissar bei der militärischen Verteidigung der Revolution gegen die Entente.

Der feine Widerspruch, der sich in gewisser Weise als fruchtbare Antinomie erwies, und für die uns bekannte literarische Produktion seines ganzen weiteren Lebens reichte, fiel damals schon auf: „Er geht in einer Lederjacke umher, ein ernsthafter kleiner Professor, sehr gebildet und intelligent, liebenswürdig und humorvoll – seine plötzliche Umwandlung amüsiert ihn riesig … Aber auch er kämpft mit, geht mit den Soldaten in die Schlacht … ‚Wir stehen im Krieg’, sagte Lukács, als ich wegen der Erschießung von sechs Mann aus jener ersten Kompanie protestierte, die ‚beim ersten Feuer einfach davonliefen’. ‚Im Krieg müssen Deserteure und Verräter erschossen werden. Wenn nicht, gut, dann lassen wir einfach die Tschechen herein, und die Revolution ist vorbei.’“ (LiB,103) Verblüffend sind Worte und Haltung eines Menschen, der bis dahin stets abseits von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und politischen Fragestellungen stand und den nach eigener Aussage nur der Erste Weltkrieg daran gehindert hatte, „ein ‚interessant’-exzentrischer Privatdozent“ in Heidelberg zu werden, also im damaligen Zentrum des süddeutschen Neukantianismus, der – Nietzsche, Freud, Dilthey etc. verinnerlichend –, versuchte, durch Vereinnahmung des Marxismus oder dessen Ablehnung gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln, die dem kapitalistischen System eine theoretische Lebensbasis bieten sollten. (Das ist natürlich relativ zu sehen, wenn man die doch divergierenden Anschauungen von Lask, Weber, Windelband, Rickert, George, Gundolf etc. betrachtet.)

Dass Lukács’ Reaktion auf den 1. Weltkrieg im Gegensatz zu jener der Mehrzahl deutscher Intellektueller stand, die den Weltkrieg vorbehaltlos begrüßten und in ihm oft als Freiwillige dienten, zeigte sich in seiner moralisierenden Ablehnung des Kriegs, etwa in einem Brief vom April 1915 an den Freund und Schriftsteller Paul Ernst: „Die Macht der Gebilde scheint in stetigerem Zunehmen zu sein als das wirklich Seiende. Aber – dies ist für mich das Kriegserlebnis – wir dürfen das nicht zugeben. Wir müssen immer wieder betonen, dass das einzige Essentielle doch nur wir sind, unsere SEELE.“ Lukács’ Ablehnung des „Moloch(s) des Militarismus“ (B,358) ist eine absolut theoretische, darum aber auch so elementare: sie behauptet die Autonomie des Individuums, die Autonomie der Seele gegenüber einer Kriege gebärenden Gesellschaft.

Umso verblüffender dann die Wandlung: von diesem quasi pazifistischen Standpunkt hin zu einem, der eine auch bewaffnete Teilnahme an der Räterepublik-Regierung für akzeptabel hält in eine auch bewaffnete Teilnahme an der Räterepublik-Regierung. Die Metamorphose der Gesinnung vollzog sich bei Lukács jedoch nicht radikal, sie war in seinem früheren Denken angelegt: viele ästhetische und philosophische Diskurse aus seiner Jugendzeit beschäftigten ihn auch unter den veränderten weltanschaulichen Prämissen sein ganzes Leben lang.

Letztendlich führte die Analyse der „Frage der Gewalt“ in der Geschichte Lukács dazu, dass er sich der Kommunistischen Partei anschloss; zeigte sie doch, „dass die Theorie in den Köpfen der Menschen nicht genau das Gleiche bedeutet wie die Praxis“ (LiB,83). Das war eine wesentliche Erfahrung, die er auch in seiner Tätigkeit als Volkskommissar für Kultur und Unterricht machen konnte. In der Zeit der Räterepublik von März bis August 1919 reformierte die Kulturpolitik der Kommunistischen Partei – die von Lukács entscheidend mitgeprägt wurde – das kulturelle Leben Ungarns grundlegend. Das musikalische Direktorium leiteten Béla Bartók, Ernö Dohnànyi und Zoltàn Kodàly, im Schriftstellerdirektorium arbeiteten u.a. Babits, Kassak und Dery mit, auf dem Gebiet der bildenden Kunst wurde eine Sozialisierung von Kunstwerken organisiert, sämtliche wichtigen Positionen im Universitätsbetrieb wurden durch führende Repräsentanten der radikalen Lehrer-Gewerkschaftsbewegung neu besetzt.

Ähnlich Lenins Kampf (natürlich aus anderen Positionen heraus) gegen den „destruktiven Proletkult“, bekämpfte auch Lukàcs z.B. von Kassaks Streben, „der offizielle Hofdichter des Kommunismus“ zu sein. In der Zeitung Vöros Ujság erschien am 19.4.1919 der Artikel „Zur Aufklärung“, der seine Position klar umreißt: „Das kommunistische Kulturprogramm unterscheidet nur zwischen guter und schlechter Literatur und ist keineswegs bereit, Shakespeare oder Goethe unter der Devise zu verwerfen, dass sie keine sozialistischen Schriftsteller waren. Es ist aber ebenso wenig bereit, unter dem Vorwand des Sozialismus den Dilettantismus auf die Kunst loszulassen … Das Volkskommissariat für Unterricht will keine offizielle Kunst, aber auch nicht die Diktatur der Parteikunst. Der politische Gesichtspunkt wird noch lange ein selektierender bleiben, kann aber die Richtung der literarischen Produktion nicht vorschreiben. Er soll nur Filter, nicht aber Quelle sein.“ (LiB,98) Voilà, die Geschichte kann beginnen.

© Asteris Kutulas, 1986

„Kassandra“ von Christa Wolf (Tagebücher)

Christa Wolf. Die für mich interessanteste und spannendste Schriftstellerin der DDR, diesem Niemandsland der Hoffnung. Christa Wolf hat mich lange verfolgt, noch vehementer dann als „Kassandra“. Ein Flirren zwischen Heimat und  Lifestyle. Rockmusik in meiner Seele. In meinem Kopf ein Widerhall von Gesprächsfetzen bei ihr zu Hause und einmal auch in Tübingen. Das Blubbern des Bluts in den Adern. Und sie verhalf mir zu meiner damaligen realsozialistischen Einsicht Ende der siebziger Jahre: Der Himmel ist immer noch geteilt, aber die Freiheit fiel in die Spalte zwischen den Hälften …

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„Nur wer Konflikte kennt, hat etwas zu erzählen“ – Tagebucheintragungen zur Kassandra von Christa Wolf

16.02.84, Berlin, Cafe Friedrichstraße

Gestern beschäftigte ich mich in der Staatsbibliothek vorwiegend mit der Real-Enzyklopädie: Tauris, Artemis etc., äußerst interessante Feststellungen gemacht. Besonders eine: die Verschmelzung der arkadisch-lakonischen Festlandsreligion von einer Artemis, die fraulich-mütterlichen Charakter besaß (Schutz für Geburt, Jugend etc.), mit der Letoidenreligion des ionischen Kleinasiens (besonders jener der Insel Delos), wonach die zwei Letokinder mehr der Seefahrerideologie zugewandt waren, also Kriegs- und Handelsgötter darstellten. Resultat: Heterogenität bei Homer (Zunahme des Begriffs der Jungfräulichkeit). Auch Verschiebung von der Vorstellung der Artemis als Gattin des Zeus (die ihn eigentlich beherrschte: Matriarchat) zur Schwester des Apoll und Tochter des Zeus (patriarchalische Machtverschiebung). Nebenbei festgestellt: Fehler Goethes mit Tauris; Stadt/Insel in der Adria …

Während der Mythos in den letzten 2000 Jahren überhöht und immer als solcher „symbolisiert“ und „allegorisiert“ verwendet wurde (auch bei Brecht, den Franzosen etc.), ist jetzt mit Peter Weiss, Christa Wolf und natürlich bei Jannis Ritsos eine Tendenz – nicht nur zur „Entmythologisierung“, sondern zu einer Verpflanzung in alltägliche heutige Konstellationen festzustellen. Die „Brisanz“ besteht in einer neuen Sicht auf diese Dinge; nicht aber in der platten Analogie. Natürlich gewinnt dieser Vorgang durch die tausendjährige Verfremdung eine neue Art von Symbolik: dass der Sprung aus dem Tierreich noch nicht geschafft sei. Die Denkmuster seien noch gleich. Christa Wolf schreibt: „Mein Anliegen bei der Kassandra-Figur: Rückführung aus dem Mythos in die (gedachten) sozialen und historischen Koordinaten.“ (142) Beim Lesen das Gefühl, Christa Wolf decke sich zu sehr mit Kassandra: „Man darf Kassandra nicht glauben, das ist ein Gesetz, solange man nichts, vor allem nicht sich selbst, verändern kann.“ (140)

„Das Troja, das mir vor Augen steht, ist – viel eher als eine rückgewandte Beschreibung – ein Modell für eine Art von Utopie.“ (108) Also, ein neues „matriarchalisches Gesellschaftskonzept“ als sozialistische Utopie? „Mir ist bewusst, dass mein Rückgriff in eine weit, ur-weit zurückliegende Vergangenheit (der beinahe schon wieder zum Vor-Griff wird) auch ein Mittel gegen diese unauflösbare Trauer ist, die Flucht zurück als eine Flucht nach vorn. Eigenartige Selbstbeobachtung, dass die Einsicht, Menschen und Verhältnisse seien in dreitausend Jahren nicht sehr weit aus sich und über sich hinausgelangt, eher in Gelassenheit mündet als in Hoffnungslosigkeit.“ (94) Interessant, wenn „Terracottafiguren … das Gefühl vermitteln, dass es im Grunde die gleichen Menschen waren, wie wir es sind …“ (75) „Sind wir nicht jenseits aller Verkündigungen und Prophezeihungen, also jenseits der Tragödie?“ (37)

Prophetenglaube ist, denke ich, größtenteils Glaube an die Kraft des Wortes … Die Zentrierung um den Logos, das Wort als Fetisch – vielleicht der tiefste Glaube des Abendlandes, jedenfalls der, dem ich in inbrünstig anhänge.“ (23)

Christa Wolfs Programm: „ … die Fragen [zu stellen; A.K.], die Kassandra aus Mythos und Literatur herauslösen können“. (23)

Wie ein roter Faden durch das ganze Buch: Problem der Alternative. Denn: „… es wächst das Bewußtsein der Unangemessenheit von Worten, vor den Erscheinungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben“. (110) „In Troja aber, das glaube ich sicher, waren die Leute nicht anders, als wir es sind. Ihre Götter sind unsere Götter, die falschen. Nur sind unsere Mittel nicht ihre Mittel gewesen.“ (122) Die DDR als ein mythologisch gewandetes Troja.

21.2.84, Cafe Friedrichstraße

Weiter bei Christa Wolf: „Kassandra erfährt bis auf den Grund, was es heißt, zum Objekt fremder Zwecke gemacht zu werden. Zunehmend entzieht sie sich dann dem Dienst an den Ihren, der sozialen Maschinerie, in die sie eingebaut ist … Ihre innere Geschichte: Das Ringen um Autonomie“ (151). Für Wolf ganz wichtig: „Alternativen“ & „Autonomie“. Das Herauslösen aus der realsozialistischen Wirklichkeit und der Glaube, dass es auch „anders“ geht.

Und sie wird deutlicher: „Zu zeigen, wie die historische Kassandra, von der ich ausgehe, und ihre historische Umgebung durch Ritual, Kult, Glauben und Mythos gelenkt werden, während für uns das gesamte Material „mythisch“ ist … Ich sehe sie nüchterner, sogar mit Ironie u. Humor. Durchschaue sie. Dann stürzte ihre Umgebung auf mich ein: ihre Freundinnen, ihre Familie. Ich muss sie ja kennen. Stelle fest: Ich „kenne“ sie, schon lange. Immer mehr Abstraktionen füllen sich mit Fleisch u. Blut, mit Gesichtern, Gesten.“ (152)

Dann der Sprung: „Schlüsselerzählung“ statt „Lehrstück“ (152)

Ich glaube nicht, daß Wolf wirklich interessiert, wie „Kassandra war, bevor andere über sie schrieben“. Das Buch, das ich lese, erzählt etwas anderes: Eine Frau spricht sich aus, die nichts mit dem „dunklen Jahrhundert“ von vor 3.000 Jahren, wohl aber alles mit Christa Wolf Anfang der 80er Jahre zu tun hat.

Gespaltenheit [Schein, Ideal/Wirklichkeit] … Pathos / Alternative … Aineias, Resultat: Beischlaf.

27.2.84

„Kassandra“ ausgelesen. Ein atemberaubendes Buch, emotional packend dazu, das mich sprachlos macht. Mein Inneres vibrierend zwischen Lobeshymnen und Ablehnung. Ein unverschämt gutes Werk ….

21.08.84, im Flugzeug nach Athen

„Kassandra“ (Vorlesung + Erzählung) läßt mir keine Ruhe: Irgendwie okkupiert Wolf durch ihren genialen Wurf die ganze Antike, sie läßt „mir“ keinen Raum. Sie ist gerade „in“ – in beiden deutschen Staaten, sie tritt eine gewissen Nachfolge in den permanenten Mode-Welten an, die von Kritik und kleinbürgerlich-moralistischen Befindlichkeiten getragen werden. Vielleicht ohne es zu wollen, schafft sie mit der „Kassandra“ eine programmatische („Schlüssel“-)Erzählung und wirkt dadurch wie ein Dogma. Besonders in den Vorlesungen wird dieser Allein-Anspruch deutlich: Wenn man ideologisch und patriarchalisch nicht infiziert sei, müsse man ja die Antike so verstehen wie sie: als reale Geschichte doch (vertane) Chance, in einer von Frauen (weiblich) regierten Welt friedlich, harmonisch und naturverbunden zu leben. Das, was mich dabei am meister verblüfft, ist ihr niemals revidierter Anspruch, über jene Kassandra zu schreiben, die jeglicher interpretatorischer Sicht entbehren soll, also über die historische Kassandra, „so, wie sie wirklich war, bevor man über sie schrieb“. Völlig klar jedoch ist, dass sie nur über eine Kassandra von 1981/82 schreiben konnte. In diesem schizophrenen Widerspruch liegt das Konfliktpotential des Buches …. die Beschlagnahme der Antike. Immerhin. Unter der Haut, was die historische Alternative als auch diese psychologisierende Verschiebung betrifft, wird unhistorisches Denken befördert. Walter Benjamin läßt grüßen.

Bei alldem interessiert mich persönlich allein die Frage: Wie kann ich heute über „Delfi“ schreiben? Natürlich ist die Ausgangslage anders als für Einen, der das Land der Griechen mit der Seele suchen und finden muss. Die Hervorhebung jener existenziellen Bezüge stehen für mich an erster Stelle. Jenes immer mehr in die Vergangenheit-Fliehen von Wolf in die Romantik, die Vor-Antike, jenes auf metaphorische Weise Bewältigen von aktuellen Problemen sind für mich nicht relevant. Was aber dann?

22.08.84, Athen, Akropolis

Auch die Ermordung der zwei Kinder durch Medea als Rache gegenüber ihrem Mann ist nur als Verzweiflungsakt einer einst über den Mann herrschenden Frau zu verstehen. Allein aus dieser Macht-Agonie heraus ist die Schlachtung zu verstehen, in ihrer Brutalität viel elementarer, weil selbstzerstörerischer als jene der Männer. Vielleicht ist die Selbstzerstörung der brutalste Widerstand, der existieren mag.

Bei Christa Wolf manipulatorisch-unhistorisches Herangehen. Beispiel Frauen auf Kreta als direkte Nachfahren Kassandras zu sehen  die vor-antike Verwurzelung im eigenen Verständnis als allgemein-gültiges anzuerkennen … Wo bleibt die byzantinische Traditionswurzel, wo die besondere Rolle des Christentums und der orthodoxen Kirche, wo (aber und vor allem) die 400jährige osmanische Herrschaft? Die direkte Beziehung ist so konstruiert und auch als Modellfall nicht anzunehmen. Das eigentliche Problem beginnt allerdings erst dort, wo sie all das nicht als Kunst, sondern als Vorlesung mit wissenschaftlichem Anspruch, der klar ausgesprochen wird, postuliert. Da wird’s spekulativ.

03.05.86, Zug Berlin-Greifwald

zu Christa Wolf

  • auf der einen Seite geht es immer um das eigene Verständnis der Vergangenheit … abhängig von der Gegenwart und von der Persönlichkeit des Schriftstellers (siehe Goethes „falsches Verständnis“ von der Antike)
  • auf der anderen um die historische Situation an sich … ihre Durchdringung durch die Wissenschaft, ihre unterschiedliche Interpretation durch die heutigen oder die vergangenen Wissenschaftler

17.05.86, Berlin

Christa Wolf schafft ebenfalls „bürgerliche Verhältnisse“ bzw. sie gelangt zu einer „bürgerlichen Auffassung“ eines Thomas Mann, imprägniert mit Schopenhauers Pessimismus.

  • gegen Blochs Utopie-Konzeption
  • s.a. Problem der Wiederholung … vgl. zu Ritsos!
  • Schluss bei Wolf … Löwentor bei Ritsos

Ich suche vergeblich auch ein nur annäherndes Bild von Griechenland, von dem, das ich kenne, von den Menschen, die ich kenne, in ihren Vorlesungen: vergeblich. Sie war in einem anderen Griechenland, in einem Griechenland mit Wolfschem Sehraster. So ist nun mal Kunst. Ich sollte nicht von einem Apfelverkäufer Birnen verlangen.

Asteris Kutulas, 1986

Bild-Ausschnitt eines Steindrucks von Angela Hampel für die Bizarre-Städte-Edition „ausdrückliche klage aus der inneren immigration“ (1989)

Mythos Rebetiko

Rebetiko Subkultur – Gedanken zu einer alternativen Musikrichtung

I  Der Zeibekiko-Tanz

„1934 sah ich zum erstenmal in meinem Leben echte Zebekes. Sie stiegen in Smyrna aufs Schiff, mit dem ich nach Konstantinopel reisen wollte. Sie trugen die alten Trachten der Zebekes. Einer von ihnen, ein Fünfunddreißigjähriger, sprach etwas Griechisch, und so konnten wir uns unterhalten. Er berichtete voller Bewunderung von einem seiner Kameraden, der so hervorragend tanzen könnte, daß ihm keiner darin nachkomme. Als die Sonne unterging, verließ das Schiff mit Ziel Konstantinopel den Hafen. Und in diesem Augenblick begann besagter junger Mann tatsächlich auf dem Deck zu tanzen. Er war klein und gedrungen, veränderte sich aber sofort bei den ersten Schritten. Er war nicht mehr derselbe. Seine fast wilde Männlichkeit wurde seltsamerweise von etwas wie Demut und Dankbarkeit unterstrichen, einer Dankbarkeit, von der man nicht wußte, wem sie galt. Mir schien es, als danke er voll Ergebenheit einem Gott für das Wunder, das das Leben ist. Der Tanz wurde von einem Tumbeleki begleitet, einer türkischen Trommel, die den magischen 9/8-Takt vorgab. Ich spürte Erotik und Männlichkeit und gleichzeitig den entfernten Hauch des Todes.“

Der Maler Jannis Zaruchis, von dem diese Zeilen stammen, hat in Hunderten von Skizzen und Bildern verschiedene Motive von Zebekiko-Tänzern festgehalten. Für viele griechische Maler, Komponisten und Dichter ging seit den dreißiger Jahren von diesem Tanz und von dieser Musik eine seltsame Faszination aus. Möglich, daß sie im Neid auf solch elementare Wirkung von Kunst wurzelte, möglich auch, daß sie das Erstaunen über diese spontane, noch mitten im 20. Jahrhundert existente Identifikation mit einer Kunstform ausdrückte. Zaruchis verdeutlicht zumindest eine Ursache dieser Faszination: Der Zebekiko-Tanz gilt ihm als Sinnbild, ja als Hervorkehrung des ewigen Kampfes des Menschen gegen den Tod, also gegen sich selbst. Der Tänzer verwandelt sich, ist nicht mehr der, der er vorher war und der er danach wieder sein wird. 
Die Zebekes, über die Zaruchis schrieb, gaben dem Tanz den Namen. So bezeichneten sich die Krieger eines Stamms, der in Kleinasien und Thrakien ansässig war, jedoch nicht die muslimische Religion angenommen hatte. Der Zebekiko, der Kriegstanz dieses Stamms, wurde später, von der griechischen Rebetiko-Kultur assimiliert, zum wichtigsten Tanz der rebetischen Musik. Das rhythmische Kennzeichen des Zebekiko ist der unregelmäßige 9/8-Takt, der durch den überhängenden Schlag Unruhe und Schwermut erzeugt – typisch für die Atmosphäre des Rebetiko. Eines der klassischen Rebetika, das auch textlich zu den interessantesten gehört, ist das Lied „Mondlose Nacht“ des Komponisten Apostolos Kaldaras aus dem Jahre 1947. Der, wie so oft, mehr allegorische Inhalt setzt sich mit der Situation während des griechischen Bürgerkriegs auseinander. Dieser Zebekiko wurde so bekannt, daß er von der griechischen Militärregierung 1947 verboten wurde. 

Es ist mondlose Nacht und die Dunkelheit tief; 
und doch kann der junge Mann nicht schlafen. 
Was wartet er die ganze Nacht, bis der Tag anbricht, 
am schmalen Fenster, durch das Licht in die Zelle fällt? 
Die Tür geht auf, die Tür geht zu, doch doppelt ist das Schloß; 
was hat der Junge nur getan, daß sie ihn ins Gefängnis sperrten? 
Die Tür geht auf, die Tür geht zu, mit lautem Stöhnen; 
ich wollt, ich könnt erfahren, was sein Herz ersehnt.

Rebetiko Subkultur Asteris Kutulas Mikis

II Ursprünge des Rebetiko

Die Ursprünge rebetischer Musik, zu der auch der Zebekiko gehört, verlieren sich im 19. Jahrhundert, in der Zeit nach der Befreiung Griechenlands von türkischer Herrschaft um 1830 und der Konstituierung eines griechischen Nationalstaats. Der erste von den Schutzmächten England, Frankreich und Russland eingesetzte griechische König – Otto I. von Bayern – sorgte dafür, daß sich weder eine selbstbewußte nationale Bourgeoisie entwickeln konnte, noch daß die wichtigsten nationalen Probleme gelöst wurden. Der neue griechische Staat entstand als Mißgeburt mit großen Identitätsproblemen. Die ehemaligen Angehörigen der griechischen Befreiungsarmee, die vorher meist leibeigene Bauern der griechischen und türkischen Großgrundbesitzer waren, hatten die osmanischen Okkupanten nach jahrelangem Kampf zwar besiegt, wurden dafür aber weder mit demokratischen Rechten, noch mit der geforderten bürgerlichen Bodenreform belohnt. Viele von ihnen, genauso wie ehemalige Generäle (wie Makrijannis und Kolokotronis), wurden, weil sie gegen die neuen Machtverhältnisse protestierten, zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, die sie zumeist in den eigens dafür erbauten Gefängnissen der damaligen Haupstadt Nafplion verbüßen mußten. Hier entstanden viele Lieder, die später eine wichtige Quelle für die Rebetika waren. Die Gefangenen begleiteten ihren Gesang mit einem selbstgebauten Instrument, dem Baglamas, einer kleineren Version des Buzukis, das besser unter dem Mantel zu verstecken war und sich sehr leicht anfertigen ließ. 
Markos Vamvakaris, ein klassischer Vertreter des Rebetiko, schrieb 1936 den Zebekiko „Die Gefängnisse hallen wider“ – eine Adaption des Mitte des 19. Jahrhunderts in Nafplion entstandenen Liedes „Es hallt in zwei Gefängnissen wider“ – und stellte sich damit thematisch wie musikalisch bewußt in die Tradition der alten Gefangenenlieder: 

Die Gefängnisse von Nafplion hallen wider. 
Die Glockenschläge hallen auch. 
Bist du eine Mutter und fühlst Schmerz, 
komm eines Tags und besuch mich. 
Komm, bevor sie mich verurteilen, 
weine, daß sie mich freisprechen mögen. 

Zwar wurde der bayerische König 1862 abgesetzt, doch zu einer eigenständigen ökonomischen Politik, die auch zu einer Industrialisierung hätte führen können, kam es nicht. Trotzdem spielte sich das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben, bedingt durch Handel und Seefahrt, zunehmend in der Stadt ab. Große Häfen entstanden, in denen ein reger – auch kultureller – Austausch stattfand. Vor allem mit der griechischen Küste Kleinasiens, die sich natürlich jahrhundertelang die orientalische Kultur einverleibt hatte. Die Rebetiko-Musik entwickelte sich als neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeit einer gerade im Entstehen begriffenen Bevölkerungsschicht, die nicht mehr einer bestimmten und intakten Dorfgemeinschaft angehörte, sondern sich vielmehr aus Entwurzelten zusammensetzte, deren neue Heimat die schnell wachsenden Städte waren. Ihre kulturellen Bedürfnisse wurden in einer Übergangsphase vorwiegend durch orientalische bzw. orientalisierende Musik befriedigt, angefangen beim Tsifteteli, dem Bauchtanz, bis hin zum Zebekiko. Die Assimilation dieser ganzen Kultur durch griechische Sänger und Instrumentalisten erfolgte langsam, konnte aber durch nichts aufgehalten werden, da die neue Musik die Sehnsüchte und Ängste der Matrosen, Händler, Handwerker und vieler verarmter Bauern, die in der Stadt nach Arbeit suchten, am besten auszudrücken vermochte. Etliche von ihnen entschlossen sich, den Ozean zu überqueren und in Amerika ihr Glück zu versuchen. Diese Gastarbeiter machten Aufnahmen von Rebetiko-Liedern und produzierten die ersten Schallplatten mit Rebetiko-Musik. Die Ferne zur Heimat und Schwierigkeiten mit der neuen Umgebung führten zur intensiven Suche nach der eigenen Identität und damit zu einer kulturellen Blüte in Übersee. Ein historisches Dokument ist das Rebetiko-Lied „Schätzchen“, das um 1910 in den USA entstand:

Mein Schätzchen, der Kopf tut mir weh. 
Mein Schätzchen, wo sonst findest du so einen wie mich? 
Was schaust du mich so an, denkst du, ich hab Angst vor dir? 
Ich hab meinen Mantel verloren, ich hab nicht aufgepaßt.

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III Die Rebetiko-Lieder

Dieser bruchstückhafte, banale Inhalt ist für die Anfangsphase des Rebetiko charakteristisch und blieb es, abgesehen von einigen Ausnahmen, bis zu seiner Endphase. Ganz anders als die episch angelegte demotische Dichtung der dörflichen Volkslieder, entwickelte sich die rebetische Musik als textliche und musikalische Improvisationskunst. Bei ihr kam es darauf an, eine momentane Befindlichkeit musikalisch und textlich festzuhalten, wobei melodische Phrasen und eine feste Rhythmik als Grundgerüst natürlich existierten. 
Das Anfang des Jahrhunderts in den kleinasiatischen griechischen Hafenstädten gegründete Cafe-Aman war der Ort, an dem Musiker und zumeist eine Sängerin und eine Tänzerin solche auf festen Metren basierende Improvisationen, oft war es der Bauchtanz, darboten. Diese Musizierweise hatte einen gewissen Einfluß auf die Rebetiko-Musiker, die zunächst – in enger Anlehnung an die orientalische Tradition – ihre Lieder weder in Moll noch in Dur komponierten, sondern türkische Skalen benutzten. Später gelangten sie zu einer Annäherung und Verschmelzung mit den westlichen Dur-Moll-Tonleitern – das eigentlich Interessante an dieser Musik. 
Im Cafe-Aman sang die Sängerin, wenn ihr kein Text mehr einfiel, das Wort „Aman“, das sie solange wiederholte, wie sie brauchte, um sich eine neue Strophe auszudenken. In der späteren Phase des Rebetiko wurde dieser Ausruf, der so viel wie „o weh“ heißt, als feste Floskel in vielen Liedern benutzt. 
Die allmähliche Verschmelzung orientalischer und griechischer, auch demotischer Tradition zur neugriechischen Musikkultur des Rebetiko führte zu einem neuen Klang-Ergebnis, das eine gänzlich neue Tradition begründete und all seine Quellen absorbierte. Das führte dazu, daß die griechischen Rebeten Lieder im orientalischen bzw. anatolischen Stil komponierten und sie als solche auswiesen. Dabei benutzten und verarbeiteten sie das orientalische musikalische Material nach eigenen Kriterien, was sich auf die Instrumentierung als auch auf Melodik und Rhythmik auswirkte. 
Das Moment der Improvisation in der rebetischen Musik, das auch in ihrer Blütezeit als Buzuki-Improvisation (Taximi) die Virtuosität des Solisten zu Beginn des jeweiligen Liedes unter Beweis stellte, gab Anlaß zum Vergleich von Rebetiko und Jazz-Musik. Neben musikalischen Aspekten war es vor allem das soziale Umfeld, in dem diese Musik entstand, das zu diesem Vergleich anregte. 

IV Zur Geschichte des Rebetiko

Nach den Balkankriegen und dem 1. Weltkrieg versuchten das griechische Königshaus und die griechische Oligarchie 1922 in einem Krieg gegen die Türkei, ihre Vorstellungen von einem Groß-Griechenland mit der Hauptstadt Konstantinopel militärisch durchzusetzen. Doch Konstantinopel blieb Istanbul, und die verheerende Niederlage der griechischen Armee gegen die Truppen des Kemal Atatürk 1923 ging als Kleinasiatische Katastrophe in die Geschichte ein. Der folgende Friedensvertrag von Lausanne sah einen Bevölkerungsaustausch vor, in dessen Folge 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien nach Griechenland strömten. Die meisten von ihnen gründeten um Athen neue Siedlungen, die ähnlich den Slums der amerikanischen Großstädte einen Gürtel um das Stadtzentrum bildeten. Die kleinasiatischen Emigranten kamen nicht nur mit ihrer Kultur nach Griechenland, sondern auch mit ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung über die verlorene Heimat. Viele der Entwurzelten – und das kennzeichnet eine ähnliche Situation wie die der ehemals auf Veranlassung des Königs gefangenen Soldaten der Befreiungsarmee 1830, nur betraf es diesmal eine viel größere Schicht der Bevölkerung – griffen nach dem in ihrer ehemaligen Heimat gebräuchlichen Haschisch, um ihre Lage wenigstens für einige Stunden vergessen zu können. Dieses sich mit den Emigranten rasch verbreitende Ritual wurde meist in unterirdischen Tavernen, den Tekedes, vollzogen, die nur Eingeweihten bekannt waren. 
Einer der Raucher hatte ein Buzuki mit, und sobald es ihn, wie es im Jargon hieß, „überkam“, fing er mit einer Improvisation an. War einer der Zuhörer in Stimmung, stand er auf und gab sich einem wiegenden, ja meditativen Tanz hin, was den bislang auf dem Buzuki Improvisierenden veranlassen konnte, ein Lied zu singen, wie etwa Michalis Jenitsaris 1937 seinen klassischen Zebekiko „Ich sah aus wie ein Filou“, in dem die Befindlichkeit des Sängers durch Slang und Interpretationsweise besonders deutlich wird: diese Ihr-könnt-mich-mal-Haltung, gepaart mit einer hintergründigen Verletzlichkeit. 

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V Aussteigerkultur, Drogen und Revolution

„Es war bewundernswert, wie der Tanzende seine Lider mit einer süßen Unterwürfigkeit senkte, was ganz im Gegensatz zu der Kraft seines Körpers stand, denn zur gleichen Zeit trat er mit den Füßen, mit denen er die Erde traktierte, auf etwas Unsichtbares ein, das sich am Boden bewegte. Man hatte den Eindruck, daß, während er dem im Denkmal verewigten Krieger glich, der den Drachen bekämpft, er sich zugleich mit ihm vereinte – nicht aber durch sein unsichtbares Schwert, sondern mit seinem unsichtbaren Glied.“ Der Vergleich mit dem Erzengel Gabriel stammt ebenfalls von dem schon zu Beginn zitierten Maler Jannis Zaruchis. Die Verklärung des Rebetiko hat bei ihm rein künstlerische Gründe: Das erotische Moment, die übersteigerte und gleichzeitig rührselige, vom Schicksal gezeichnete Männlichkeit, war tatsächlich für die Rebetiko-Kultur sehr typisch. Der egoistische, sein Gefühlsleben kultivierende Mann. Doch der „Aussteiger“ offenbart sich nicht nur im Tanz oder beim Singen und Spielen; er mißachtet auch die gesellschaftlichen Normen. Mit Blick auf den Entstehungsprozeß des Rebetiko Mitte der zwanziger Jahre ist er nicht von der Subkultur und der Unterwelt getrennt zu sehen. Totschlag, Raub und andere Delikte waren in der Szene alltäglich, wovon auch viele Lieder berichten. Aber das betraf, sogar in ihrer Anfangsphase, nicht die ganze Rebetiko-Kultur als solche, sondern lediglich eine kleine Schicht der damals ohnehin nur in wenigen Städten bekannten Rebeten. Erstaunlich ist jedoch, daß zu einer Zeit, da in Deutschland Hermann Hesse seinen Steppenwolf von den Alternativen Narkotikum, Musik und meditativer Kult probieren ließ, zu einer Zeit, da in Frankreich eine Gruppe von Künstlern die surreale Revolution über den Umweg des Rausches und Schocks auszulösen suchte, daß also zur selben Zeit in Griechenland eine Gruppe von ungebildeten Leuten ihren blinden Protest gegen die Gesellschaft durch anderes Verhalten, Kleiden, Sprechen und besonders durch die Flucht in den Rausch der Droge und der Musik dokumentierte. Eines der berühmtesten Zebekika von Vasilis Tsitsanis aus dem Jahre 1942 besingt diesen Drang zur Flucht und das gleichzeitige Bewußtsein über die Vergeblichkeit dieses Versuchs. Denn für Tsitsanis, der zusammen mit Vamvakaris die Rebetiko-Musik auf eine neue qualitative Ebene erhob, spielte Drogenkonsum als Lebensinhalt keine Rolle mehr. 

Herr Polizist, schlag mich nicht, ich Armer kann nichts dafür. 
Spiel, Christo, dein Buzuki,/ schlag den Takt; 
sobald mein Hirn benebelt ist,/ beginn den Zebekiko. 
Ich will tanzen in meinem Rausch,/ schön und voller Demut, 
mein Herz ist so schwarz/ vom vielen Leid. 
Spiel, Christo, noch ein Lied;/ schwarze Gedanken hab ich; 
eines Tags werd ich in der Gosse landen,/ wo man mich dann findet.

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VI Markos Vamvakaris & Vassilis Tsitsanis

Ab 1890 stellten staatliche Gesetze den Drogenkonsum unter Strafe, doch wurden diese kaum befolgt. Darum verhägten die Gesetzgeber 1923 wesentlich härtere Strafen. 
Aus der Haschisch-Szene kam auch der bedeutendste Vertreter des Rebetiko, der von der Insel Siros stammende Markos Vamvakaris, der seit Mitte der dreißiger Jahre durch seine rauhe Stimme, seine Kompositionsweise, die Orientalisches mit Griechischem und Europäischem verschmolz, und seine Texte, die den Alltag des einfachen Menschen besangen, zum Begründer des klassischen Rebetiko-Stils wurde. Vamvakaris lebte von 1905 bis 1971. Er begann seine Laufbahn in Athener Haschischkneipen, den Tekedes, die 1936 mit Errichtung der faschistischen Metaxas-Diktatur, schließen mußten. Seine legendären Konzerte gab er von 1936 bis Kriegsbeginn 1940 in einem Athener Vergnügungslokal. In einem seiner berŸhmten Lieder singt er:

Die Kränze deiner Wimpern lassen deine Augen strahlen 
wie Blumen auf den Wiesen.
Deine Lider schlägst du nieder, 
das raubt mir die Vernunft und jeden klaren Gedanken.

Der zweite bedeutende Komponist, der ab 1945 in der Nachfolge von Vamvakaris seinen eigenen Stil herausbildete, war Vasilis Tsitsanis. Von ihm stammt das wohl bekannteste Lied des Rebetiko „Bewölkter Sonntag“. Es hat musikalisch wie inhaltlich eine neue Qualität, die sich zum einen als unbewußte Verarbeitung der gesamten griechischen Musiktradition – konkret eines byzantinischen Hymnus aus der Ostermesse sowie demotischer Motive – und zum andern in der textlichen Auseinandersetzung mit der faschistischen Okkupation Griechenlands im 2. Weltkrieg äußerte.

Bewölkter Sonntag, du bist so wie mein Herz, 
das immerzu bewölkt ist – o Christus und Mutter Gottes. 
Du bist wie der Tag, an dem ich all meine Freude verlor; 
bewölkter Sonntag, du verwundest mein Herz. 
Bist du so verregnet, find ich keine Ruhe; 
du machst mein Leben schwarz, daß ich immer stöhnen muß.

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VII Die Kommerzialisierung des Rebetiko

Mitte der fünfziger Jahre war der Höhepunkt der Rebetiko-Musik überschritten, die dann massiv Einzug in die Vergnügungszentren verschiedener Coleur hielt und besonders von den Massenmedien vermarktet wurde. Es folgte die totale Kommerzialisierung dieser Musik, die durch ständige Nachahmung verflachte und ihre einst kathartische Wirkung, die den Maler Zaruchis so fasziniert hatte, einbüßte. Zum Modeprodukt verkommen, konnte sich das Rebetiko nur durch das Wirken weniger herausragender Persönlichkeiten wie Vamvakaris, Papaioannou, Tsitsanis und einiger anderer weiterhin als authentischer Ausdruck eines Lebensgefühls behaupten. 
Die gesellschaftliche und musikästhetische Anerkennung erfuhr die Rebetiko-Musik allerdings erst durch Manos Hadjidakis und Mikis Theodorakis, die ihre Kompositionen seit Ende der vierziger Jahre immer mehr auf die nationale Tradition und besonders auf das Rebetiko stützten. Doch das wäre schon ein nächstes Kapitel. 

Postskriptum 
Wenn man akzeptieren kann, dass das Lied der Schlüssel zur Seele ist, erscheint der Gedanke nicht so abwegig, dass das Rebetiko den musikalischen Beweis für das ewige Streben des Liedes darstellt, über die Seele schließlich ins Denken des Menschen zu gelangen. Der Ausdruck des Willens nach Selbstlosigkeit, die Sehnsucht nach einer Liebe, die sich nach ungezählten melancholischen Augenaufschlägen erfüllt. Die nach Gegenliebe nicht fragen muss. Was fällt uns ein, wenn wir „Kellerlokal“ hören? Dass sich im Vollrausch der grundlegende Charakter eines Menschen offenbart. Nicht ganz sauber. Nicht ganz astrein. Aber sie alle brauchen Stoff Stoff Stoff. Ein Rebetiko ist ein One-Night-Stand. Es könnte dabei hässlich werden. 

© Asteris Kutulas

Das Phänomen „Rebetiko“ ist für jeden griechischen Intellektuellen ein Thema … Meine Auseinandersetzung mit der griechischen Variante des „Blues“ habe ich in meinem hier oben (in einer gekürzten Fassung) veröffentlichten Essay „Über Rebetika“ festgehalten, der zuerst abgedruckt wurde im Buch: Partitur der Träume. Über Musik und Klänge, konkursbuch Verlag, Tübingen 1990. A.K. 

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Rebetiko Subkultur Asteris Kutulas Mikis Theodorakis
Mikis Theodorakis (Photo © by Asteris Kutulas)

[Mikis Theodorakis hat mir gestattet, seinen kleinen Text von 1984 über das Rebetiko hier abzudrucken, wofür ich ihm sehr danke:]

Mikis Theodorakis: Anmerkungen zum Rebetiko

Das rebetische Lied spielte eine ganz entscheidende Rolle bei der Entwicklung der griechischen Volksmusik. Im Gegensatz zum demotischen Lied, zur Kantate und auch zur bis dahin überlieferten Unterhaltungsmusik suchte das Rebetiko die Befindlichkeit des Volks, des „einfachen Mannes von der Straße“ auszudrücken, die Befindlichkeit von Menschen also, die in der jüngsten griechischen Geschichte der Denkweise eines neuen gesellschaftlichen Systems, dem des Kapitalismus, zu folgen begannen. Dieses System entwickelte sich zunächst in den Hinterhöfen, im Umfeld von Werkstätten und Fabriken, wobei sich zugleich eine neue gesellschaftliche Klasse, das Proletariat, herausbildete. Eine Randgruppe dieser neuen Klasse war das sogenannte Lumpenproletariat, das wegen der mannigfachen Unterdrückungsmechanismen, unter denen es zu leiden hatte, alsbald in Narkotika und damit in der Flucht aus der Wirklichkeit eine Lösung seiner Probleme suchte. Träume aber währen nicht länger als die Wirkung einer Droge, ein Lied, ein Tanz.

Die Musik Anatoliens bot ihrem Wesen nach die damals beste Entsprechung einer von Verzweiflung und Verbitterung beherrschten Stimmung. Mit Buzuki und Baglamas verfügte man über die geeigneten Instrumente, den seelischen Schmerz klanglich zu entäußern; im Chasapiko und vor allem im Zebekiko, dem Tanz der Einsamkeit, fand man den perfekten Ausdruck der Psychologie des Fatalismus. Die Entstehungsorte dieser Musik hatten wir sozusagen vor der Haustür: In Thessaloniki, Anatolien, in Ostmakedonien, Konstantinopel und Smirni lebten Griechen und Türken, existierten das türkische und das griechische Element gleichberechtigt nebeneinander. Wir können davon ausgehen, dass unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Kleinasiatischen Katastrophe alle, die im türkisch geprägten Umfeld lebten, vom Zauber der türkischen Musik angetan, ja davon ergriffen waren. Sicher ist, dass man türkische Lieder hörte, sang, zu ihnen tanzte. Später, in den fünfziger Jahren zeigte sich, dass das türkische Element in der Musik nach wie vor sehr viele ansprach. Und schließlich dominierte irgendwann jene Musik, bei der griechische Instrumentaltechnik und griechische Texte mit türkischen Melodien kombiniert wurden, man alles miteinander verschmolz. Bald schrieben die Instrumentalisten unter dem Einfluss des Türkischen auch erste eigene Lieder, um das, was sie unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen selbst erlebt hatten, künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Was sich darin aussprach, waren die Erfahrungen eben jener oben genannten Randgruppe, des Lumpenproletariats. 

Wie gelang es aber den griechischen Musikern dieser Zeit, anatolische Einflüsse zu verarbeiten und daraus griechische Lieder zu machen? In welchem Maße wurden diese Lieder in den Jahren ihrer Blütezeit (1925-1945) vom griechischen Volk aufgenommen? Wie verhielten sich die Autoren – als Künstler und als Menschen – in der Phase der Okkupation und des nationalen Widerstands? Wenn man diesen Fragen nachgeht, sieht man, dass die Teilnahme am nationalen Widerstand sich deutlich im täglichen Kampf des Volkes um Überleben und Freiheit zeigte und dass sie nicht so sehr eine historische Tat als vielmehr eine moralische und gefühlsmäßige Entscheidung war. 
Wie man weiß, gab es in dieser Phase eine Tendenz der starken Betonung des Griechentums. Vermutlich aber mangelte es damals an ausgeprägten Musikerpersönlichkeiten und an profunder musikalischer und Allgemeinbildung, so dass das Besondere jener Zeit, nämlich das Rebetiko, nicht zum Allgemeingut, dem Volkstümlich-Nationalen, werden konnte. 
Erst mussten Vamvakaris und später Tsitsanis kommen, damit sich das als Rebetiko und dann als neues Volksliedgut etablierte, was zunächst Inspiration durch das neue musikalische Genre bedeutet und was sich dann verbunden hatte mit demotischen, byzantinischen und anderen Elementen, die gleichermaßen musikalischer als auch allgemein gesellschaftlicher Natur waren. Die Schaffung der neuartigen laizistischen Musik liegt also unzweifelhaft im Rebetiko begründet. Und ohne das laizistische Lied wäre andererseits das Rebetiko in der neugriechischen Kunstgeschichte ein Fundament geblieben, auf dem letztendlich doch kein Haus hätte gebaut werden können. 
Genauso lässt sich sagen, dass die neuere volkstümliche Kunstmusik wiederum eine Weiterführung des laizistischen Liedes ist und dieses schließlich als festen Bestandteil in der Geschichte der griechischen Musikentwicklung verankert hat. Dabei wurden allerdings zwei qualitative Sprünge vollzogen: zum einen der der Verbindung der Poesie mit der Volksmusik und zum anderen der der Akzeptanz des Volkslieds als Ausdrucksmittel einer sozialen Bewegung. 

Das ist der Entwicklungsweg, die Entstehungspyramide des griechischen Lieds. Anfang der achtziger Jahre habe ich zum erstenmal anatolische Skalen verwendet. Der Unterschied zwischen mir und den Musikern der zwanziger und dreißiger Jahre besteht darin, dass ich östliches und westliches musikalisches Material zwar ebenfalls nutzte, es aber weiter bearbeitete und dass das Ergebnis schließlich weder östlich noch westlich geprägt, sondern einfach nur griechisch ist. Nicht das Material an sich, sondern die Art und Weise seiner Verwendung ist entscheidend.

Athen, 1984 
© Neu übersetzt ins Deutsche von Asteris & Ina Kutulas, 2008

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Zwei Fragen zum Rebetiko an Mikis Theodorakis 

Asteris Kutulas: Ist es richtig, dass es eine klare Traditionslinie von den „Tropen“ der antiken Musik bis hin zum Rebetiko gibt?

Mikis Theodorakis: Im antiken Griechenland gab es Tropen, sie werden in byzantinischer Zeit übernommen und Echoi genannt, und in der laizistischen Musik erscheinen sie als „Straßen“ (oder Läufe; A.K.). Diese tragen türkische Namen, zum Beispiel Sabah, Kiurdi, Niaved. Hier kann man gut die Beobachtung machen, wie die Türken und Araber die byzantinische Musik aufnahmen, verinnerlichten, ihr türkische Bezeichnungen gaben, bis wir griechische Komponisten die byzantinische Tradition über die türkischen „Straßen“ erneut rezipierten. Die „Straßen“ der laizistischen Musik – zwischen ihr und der Rebetiko-Musik besteht ein großer Unterschied – haben ihren Ursprung in der byzantinischen Musik und besitzen einen vollkommen eigenständigen harmonischen Kosmos.

Kutulas: In welcher Beziehung zur byzantinischen steht die demotische Musik?

Theodorakis: Die antike, byzantinsche, demotische und laizistische Musik beruhen auf den gleichen Tonarten. So entspricht die erste dorische Leiter dem ersten plagalen Echo usw. Wir haben es mit einer viermaligen Metamorphose zu tun. Dabei spielte die Türkei eine Mittlerrolle Die byzantinischen Echoi existierten als Tropen in der westlichen Musik – die Modi der modalen Musik. Die große Revolution in Europa, die durch Bach besiegelt wurde, war der Übergang vom modalen zum tonalen System. In Griechenland hingegen markiert erst das laizistische Lied diesen Übergang vom Modalen zum Tonalen. Vamvakaris und Tsitsanis stützten sich in ihren Liedern auf das modale wie auf das tonale System. Wir, die Griechen von heute, hatten in der Nachfolge von Vamvakaris ein tiefes Bedürfnis nach tonaler Musik. Darum ist auch mein Volksliedschaffen ausgesprochen tonal. In Zentraleuropa verlief diese Entwicklung ähnlich, wobei die Europäer immer noch fast ausschließlich tonale Musik hören. Das war über einen längeren Zeitraum notwendig, um die Phase der Atonalität zu erreichen. Das sind akustische Notwendigkeiten. 
Meine Musik ist sehr stark von modalen Elementen beeinflußt worden, wobei ich das Modale ganz spontan der demotischen Musik entnahm, ohne das Modale der türkischen „Straßen“ zu kennen. Das verwendete ich erst in meinen zuletzt komponierten Liedern, zum Beispiel im Zyklus „Kariotakis“, nachdem ich es wissenschaftlich analysierte. Der Unterschied nämlich ist gewaltig. Die neuen harmonischen Horizonte, die durch die „Straßen “ der laizistischen Musik eröffnet werden, sind sehr groß. Eine Ursache für die erneute Hinwendung zum Rebetiko in Griechenland liegt sicher auch im Zauber des Modalen begründet, den die „Straßen“ in sich bergen.

© Übersetzt von Asteris & Ina Kutulas & Peter Zacher
Text © Asteris Kutulas (Aus einem Interview mit Mikis Theodorakis, 1983)

Rainer Fetting & Trak Wendisch im Interview

Niemandsland DDR – RAINER FETTING und TRAK WENDISCH, befragt von Asteris Kutulas

Rainer Fetting und Trak Wendisch Interview erstveröffentlicht in der TAZ: „Niemandsland DDR. Rainer Fetting und Trak Wendisch befragt von Asteris Kutulas“, in: die tageszeitung, 17.3.1990 (Foto © by Wolfgang Krolow)

Asteris Kutulas: Trak, wann hast Du Fettings Malerei kennengelernt?

Trakia Wendisch: Bilder von Rainer Fetting sah ich zum ersten Mal im Zeitgeist-Katalog, da hab ich sie zum ersten Mal bewußt wahrgenommen. Wir konnten ja damals von hier nur schwer rüber, also ich durfte damals noch gar nicht. Ich bekam bloß den Katalog und hatte zu zwei Leuten sofort eine Beziehung; Clemente hat mich da fasziniert und das Pferd, das Pferdebild ist da von dir, glaube ich, drin gewesen.         

Rainer Fetting: Die Häscher.

Wendisch: Ja, „Die Häscher“, genau … Und das war der Einstieg. Später sah ich dann viele Bilder in verschiedenen Katalogen und „live“ intensiv noch mal in einer Galerie in Helsinki, „Candleman in Subway“. Persönlich kennen wir uns nicht. Wir haben uns das erste Mal gesehen bei meiner Ausstellungseröffnung am Chamissoplatz …

Fetting: Dabei geh ich gar nicht gerne zu Ausstellungseröffnungen, und wenn, dann geh ich gleich wieder raus.          

Wendisch: Wenn man selbst ausstellt, hat man doch ein ganz gutes Gefühl, wenn bei der Eröffnung wenigstens ein paar Leute wegen der Bilder kommen. Vor allem wenn man nicht „Zuhause“ ausstellt, wie jetzt Rainer in der Nationalgalerie Ost … Du machst ’ne Ausstellung im Niemandsland, weißt du, da kommst du irgendwie an und machst ’ne Ausstellung und eigentlich … Na, du stehst im Licht, und dahinter ist alles dunkel. Und da hab ich einfach die Idee gehabt, daß man so’n Umfeld etwas erhellt … daß einfach das Umfeld anfängt zu leben, jetzt, da Rainer Fetting seine erste Ausstellung in der DDR macht.

Bizarre Städte, Trak Wendisch, Asteris Kutulas
Originalcover von Trak Wendisch für Bizarre Städte Band 3, 1988

Kutulas: Rainer, ist die DDR für dich ein Niemandsland? Du kommst und machst eine Ausstellung im „Niemandsland“ Berlin, das vorher sogar geteilt war. Auf einmal ist es nicht mehr geteilt …

Fetting: Ich glaube, das ist auch eine Euphorie, die zur Zeit mitschwingt. Niemand weiß, was kommt. Aber wirklich ein Niemandsland war das für mich vor dieser ganzen Geschichte. Wenn ich früher mal drüben war, hab ich mich sehr unwohl gefühlt. Auch die Kontrolle war immer sehr unangenehm. Und jetzt – durch die wenigen Kontakte, die ich hier hatte, ist mir alles an für sich schon ein bißchen vertraut geworden.

Kutulas: War Berlin für dich vorher Provinz?

Fetting: Fruchtbar und kreativ war die Zeit, als ich nach Berlin kam, als diese Stadt wirklich noch für mich ein Niemandsland war. Ein Abenteuerland, wo man das Gefühl hatte, da könne man noch mitmachen. Damals ging’s ums Überleben, und mein Gefühl entsprach dem Erscheinungsbild der Stadt. Es war tatsächlich eine kreative Zeit, auch weil ich auf Künstler traf, die ähnliche Vorstellungen hatten. Dadurch kam es zu einer euphorischen Stimmung.

Das alles ist dann, als der Erfolg kam, weg gewesen. Da war die Luft raus, und Berlin hat sich für mich immer mehr an Westdeutschland angeglichen. Damals war ich sehr frustriert … Ein Freund regte mich an, mit ihm nach New York zu gehen. Ich wollte eigentlich nach Tel Aviv, weil ich dorthin eingeladen war, bin dann aber nach New York gegangen.

Heute ist Berlin Provinz. Das kocht alles so im eigenen Saft. Aber jetzt kommt der Wind von draußen rein. Jetzt kommen Veränderungen, und dadurch wird’s wieder sehr interessant.

Kutulas: Trak, war für dich Ost-Berlin auch Provinz?

Wendisch: Na ja, in der Ost-Provinz war Ost-Berlin am wenigsten Provinz. Aber die Stadt existierte eher als Fiktion für mich, als Fiktion aus AFN, BfBS und dem französischen Sender France International. Es war immer ein Feeling von Welt da, aber ich hab kulturell eigentlich dann wiederum eher im Berlin der 20er/30er Jahre so in meinem Kopf gelebt. Und ansonsten ist es einfach meine Heimat. Also ich hab mir die Frage nie gestellt. Ich wollte immer wieder zurück dahin, wenn ich irgendwo anders war. Aber diesen Effekt der Bewegung, den empfinde ich ganz genauso. Überhaupt wird Berlin erst jetzt wieder Berlin. Und 30 Jahre war es eigentlich die Erinnerung an Berlin.

Rainer Fetting befragt von Asteris Kutulas
Rainer Fetting, 1990 (Photo © by Asteris Kutulas)

Kutulas: Rainer, warum bist du nach Berlin gegangen?

Fetting: Mein Vater ist Berliner, und so sind wir mit der Familie hin und wieder nach Berlin gefahren.

Nach Berlin gezogen bin ich 1972 und schlug gleichzeitig drei Fliegen mit einer Klappe. Ich entzog mich der Bundeswehr, bestand die Aufnahmeprüfung an der HdK und war aus Wilhelmshaven raus, diesem Kaff.

Dann habe ich „quasi“ bei Professor Jaenisch studiert. Später haben sich dann durch die Professur von Hödicke die Leute getroffen, die die Galerie am Moritzplatz eröffneten.

Kutulas: Ihr habt auch zusammen gearbeitet?

Fetting: Ja, das war eine sehr euphorische Zeit. Wir haben zusammen gefeiert, getrunken, gemalt, aber uns auch bekriegt.

Kutulas: In einer Fernsehsendung über die Ausstellung „Bilderstreit“ haben sich die amerikanischen und die deutschen Malerkollegen – verkürzt gesagt – gegenseitig vorgeworfen, die jeweils anderen könnten eigentlich nicht malen …

Fetting: Was mir auffällt, ist eine ähnlich bestehende Haltung zur Malerei in Amerika wie in der DDR. In Amerika läßt sich das zum einen ablesen aus dem, wer dort als Maler ernst genommen wird und existiert. Zum anderen an der Kritik zur eigenen Arbeit. Das klassische Mißverständnis, daß gute Malerei das ist, was nach viel Arbeit aussieht. So wird mir dort sehr oft vorgeworfen, ich würde luschig malen. Das Gegenteil ist der Fall. Hingegen können Bilder, in denen eine Person „fotografisch genau“ wirkt, sehr unkonzentriert und nichtssagend gemalt sein. Die Möglichkeit von Malerei liegt doch wohl nicht in illustrativer, photoähnlicher Nachbildung oder akademischer Langeweile … Wo ist da die Lust am Bild, an der Malerei? Man hat das Gefühl, daß nur so ’ne Hausaufgabe gemacht wird … Die Amerikaner haben jedenfalls in der Malerei keine Tradition. Da geht ihnen sicherlich etwas ab. Die verstehen was vom Film.

Wendisch: Und das ist, was ich vielleicht am stärksten empfinde. Irgendwie kommen mir die Bilder eher synthetisch vor, nicht authentisch. Ich glaube, man kann dieses Problem nicht auf den Ost/West- oder den Europa/Amerika-Streit und ein pauschales „they can’t paint“ reduzieren. Maler, die nicht malen können, sind überall eine Mehrheit, und kaputtgemacht wird zwar überall auf verschiedene Weise, aber mit dem gleichen Effekt. Im Osten war es fast unmöglich, eine spielerische, lustvolle Arbeitsweise zu haben, weil das Leben unter einem puritanischen Totalitarismus einfach zu selten Spaß machte.

Fetting: Das haben die Amis ja nun nicht. Die sind ja in der Hinsicht frei.

Wendisch: Ja, aber denen fehlt das Mittelalter. Die haben keinen Widerstand gegen den Zwang zur Effizienz.

Fetting: Allerdings scheinen mir viele Künstler in New York unter dem Druck von Erfolg zu stehen. Sie entwickeln einen eigentümlichen Ehrgeiz, der einen künstlichen Erfolg zur Folge hat. Sowas bricht dann irgendwann ein.

Bizarre Städte, Trak Wendisch, Asteris Kutulas
Originalsiebdruck von Trak Wendisch für Bizarre Städte Band 2, 1988

Kutulas: Worin besteht dann für dich das „Eigentliche“ der Malerei. Ist es näher definierbar?

Fetting: Ja. Sich überraschen lassen. Eigentlich mit der Malerei spielen. Nicht Umrisse ausfüllen.

Wendisch: Also ich kenne das ja aus einem ganz knallharten akademischen Studium heraus, was mir die Lust über Jahre genommen hat: dieses Nicht-mehr-überrascht-werden, Sich-nicht-überraschen-lassen-können. Ich male auch erst zwei, drei Jahre mit totaler Lust, obwohl ich schon die ganze Zeit gemalt habe, permanent. Aber diesen Punkt – nicht unbedingt die fünfundzwanzigste Hand malen zu müssen, wenn sie eben aus irgendwelchen Gründen dran ist – dazu mußte ich erst kommen, ihn wiederfinden nach dem Studium. Also nicht einfach ein Blau, mit einem Blau leben zu können, sondern mit einem Himmel leben zu müssen. Und darum dieses Blau nicht einfach dorthin zu machen, wo es hingehört, sondern dort, wo Himmel kommt. Also einfach nicht ein großes Blau, aus einem großen Blau, daraus was zu entwickeln, sondern zu sagen: Hier ist oben, und da ist unten. Das ist eine Denkweise. Ich hab mich mit Heisig bis auf’s Messer darüber gestritten, weil mich diese Stahlhelme und Spruchbänder angekotzt haben, obwohl er ein großes Gefühl für Malerei hat, wenn es zum Beispiel um Graus geht. Es gibt zum Beispiel Graus, die eben toll kommen. Und im Hintergrund manchmal solche Stellen, fantastisch, da möchtest du … Und dann kommt vorn oft irgendeine blöde Geste, die nicht funktioniert. Aber ich bin nicht so schnell fertig mit dem alten Heisig; der ist für mich so eine Vaterfigur, auch wenn ich diese Figur bereits mehrfach ermordet habe.

Rainer Fetting, Matthias Arndt, Asteris Kutulas
Rainer Fetting & Matthias Arndt, 1990 (Photo © by Asteris Kutulas)

Kutulas: Rainer, du hast vorhin einen interessanten Nebensatz gesagt: daß nämlich die Amerikaner im Gegensatz zu ihren DDR-Kollegen frei waren …

Fetting: Na, das DDR-Problem existiert ja für die nicht. Und darum überleg ich mir, was da der Grund sein könnte, daß sie trotzdem ähnliche Auffassungen haben.

So glaube ich, daß der Zwang zum schnellen Erfolg zu Oberflächlichkeit oder auch zu schnellen, akademischen Lösungen führt. Man muß beeindrucken, also bedient man sich der wirkungsvoll erscheinenden Lösung, und das ist im Fall von figurativen Bildern die fotografische oder akademische.

Andy Warhol, der das erkannt hatte, hat hierzu seinen Kommentar mit einem extrem zynischen Beitrag geleistet. Alle, die heute versuchen, ihn nachzumachen, haben das leider nicht erkannt, sondern fallen nur auf das äußere Erscheinungsbild herein.

Allerdings kann man in New York auch seinen Spaß haben, ohne einerseits diesem Erfolgszwang mit an sich langweiliger, nicht kreativer Arbeit nachzukommen oder andererseits dem Zwang zur permanenten Party nachzukommen. Da gibt es auch die Ein-Mann-Party, die geht von unten los. Mit anderen Worten: Der Alltag in New York und die Arbeit sind schon interessant genug. Die Partyhysterie ist doch nur ein Ersatz für mangelnde Kreativität.

Ich muß morgens ausgeschlafen sein und ich brauch Kraft dazu. Das klappt natürlich am besten, wenn ich morgens gleich als erstes male. Im Moment ist es so. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt geworden. Es gab auch Zeiten, als ich nachts gemalt habe.

Kutulas: Wann bist du eigentlich in die Staaten gefahren?

Fetting: Das erste Mal 1978. Und zwar nach New York. Nicht in die Staaten. Ich kenn eigentlich nur New York. Als ich 1978 das Studium beendete, besaß ich kein Geld mehr. Hab überlegt, was ich mache. Da bewarb ich mich für ein Austauschstipendium. New York interessierte mich außerdem, weil ich viele Filme gesehen hatte, die in New York spielten. Das waren Filme von Martin Scorcese wie „Main Streets“ oder „Taxidriver“. Sie spielten in Little Italy von New York, und dort wohnte ich auch am Anfang, gleich neben der Bowery, wo die Penner sind. Sehr deprimierend.

Dann bin ich mit Leuten in eine Wohngemeinschaft gezogen, in Brooklyn, ins Ghetto, wo man in großen Appartements billig wohnen konnte. Später kamen die Schwierigkeiten, da hab ich dann einen Film abgedreht.

Jedenfalls hat mir das gereicht, und ich dachte: Nie wieder New York! Bin dann auch lange nicht hingezogen, auch nicht, als wir alle bekannt wurden und ich bei Mary Boone ausstellte. Und obwohl alle meinten: Komm hierher!, hat es mich nicht mehr interessiert.

Erst als ich in einer privaten Krise war und in einer beruflichen, nämlich nach dem Bruch mit meinem damaligen Galeristen, ging ich wieder nach New York.

Kutulas: Du bist jetzt wieder in Berlin. Oder pendelst du zwischen New York und Berlin?

Fetting: Na ja, ich pendele im allgemeinen nicht. Ich fühl mich immer da wohl, wo ich gerade bin.

Kutulas: Du willst dich nicht entscheiden, in Berlin zu leben …

Fetting: Nein. Ich find die Möglichkeit aber schon gut, mal hier und da rauszukommen. Weil ich eigentlich eher träge bin und gerne da bleibe, wo ich grade bin. Aber auch die Möglichkeit, daß man einen Abstand haben kann zu dem, wo man grade ist, das finde ich sehr vorteilhaft. Das passiert bei mir so: Wenn ich jetzt zum Beispiel hier ausstelle, in Europa, dann bleib ich erstmal hier, bis dann wieder irgendwas in Amerika läuft.

Kutulas: Würdest du auch gern in Ost-Deutschland ausstellen, ich meine jetzt auch in Galerien? 

Fetting: Na, in der Nationalgalerie mach ich das ja. Aber ich möchte im Moment nicht in einer Galerie ausstellen. Ich hab genug Ausgaben im Moment, muß Sachen bezahlen und kann mir nicht leisten, in einer Galerie auszustellen in der Situation. Ich glaub, das bringt auch nichts. Da linkt man sich selber, weil das Zeug sofort rausgetragen werden würde, und die Leute würden dann Geld damit machen, anstatt daß ich Geld damit mache.

Rainer Fetting und Trak Wendisch befragt von Asteris Kutulas
„Niemandsland DDR. Rainer Fetting und Trak Wendisch befragt von Asteris Kutulas“, in: die tageszeitung, 17.3.1990, Foto © by Wolfgang Krolow

Kutulas: Trakia, stellt sich für dich das Problem auch – ob man noch im Osten ausstellen sollte?

Wendisch: Naja, doch das stellt sich schon. Ich hab eigentlich wenig Interesse z.Zt. im Osten was zu machen, weil die Bedingungen nicht sehr gut sind, weil es natürlich kohlemäßig ganz schlecht aussieht. Es gibt keinen Markt, und damit ist das für mich abgeknipst, weil das, was ich jetzt vorhabe an Kunst, das kostet mich erstmal ’ne Menge Geld; wenn ich zum Beispiel zwanzig Figuren gießen lassen will, muß ich erstmal akkumulieren, bevor das läuft, weil die Kosten so hoch sind. Und da bin ich schon ganz klar drauf angewiesen, kommerzielle Ausstellungen zu machen. Und dann kann ich das sehr gut nachvollziehen, was er sagt mit dem: dort sich wohl fühlen, wo man ist. Ich suche eigentlich, um überhaupt rauszukommen aus meinem Umfeld, immer Projekte. Ich komm nur mit Projekten raus. Ich kann nicht irgendwo hinfahren als Tourist. Ich kann nicht so sein. Ich werde verrückt nach zwei Tagen.

Aber Amerika – seit ich ein kleiner Junge bin, sammle ich Amerika in der Hosentasche, die Streichholzschachteln und mit 14 den ersten Dollar aufgehoben. Natürlich will ich nach Amerika. Und das kann ich nur mit ’ner Ausstellung, sonst komm ich nie nach Amerika … komme nie da an.

Kutulas: Trakia, du hast in einem Interview vor kurzem gesagt, daß dir das auf die Nerven geht: diese Deutschen zwischen Gier und Gewalt.

Wendisch: Es gibt eben dieses, was man denkt, fühlt und malt, so abgehoben. Und dann gibt es die Begegnung mit einer Schlange von Menschen, die ansteht, um irgendwas zu erwerben, was sie auf irgend einer anderen Seite zu mehr Geld machen kann und dabei dem Polen die Schnauze einhauen will, weil der auch irgendwas erwerben will, um auf der anderen Seite mehr Geld zu machen. Verstehst du? Die vibrierende Gier der Zukurzgekommenen, die im Moment durch keine Macht unterdrückt werden können und dadurch viel Eigendynamik entwickeln, die mit den von Politikern und Künstlern unterstellten Motiven für den Umsturz kaum noch zu tun hat.

Also insofern: Mich beschäftigen zum ersten Mal auf Bildern Massen. Mich haben immer nur Einzelne interessiert bis jetzt. Und das erste Mal ist für mich Masse unumgänglich geworden in Bildern. Und das meinte ich in dem Interview. Masse plötzlich nicht mehr als geordnete, von Punkt a nach b zu verschiebende, einzusetzende Masse, sondern als vollkommen unkontrollierbares, wahnsinniges Energiepotential. Das paßt gut zusammen mit meiner wachsenden Lust an der Farbe als plastischem Material. Fähig zu Strudeln, Schründen und Abgründen.

Kutulas: Interessiert euch die derzeitige Situation thematisch für eure Bilder? Das Phänomen Mauer ist verschwunden.

Fetting: Das kann ich jetzt nicht sagen, direkt nicht. Das sagt dann die Arbeit.

Wendisch: Das muß man in ein paar Jahren sehn. Man muß sehen, was dabei rauskommt. Ich habe einfach ein besseres Gefühl, als ich vor einem Jahr hatte. Beschreiben kann ich es nur ganz allgemein. Es ist einfach irgendwie was im Gange. Und wenn’s im Untergang ist. Aber es ist im Gange. Und das ist mir einfach sympathisch.

Kutulas: Könnt ihr euch Deutschland eins denken?

Wendisch: Du hast von Europa geredet. Zu Deutschland hast du nicht gefragt.

Kutulas: Ich meine aber, darum geht’s. In Europa geht’s zur Zeit um Deutschland, und zwar fast ausschließlich, würde ich sagen. Und die Frage ist einfach, ob du dir Deutschland eins denken kannst.

Fetting: Na, ich leb in Berlin. Und an Berlin interessiert mich halt, daß das alles offen wird. Wenn ich sagen soll: Deutschland eins, warum auch nicht. Das sind andere Länder ja auch. Obwohl …

© Asteris Kutulas

Das Interview wurde erstveröffentlicht in der TAZ:
„Niemandsland DDR. Rainer Fetting und Trak Wendisch befragt von Asteris Kutulas“, in: die tageszeitung, 17.3.1990
Foto © by Wolfgang Krolow

Danke an Matthias Arndt für die Unterstützung.

Bizarre Städte 1987-89

Bizarre Städte 1987-89 – Ein unmelancholischer Rückblick 20 Jahre später (2008-09)

Das Projekt Bizarre Städte entsprang einem elementaren Freiheitsbedürfnis: sich nämlich nicht von vergreisten, kleinbürgerlichen und ungebildeten Herren vorschreiben zu lassen, was man zu denken, zu lesen, abzubilden und wie man zu leben hat. Die BS waren keine Publikation von oder für Dissidenten, ja, ich würde sagen, nicht mal von Oppositionellen im landläufigen Verständnis, sondern eher Ausdruck eines anarchischen Lebensgefühls gegenüber der uns damals umgebenden kulturellen Wirklichkeit und deren opportunistischer und größtenteils dümmlicher Repräsentanten, die da alle Ebenen des öffentlichen Lebens der DDR abweideten und in einigen Fällen ihre Machtgelüste und/oder ihren Kleingartenfrieden auslebten: Verlagsmenschen, Zeitschriftenredakteure, Kulturfunktionäre, Schallplatten- und Rundfunkproduzenten, Fernsehreporter, Festival- und Konzertveranstalter, Abteilungsleiter, Sekretäre, Jugendklubbetreiber etc. etc.(*) Die meisten von ihnen übten sich in Selbstzensur, zwangen ihre Befindlichkeiten anderen auf, und die Gespräche, Argumentationen und Diskussionen, die da liefen, waren oft dermaßen absurd und abwegig, dass man den Eindruck hatte, da sprachen keine erwachsenen Menschen … (**)

Kreative Frustration – Bizarre Städte 1987-89

Was im Namen des für alle Zeiten staatlich verordneten „wissenschaftlichen Kommunismus“ und der „historisch-materialistischen Dialektik“ dahergesagt, besprochen und vor allem ernst genommen wurde, war der Stoff unserer Albträume und provozierte bei uns eine enorm kreative Frustration. Vor allem die Schutz-Behauptung der dafür verantwortlichen Kulturfunktionäre, es gäbe gar keine guten nicht-veröffentlichten Texte in der DDR, ignorierte eine ganze Generation von Autoren, die seit Ende der siebziger Jahre Publikationsverbot hatten und – eine Gesetzeslücke ausnutzend – in Lyrik-Grafikeditionen, später in selbstverlegten Zeitschriften bis zu 99 Exemplaren ihre Werke publizierten. Das taten auch wir mit den BS, und es war ungemein erfrischend, den Grafiker Horst Hussel während der Arbeit an einem unserer Hefte hin und wieder sagen zu hören: „Frechheit siegt“ oder mich mit Volker Brauns Frage konfrontiert zu sehen: „Warum unterschreibst du dein Vorwort zu den BS eigentlich mit Asteris Kutulas? Unterschreib einfach mit: Ein Neger“.

Bizarre Städte Asteris Kutulas
Bizarre Städte Nr. 23 (1988), Originaleinband von Trak Wendisch

Die Bizarren Städte hatten also nichts mit „Konterrevolution“ oder mit „Untergrund“ zu tun. Das, was wir betrieben, war eher die Durchsetzung der alten Kantschen Lebensmaxime, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass man es zu tun hatte mit einem total pervertierten Sozialismus – denn das wollten wir schon glauben: dass das absolute Postulat der Freiheit im „idealen Kommunismus“ eines Karl Marx nicht nur ein Feigenblatt, sondern dessen Voraussetzung und Ziel war. In dem Koordinatensystem, in dem wir uns damals befanden, schwankten wir also zwischen unserem jugendlichen Hoffen auf eine gerechtere, freiheitlichere Gesellschaft und auf den „Welt-Frieden“ einerseits und dem Er-Leben einer tagtäglich selbstherrlich agierenden und entmündigenden Realität andererseits.

Stasi und Bizarre Städte

Nicht nur die Staatsgewalt in Gestalt zweier Herren der Staatssicherheit – was wir allerdings erwartet hatten – kam auf mich zu, sondern auch Sascha Anderson, der Papst, Mentor und Mäzen der untergründlerischen Prenzlauer-Berg-Szene, der mich aufforderte, meinen „Bizarre-Städte“-Unsinn doch zu lassen. Der direkte Angriff „im Namen der Szene“ kam aber Ende 1988 von Klaus Michael (damals noch „Michael Thulin“), der in einem sehr fragwürdigen Pamphlet die apolitische „Reinheit“ der Szene gegen die „politisierenden“ BS zu verteidigen versuchte. Das war ganz im Sinne von Anderson, der später als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurde, sich zu DDR-Zeiten aber immer mehr zu einem unumstrittenen Herrscher des „Untergrunds“ stilisiert hatte.

Ich fand die „Szene“, zu der ich nicht gehörte und nicht gehören wollte, gut, weil es sie gab, weil sie – neben anderen – ein Hort des selbstbestimmten Denkens und Tuns für einige Künstler, Querköpfe und Hochstapler in der DDR war. Ihr Problem – und möglicherweise ihr Daseinsgrund – bestand darin, dass sie von den verkappten Stasileuten Anderson & Rainer Schedlinski in gewisser Weise kontrolliert und von ambitionierten Schreiberlingen beherrscht wurde, die weder die Courage eines Lutz Rathenow oder die literarische Qualität z.B. von Kathrin Schmidt, Gregor Kunz, Kerstin Hensel besaßen, noch die satirische Kraft eines Steffen Mensching oder Hans-Eckart Wenzel – die allesamt vom Gros der „Szene“ niedergemacht bzw. bespöttelt wurden. Glücklicherweise gab es da die – in meiner Wahrnehmung – isoliert dastehenden Leuchttürme Bert Papenfuß-Gorek, Detlef Opitz, Stefan Döring und ihre Texte, die allerdings die „Szene“ nicht gebraucht hätten, sondern auch aus sich heraus hätten schöpfen können, wie es Reinhard Jirgl, Jan Faktor, Frank Lanzendörfer, Johannes Jansen, Eberhard Häfner u.a. getan hatten, die sich dem arrogant-schwimmeligen Szene-Dunstkreis sukzessive entzogen, oder andere wie Uwe Kolbe oder Durs Grünbein, die gar nicht erst in diesen hineingerieten.

Bizarre Städte Asteris Kutulas
Bizarre Städte Nr. 2 (1988), Originaleinband von Erika Stürmer-Alex

Ich schreibe all das, weil sich die Bizarren Städte seltsamerweise nicht nur im Fadenkreuz staatlicher Ermittlungen, sondern auch im Fadenkreuz der „Szene-Regierung“ befanden, denn Anderson & Schedlinski agierten wie deren Premier- und Propaganda-Minister – dabei nicht nur die politischen, sondern auch und vor allem die geschäftlichen und bilateralen Beziehungen zum Westen regelnd. Diese beiden mal farbschillernderen, mal blasseren Oberhäupter hatten die geistige und teilweise auch faktische Regentschaft über das Erscheinen einiger „Untergrund“-Publikationen in Prenzlauer Berg und anderswo inne und wähnten sich kompetent genug, festlegen zu dürfen, wer in dieser Szene salonfähig war und wer nicht, waren also ebenfalls kleinbürgerlich, wenn auch mit abgetretenen Kelimteppichen und Ledersesseln, khakifarben von Alterspatina, in den Arbeitsräumen und/oder bekleidet mit einer ewigen beuys-kreuz- und -flecken-dekorierten Weste.

Transzendentale Obdachlosigkeit – Bizarre Städte 1987-89

Trotz dieser doppelten „Restriktion“, die unsere Arbeit ständig begleitete, will ich nicht behaupten, dass die Bizarren Städte in gesellschaftlicher oder kultureller Hinsicht „wichtig“ waren, aber sie veränderten immerhin in konstruktiver Weise die persönlichen Produktions- und Dialog-Bedingungen einiger Leute, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigten, und wurden damit zu einem selbstbewussten Ausdruck unserer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ in diesem seltsamen Niemands-Land DDR. Immerhin veröffentlichten wir einige Texte, die sonst keine Chance auf Publikation hatten, wie z.B. Annett Gröschners „Maria im Schnee“, Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee IV“, Matthias „Baader“ Holsts Gedichte oder Frank Lanzendörfers Foto-Text-Collage „Garuna, ich bin“, um nur einige zu nennen. Wir haben aber auch mit unseren Schwerpunkt-Heften Maßstäbe gesetzt und – im Rückblick betrachtet – einige bis dahin anderswo nicht behandelte Themen aufgearbeitet, wie z.B. über das Wirken der Malergruppe „Lücke“ um A.R.Penck und Wolfgang Opitz Anfang der siebziger Jahre oder über die Umweltzerstörung in der DDR, u.a. in dem programmatischen Text von Jurij Koch „Die Schmerzen der auslaufenden Art“. Wer sich zudem unsere beiden Dresden-Editionen anschaut, erhält einen guten Einblick in die „alternative“ Dresdner Literatur- und Malerszene um 1988-89.

Bizarre Städte Asteris Kutulas
Bizarre Städte Nr. 1 (1987), Originaleinband von Horst Hussel

Der andere wichtige Punkt für das Entstehen der Bizarren Städte war die Sehnsucht nach einer Kommunikation, wie es sie im öffentlich-offiziellen Raum der DDR nicht (oder nur verklausuliert) geben konnte. Die Möglichkeiten, die uns dahingehend die BS verschafften, lebten wir wahrlich aus. Das Eigentliche war für uns der Weg, der Produktionsprozess, nicht die Bände an sich, die es ohnehin nur in wenigen Exemplaren gab und die keine Öffentlichkeit herstellen konnten. Wir wollten weder dem elitär gemeinten „Diskurs“ der Szene-„Theoretiker“ folgen, noch ein vormundschaftliches staatsdoktrinäres Denken akzeptieren. Wir versuchten, uns außerhalb dieser vorgegebenen Muster zu bewegen, Spaß zu haben und gute Hefte zu machen.

Das geistige Überleben – Bizarre Städte 1987-89

In einem Artikel vom 14.2.1989 fasste ich unser Bizarren Städte-Vorhaben wie folgt zusammen: „Ziel war, ein Forum für das Schreiben und Denken von verschiedenen Autoren zu schaffen, eine offene Konzeption nach allen Seiten hin zu vertreten (sich nur verweigernd dem „rechten“ und „linken“ Opportunismus) – all das geleitet von einem elementaren Respekt vor dem Autor/Künstler und seiner Produktion. Eine Zeitschrift also, die sich als unabhängiges Blatt/Medium für  das geschriebene und gedachte/gesprochene Wort ihrer Autoren versteht“.

Und einen Monat später verwies ich in meinem Nachwort zu unserem ersten Dresden-Band auf die existentiellen Gründe unserer Arbeit an den BS: „Wichtig bei solch einer Produktion ist zweifellos ihr innovativer Charakter für die Mit-Macher, wahrscheinlich (: für das geistige Über-Leben) das Wichtigste überhaupt… Und ich schreibe das, obwohl der Begriff der „Vergeblichkeit“ zu den für mich prägendsten gehört. Aber auch Pessimismus empfinde ich zuweilen als „Produktivkraft“, vor allem wenn Selbsthelfertum zu den wenigen Möglichkeiten gehört, der um mich herum herrschenden bekotzten Trantütigkeit und Schlappheit widerstehen zu können.“ (März 1989)

Bizarre Städte Asteris Kutulas
Bizarre Städte – Dresden Band Nr. 2, Originaleinband von Thomas Haufe

Zu unserem redaktionellen Team, das genau dieses offene Konzept umsetzte, gehörten neben anderen vor allem Gerd Adloff, Thomas Haufe, Johannes Jansen, Gregor Kunz, Ina Kutulas, Steffen Mensching, Harald & Christiane Müller, Lothar Trolle und Peter Wawerzinek.

Durch die Bizarren Städte sind ein paar interessante Botschaften aus dieser Zwischen-Welt und Zwischen-Zeit geblieben, viele Erinnerungen an eine konstruktive und spannende Zeit und ein ziemlich bitterer Geschmack von Freiheit. Klaus Michael konstatierte rückblickend 1990: „Der Überbau ist entmachtet, der Untergrund tot. Und was sich Ende der achtziger Jahre abzuzeichnen beginnt, ist die Rückkehr der Literaten zur Literatur.“ Ich wage die These, dass die BS die erste und einzige selbstverlegte Zeitschrift in der DDR war, die diese Entwicklung publizistisch ausdrückte und begleitete.

© Asteris Kutulas, Berlin, Juli 2008/09

(*) Ich will nicht alle in einen Topf werfen – die Wirklichkeit war viel komplexer und diffiziler, es gab auch großartige Ausnahmen, aber einige Zuspitzungen seien mir gestattet.

(**) Ihr Hauptsatz war: „Das verstehen unsere Menschen nicht … Diese Zeile geht nicht …“ und anderer solcher Unsinn.

Veröffentlicht in der Zeitschrift „Partisanen“, Herausgegeben von Holger Wendland, Detlef Schweiger & KulturAktiv e.V., Dresden 2009)

Bizarre Städte (1987-1989) – Ein Interview

„Ich hört ein Sichlein rauschen“ – Interview mit Angela Hampel

Vom Geheimnis im Bild – Angela Hampel Interview von Asteris Kutulas (1989) 

Asteris Kutulas: In einer Rezension zu deinen Bildern fiel – schon vor einiger Zeit – der eher pejorativ gemeinte Begriff „androgyne Körper“. Ich würde ihn, bezogen auf die Gestalten, die du malst, nicht akzeptieren, da ich etwas anderes dahinter vermute. Nämlich die Verdrängung des zwischengeschlechtlichen Konflikts aus deiner Bilderwelt. 

Angela Hampel: Ich würde das zunächst unterscheiden, denn nicht alle Bilder oder Zeichnungen, die ich gemacht habe, rutschen ins „Androgyne“. Ich habe ja zum Teil auch sehr deutlich bestimmte Geschlechterbeziehungen innerhalb dieser „vier Ecken“ dargestellt. 
Das Wort „androgyn“ offenbart zusätzlich einen Blick von außen, nämlich die Empfindung der Leute – und das hat gar nichts damit zu tun, wie ich’s gemacht habe. Das sind, glaube ich, zwei Ebenen. In dem Moment, wo die Leute sich eine Sache ansehn, kommt ihre Interpretation oder ihre Illusion zum Tragen. Das wird dann auf mein Bild draufgelegt. Dadurch wird der Ausgangspunkt „Bild“ verdeckt. 
Ich lebe ja nicht als androgynes Wesen, sondern als Frau. Und wenn meine Bilder entstehen, dann hat das ja auch mit dem Frau-Sein innerhalb dieser Gesellschaft oder innerhalb der Kunstwelt zu tun. Das ist aber vornehmlich kein Ausdruck einer Illusion oder Utopie, die ja etwas Gedachtes ist. Ich meine vielmehr, daß zwei verschiedene Wesen existieren: Männer und Frauen, die versuchen müssen, irgendwie miteinander auszukommen. Und ich suche einfach nach verschiedenen Möglichkeiten, die ich auch im Bild verarbeite oder besser: abarbeite. Daß es dann manchmal zum „Androgynen“ tendiert, ist eine Folge dieser Auseinandersetzung. 

Kutulas: Daß man deine Bilder so behandelt, hat vielleicht etwas mit der Erwartungshaltung dir gegenüber zu tun … 

Hampel: Ich erinnere mich an eine Diskussion, die die Zeitschrift „Bildende Kunst“ initiierte. Da ging’s um’s „Androgyne“. Es war intellektuelle Spielerei, in dieser Richtung eine Lösung für die Konflikte zu suchen. In der Realität funktioniert das nicht. Was du als „androgyn“ bezeichnest, sind vielleicht die Zwischentöne, das, was du nicht genau festmachen kannst, was ich als Geheimnis im Bild bezeichnen möchte. Ein Indiz für ein gutes Bild, das ich unheimlich wichtig finde. Und das möchte ich mir auch offenlassen – aber gleich wird diese Stelle wieder mit einem Begriff besetzt, in meinem Fall mit dem Wort „androgyn“. 

Man kann’s eben nicht genau erkennen: Hat sie einen Schwanz, hat er eine Brust? Sofort wird diese Vagheit intellektuell „analysiert“ und mit Theorien belegt, was mich ein bißchen aufregt, weil ich dann erklären muß, daß alles ganz anders ist. Aber schon mit dieser Erklärung verbaue ich den Leuten den Blick auf das Bild. Weil ich es also offen lassen will, bin ich auch an so einer Diskussion nicht interessiert.

Für mich befindet sich die Utopie ganz woanders, jedenfalls nicht im „Androgynen“. Utopie ist für mich eine gesellschaftliche Angelegenheit, eine politische, oder weiß der Teufel was, jedenfalls keine, die von Hormonen oder von irgendeiner Gleichgeschlechtlichkeit abhängt. Also da sehe ich keinen geistigen Ansatzpunkt. 

Kutulas: Spielen solche Überlegungen bei deiner Arbeit keine Rolle? Auch nicht im Unterbewußtsein? 

Hampel: Wenn ich arbeite, und ich arbeite ja ausschließlich mit Figuren, dann gibt es immer Zwischenräume oder Zwischentöne, die ich nicht sofort besetze mit irgendeiner Projektion von mir. Und es gibt immer wieder Leute, die das als Leerstelle empfinden und sofort besetzen müssen. Die das nicht einfach mal nehmen und stehen lassen können. 

Kutulas: Wobei das auch zur Profession der Kunstwissenschaftler gehört, Begriffe für etwaige Leerstellen zu finden, sie zu benennen … 

Hampel: Aber ich halte das an bestimmten Stellen für unsinnig. Ein Bild ist ein Bild; das hat eine Bildsprache, und da hast du im Normalfall mit anderen Sinnen darauf zu reagieren als nur mit dem Intellekt. 

Kutulas: Du plädierst also für eine „essayistische“ Betrachtungsweise von Kunst. 

Hampel: Ja. 

Angela Hampel Interview von Asteris Kutulas
Die Veröffentlichung meines Interviews mit Angela Hampel in der TAZ vom 28.6.1990.

Kutulas: Gibt es eigentlich etwas, das du als sehr prägend für deine künstlerische Entwicklung bezeichnen würdest? 

Hampel: Prägend für meine Arbeit war unter anderem die Hochschulzeit in Dresden, waren die relativ guten Arbeitsmöglichkeiten für mich, zum Beispiel weil ich bestimmter Sachen nie bedurfte. So mußte ich nie mit diesem Untergrundmalerinnentouch hausieren gehen, was damals natürlich auch wunderbar funktionierte. Das war nie mein Problem, weil ich immer machen konnte, was ich wollte … 

Kutulas: Ist schön, wenn du das so sagen kannst … 

Hampel: Das ist ein großes Problem, weil man/frau dadurch manchmal in schwierige Situationen kommt. Zum Beispiel auch was Reflexionen von KunstwissenschaftlerInnen betrifft, die meine Arbeit lieber im Untergrund angesiedelt hätten, dann aber merken, daß es nicht hinhaut – also ist das Ganze für sie nicht mehr attraktiv gewesen. Kunstbetrachtung hat ja auch mit dem gesellschaftlichen Kontext zu tun und oftmals gar nicht so sehr mit der Kunst. Da gibt es wunderbare Exemplare von Kunstwissenschaftlern, wo du genau merkst, wie die sich an die veränderte gesellschaftliche Situation anpassen, die auf einmal oder wieder – aber anders – botmäßig werden, artig und seriös, also dieses Schmuddel-Image ablegen. Und nun dem Markt huldigen. 

Kutulas: Und dem Schlips … 

Hampel: Ja, das sind die simplen kleinen Dinge, die mir jetzt so auffallen. Aber diese Hochschulzeit in Dresden zwischen 1977 und 1982, um auf deine Frage zurückzukommen, die war schon ziemlich wichtig, weil ich da einfach das Gefühl gekriegt habe, daß ich diese Arbeit machen und zwar gut machen kann, daß ich mich in diesem Umfeld bewegen kann. Viele Beschränkungen – nicht politischer Natur, sondern solche für mein Selbstverständnis – kamen viel später. Ich habe aber an der Hochschule auch insofern Glück gehabt, weil zu meiner Zeit gerade Kettner als Rektor anfing und eine relativ liberale und offene Politik betrieb. Außerdem bestand ein ausgewogenes Mischungsverhältnis von Frauen und Männern, was ich für das allgemeine Klima als wichtig erachte, zumindest als Frau in dieser Branche. Und dann konnte ich ja, und das kommt noch dazu, relativ frühzeitig ins Ausland fahren. Und zwar 1985, glaub ich. Diese Dinge waren für mich schon sehr prägend. 

Kutulas: Gilt das auch für andere Kollegen von dir? 

Hampel: Inwieweit das nun deckungsgleich gewesen ist mit der Erfahrung anderer, da bin ich einfach überfragt, weil mich das so wahnsinnig gar nicht interessiert. Ich sehe natürlich Parallelen, was Bildinhalte oder formelle Sachen betrifft. Aber den Vorwurf zum Beispiel, daß wir so einen Nachklatsch der Neuen Wilden abgegeben haben, und ich insbesondere, den weise ich zurück. Er ist unsinnig, weil er Geschichte ignoriert. 

In Dresden herrschte damals eigentlich ein relativ ruhiges Klima zum Arbeiten. Und dieses Was-Entwickeln-Können war einfach für die Leute, die in Dresden saßen, ein unheimliches Plus. Das klingt sicherlich jetzt auch schon wieder abgenuddelt. Aber für mich war es wichtig und für die Leute aus meiner Seminargruppe, glaube ich, auch, denn wir haben eine ziemlich hohe Quote von Leuten, die noch arbeiten: Ralf Kehrbach, Sandner, Steffen Fischer, Maja Nagel und noch ein paar andere. 

Kutulas: Du stammst aber nicht aus Dresden? 

Hampel: Nein, ich wohnte vor dem Studium in Kamenz, der Lessingstadt. Ich kam gerade frisch aus dem Wald – für mich war das ganz normal, diese Forst-Arbeit zu machen. Dann studierte ich an der Hochschule und hab viele Sachen so unbedarft angenommen und gemacht, mit einem Selbstverständnis, das ich später ein bißchen verloren habe, als ich merkte, daß mich viele Sachen viel mehr Kraft gekostet haben. 

Kutulas: Bist du von der damaligen Dresdner Szene beeinflußt worden? 

Hampel: An der eigentlichen Szene – die in der Neustadt saß, wie Kehrbach, Sascha Anderson, Helge Leiberg und Cornelia Schleime – war ich eigentlich nicht so dicht dran, weil ich ja noch relativ unbeleckt von diesen Dingen war. Ich wollte Bilder malen. Außerdem war ich mit meinem Privatleben sehr beschäftigt. Diese Leute waren für mich insofern wichtig, als es sie in meiner Umgebung gab. Das merkte ich vor allem, als sie weg waren … Natürlich bin ich zu den ganzen Ausstellungen gegangen. Aber selbst Filme gemacht, wie es damals üblich war, habe ich nicht. Auch stand für mich das Problem des Nicht-Arbeiten-Könnens wegen irgendwelcher staatlichen Repressionen nicht, was aber für andere – betroffene – KollegInnen von Ausschlag war. Trotzdem wurde mir der Weggang dieser Leute schmerzhaft bewußt. Ich empfand ihn wie eine Ödnis, gar nicht so für mich privat, weil ich ja nicht so nah dran war, aber für die allgemeine Atmosphäre. Weil für mich so ein Gebrodel wahnsinnnig wichtig ist. Und wenn ein Teil der Leute, die etwas Beunruhigendes machen, weggeht, dann verrutscht die ganze künstlerische Produktion einer Stadt in die andere Richtung auf eine merkwürdige Art und Weise. Da geht die Ausgewogenheit und die Spannung der Kunstszene irgendwie verloren. Es ist ja auch notwendig, daß eine gewisse Konkurrenz da ist. 

Kutulas: Brauchst du Konkurrenz, um gut arbeiten zu können? 

Hampel: Mich hat immer gefreut, wenn andere Leute Sachen machen, die ich gut fand, die mich direkt oder auch unbewußt zu eigenen Dingen angeregt haben. Es ist ja nicht einfach so, daß du Dinge siehst und dann weggehst. Die Kunst kommt ja zum Teil auch von Kunst und nicht einfach aus’m Bauch. Das ist vielleicht so ein elitärer Zug an mir, daß ich denke, daß man gute Kunst nur machen kann, wenn man eine gute Konkurrenz hat. Das ist was anderes als der Markt. Ich meine die geistige Konkurrenz. Die ist wichtig für mich. Das hat mich immer inspiriert, wenn ich gute Sachen gesehen habe, egal was. Manchmal war ich auch traurig, weil ich mich mit ähnlichen Gedanken trug und dann hat das jemand schon gemacht und noch besser als ich’s vielleicht gekonnt hätte. Dann kann man es sich auch sparen, bitteschön. Und wenn es dich aber drückt, es zu tun, dann tust du es trotzdem … 

Kutulas: Du warst dann nach dem Studium gleich freischaffend? 

Hampel: Naja, da habe ich die VBK-Kandidatenzeit gemacht, drei Jahre, vierhundert Mark monatlich. Das war schon ganz gut. Da mußte ich eben rumkrebsen, hatte aber schon zu dieser Zeit relativ viele Ausstellungen, weil ich einfach auch ein bißchen Glück hatte. 

Kutulas: Inwiefern? 

Hampel: Ich war mit der Gabi Muschter befreundet, der damaligen Chefin der Galerie Mitte. Das war ’ne wichtige Galerie. Dort bekam ich meine erste Ausstellung, ziemlich früh also, was meinem Selbstbewußtsein sehr geholfen hat. Obwohl ich damals in schneller Folge viele große Fehler gemacht habe. Dazu gehörte, daß ich meine erste Ausstellung mit einem Mann zusammen machte. Das würde ich nie wieder machen, weil ich dadurch schnell mitgekriegt habe, wie mit dem Holzhammer … was sicher auch eine gute Methode ist für solcherlei Dinge, daß das dort noch nicht funktionierte, daß er – Mann – und ich – Frau – Kunst zusammen ausstellen können in einer Galerie … weil es ein anderes Wertesystem gab, ein anderes Betrachtungsverhalten. Und das hab ich damals schnell begriffen: Daß ich noch so gutes Zeug hätte machen können – abgesehen davon, daß ich ja nicht so gut war –, aber es ist eine andere Bewertung gelaufen. Das war ja eigentlich meine Ausstellung, und ich hab ihn eingeladen, weil ich damals in ihn verknallt war. Am Ende stellte sich heraus: Im Grunde genommen hatte er dort die Ausstellung, und da stellt noch irgend so ein Mädel mit aus. Und wenn du das so mitkriegst in einer Phase, in der man noch relativ unbedarft und selbstlos diese Dinge betrieben hat, ist das schon eine Ernüchterung. 

Kutulas: Das ist ja eine sehr komplizierte Fragestellung: Den Unterschied von männlichen und weiblichen Kriterien in der Kunstgeschichte oder in den Kunstwerken selbst zu akzeptieren und damit umzugehen. Aber eigentlich finde ich das sehr unergiebig. 

Hampel: Du hast mich nach meinen Sachen gefragt. Da gehören diese Erfahrungen dazu. 

Kutulas: Das ist eine andere Frage. Man kann ja dieses Ideologem von „männlich/weiblich“ wegnehmen, indem man die Kriterien innerhalb der Frauenkunst festlegt. 

Hampel: Ja, wenn das so wäre. Da man aber als Betroffene kaum von dieser Realität abstrahieren kann, ist das nicht weg. Zumindest hier im Lande nicht. Das wird sich sicherlich auch verändern. Man sollte aber nicht so tun, als wäre das gleichrangig. Das habe ich schnell und ziemlich drastisch gemerkt, daß das nicht als gleichrangig angesehen wird. Das merke ich bis zum heutigen Tag. Als wir kürzlich eine Sezession gegründet haben, hieß es gleich: Da sind ja nur Frauen drin, das ist quasi ein Betrug. Die Leute lesen „Dresdner Sezession“ und stellen dann auf einmal „entsetzt“ fest, dazu gehören nur Frauen. Aber auf die andere Idee kamen sie nicht, daß alle Sezessionen vorher nur von Männern gegründet worden sind, die ja nicht im Traum auf den schwachsinnigen Gedanken gekommen wären, das nun als Männer-Sezession zu bezeichnen. So meine ich das mit der Norm und mit dem Blick. 

Kutulas: Das wußten schon die alten Griechen: Die Männer sind im Gegensatz zu den Frauen Menschen. 

Hampel: Das ist ja das Problem, vor dem wir eigentlich stehen – die Voraussetzung, unter der ein Bild angesehen wird. Und dabei weiß ich nicht einmal, inwieweit ich selbst diese „männliche“ Betrachtungsweise verinnerlicht habe. Wer kann frei davon sein, wenn sie/er damit aufwächst? 

Angela Hampel Interview von Asteris Kutulas
Im Gespräch mit Angela Hampel. Von Asteris Kutulas, in: Union, 15.6.1990

Kutulas: Bei deiner Installation „Meine Herde“ (aus Steinen und Fell) schien das so zu sein, als hättest du etwas aus dem Bauch heraus gemacht, ganz „naiv“, „ohne Kalkül“. Ich fand das sehr gut. 

Hampel: Du mußt das jetzt nicht aufwerten. Wenn du sagst „aus dem Bauch heraus machen“ und „ohne Kalkül“, dann ist das schon eine Abwertung. Das ist ja nicht positiv besetzt, Kunst aus dem Bauch zu machen, mittlerweile, nach den Neuen Wilden … 

Kutulas: Da sind wir verschiedener Ansicht. Aber bestimmte Bilder von dir – ich bleibe dabei –, die mehr mit Kalkül zu tun haben, scheinen mir auch distanzierter und nicht so gelungen wie zum Beispiel die „Herde“.

Hampel: Was ist denn für dich Kalkül? 

Kutulas: Daß man bewußt ein „Thema“ abarbeitet. Dann kommt so eine „verkopfte Kunst“ raus. 

Hampel: Ich mache diese Unterscheidung nicht. Wenn ich etwas mache, dann muß es gut sein. Ich hab ja auch meine verinnerlichten Qualitätsbegriffe, und insofern würde ich das Wort „Kalkül“ da vielleicht gebrauchen, aber nicht in Bezug auf Inhaltliches oder Formales. „Aus dem Bauch“ – das ist eine andere Sache. Ich male meine Bilder aus einem ähnlichen Antrieb heraus, aus dem auch diese Steine entstehen. 

Kutulas: Vielleicht ist die Erklärung für das, was ich meine, dieses Neue, jenseits des inzwischen „bekannten“ Strichs, der einem oft als eine Art Variation vorkommt … 

Hampel: Aber auch die Steine sind eine Variation, nämlich dessen, was ich in mir habe, was ich denke. Da gibt es für mich keinen Unterschied. Vom Machen her ist es für mich dasselbe. Nur die Form ist neu. Was ich sonst auf der Fläche dargestellt habe, gestaltet sich jetzt im Raum, zu dem ich ein anderes Verhältnis besitze. 

Kutulas: Wie bist du auf diese Steine gekommen? 

Hampel: Weiß ich nicht, jedenfalls ist das jetzt schwer zu rekapitulieren. Ich habe mich mit Installationen beschäftigt, und ich denke, das hat wieder was mit Sinnlichkeit zu tun, was mir aber erst im Nachhinein aufging, weil ich gar nicht auf die Idee kam, wie viel diese Sachen unter anderem mit Sexualität zu tun haben. Daß das so ablesbar ist, das habe ich nicht gedacht, es schien mir gar nicht so dominant zu sein. Ich hab dann rückgekoppelt und geguckt, was so in mir vorgeht. Das hat schon was mit dem Fell zu tun. Ich habe die Felle alle selber bearbeitet, habe mir die Steine ausgesucht und aus dem Steinbruch hergeholt. Ich habe also mit diesen Dingen ziemlich intensiv gelebt. Und das ist vielleicht das, was du meinst. Natürlich kommen die aus dem Bauch, aber die kommen auch aus meinem Grips. 

Jedenfalls hat das immer so einen merkwürdigen Beigeschmack, wenn du sagst: „das kommt aus dem Bauch“. Wenn du damit meinst, es kommt aus der Mitte, dann ist das vielleicht besser getroffen. Das ist ja unser Lebensproblem. Insofern würde ich das natürlich als etwas Positives annehmen können. Aber in dem Kontext, in dem du es sagst und in dem es auch irgendwo steht, ist es einfach die Frauen zugeordnete Sache. Deswegen springe ich vielleicht drauf an. Diese simplen Mechanismen, die dann einsetzen und gegen die du ankämpfen kannst, wie du willst. Es nützt nichts. Also: Wenn du Bauch sagst, würde ich von „Mitte“ sprechen.

Kutulas: Einverstanden, doch zurück zur Produktion dieser Installation …

Hampel: Ich lag früh im Bett, und da hatte ich dieses Bild vor Augen. Dann habe ich es genauso realisiert, wie es mir eingefallen war, weil ich dachte, es hat was mit mir zu tun und mit meinen Vorstellungen, meinen Bildern, damit, wie ich bin. Ich erzählte dir bereits, daß ich aus dem „Wald“ komme, in der Forstwirtschaft gearbeitet habe. Das war mehr lakonisch, denn ein Teil von mir hat immer noch mit dem Wald zu tun, mit der Natur, den Tieren. Von all dem ist in dieser Installation mehr enthalten als in meinen Bildern. 

Kutulas: Arbeitest du in der Richtung weiter? 

Hampel: Ja. Ich habe eine neue Installation fertiggestellt. „Sense“ – das ist mein Arbeitstitel. Objekte, Figuren aus Eisenbahnschwellen, versehen mit Sensenblättern … Wieder so eine Sache „aus der Mitte“.

Kutulas: Also, „Mitte“ ist eine gute Umschreibung. 

Hampel: Die neue Installation besteht aus Stoff, Holz, Eisen. Die Figuren haben auch Arbeitsnamen. Da ist zum Beispiel der Rettende Engel, der Liebhaber und ein Stehendes Heer. Dann will ich auch die „Herde“ drinhaben, in einem ganz anderen Kontext. Mein Problem ist zum Beispiel auch, daß ich gern den Sachen Texte beigebe, nicht als Illustration oder als Erläuterung, sondern einfach meine Gedanken, die ich beim Machen hatte. Die hätte ich dann gern so akzeptiert. Der Text zu meiner neuen Arbeit ist eine Variation des Liedes „Ich hört ein Sichlein rauschen“:

Ich hört ein Sichlein rauschen 
Das verfolgt mich schon tagelang. 
Wie: du holder Sensenmann 
Wie: ist lang schon Krieg, mein Herz 
Und auch: 
Wohl Rauschen durch das Korn! 
Aber, aber meine Liebe, sagst du 
Ich hört mein Feinslieb klagen! 
Aber wer wird denn, sagst du. 
Es hätt sein Schatz verlorn! 
Ich bitte dich, sagst du. 

Das Sichlein rauscht. Ich steh am Feldrand mit Armen, die hängen wie zwei Dreschflegel an mir herab. Mir bricht der Schweiß aus. Ich will laufen, komme aber nicht von der Stelle. Das Geräusch kommt näher. Risch. Rasch. Risch. Rasch. Ich will mich umdrehen, aber es ist immer im Rücken. Langsam kriecht Kälte in mir hoch. Ich fange an zu zittern. Ich will rufen (ich habs ja gewußt!) 

Ich hört ein Sichlein rauschen! 
Da bin ich aufgewacht. 
Was du nicht sagst. 
Laß rauschen, Lieb, laß rauschen … 

Kutulas: Kannst du den Text etwas erläutern? 

Hampel: Diese Worte, die mich da beim Machen begleitet haben, haben was mit meiner Situation zu tun, mit der politischen Situation, die ich auch mit dieser Installation zu erfassen versuche. Und das ist eine ziemlich böse Geschichte. Aber ich wollte, daß auch ein bißchen Humor drin ist und nichts Verbiestertes. Ich bin frustriert angesichts der Dinge, die jetzt passieren. Ich denke, ich werde nach dieser Sache andere Sachen machen, also nicht einfach andere in der Folge, Fortsetzung, sondern was wirklich anderes. Diese Installation ist für mich so ein Punkt, wo ich alles mal zusammengefaßt habe: meine Wut, meine Angst, meinen Frust, alles, was so an „Negativ“-Gefühl in mir drin ist. Ich vertraue einfach auf meine Intuition. 

Kutulas: Ist bei dieser Installation nichts Gemaltes dabei? 

Hampel: Ich habe eine ganze Rollofront gemacht mit sechzehn stürzenden Figuren. Das ist aber das Einzige, was so im bildnerischen Sinne figurativ ist. 

Kutulas: Wie kommt es, daß du langsam die Fläche verläßt? 

Hampel: Das hat was mit dem Raum zu tun. Wenn du an einer Sache im Raum arbeitest, ist es was anderes. Du nimmst sie mit anderen Sinnen auf. Und das ist das, was ich immer mit meinen Bildern erreichen wollte: daß die Leute mit ihren Sinnen an die Bilder herangehen. Aber zum Bild ist immer eine Distanz, du stehst hier, und dort ist das Bild. Egal, was du abgebildet hast, es ist eine Fläche. Während eine Sache im Raum … ist eben eine Sache im Raum. Du mußt da reingehen, und das macht Töne, oder das riecht, oder du kannst es anfassen. Das ist für mich momentan eine viel größere Möglichkeit, weil mehr Kommunikation stattfindet und weil ich eigentlich aus einer eher konventionellen Ecke komme. Da gibt es diesen Spruch von Käthe Kollwitz, vom Wirken in der Zeit. Dem hänge ich auch ein bißchen an. 

Kutulas: Ein bißchen ziemlich … 

Hampel: Ja, ein bißchen ziemlich. 

Angela Hampel Interview von Asteris Kutulas
Das Verbiesterte, dies „Machen“ – das kotzt mich an. Die Malerin Angela Hampel befragt von Asteris Kutulas, in: die andere, 33/90

Kutulas: Gehört das zu deinem Arbeitsprinzip, den kommunikativen Aspekt mitzudenken? 

Hampel: Ich habe kein Prinzip in diesem Sinne. Kunst ist ja – neben Selbstbefriedigung – immer Dialog, setzt auf ein Gegenüber, bewußt oder unbewußt. Natürlich mache ich es in erster Linie für mich. Du hast nicht ständig ein imaginäres Publikum im Kopf. Aber die Art der Arbeit, die ich mache, hat ja mit meiner Moral zu tun. Wenn ich das anders anpackte, würde die Qualität meiner Sachen darunter leiden. Das Wissen darum, das ist mein Arbeitsprinzip. Vielleicht sollte ich nicht pauschalisieren, aber ich denke, daß es dort Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Kunst von Frauen meist viel existenzieller ist, das heißt, viel mehr mit dem Leben, mit ihrer realen Situation zu tun hat. Das ist mir wie auf der Haut drauf.

Währenddessen ich einen Haufen Kollegen kenne, die müssen sich ihre Bildwelt immer wieder im Geiste produzieren. Sie gehen früh aus dem Haus, vom Kaffeetisch, ziehen sich ihr Kittelchen an und „machen“ sich ihre Bildwelt. Sie sitzen dann im Atelier, hören sich noch irgendwelche scharfe Musik an, gucken vielleicht noch in irgendwelche Heftchen, einfach um wieder „reinzukommen“, und malen dann ihre Sachen runter. (Gestatte mir die Simplifizierung.) Und dann gehen sie wieder heim.

Dieser Bruch von Bildrealität und dem wirklichen Leben – den merke ich bei Männern viel eklatanter. Und das ist, denke ich, auch letztendlich ihr Problem: das nicht auf eine Schiene zu kriegen, Leben und Arbeiten. Ich merke, daß das bei Frauen viel mehr zusammengeht. Und das hat mit Moral, mit Lebens-Moral zu tun. Das, was ich mache, ist von meinen Stimmungen, meinen Gemütsverfassungen abhängig. Und mitunter von meinen vorhandenen oder nichtvorhandenen Liebhabern. Das wäre für mich ein Unding: wenn ich gar nicht so drauf bin, ins Atelier zu gehen und ein Bild zu malen, das mich an dem Tag weiß Gott nicht interessiert. 

Kutulas: Ist Ruhm eigentlich wichtig für dich? 

Hampel: Das ist ganz schwierig. Der sogenannte Ruhm ist mir insofern wichtig, als er mir einfach auch Selbstbewusstsein gegeben hat, das mir wiederum Anderes zu machen und zu leben ermöglicht hat. Auf der anderen Seite ist mir natürlich klar, warum das so funktioniert – was „Ruhm“ bedeutet und welchen Regeln er unterliegt. Nur, ich akzeptiere einfach diese Bedingungen nicht, ich lebe aber in ihrem Umfeld. Ich kann die Gesellschaft nicht ändern, was ich gerne täte. Und der Ruhm hängt an dieser Gesellschaft dran. Ich merke aber, daß er mir auch zuarbeitet, also ist er ein kleines Plus für mich. 

Kutulas: Auch ein Kompromiss. 

Hampel: Ja, das ist eine Gratwanderung. Und ich denke, daß ich das bis jetzt relativ gut gepackt habe. Wie das jetzt wird, das weiß ich nicht. Bis jetzt ist mir das schon gelungen, nicht irgendwelche Sachen bedienen zu müssen, die ich nicht wollte. Andere Sachen hab ich dann wieder gemacht, weil ich überlegt hab: das wäre vielleicht doch gut, und ein Katalögchen ist auch ganz hübsch usw. Weil ich ja auch eitel bin. Und eitel mußt du sein. Wenn du nichts von deiner Arbeit hältst, dann brauchst du sie nicht machen. Ich meine damit die Sicherheit, daß das, was man macht und was man dann rausgibt, auch gut ist – zumindest für einen selber –, das ist wichtig, und das meine ich mit Eitelkeit. 

Kutulas: Arbeitest du eigentlich tagsüber oder nachts? 

Hampel: Wenn es mir kommt. 

Kutulas: Und wann kommt es dir in der Regel? 

Hampel: Tags oder nachts. 

Kutulas: Brauchst du kein Tageslicht? 

Hampel: Nein. Ich arbeite auch bei meinen miesen Lampen. Da hab ich mich drauf eingerichtet. Wie auf die Sonne. 

Kutulas: Wechselt das immer oder gibt es Phasen, da du nur bei Tageslicht oder nur nachts arbeitest? 

Hampel: Das wechselt immer. Aufgrund der anderen Sachen, die ich noch so treibe, gibt es nichts Konstantes. Ich möchte mir dieses Spielerische bewahren. Das Verbiesterte, dieses „Machen“ – das kotzt mich an. 

Kutulas: Arbeitest du auch morgens? 

Hampel: Nein. Ich brauche eine ziemliche Anlaufzeit, bis mein Gehirn so auf Touren kommt; auch ich brauche das zum Arbeiten. 

Kutulas: Trinkst du Kaffee, Tee oder andere Sachen beim Arbeiten? 

Hampel: Ach, willst du wissen, ob ich mich anmache? 

Kutulas: Nein. 

Hampel: Ich brauche kaum Stimuli. Wenn das Gefühl nicht da ist, dann mache ich es nicht. 

Kutulas: Gibt es KünstlerkollegInnen, mit denen du dich besonders verbunden fühlst, von der Lebenshaltung, vom Werk her? 

Hampel: Was aber nicht heißt, daß man befreundet ist? 

Kutulas: Nein, nicht unbedingt befreundet. 

Hampel: Ja, da gibt es ein paar. Miriam C., Sarah H., Gerda L. und Gudrun T. Als Gleiche unter Gleichen, das ist wunderbar. Den Francesco C. mag ich auch, obwohl ich nur sein Werk kenne. Er macht etwas für Männer Untypisches. Er kann über sich selbst lachen, hat Humor, ab und zu einen Pimmel mit einem Lichtel drauf zu malen. Hier sehe ich von Künstlern nur reihenweise aufgeklappte Mösen. Dann guckst du dir ein Bild an – und kennst auch alle anderen. Aber bei Francesco C. habe ich Lust, die anderen Sachen alle anzugucken, weil da einfach das Spielerische drin ist, was ich für diese Arbeit als wesentlich erachte. Nicht dieses Auf-irgendwas-hinmurksen, und dann wird das letzte bißchen Grips noch aus sich rausgedrückt, nur damit noch was hingehängt werden kann. Das ist alles so angestrengt. Je effektvoller und brutaler, desto kunster. Das halte ich für Schwachsinn.

Es muß doch auch Spaß machen, es muß erotisch sein und intellektuell anregend. Das finde ich schon wichtig, sonst brauche ich diese Arbeit gar nicht zu machen. Das ist einfach mein Anspruch an mich selber. Und ich hoffe, ich werde das schaffen und nicht auch anfangen, meine eigene Scheiße zu reproduzieren. Was ja nicht schwer ist. 

© Asteris Kutulas, 1989

Das Angela Hampel Interview erschien in unterschiedlicher Form in folgenden Tageszeitungen und Zeitschriften:

  •  „Ich hört ein Sichlein rauschen …“ Im Gespräch mit Angela Hampel. Von Asteris Kutulas, in: Union, 15.6.1990
  • Schwanz oder Brust. Ein Gespräch mit der Dresdner Malerin Angela Hampel über das „Androgyne“ im Werk, die Kollegen, die Szene und die Kritiker. Von Asteris Kutulas, in: die tageszeitung (TAZ), 28.6.1990
  •  Das Verbiesterte, dies „Machen“ – das kotzt mich an. Die Malerin Angela Hampel befragt von Asteris Kutulas, in: die andere, 33/90
  • Vom Geheimnis im Bild. Angela Hampel befragt von Asteris Kutulas, in: Sondeur, Nr. 5, August 1990
  • „Ich hört ein Sichlein rauschen …“ Die Malerin Angela Hampel befragt von Asteris Kutulas, in: Sondeur, Nr. 6, September 1990

Zeitschrift Sondeur (1990-91) – Bibliographie & Editorials

Die tierische Fabelhaft-Triade: Till Lindemann, Udo Lindenberg & Volker Braun

 

Das Lindenberg: Geilomat molluscisch

Das Lindenberg ist ein seltsames Tier. Es gehört zum Stamm der Mollusca und kann sowohl an Land, als auch im Wasser leben. Charakteristisch für seine Gattung ist ein weicher Körper, der sich bei Gefahr sofort hinter den harten Panzer seines Schneckenhauses zurückzieht. Beim Lindenberg allerdings stellen wir fest, dass sich seine äußeren Verhärtungen mit der Zeit nach innen kehren, aber auch, dass sein weicher Kern in den letzten Jahren durch alle möglichen Öffnungen nach außen drängt. Die vielen – vor allem gefiederten – Feinde des Lindenbergs bringt dieser Vorgang ziemlich aus der Fassung. Eine weitere Seltsamkeit besteht darin, dass das Lindenberg vor allem seichtes Wasser liebt, dabei aber die Untiefen der Meere nicht verschmäht. Bei einem seiner ausgedehnten Raubzüge in ihm unbekannten Gewässern hat das Lindenberg das verborgene Atlantis entdeckt und sich seitdem dort häuslich eingerichtet. Einen Namen hat sich das Lindenberg vor allem als Lautmaler gemacht, indem es seinen ödipalen Komplex in die molluscische Kunst – insbesondere in die Bildhauerei – einbrachte.

*** *** *** 

Der Till Lindemann 

… ist, schaut man genau hin, eine Lindenfrau. Versenkt man sich wiederholt in ihren Anblick, erkennt man ihren weiblichen Charakter deutlich am Wurzelwerk, das die Erde umklammert und nicht wieder loslässt, ein Leben lang. Auch die klagenden germanischen Lieder, die immerfort im Rauschen ihrer Blätter hörbar werden, sind Ausdruck ihres femininen Charakters, genauso wie ihre vegetative Vermehrung: durch Stockausschlag und Wurzelbrut. Vor allem junge Leute verehren in der Lindenfrau Freya die germanische Göttin der Liebe und des Glücks. Das Gerücht, Lindemann sei männlich, lässt sich allerdings, wie die letzten Jahre gezeigt haben, nicht so schnell ausräumen und wird von ihr selbst sehr bewusst immer wieder in Umlauf gebracht. 

Das fraulich weiche Holz der Linde ist jedenfalls gekennzeichnet durch seine geringe Dauerhaftigkeit gegenüber Witterungseinflüssen. Daher wird es bevorzugt im Innenbereich als gutes Schnitzholz eingesetzt. Unter anderem hat Till Riemenschneider im Mittelalter seine Werke aus Lindenholz hergestellt. Von ihm entlehnte die sich in Lindemann verbergende Lindenfrau wohl auch den Vornamen, bei dem sie gerufen werden will. Vielleicht schämt sie sich inzwischen auch für ihre Vergangenheit, als sie nämlich vor 2.000 Jahren als „Gerichtslinde“ bekannt war, unter der die germanischen Gerichtsversammlungen abgehalten wurden. Anders als unter der als männlich verschrienen Stieleiche fielen die Urteile unter der Linde meist „linde“, also milde aus. Und dann ist da noch – sehr passend – der Wilhelm Müller: 

Ich musst auch heute wandern 
Vorbei in tiefer Nacht, 
Da hab ich noch im Dunkel 
Die Augen zugemacht.

Oft wird mir die Frage gestellt, warum die als Till Lindemann bekannte Lindenfrau sich nicht zu ihrem Sexus bekennt: dazu, dass sie nämlich eine Korbflechterin ist und kein Korbflechter. Ich glaube, sie tut es nicht, um ihren weichen Kern nicht preiszugeben. Lieber hüllt sie sich in eine grobschlächtige, gleichsam vor Männlichkeit strotzende Gestalt. Doch schon dieser Erklärungsansatz ist reine Spekulation. Und ich sehe ihn/sie leider nur sehr sporadisch, als dass ich den Mut und die Entschlusskraft aufbringen könnte, ihm/ihr solche Fragen direkt zu stellen. Und weiter gehts bis ans Ende der Nacht: 

Lindemanns Messer im Kopf

schleimschwer * brennts dir in den Augen * blattfarben * Spritzer von Spucke * sprich und sprich erzähl faß dich * kurz * Viper rote * Biest du * beiß dir ins Fleisch * wo * alles bleibt * wo * alles treibt * ich beginn * aufatme von vorn * Sporn * noch einmal * keinmal * steigen * in den Fluß * deine Blicke * unberedt * Fluß der von dir geht * fort * gehen muß * Fluß der sich anschleicht an mich * außer sich * bringt Federn * fängt Feuer * alles im Flug * Lot * mich in den Fängen * dich in den Engen * wutrot * alles bleibt * wo * in mir * wo * in dir * den Laut stoß * in die Höhle des Mundes * Hasenhundes * ausgehöhlte * hohle Worte * blasen sich auf * drohen * Wächter des Erdigen * des engelgefüllten Wagen * mein Wage hab ich * vollgelade * voll mit ihnen allen * Schleim auf der Linse * grinse * Lippen rissige * Worte bissige * such ich * dich suchend * weglos in mir * wo die Leere * Herzhöhle aufwartet * wo du * vergnügst dich * verhaßte Sehnsucht * geliebte Liebesflucht * sonnsternige * verläßt meine Augen * Lärm und Putztücher * die mir drohwinken * am Hals hast du sie * über der Schulter * als wär ich dir zur Linken * zu Lasten * als du zu mir kamst * beginn von vorn * denk dran * die Treppe * des Apfels Kern * ich ging kam herein * trat auf meinen Schein * Schatten * der dir in die Füße schnitt * dich fand * im Zorn im Angesicht * es strömte * nur so * Linien in denen ich las * und zurechtbog * Schrift * DEIN HINVERLANGEN * am langen Arm mich * mit meinem heimlichen Hang * Flucht * Sucht * verlier diese Spur * aus dem Blick die Stadt * die Stelle * Helle * den Ort * wo wir uns fertig gemacht * ausgelacht * abgeschlacht * die Ackerblume * Krume * der Platz * das Feld * das weite * mit tausend Ohren * Horen * aus dem Sinn * drum lad ich * alle meine Tage * die Fasern deiner Haut * die Falschheit meiner Waage * aus stell ich mich * schaff an immer an * Tag für Tag * Abend für Abend * schaff an * mein Gesicht mit dem Ausdruck darin * ganz schön * hab ich zugelegt * mich zu dir * das Nasse zum Trocknen * die Schere zur Pinzette * ins Bette die Schwere * den Spiegel zur Ehre * Seele ins Wort * Scherz beiseite * die Wahrheit * einzig gewahrt * diesen Unsinnsort * ich häng * an dir wie am Tropf * und durchtrenn den Schlauch * und feiere die Welt * ein Feuerwehrmann * ein allzu weiser Erdenheld * das Ende seh ich * bekämpf und lösch es mit Wasser und Schwert mit Feuer und Herd Messer Gabel Schere Licht * beschwer mich nicht * mit Speichel und Schleim und Rotz und Sporen und Quecksilberporen * ich werd und werd * nie wieder * Grad Celsius * nie wieder erreich ich den Punkt * neunhundert Jahre muss ich nun warten * bleib * die Viper * braucht Leib alle Zeit * häuten * will sich auch etwas in mir * ein Elendsgarten * leg mich * nicht auf die Seele dir * verlaß die Befehle * Laut der Kehle …..

*** *** ***

Till Lindemann Udo Lindenberg Volker Braun by Asteris Kutulas
Das Volkerbraun mit A.K. im Selfiemodus (photo © by Asteris Kutulas)

Das asymmetrische Volker Braun

Wir glaubten, überall sei eine Wanze – in den Betten, den Kisten, den Lampen. Wir mussten sehr lachen, denn wir wussten, die Bestecke zu benutzen. Das Braunvolker, das einzige Braun unter den vielen Negern. Es kippte Rotwein über die Hand jeder erschrockenen Frau. Danach war sie abgeschreckt. Manche bildeten sich ein, das sähe man ihm an.

Das Braun ist ein homerisch Dichtendes, dem allerdings die Zunge abgeschnitten wurde. Nur kurze Zeit später lernte es auch mit fehlender Zunge zu sprechen, was bis dahin keinem anderen Wesen vor ihm gelungen war. Allerdings schmerzte dies das Braun heftig, weswegen es sich gezwungen sah, verschiedenste Drogen einzunehmen, die wiederum Halluzinationen auslösten, was sich in Schriften wie „Gegen die symmetrische Welt“ oder „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“ niederschlug. Das wurde – vor allem von seinen blutrünstigen Feinden als auch von seinen zahllosen Verehrerinnen – als verzweifelter Versuch gewertet, aus der realen Welt in eine entprägte zu entfliehen, in der dann alles möglich war.

Ich lernte das Braun kennen, nachdem die beiden Auguren Hasi und Nasi (Tierwesengestalten der anderen Art) mich heimgesucht hatten und ich – getrieben von Angst – Zuflucht bei ihm fand. Das Braun erzählte mir, dass es sich bei den beiden um die „Literaturbeauftragten“ der Stasi handele,  die mit allen Schreiberlingen und Szene-Literaten „Kontakt hielten“ … Dann kam das Braun zu einer eher hesiodischen Schlussfolgerung, als es zu mir sagte: „Du bist der Neger … und ich bin halt das Volkerbraun.“ Ich begriff nicht recht, wie das zu verstehen war, da ich als griechische Wesenheit – wie auch das Braun selbst – mit dem schwarzen Kontinent nicht unbedingt viel zu tun hatte, aber das Braun bestand darauf …

Das Braun war einer der theoretischen Vorbereiter für die spätere antike Schrift „Das Mittagsmahl“ und ebnete damit der Renaissance den Weg in die beste aller möglichen Welten, in der es damals lebte. Zwar warf man dem Braun vor, dass es müllere, aber eigentlich kippelte es immer nur und versuchte, sich durch detaillierte Nachforschungen auf dem Gebiet der Nibelungen einen Namen zu machen. So entstand ein Buch über das Schweigen und über die Pflicht zu sprechen. „Wer, wenn nicht wir?“ Es ging dem Braun nicht darum, die Wunden zu ironisieren, auch nicht, die Geometrie des Leidens zu beschreiben, sondern: das Leiden zu historisieren.

Als es in der attischen Demokratie drüber und drunter ging, flüchtete das Braun sich in den Bergbau und wäre dort sicher für immer geblieben, wenn nicht Pestilenzen und Kriege es an seine Bürgerpflichten erinnert hätten. So kam es dazu, dass das Braun auch als Feldherr keine sehr unbedeutende Rolle spielte, was es nicht nur in unzähligen Schlachten unter Beweis stellte, sondern auch dadurch, dass es diese in seiner Kampfschrift „Wir und nicht sie“ für die Nachwelt dokumentierte.

Nachsatz zu Volker Braun

Wir glaubten, überall sei eine Wanze – in den Betten, den Kisten, den Lampen. Wir mussten sehr lachen, denn wir wussten, die Bestecke zu benutzen. Volker, der einzige Weisse unter den vielen Negern. Er kippte Rotwein über die Hand jeder erschrockenen Frau. Danach war sie abgeschreckt. Manche bildeten sich ein, das sähe man ihm an.

© Asteris Kutulas, 2008

Bizarre Städte – Bibliographie

Bizarre Städte Bibliographie

Inoffizielle Buch-/Zeitschriftenedition in der DDR (1987-89)

Folgend das Inhaltsverzeichnis (Bibliographie) aller Veröffentlichungen des selbstverlegten Projektes „Bizarre Städte“:

Band 1 (1987)

Texte Grafik Fotos, Hrsg. von Asteris Kutulas, Berlin 1987 (120 Seiten)
Asteris Kutulas – Vorwort
Harry Mohr – Grafik
Heiner Müller – Was jetzt in der Sowjetunion…/ Rede
Steffen Mensching – Wetter-Bericht/ Essay
Gregor Kunz – Expedition/ Gedichte und ein Text
Asteris Kutulas – Nafplion/ Ein Tagebuch
Harry Mohr – Grafik
Heinz Czechowski – Weltbild/ Gedichte, Essay
Volker Braun – Der Eisenwaggon/ Gedicht
Lothar Walsdorf – Ratten/ Gedichte und Texte
Ina Koutoulas – Echolot/ Gedichte
Horst Hussel – Grafik Horst Hussel – Hageböck und andere Vignetten
Hans Brinkmann – Chanson/ Gedichte und eine Handzeichnung
Harry Mohr – Grafik
Johannes Jansen/Bernd Janovski – Gehsteig/ Collage-Fragment
frank lanzendörfer – garuna, ich bin!/ texte, fotos, grafik

Dem Band ist eine eingelegte Handzeichnung von Johannes Jansen beigegeben.

21 nummerierte und signierte Exemplare.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Einband für Bizarre Städte Band 1 von Horst Hussel

Band 2 (1988)

Texte Grafik Fotos, Hrsg. von Asteris Kutulas, Berlin 1988 (186 Seiten)
Asteris Kutulas – Vorwort
Erika Stürmer-Alex – Collage
Hans-Eckardt Wenzel – Immer wieder Gemeinsinn…/ Rede
Klaus-Peter Schwarz – Ein Saporosher schreibt…/ Brief
inka – Collage
bert papenfuß-gorek – ausdrückliche klage aus der inneren immigration
Klaus-Peter Schwarz – Dokument 17 und Splittersammlung
inka – Collage
Volker Braun – Der Freizeitpark inka – Collage
Heiner Müller – Wolokolamsker Chaussee IV
Ina Koutoulas – Passierschein/ Gedichte
Kerstin Hensel – 1 Märchen, 3 Gedichte und 11 Anschläge
Gerd Adloff – Modebericht/ Gedichte
Erika Stürmer-Alex/Ina Koutoulas – Herkunft Fritz
Rudolf Fries – Alexanders neue Welten/ Aus dem Filmszenarium
Horst Hussel – 6 Briefe an Herrn S. und 1 Zeichnung
Lothar Walsdorf – Frauen ohne Unterleib/ Gedicht vinka – Collage
Lothar Walsdorf – Erwachen/ Variationen…
Rabea Graf – Dialog 1979/ Das Mattenspringen
Asteris Kutulas – Delfisches Gespräch (12 Uhr mittags)
bert papenfuß-gorek – remembering cerstin remembering cerstin
peter böthig – kleiner versuch über den schaden/ essay
peter wawerzinek – mir tut die zunge weh…/ prosa
Bernd Janowski – Es lebe Österreich-Ungarn!/ Photo-biografischer Versuch über die Szene
Hans-Eckardt Wenzel – PAS DE DEUX ALLEMAND/ Ein Spiel
Ulrich Burchert – Bizarre Städte/ 4 Original-Fotos
Anhang – Texte zur Tonkassette

Dem Band ist eine Tonkassette beigegeben mit den “Städteballaden” von Hans-Eckart Wenzel und der Produktion “ation aganda” von bert papenfuß-gorek.

26 nummerierte und signierte Exemplare.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Einband für Bizarre Städte Band 2 von Erika Stürmer-Alex

Band 3 (1988)

Hrsg. von Asteris Kutulas, Berlin 1988 (115 Seiten)
Asteris Kutulas – Vorwort
Steffen Mensching – Aus Gesichtern älterer Freunde/ Gedichte
Kathrin Schmidt – Der eben um die Ecke …
Adolf Endler – Fakt/ Notizen zu einem phantasmagorischen Unterhaltungstatsachenroman
Jan Faktor – Brief
Trakia Wendisch – Tanz/ 5 Bilder
Ina Koutoulas – Kein Sterbenswort/ Gedichte
inka – Beim letzten Ton des Zeitzeichens/ Collagen-Gedicht
Uwe Lummitsch – Ich, Hamlet oder …/ Texte
Volker Braun – Schiff im Land/ Gedicht (1963)
inka – Die unerwartete Rettung der Tochter
Volker Braun – Friedens-Fibel
Heinz Czechowski – Kraft meines Amtes/ Gedichte
Jan Faktor – Kaedings ausgedehnte Häufigkeitsuntersuchungen
Johannes Jansen – Fang/ Texte
Adolf Endler – Bubi Blazezaks gedenkend/ Prosa
Anhang: Giorgos Seferis – Zu einer Wendung von Pirandello/ Essay

Dem Band sind eine Tonkassette mit dem Feature “Stalingrad” von Christiane Müller sowie je eine Grafik von Gottfried Bräunling, Johannes Jansen und Harry Mohr beigegeben, die in einer von Trak Wendisch gestalteten und bemalten Kassette liegen.

24 nummerierte und vom Herausgeber signierte Exemplare.

Einband für Bizarre Städte Band 3 von Trak Wendisch

Dresden Band 1 „Querkette“ (1988)

Texte Grafik Fotos, Auswahl und Redaktion von Gregor Kunz und Thomas Haufe, Hrsg. von Asteris Kutulas, Dresden 1988 (55 Textseiten)
Gregor Kunz – Anstatt blumen/ Vorwort
Matthias Bolz – Fotografik
Tobias Wellemeyer – viola die tauben…/ gedichte
Simon Schade – Versuchsreihen/ Gedichte
Manfred Wiemer – Die Verhinderung des Tages/ Gedichte
Gudula Ziemer – Die Probe/ Erzählung
Leonore Adler – frau im sandhaus/ Leporello
Thomas Haufe – recht/fertig/vorwärts – Texte
Bernhard Theilmann – gruß vom Wolfplatz zwei/ Gedicht
Uwe Hübner – Teatime mit William/ Zwei Texte
Lutz Fleischer – Der kluge Kurt/ Text-Grafik
Yuri Winterberg – Ellens lange Strumpfhosen/ Gedichte
Lothar Barth – verendeter walzer/ Gedichte
Holger Wendland – Gori/ Text
Frank Herrmann – Zwei Fotos
Gregor Kunz – Statuengruppe/ Gedichte
Michael Wüstefeld – Junielegie…/ Gedicht
Uwe Hübner – Länder… / Prosa
Steffen Fischer – Vier Grafiken
Durs Grünbein – Versuch über Melli B./ Text
Manfred Wiemer – Orts Bestimmung der Zeit/ Essay
Ulrike Rösner – Grafik
Asteris Kutulas – Postskriptum des Herausgebers

Alle hier angeführten Grafiken, Fotos und Collagen sind signierte Originale, die im Buch eingebunden sind. Zusätzlich ist dem Band ist eine Grafik von Carsten Nicolai beigegeben.

47 nummerierte und signierte Exemplare.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Einband für Bizarre Städte Dresden Band 1 (1988) von Thomas Haufe

Dresden Band 2 (1989)

Auswahl und Redaktion Thomas Haufe und Gregor Kunz, Edition Bizarre Städte, Hrsg. von A.Kutulas, Dresden & Eggersdorf 1989 (43 Textseiten) (Veröffentlicht 1991)
Lutz Fleischer – Der Müllionär/ Graphik
Gregor Kunz – An Stadtrand. Kein Vorwort
Thomas Haufe – der teutsche michel/ auch kein vorwort
Thomas Rosenlöcher – Das Echo/ Gedicht
Manfred Wiemer – Zur Elbe/ Text
Reinhard Sandner – Im Steinbruch/ Sprachblätter
Thomas Haufe – krenzSituation
Gregor Kunz – Variationen/ NUR WORTE I-IV
Maja Nagel – Zwei Graphiken
Gregor Kunz – Variationen – NUR WORTE V – VII
Carsten Nicolai – Zwei schlafende Augen kleine Menschen fassen/ Graphik
Uwe Hübner – Wenn es am schönsten wird, kommt der Abgrund/ Zu Hermann Lenz
Lothar Barth – Dresden im Oktober/ Gedicht
Roger Bonnard – Zwei Siebdrucke
Lothar Barth – grafschaften & bistümer/ reise durch die bezirke
Gudrun Trendafilov – Leporello
Barbara Köhler – DRESDEN DER KLASSISCHE BLICK/ Texte
Leonore Adler – graugrünes wetter/ graphik-text-blatt Michael Wüstefeld – 2 Texte
Inge Thies-Böttner – Konstruktion
Michael Wüstefeld – 1 Text
Klaus Werner – I.K.A.N./ Rede & Graphik
Bertram Kronenberger – „Gott ist tot“/ Versuch über Friedrich Nietzsche
Jürgen Dreißig – Graphik
Holger Wendland – Patt/ Text
Frank Hermann – Graphik
Heinz Czechowski – Dresden, 13.Februar 1990
Asteris Kutulas – Editorial

29,5 x 22 cm. 44 Blatt und 3 Doppelblatt Text mit Einzeichnungen von Reinhard Sandner sowie 13 Original-Graphiken, davon 9 mehrfarbige, teils mit Text, 4 doppelseitige und 3 als Leporello (je dreifach gefaltete Blatt). Pappband und Umschlag mit einer umlaufenden Photographik von Matthias Bolz. (= Edition Bizarre Städte. Hrsg. von Asteris Kutulas).

Mit einer beigegebenen mehrfarbigen signierten Original-Graphik von Wolfgang Opitz. 

Alle eigebundenen Original-Graphiken entstanden für diese Ausgabe und wurden in der ‘HAUFENPRESSE’ von Irina Claußnitzer und Thomas Haufe gedruckt. Die Graphiken stammen von Lutz Fleischer, Thomas Haufe (signiert), Maja Nagel, Carsten Nicolai, Roger Bonnard, Gudrun Trendafilov (signiert), Leonore Adler, Inge Thies-Böttner (signiert), Klaus Werner (signiert), Jürgen Dreißig und Frank Hermann.

25 nummerierte und signierte Exemplare.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Einband für Bizarre Städte Dresden Band 2 (1989) von Thomas Haufe

Band 4 (1989)

Hrsg. von Asteris Kutulas und Gerd Adloff, Eggersdorf 1989 (82 Seiten)
Asteris Kutulas – Statt einer Vorrede
stefan döring – sinnlos/ gedichte
Gerd Adloff – Als mein linkes Bein…/ Gedichte
Ina Koutoulas – Ausreise/ Gedicht
frank lanzendörfer – sicherheitstrakte/ text
Johannes Jansen – Papageien sterben …/ Essay über Lanzendörfer
Mario Persch – Schonkost, Appetit und Selbstverpflegung/ Essay
Matthias Baader Holst – Ist es einfach, Punk zu sein?/ Selbsttötungen …
olaf nicolai – die fäden der ariadne/ annäherung
Jörg Niebelschütz – Imaginäre Rede/ Texte
Mario Persch – Autopsie/ Gedichte & Texte
Matthias Baader Holst – viel spaß auf der titanic/ texte
Thomas Bischoff – Im Standbild des Treptower Parks
Kerstin Hensel – Kassberg/ Erzählung
Annett Gröschner – Maria im Schnee/ Texte
Zu „Maria im Schnee“: F. Legler/ K. Hensel/ T. Köhler/ K.Laabs
Elisabeth Wesuls – Neunmalklug ist auch wieder dumm/ Essay
Annett Gröschner – Anekdoten/ Essay
Freymuth Legler – Fetzer/ Stück
Gerd Adloff – Nachrede
Anhang: Asteris Kutulas – 1 Erwiderung & 1 Anmerkung

54 Exemplare.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas

Sonderheft 1 (1989)

Hrsg. von Asteris Kutulas, Berlin 1989 (73 Seiten)
Asteris Kutulas – Vorwort
Heinz Czechowski – Hotel Smolka/ Gedichte
Jurij Koch – Die Schmerzen der auslaufenden Art/ Essay
Steffen Mensching – Literatur und Wirkung/ Rede
Uwe Kolbe – Rundfunk-Essay
Lothar Trolle – Meine Klassiker und ich/ Geständnisse
Uwe Hage-Ali – „Wir sind kein Familienkreis…“/ Betrachtung
Adolf Endler – Randnotiz über die Engel Sarah Kirschs
Christiane Müller – Das Private…/ Drei Interviews mit Malerinnen
1) Doris Ziegler
2) Annemirl Bauer
3) Angela Hampel
Anmerkungen

54 Exemplare.

Sonderheft 2 (1989)

4° (29 x 20,5 cm). 74 Blatt mit einem signierten Original-Siebdruck („Wohingehen“) von Harald Gallasch und einem xerokopiertem Photo von Ulrich Burchert. Schwarzer Karton, geheftet mit schwarzem Leinenstreifen. Vorderdeckel mit montiertem Titelschild (= Edition Bizarre Städte. Hrsg. von Asteris Kutulas).

Hrsg. von Asteris Kutulas, Eggersdorf 1989 (74 S.)
thomas haufe – die sanfte hölle & das pro im contra
rainer schedlinski – aussichtslos…/ 3 gedichte & 1 brief
Erich Sobeslavsky – Antwort an Ralf Winkler/ Gedicht
Fritz Rudolf Fries – Nun ja! …/ Für C. Wolf
Trakia Wendisch – Extremistische Prosa
Matthias Flügge – „Kunst, Sprache, Kunstkritik“ (Rede) Jörg Wolf – Zum Verhältnis Kultur-Volkskultur Angela Hampel – Rede
Hubertus Giebe – Rede
Johannes Heisig – Rede
Zur „Lücke“ (1971-76)
Wolfgang Opitz – Ralf Winkler und die dresdner „Lücke“ (Interview)
Ullrich Burchert – Wolfgang Opitz/ Foto
Ralf Winkler – Manifest 1971
Harald Gallasch – Negation…/ 3 Texte & 1 Siebdruck
Anhang: Mikis Theodorakis – Anti-Manifest (Auszug)

49 nummerierte und signierte Exemplare.

Sonderheft 3 (1989)

Hrsg. von Asteris Kutulas, Eggersdorf 1989 (56 Seiten)
Volker Braun – Die Wende/ Gedichte
janet fiedler – unterstellen wir…/ Essay
Holger Teschke – Durch die Geschichte…/ Rede
Holger Jackisch – Nach der Art unseres Landes/ Essay
rainer schedlinski/andres koziol – editorial zur ariadnefabrik
asteris kutulas – .usf 1,2,3/ rede
Heinz Czechowski – Wohin?/ Rede
thomas haufe – kopfsäge/ 2 texte
lothar barth – annoncen/ 1 film & 2 gedichte
Lothar Trolle – Barackenbewohner/ Bibelgeschichte
Reinhard Jirgl – Brunnen-, Ecke Invalidenstraße …
detlef opitz – fliehend bomben/ erzählung
Helga Schubert – Die Parade
Gundula Ziemer/Holger Jackisch – Akropolis Nr.13/ Reportage
Anhang I: Odysseas Elytis – Immerzu kauen die Pferde …/ Texte
Anhang II: Jannis Ritsos – 9 Tristichen

60 Exemplare.

Sonderheft 4 (1989)

Hrsg. von Asteris Kutulas, Eggersdorf 1989 (71 Seiten)
Steffen Mensching – Notate im November
Heinz Czechowski – Ein bißchen zuviel/ Gedicht
Christoph Hein – Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr/ Rede
Fritz Rudolf Fries – Die Westmark fällt weiter – eine Utopie?
Elmar Jansen – Stadt-Bilder, Traum Bilder/ Skizzen zu einem Roman-Führer
Peter Böthig – Subverstanden/ Essay zu Lanzendörfer
frank lanzendörfer – brandvorsatz/ 2 texte
cornelia sachse – around. before LISA in america/ Text
Lothar Trolle – Die Frauen/ Bibelgeschichte
Thomas Bischoff – Thesen zum (Theater)Naturalismus in der DDR
Fritz Rudolf Fries – Notate zu Bildern von Heinz Trökes und Otto Möhwald
Asteris Kutulas – Nachbemerkung
Anhang
Therese Dietrich – Philosophiekongreß 89
Christoph Hein – Öffentliche Erklärung
Heinz Czechowski/Thomas Rosenlöcher – Brief
Mikis Theodorakis – Meine Zusammenarbeit mit den griechischen Konservativen/ Interview
Fritz Rudolf Fries – Braucht die neue Republik neue Autoren? Versuch einer ernsten Glosse
Asteris Kutulas – Bibliographie der Bizarre-Städte-Produktion

60 Exemplare.

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Grafikedition Bizarre Städte (1988)

(Mappe in bemaltem Schuber)
Mit Grafiken von Gottfried Bräunling, Horst Hussel, Johannes Jansen, Harry Mohr, Erika Stürmer-Alex, Trak Wendisch. Mit einem Text von Elmar Jansen. Hrsg. von Asteris Kutulas, Berlin 1988.

26 nummerierte und signierte Exemplare.

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johannes jansen & rainer görß, problemtext/problemskizzen (1989)

edition bizarre städte, hrsg. von asteris kutulas, eggersdorf 1989.

39 nummerierte und signierte Exemplare.

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Ina Kutulas & Gottfried Bräunling – Gedichte & Grafik (1987)

Sonderedition Bizarre Städte, Berlin & Athen (o.J.) [1987] Mit 12 mehrfarbigen Siebdrucken.

100 nummerierte und signierte Exemplare.

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Bizarre Städte Bibliographie. Alle Bücher/Hefte (auch die Grafikedition) im Din A4-Format. Das jansen/görß-Heft im Din A5-Format. Sämtliche Texte in den „Bizarren Städten“ sind mit einem Atari-Computer geschrieben und mit einem Tintenstrahldrucker vervielfältigt worden. Einige Beiträge von Band 1 und alle von Band 2 und 3 wurden auf getöntem Recycling-Papier xerokopiert. Für den zweiten Dresden-Band wurde weißes Recycling-Papier für die Fotokopien verwendet. Die Sonderedition hat ein eigenes Format. Der Text ist gesetzt und gedruckt worden, das Buch fadengeheftet.

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Auf die Idee, eine „unabhängige“ Zeitschriftenedition in eigener Regie zu produzieren, kamen wir mit Johannes Jansen und Ina irgendwann mal im Frühjahr 1987. Von Johannes kam auch der Titelvorschlag in Anlehnung an das Gedicht „Bizarres Städtchen“ von Vítezslav Nezval. Das ganze war eine Art gelebter Utopie an diesem „Kein Ort. Nirgends“, der damals für uns Pankow hieß. Der erste Band erschien 1987, der letzte 1989, kurz nach dem Mauerfall. Im Nachhinein betrachtet, war es schon irgendwie „Selbstbetrug“, eine große Portion „Feigheit“, gepaart mit einer kleinen Portion Mut. Ein winziger Kreativitäts-Strohhalm in einem stürmischen Meer. Wir waren jedenfalls nicht ganz Herr der Lage.

Asteris Kutulas, Herausgeber der „Bizarren Städte“, 1991

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Autoren, Maler, Fotografen oder Musiker, die in BIZARRE STÄDTE veröffentlicht haben (alphabetisch)

Adler, Leonore
Adloff, Gerd
Barth, Lothar
Bauer, Annemirl
Bischoff, Thomas
Böthig, Peter
Bolz, Mathias
Bonnard, Roger
Braun, Volker
Bräunling, Gottfried
Brinkmann, Hans
Burchert, Ulrich
Czechowski, Heinz
Dietrich, Therese
Döring, Stefan
Elytis, Odysseas
Endler, Adolf
Faktor, Jan
Fiedler, Janet
Fischer, Steffen
Flanzendörfer
Fleischer, Lutz
Flügge, Matthias
Fries, Fritz Rudolf
Gallasch, Harald
Giebe, Hubertus
Görß, Rainer
Gröschner, Annett
Grünbein, Durs
Hage-Ali, Uwe
Hampel, Angela
Haufe, Thomas
Hein, Christoph
Heisig, Johannes
Hensel, Kerstin
Herrmann, Frank
Holst, Matthias „Baader“
Hübner, Uwe
Hussel, Horst
Jackisch, Holger
Janowski, Bernd
Jansen, Elmar
Jansen, Johannes
Jirgl, Reinhard
Koch, Jurij
Köhler, Barbara
Köhler, Thilo
Kolbe, Uwe
Koutoulas, Ina
Koziol, Andres
Kronenberger, Bertram
Kunz, Gregor
Kutulas, Asteris
Laabs, Klaus
Lanzendörfer, Frank
Legler, Freymuth
Lummitsch, Uwe
Mensching, Steffen
Mohr, Harry
Müller, Christiane
Müller, Heiner
Nagel, Maja
Nicolai, Carsten
Nicolai, Olaf
Niebelschütz, Jörg
Opitz, Detlef
Opitz, Wolfgang
Papenfuß-Gorek, Bert
Persch, Mario
Ritsos, Jannis
Rösner, Ulrike
Rosenlöcher, Thomas
Sachse, Cornelia
Sandner, Reinhard
Schade, Simon
Schedlinski, Rainer
Schubert, Helga
Seferis, Giorgos
Schmidt, Kathrin
Schwarz, Klaus-Peter
Sobeslavsky, Erich
Stürmer-Alex, Erika
Teschke, Holger
Theilmann, Bernhard
Theodorakis, Mikis
Thies-Böttner, Inge
Trendafilov, Gudrun
Trolle, Lothar
Walsdorf, Lothar
Wawerzinek, Peter
Wellemeyer, Tobias
Wendisch, Trakia
Wendland, Holger
Wenzel, Hans-Eckardt
Werner, Klaus
Wesuls, Elisabeth
Wiemer, Manfred
Winkler, Ralf
Winterberg, Yuri
Wolf, Jörg
Wüstefeld, Michael
Ziegler, Doris
Ziemer, Gudula

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Bizarre Städte, Asteris Kutulas, DDR-Kunst
Metallschuber der Edition „Ausdrückliche Klage“

Der Bizarre Städte „DDR-Sarg“: Ausdrückliche Klage aus der inneren Immigration (1992)

Ausdrückliche Klage aus der inneren Immigration. Texte und Grafiken aus der DDR. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas und Udo Tietz. Echternach (Luxemburg), Edition Phi (April 1992). 4° (34 x 26 cm). 25 Blatt mit 8 ganzseitigen (davon 5 mehrfarbigen) Original-Graphiken. Heller Pappband mit rotem Deckeltitel und gelben Rückentitel in Metallschuber, mit gelber, roter, schwarzer und weißer Typographie.
125 handschriftlich nummerierte und von der Herausgebern signierte Exemplare. Druck in Rot und Schwarz auf 250 GR RIVES BFK.
Enthält Graphiken von Frank Wahle (Holzschnitt), Frank Lanzendörfer (Siebdruck), Angela Hampel (Siebdruck signiert), Trak Wendisch (Siebdruck, signiert), Antoinette Michel (Siebdruck signiert), Wolfgang Henne (Lithographie signiert), Johannes Heisig (Lithographie, signiert) und Steffen Volmer (Lithographie, signiert).
Textbeiträge (teils Erstdrucke) von Bert Papenfuß-Gorek „klage aus der inneren immigration“, Ina Kutulas, Frank Lanzendörfer, Kerstin Hensel, Gregor Kunz, Steffen Mensching, Kathrin Schmidt, Hans-Eckardt Wenzel, Lothar Walsdorf, Uwe Kolbe und Hans Brinkmann.

Bizarre Städte 1987-89

Bizarre Städte (1987-1989) – Ein Interview

Aus dem Leben eines Taugenichts-Germanisten (Tagebücher 1979-84)

Germanistik Leipzig Tagebuch (während meines Studiums 1979-84 an der Universität Leipzig)

Ich habe hier in meinem Germanistik Leipzig Tagebuch einige meiner zahllosen Tagebuch-Notizen aus der Zeit meines Germanistik-Studiums in einer kleinen Auswahl zusammengefasst, die ein Puzzle von Eindrücken aus jenen Jahren ergeben, die für mich unglaublich intensiv und sehr spannungsreich verliefen. Diese Notizen sollen die ständige Suche, Naivität, Unverfrorenheit und Lust offenbaren, die mein Leben damals prägten und einen ausschnitthaften Blick in die ziemlich melancholische „Welt eines Germanistik-Studenten“ ermöglichen, der zwischen DDR und Griechenland changierte. 




1979, Literatur und Obsessionen

25.10.79 ||| Die Zeit ist so schnell vergangen, wie im Fluge. Kein Halten. Nun bin ich Germanistik-Student. Alle Tage lernen, lesen, lernen, lesen ad infinitum. Die Deutsche Bücherei: meine zweite Heimat, Wohnung, ein Bett dort wäre gut. Das Studium ist mein Element. Hoffentlich bleibt es das auch. 
Vergangenes Wochenende war ich in Weimar beim Zwiebelmarkt. Der Zug kam um vier Uhr früh im Weimarer Hauptbahnhof an. Die Fahrt über musste ich stehen, weil er überfüllt war – ich zwischen den Aussteigern der Gesellschaft, den Rockern, Intellektuellen und Sehnsuchtsvollen. Es herrschte eine unwahrscheinliche Kälte. Auf dem Bahnhofsvorplatz standen die Hundertschaften der Polizei mit Hunden Spalier. Das Willkommen der Staatsmacht, aus reiner Vor-Sorge, damit wir wissen, wer hier die Kontrolle und das Sagen hat. ||| Ich hoffte, Tati zu finden. Doch sie war mit Bettina Wegner bereits nach Halle-Neustadt gefahren, wohin auch ich mich am Sonnabend begab. Dort tauchte dann Peter auf. Allerdings war Tati inzwischen wieder nach Leipzig getrampt und suchte mich. Das Konzert mit Bettina Wegner in Halle war melancholisch, voller Trauer. Ich übernachtete in irgendeinem Zelt der zugereisten Wegner-Fans. Nach dem Konzert, irgendwann mal spät nachts, bot mir ein abgefahrener Freak an, mit seiner Freundin zu schlafen. Was diese Leute zusammenführt und zusammenhält sind Illusion, Selbstbetrug, Mode, Hass, Träume. In Halle-Neustadt waren Werkstatt-Tage der Jungen Gemeinde. Unter dem Dach der Kirche lasst es sich einfacher opponieren. 



30.10.79 ||| Ich wachte heute in einem mir fremden Bett auf. Sie dachte, was er will. Und sagte, beruhig dich. Die andern sind nicht mehr da, du kannst wieder aufstehn, dich waschen, deine Zigarette rauchen, deine Angst ablegen. Diese Maske, dachte sie. Und flüsterte, oder schlaf einfach. Du musst nichts tun. Keiner wartet mehr auf dich. In seinem Gehirn überschlugen sich Bilder, er tastete unentwegt den leeren Raum ab, schrie, Erbarmen! Habt Erbarmen mit uns! Mit uns?, fragte sie, schaute ihn an, stand auf, sich gegen seinen Wahn zu wehren, irgendwie. Er aber starrte nur, verstand ihre Frage nicht. Das ist so, erklärte er, sie schüttelte damals die Furcht ab und schritt langsam durchs Wohnzimmer, das sie schon seit Jahrhunderten umgab. Er versuchte vergeblich, diese Assoziation zu verdrängen, es riss ihn tiefer und tiefer in den Sumpf.

23.12.79 ||| Der Wievielte ist denn nun heute? Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, und ich kann nicht glauben, in welch rasantem Tempo die Wochen verfliegen. Selbstbetrug. Nachdenken – Zeit der Rechenschaft, als ob ich Dir etwas oder wenig verraten kann. Ach ja, Festival ist, und damit kam auch die Erinnerung an meine Einsamkeit zurück. Schade, dass sich Gedanken ohne Anmeldung einstellen. Rufe ich sie denn? – wie das Gedächtnis, das mich nicht fragt nach Einstellung und Passion. Wie Dich und all die anderen. Verständnis … All das fällt mir so schwer … Literatur als Rettungsanker.

1980, Germanistik und Lyrismus

31.3.80 ||| Die Sonne rettet mich immer wieder, obwohl meine Naivität immer wieder versucht, mir Fallen zu stellen. Dann stürze ich jedes Mal ins Bodenlose – mit dem Kopf zuerst. Und vielleicht rettet mich das jedes Mal (dieses Stürzen + Sonne), weil man doch mit dem Kopf denkt. ||| Immer: Zeichen von Kontinuität mit Sinn. Denn, nur dann lernt der Mensch und das ist zwingend. Habe in letzter Zeit schöne Briefe bekommen. ||| … Es gibt Menschen, die mir viel bedeuten und denen ich niemals wehtun möchte und es vielleicht doch mit jedem Wort tun muss, weil ich nicht lügen kann … ||| … So, jetzt weißt du über mich bestens bescheid, ist jetzt schon nach Mitternacht. Lass mal hören, was Du zurzeit treibst. ||| Ich … Und … Die Tropfen meiner vergessen geglaubten Gedanken versickern langsam und sinnlos in die Erde.

5.4.80 ||| Du. Vermeintliche Stille. Du. Die sich in meinem Verstand bewegend, erinnernd versucht, mich abzulenken. Um dich zu berühren, muss ich dich verletzen. Um dich zu verstehen, muss ich mich bezwingen. So, wie die Tränen bitter die Wange hinuntergleiten, gleich einer suchenden Lupe, die verlöschende Spur der Einsamkeit hinterlassend, sehe ich dich mir zulächeln. ||| Schrei. Aufschrei. Beschrei ihn doch. Er ist nur – das Glück. (Dieser schmutzige Bastard der Einbildung.) Aufschrei deines Magens und der deiner Beine gegen das Eintreten in die Alltäglichkeit. Und der deiner Geschlechtsorgane, die ihre Identität verloren. Sumpf deiner Erinnerung. Essen. Aufessen. Iss doch – deine Gemütlichkeit Gabel – dein Stumpfsinn Maul. Du bist doch … der glücklichste Mensch.

1.6.80 ||| Die mich glücklich machen, wissen es nicht.

13.6.80||| Jeder Germanist soll ein verkappter, ein gescheiterter Lyriker sein. Bei mir stimmt das zu 100%. Griechenland rückt näher. Verlorenes Lachen. Sucht deine Lippen. Flüchtig. Insektengleich mit leichten Flügeln. Ein saurer Geschmack. Berührt. Deine Lippen. Versucht. Deine Augen. Versucht. Und erstickt an einem Tropfen. Versinkt darin. Wie die Selbstverständlichkeit deiner Unruhe. 



14.6.80 ||| Heute Sprachtheorie-Klausur. Dann nach Dresden gefahren. Bekam Besuch. Habe mich wieder einmal unmöglich (d.h. sehr gereizt und nervös) verhalten.

23.6.80 ||| Prüfungsvorbereitung von morgens bis abends. Die Germanistik treibt mich in den Lyrismus.

29.7.1980, Dresden ||| Schluss. So fühle ich mich auch. Das erste Studienjahr der Germanistik ist vorbei. Am Freitag wartete ich auf die Straßenbahn, um zum Bahnhof zu fahren – und für einen Augenblick war ich traurig bis tief in die Seele. So, nur ganz kurz, fühlte ich, wie ich an diesem Leben hänge (Literatur, Literatur, Literatur). Auf eine existentielle Art und Weise hat mir Leipzig viel gegeben – die Spannung, das Studium, die Leute. Nur aufpassen, dass mir das alles nicht über den Kopf wächst. Leider komme ich noch nach einem Jahr nicht mit allen Leuten aus meiner Seminargruppe zurecht: „Richtig“ kenne ich niemanden. Das liegt auch an meiner Überheblichkeit – Literatur ist alles … Jetzt sind Ferien … Schluss.

Griechische Literatur in Deutschland – Ein Interview

10.9.80, Athen ||| „Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger gelesen: ein großes Erlebnis – ich habe gelacht, mir kamen die Tränen. Es entsprach mir sehr. Amerika muss irre sein. Eine verrückte, sinnlose, alles absorbierende Welt. ||| Ich müsste langsam anfangen, etwas zu schreiben. Mir ist irgendwie alles egal – einerseits, andererseits bin ich schrecklich arbeitsbesessen. Salinger-Einfluss. Ich fühle mich wohl und zugleich deprimiert. Ich kann mich auf nichts richtig konzentrieren und es ausdauernd betreiben – fühle, dass ich eine langwierige Krise durchmache – so unsicher, so sicher, voll von Kram, leer, Punkt Punkt Punkt, Musik ist was Schönes und Kerzen und Liebe, außerdem die kühle Feuchtigkeit der Träne und das erloschene Licht und italienisch … 

    

16.9.80, Athen ||| Heute fahre ich ab, zurück nach Leipzig. Erwartung, Hoffnung – verflogene Traurigkeit … ||| Im Zug: „Vielleicht“ – das Wort gefällt mir sehr. Nicht, dass ich es „kenne“, aber ich mag es. Schon wieder. All diese Zeit, vergangen (was sehr wichtig ist), hinter den hohen Wolken vereint, trotzen, ohne Sinn; zum Teil verwest, wer weiß. Blicke aus blassgrünen Augen, versuchen deine Stirn zu berühren.

1.10.80, Berlin ||| Shakespeares‘ „Zähmung der Widerspenstigen“ im Berliner Ensemble gesehen. Oder auch: mehr zu wissen als andere, sich in die Lüfte erheben, auskosten das miese Leben und all diejenigen hintergehen, die uns umgehen und nicht wissen, wer wir sind. Ja, ja, nur so kann das Glück für uns Glück bedeuten.

17.10.80 ||| Bin inzwischen definitiv theatersüchtig. Freitag Carl Sternheims „Bürger Schippel“ gesehen. |||Sonnabend mit M. verbracht, die mich nach Dresden begleitete (eigenartiger Mensch; über sie muss ich mal nachdenken). Sektfrühstück: schöne Sache. Noch schöner … wenn man sich lieben würde. ||| „Woyzeck“ mit Klaus Kinsky gesehen, Wahnsinn. Großartiger Film von Werner Herzog. Ja, so kann man Büchner für heute, für die Gegenwart erschließen. Und dazu noch mit einer fast wörtlichen Textkonsequenz. ||| Sonntag: „Lina Braake“ von Bernhard Sinkel gesehen.

16.11.80 ||| Intensive Zeit, weil ich viel schaffe. Vielleicht nicht fachlich, aber immerhin: Einige spannende Filmklassiker gesehen: Eisensteins „Que viva Mexiko“, Ingmar Bergmanns „Das siebente Siegel“, Georgi Danelijas „Marathon im Herbst“. Und im Staatstheater Dresden eine grandiose Aufführung von Lessings „Nathan der Weise“.||| Außerdem Übersetzungen von Ritsos‘ „Makronissos“ und „Griechentum“ abgeschlossen.

25.11.80, Leipzig ||| Letzte Woche viele Konzerte besucht: von Schicht „Lieder des Thyll Ulenspiegel“, von Karls Enkel das „Mühsam“-Programm, Brigade Feuersteins‘ „Spektakulum“, Schwarze Pumpe, Gruppe „Neue Musik“ Weimar usw. ||| Immer wieder in der Diskussion: „Volksverbundenheit der Kunst“ – was soll das sein? Was „Wahrheit“. Sinnbestimmung. ||| Auch in Dresden: Prof. Günter Meyer, mit dem ich mich lange über Hanns Eisler unterhielt.

31.12.1980, Silvester ||| Obwohl sie ihn hasste wegen seines ekelhaften Aussehens, seiner gewöhnlichen Art, seines langweiligen, von anderen im Voraus festgelegten Schicksals, obwohl sie ihn sofort getötet hätte, wäre der Befehl erteilt worden, wusste sie nichts von ihm, kannte nicht ihren Feind, er war ihr gänzlich unbekannt, unerkannt hätte er sich ihr nähern können, sie hätte sich womöglich in ihn verliebt, hätte sich ihm hingegeben, ihm ihre Schenkel geöffnet, aber nein, das wäre unmöglich gewesen, ihre Insel und seine Wüste waren zu weit voneinander entfernt. Übergangslos … durch perfekte Grenzen geschieden, allen Normalen der Zugang versperrt, nur wenigen der Übertritt gelingend, und der mit Verlusten verbunden, mit Schmerzen. Bist du ein Zuhälter, was bist du?, schrie sie ihn an.

1981, Transzendentale Obdachlosigkeit

5.1.81 ||| Nachdem ich das Heinrich-Böll-Buch verschlungen hatte, sah ich heute dessen Verfilmung: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Volker Schlöndorff.

14.1.81, Berlin ||| Ich konsumiere ein Theater-Stück nach dem andern: im Berliner Ensemble: „Hofmeister“ von J.M.R. Lenz in der legendären Bearbeitung von Brecht, „Jegor Bulytschow und die anderen“ von Maxim Gorki, „Der große Frieden“ von Volker Braun. ||| Das Unbegreiflichste: 1. meine Abgestumpftheit, 2. A. u. A. wollen sich scheiden lassen. ||| Wo ist der Ort, an dem ich innehalten, sein könnte?

20.1.81 ||| Letzte Woche Flauberts „Madame Bovary“ und Turgenjews „Vorabend“ ausgelesen; außerdem Verfilmung von „Franziska Linkerhand“ (Brigitte Reimann) und „Unser kurzes Leben“ von Lothar Warneke gesehen. Gestern „Die Überfahrt“ von Anna Seghers beendet. Aber jetzt bin ich beim bislang Allerbesten: Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“. Völlig verrücktes Buch. Stadtkneipe, Student & Beamter: Gespräch über Zukunft (Motiv des Vertrauens): Man braucht einen Menschen, einen Platz im Leben. Parallel zu Dostojewski studiere ich Bakunins Anarchismus-Analyse … und lese nebenbei Juri Trifonow. Eines der Hauptthemen der Sowjet-Literatur: das Problem des Gewissens, Immanuel Kants „Sittengesetz in uns“ – aber alles beginnt mit Dostojewski. Vergleiche auch mit Tendrjakows „Das Gericht“ (Gewissen) oder Aitmatows „Weißer Dampfer“ oder Rasputin: „Leb und vergiß nicht“ & „Matjora“ oder vieles von Schukschin. ||| Beim Lesen von „Woher sie kommen, wohin sie gehen…“ (Seghers-Essay) zu Schiller und Dostojewski, kam mir in den Sinn: Dostojewski-Konferenz (Ausgangspunkt für schonungslose Kritik) auch für DDR relevant (wann endet endlich diese furchtbare Formalismus-Debatte, dieses Dogma?). ||| Die eigentliche Errungenschaft bei Dostojewski in „Idiot“ und „Gebrüder Karamassow“: neue Romanstruktur entwickelt, eine polyphone Struktur (Werk: Modell der Welt! / keine bloße Widerspiegelung). ||| Die großen Individuen (Haupthelden) verschwinden … Goethes „Faust“ führt zu Dr. Faustus und einer zweiten Hauptfigur bei Thomas Mann. Oder bei Dostojewski selbst: Gebrüder Karamassow (3 plus 1 unehelicher Sohn). Der Idiot (Menschen gehören zusammen, aber tragische Zeit). ||| 1849 der Wendepunkt bei Dostojewski. Seine Beinah-Hinrichtung. Epilepsie. Ich liebe das Düstere, Melancholische und Kraftvolle bei Dostojewski. ||| Grund für die Todesstrafe Dostojewskis, die in Verbannung in Sibirien umgewandelt wurde: Belinskis Brief an Gogol, den Dostojewski vor Anhängern Petraschewzis vorlas. Unter Gogols Einfluß entstand bereits 1846 auch sein Erstlingswerk „Die armen Leute“ – nach E.T.A. Hoffmanns „Der Doppelgänger“ (das doppelte Wesen/ der bürgerliche Intellektuelle/ Entfremdung/ die doppelte Existenz … kritischer Realismus). Dostojewski lehnt das Bürgertum bereits ab, bevor dieses richtig an die Macht kommt! / vor ihm schon Gogol 1842 in „Tote Seelen“. Reisen durch Westeuropa: Kennenlernen des europäischen Kapitalismus.



25.1.81, Dresden ||| „Wie es euch gefällt“ von Shakespeare im Großen Haus. ||| Zur Zeit meine Fächer im Germanistik-Studium: Althochdeutsch (Prof. Große), Weltliteratur/ Englische Literatur (Prof. Seehase), Sprachgeschichte (Dr. Weber), Literatur des 19. Jahrhunderts (Dr. Albus & Prof. Richter), Geschichte der deutschen Sprache (Dr. Weber), Lexikologie (Dr. Fleischer), Klassizismus und Moderne/ Goethe (Dr. Träger), Lexikologie (Dr. Barz), Englisch (Dr. Middell), Dramatik (Dr. Träger), Heinrich-Heine-Seminar, Marxismus-Leninismus, Geschichte der Ästhetik (Prof. Uhlig), Politische Ökonomie.

Odysseas Elytis Begegnungen

24.2.81, Leipzig ||| Am Wochenende viel unternommen: Das Stück „Arno Prinz von Wolkenstein“ von Rudi Strahl und „Maria Stuart“ von Friedrich Schiller gesehen. Strahl langweilig, Schiller herausragend. Stendhals „Rot und Schwarz“ ausgelesen. ||| Lese Maxie Wanders „Tagebücher und Briefe“: beeindruckend und sehr wahr, irgendwie, als ginge es immer um Leben und Tod. „Ich bin glücklich, ich bin am Ende.“ | „Wir wissen nicht, was wir haben, erst wenn die Wände zittern und der Boden unter unseren Füßen wankt, wenn diese Welt einzustürzen droht, ahnen wir, was Leben bedeutet …“ | So viel „DDR“ in ihren Tagebüchern, so viel Melancholie. | „Doch was lernen unsere Kinder? Leistung, Konsum, Stillhalten, Konformismus, Egoismus …“ | „Ich weiß ja, wie schwer es allen wird, irgendetwas zu sagen, aber ein bissl Anteilnahme erwartet man halt doch, ist leider so, und nicht nur das allgemeine stumpfe Schweigen!“ Sie hat recht. | „Das, was wir hier betreiben, Tanja, dass Menschen sich lange Briefe schreiben oder nächtelang ernsthaft diskutieren, das ist doch ein Luxus! Du beklagst Dich mit Recht, aber die Tatsache, dass Du in der Lage dazu bist, das nötige Bewusstsein hast, spricht für Deine privilegierte Situation, im Weltmaßstab gesehen.“ | „Aber Menschen sind nun mal keine Tomaten.“ | Erinnert mich an Brecht, Tagebuch 26. März 1921: „Alles, was ich nicht gelebt habe, die tiefe Trauer über ungelebtes Leben, wieviel Schönheit uns verlorengeht, für immer. Und wir lebten manchmal so, als ob wir unermesslich viel Zeit hätten!“ | Unsere Kinder: „gezähmte Elefanten“ |  „Sie ist schwer zu ertragen, diese Einsamkeit unter den Menschen.“ | „Warum bin ich so bitter, warum bin ich so hell?“ | „Mach nur weiter, das ist vernünftig, normal und notwendig, das alles wird von Dir verlangt, nicht denken, nicht daran rühren, mach nur so weiter, du wirst schon sehen, es geht, probiere!“ | T. Williams wird zitiert: „Die Zeit stürzt auf uns zu mit ihren Medikamententischen voll zahlloser Betäubungsmittel, während sie uns doch schon vorbereitet auf die unvermeidliche, die tödliche Operation.“ | Oft habe ich ähnlich gefühlt wie Tolstoi, der zitiert wird (211): „In diesen beiden Jahren beharrlicher geistiger Arbeit entdeckte ich eine einfache Wahrheit, die ich aber nur so kenne, wie niemand sie kennt: Ich entdeckte, dass es Unsterblichkeit gibt, dass es Liebe gibt und dass man für den anderen leben muss, um ewig glücklich zu sein!“

24.2.1981 ||| Auf der Straße vor dem großen Haus beobachtete ich einen Mann, der einen kleinen Kanister aufschraubte und sich mit Benzin übergoss. Die Passanten erstarrten, einige glotzten auch neugierig, vielleicht aus Lust oder Angst oder aus einer Mischung dieser beiden Gefühle, warteten ab. Der Mann stellte den Benzinkanister wieder neben den Stuhl, dunkelbraun und verziert mit seltsamen Schnitzereien aus der Jugendstilzeit. Nackte romantische Frauen hatte ich schon oft gesehen. Warum also diese Konzentration in solch einem Augenblick auf diesen Stuhl, da ich niemals zuvor (und danach auch nicht) auf so etwas geachtet. Der Mann, offensichtlich verrückt, trotz seiner klaren blauen Augen, nahm aus der Westentasche eine Schachtel, zündete mit ruhiger Hand ein Streichholz an, rief mit sonorer Stimme das unbegreifliche Wort: Nostalgia! und führte das brennende Streichholz an seine Jacke. Das zischte und erlosch. In diesem Moment herrschte völliges Schweigen. Er sprach langsam und deutlich: Ein Mann wird kommen und mit ihm die Hoffnung … Amen! schrien die anderen. Amen! Amen! Ich dachte an eine Filmszene, fühlte mich bedrängt von der schamlosen Menschenmasse, verloren im Osten.

27.2.81, Berlin ||| Premiere „Mann ist Mann“ von Brecht im Berliner Ensemble gesehen. Nein, Maria, ich habe Dich nicht vergessen. Nur – meine Worte sind mir ausgegangen; die Leidenschaft hat sich verkrochen in einen stumpfen Winkel, wartet, wartet … Dass Du zu mir gehörst – wie wäre es anders – ein Teil bist von mir; jetzt Legende: oft denke ich an Dich, wie an eine verzauberte Fee: als Ideal? Soll ich es mir wünschen? Du bist fern – das Leben fließt, nimm mich mit – habe viel gelernt. So hast Du mir also geholfen – am Anfang, ohne dass ich es merkte, jetzt habe ich es verstanden. Wenn ich spreche – werde ich verstanden? Wenn ich nicht spreche – sage ich Dir nicht viel mehr? 



1.3.81 ||| War heute bei Elektra und Jochen. Privat-Party: Claus, Marlies, Thomas … bis 4 Uhr früh – viele politische Gespräche. Ein interessanter Gedanke dabei: in der DDR herrscht Feudalsozialismus – ein in Gebiete und unter einem hierarchischen System von „Bonzen“ aufgeteilter Staat. ||| Tagsüber Schinkel-Ausstellung besucht. Schinkel-Winkelmann-Ideal: „Blick in Griechenlands Blüte“. Sogar die arbeitenden Menschen – einen Tempel erbauend – werden als schöne „Menschen“ dargestellt. Was für eine Illusion.

22.4.81, Leipzig ||| Seminar bei Frau Dr. Christine Träger: Jeder Generalsekretär der SED versuchte, den Kommunismus einzuführen. Am schizophrensten die 10 Gebote von Walter Ulbricht. Proletkult: es ist nichts aus dem Nichts zu schaffen. Aber in 8 Tagen zu schaffen: der Kommunismus. Was für ein Schwachsinn. Am schönsten ist das 9.Gebot: „Du sollst sauber und anständig leben …“

Germanistik Tagebuch Asteris Kutulas Leipzig

24.4.81 ||| Gestern mit Angela im Casino-Kino gewesen: „Der Richter und sein Henker“ von Maximilian Schell und Friedrich Dürrenmatt. ||| Vom 3. bis zum 10.5. war ich in Berlin. Unter anderem: „Dantons Tod“ von Georg Büchner am Deutschen Theater, sowie Hauptmanns „Einsame Menschen“ und Gogols „Revisor“ am Maxim-Gorki-Theater gesehen.

29.5.81 ||| Lese Wilhelm Raabes „Abu Telfan“. Ich sollte auch versuchen, das zu tun, was Nikola (für einen Tag lang) tat: „Mein Herz habe ich begraben und die Welt angenommen, wie sie ist; ich habe das Buch meiner Hoffnungen und Träume abgeschlossen und mich in das Unabänderliche ergeben!“ Irgendwann muss ich erkennen, was mich treibt. Und wie ist mein Geist mit Griechenland verbunden. Und was bedeutet für mich Heimat? Noch mal Raabe: „… sich ‚tot zu stellen‘ in der Hand des Fatums ist unter allen Umständen das Vernünftigste und Bequemste.“

1.6.81, Leipzig ||| Ein schönes Wochenende mit I. verbracht. Aber die Unsicherheit bleibt … ||| Lese Schopenhauer, heute über die „Grundwahrheit“ in „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Bereits in diesem Sinne Schrift „Über die Weiber“ von Ernst Brandes aus dem Jahr 1787, zitiert von Friedrich Schlegel (Bd.1, S.19).

26.6.81, Leipzig ||| Meine Philosophie-Prüfung bei Prof. Wolfgang Lorenz mit 1 gemacht. Bin über Kants Ethik und Hegels Anmerkung der Doppelmoral befragt worden, und ich habe alles gewusst. Schwein gehabt.

2.6.81 ||| War vorgestern beim „Engerling“-Konzert in der Moritzbastei. Anschließend unterhielt ich mich länger mit Gunther Krex, dem Bassisten. Vorher hatten wir DDR-Literatur-Seminar in der HB mit Dr. Hartinger. Über „Wundertäter“ bzw. über Initiativbewegung in der DDR. Gestern zusammen mit L. einen angenehmen Abend verbracht. Waren im Kino: „Bis dass der Tod euch scheidet“ von Heiner Carow. Sind anschließend ins „Regina“.

19.10.81, Leipzig ||| Habe gesucht: das berühmte Zitat „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Mein Freund Udo Tietz belehrte mich, dass dies so nicht stimme. Ich solle doch in Fichtes „Wissenschaftslehre“ nach dem Originalzitat schauen. Bin in dessen „Zweiter Einleitung“ (10. Abschnitt) fündig geworden: „Was in einem vernünftigen Wesen als Anlage liegt, liegt in allen.“ Auf Wirksamkeit der Vernunft „gründet sich die Möglichkeit alles Bewussten“. Und dann kommt er, ganz anders gemeint, viel tiefgründiger und apokrypher, der Satz: „Zur Einsicht in die Notwendigkeit ist Freiheit notwendig“. Und weiter: „Wenn dieses Vermögen der Freiheit nicht schon da ist und geübt ist, kann die Wissenschaftslehre nichts mit dem Menschen anfangen.“ Ach, sind das schöne Sätze, Sauerstoff für mich, der ich bereits 1975 auf dem Kreuzschule-Gymnasium konfrontiert wurde mit dem Rosa-Luxemburg-Satz: „Freiheit bedeutet die Freiheit der Andersdenkenden“. Und wieder weiter bei Fichte: das sind Kenntnisse, „die wir nur aus uns selbst, zufolge einer vorher erlangten Freiheit schöpfen können.“ ||| Wie schön diese Menschen dachten, damals Ende des 18., Anfang des 19.Jahrhunderts, kurz nach der Französischen Revolution. Der Atem einer neuen Zeit: „Bildung des ganzen Menschen von seiner frühesten Jugend an; dies ist der einzige Weg zur Verbreitung der Philosophie“. Fichte, alter Junge, lass wieder die Fenster verdunkeln, lass wieder die Menschheit in sich gehen, zu sich selbst kommen, das Ich und das Über-Ich erkennen, die WAHRHEIT sehen, begreifen. Denn: das „philosophische Genie“ ist jenes, „das sich in der allgemeinen Erschlaffung dennoch zu einem großen Gedanken erhebt“. ||| Für Fichte ist die „Wissenschaftslehre“ ein System des „transzendentalen Idealismus“. Daraus ergibt sich konsequenterweise die Ablehnung aller „Systeme“. Allerdings kann in jedem „Einzelnen“ die Philosophie einen Impuls auslösen, sich ihren „Zweck und Umkreis“ zu eigen zu machen! Wie unterschiedlich zum heutigen das damalige Verständnis von „Philosophie“. Philosophie als Wissenschaft – „wenn auch etwa jener Eine sie gar nicht, außer sich darzustellen wüsste“ …

Bücher, Publikationen & literarische Übersetzungen

20.10.81, Leipzig ||| „Gegenwart“: gebrochenes Verhältnis zu diversen Punkten der Vergangenheit: kann man auch mit „Geschichtsbewusstsein“ umschreiben. Irgendwie muss ich an Ritsos dabei denken. ||| B: Da war ein Haus mit einem roten Dach. Eine schöne, einladende Treppe führte zur Tür. | (A tritt auf, sucht etwas auf dem Boden in der rechten Ecke der Bühne) | B: Es war eine schöne Tür, mit goldenem Griff; die Nachbildung eines Löwenkopfes. Aber genau erinnern kann ich mich nicht. Nein … wartet! Da fällt mir etwas ein: Hinter der Tür begann das Meer. Das wusste ich nicht. Begonnen hatte alles am Montag. Montag früh. Aber ich wollte euch von der Tür erzählen … | A: (richtet sich auf) Verdammt, ich kann’s nicht finden! | B: Verzeiht, ich muss diesem Menschen helfen (zu A) Gehst du jetzt? (zum Publikum) Er ist doch einer? (wird nachdenklich) Er ist doch einer?! (blickt etwas erschrocken) Ich bin am Ende nicht hingefallen? Nein, nein, weiß von nichts! Warum sollte dieser von Dresden gehört haben? … Was soll das jetzt? Wie komme ich darauf? (Abwehrend) Ich wollte diesem Menschen helfen. | A: Wo ist es nur? 




1982, Jannis Ritsos und die kommunistische Utopie

3.3.82, Leipzig ||| Bin gerade mit der Ritsos-Übersetzung fertig: 336 Monochorde. Einer davon: „Eine gute Maske für schwierige Zeiten, der Mythos.“ Jetzt beginnt die Feinarbeit … ||| Vor zwei Wochen fasste ich den Entschluss: Ich stelle den Antrag, für ein Jahr vom regulären Studienbetrieb freigestellt zu werden, um durch Lateinamerika zu reisen. Die Idee wurde bei Gisela geboren, die auch den Stein ins Rollen brachte. Dann bekam ich unverhofft Unterstützung von Prof. Claus Träger, er riet mir zu und versprach zu helfen; daraufhin gab auch die Sektionsleitung grünes Licht. Mit meinem Vater sprach ich am 10.2. darüber. Er hat große Vorbehalte, Angst, ist absolut dagegen … Als Uwe von meinen Reise-Plänen nach Südamerika hörte, war er hingerissen. Zwar versetzt er mich ständig … mein bester Freund, aber was soll’s … Über ihn lernte ich auch Udo kennen, einen angehenden, abgefahrenen Philosophen. Ich liebe diese Voyeure des Geistes, diese hirngeborenen Praktiker. Alles durcheinander in ihren Köpfen: Existenzialismus, Kommunismus, Neukantianismus, die freie Liebe, der junge Marx, die DDR, Max Weber, Sehnsucht nach irgendwas, vielleicht nach …, ja, doch nach Freiheit. 



25.6.82, Berlin ||| 12.30 in der Akademie der Wissenschaften Treffen mit Dr. Malina. Wir unterhielten uns lange. Sie fragte mich, ob ich nächstes Jahr zum Kazantzakis-Geburtstag etwas schreiben wolle. ||| Dann gegen 13.30 bei Kiriakos – habe aber nur Rula getroffen, die mir zu essen machte und mit der ich mich sehr lange unterhielt. Sie nannte ihren Vater einen Dogmatiker und erzählte mir von ihren Schwierigkeiten beim Studium und im Kommunistischen Jugendverband Griechenlands. Ich zeigte ihr meine Nachdichtung der „Monochorde“ sowie vom Gedicht „Einsamkeit“. Erzählte ihr von meinen Plänen, nach Lateinamerika auszuwandern, sie war perplex. Sie selbst ist unzufrieden mit dem Studium und besonders mit der Art, die Prüfungen abzulegen. Sie will bei der Berliner Zeitung anfangen. Bot mir an, in ihre Berliner Wohnung zu ziehen. ||| Monochord 31: „Mit euch, ja (und nicht in der Einsamkeit), einsam.“ Monochord 88: „Wenn du niemals die Augen schließt, wächst du nicht.“

28.10.82, Leipzig ||| Die letzten zwei Tage mit Uwe in meiner Wohnung gearbeitet: Rede (für morgen auf der Philosophischen Arbeitstagung) ausgearbeitet: „Drei Modellfälle zum Zusammenhang von Literatur und Philosophie. Skizzierung eines Problemfeldes“. Ich liebe meinen Schopenhauer. ||| Dabei viel in Lukacs‘ Vorwort zur „Eigenart des Ästhetischen“ gelesen. Da steht: „Denn die genaue Analyse der Tatsachen wird hier besonders deutlich zeigen, dass die gedankliche Bewusstheit über das im Gebiet des Ästhetischen praktisch Geleistete immer hinter diesem zurückgeblieben ist.“ ||| Heute 45 Minuten-Unterhaltung mit Prof. Werner über Ritsos-Projekte. Trank mit B. einen Gin-Tonic und verknallte mich in sie. Was wird Uwe dazu sagen? ||| Sah mir anschließend im Casino-Kino Rainer Werner Fassbinders „Katzelmacher“-Film von 1969 an. ||| Lese nachts weiter bei Lukacs: „Es kommt dabei natürlich auf die Entwicklung der objektiven ästhetischen Tatsachen an, nicht darauf, was ihre Vollstrecker über ihr eigenes Tun gedacht haben. Gerade in der künstlerischen Praxis ist die Divergenz zwischen Tat und Bewusstsein über sie besonders groß.“ Auch sehr interessante Darlegung seiner verwendeten Methode („der Bestimmungen im Gegensatz zu der der Definitionen“). Hinweis auf Lob von Max Weber sehr bezeichnend. Werde morgen Uwe fragen, was er davon hält. 

Theodor Storms Novelle „Hans und Heinz Kirch“

5.11.1982, Leipzig ||| Claus Träger hält eine Vorlesung in „Literaturtheorie“. Im Saal rumort es. Viele unter uns Studenten können nicht akzeptieren, dass einige hundert Meter weiter die Kulturkonferenz der FDJ sich sehr diffamierend äußert zum Besten, was die DDR-Literatur zu bieten hat, zu Heiner Müller und Volker Braun zum Beispiel.  Der Professor sieht sich gezwungen, etwas zu sagen: Er versucht Haltung zu wahren und mit einem Hinweis auf das „liberale“ 6.Plenum der SED wenigstens die „Parteipolitik“ zu retten. Er merkt an unseren Reaktionen (einige lachen, andere stöhnen), dass es nicht gut ankommt. Er bemerkt, dass die Kulturkonferenz reines Bla-Bla sei und aus politischen Staments bestünde. Und dann der schöne Satz: „Meine Damen und Herren, von der Warte des Weltgeistes aus gesehen ist die Kulturkonferenz doch eine sehr periphäre Angelegenheit.“

1983, Vorbereitung auf den Tod

6.1.83, Leipzig ||| Komme gerade von Uwe. Haben uns heute im Barbe getroffen und ich hab ihm meinen Teil der Arbeit für Prof. Bönisch übergeben. Er informierte mich beiläufig, dass I. ihn nicht mehr grüßt, da er ihr über den Mund gefahren sei. Er hatte aber eine abweisende Haltung mir gegenüber: „Hast du deine Probleme mit den Pappfeinden hinter dir?“ – so argumentierte er. ||| Wir verabredeten uns für 17 Uhr. Als ich hinkam, war er nicht da, ich schrieb ihm einen Zettel und lief die Treppe runter. Da sah ich sie: I. an Uwe gelehnt; beide traut lächelnd. Als sie mich sahen, waren sie für einen Moment schockiert, dann Uwe ziemlich verlegen. ||| Wir gingen hoch, ich nahm den Zettel, den ich ihm an die Tür gesteckt hatte und sagte: „Ich wollte eigentlich mit dir über die drei Seiten zu Georg Lukacs für Prof. Bönisch sprechen, also über Philosophie.“ Er schaute mich verzweifelt an: „Darüber aber nicht heute.“ Ich schlug ihm vor, uns am nächsten Tag um 17 Uhr in der Unibibliothek zu treffen. Wollte gehen. Da sagte er: „Das gefällt mir jetzt nicht.“ – „Was denn?“, fragte ich und floh nach draußen.

März 1983 ||| Literaturtheorie-Vorlesung. Claus Trägers versucht die Frage nach der fehlenden Mobilität im DDR-Roman wie folgt zu beantworteten: „Was erwarten Sie, meine Damen und Herren? Wenn Sie in diesem Land, sagen wir mal, in Oschatz geboren worden sind, dann werden Sie in Oschatz leben, in Oschatz arbeiten, und in Oschatz sterben.“ ||| So ist tatsächlich die DDR: man bereitet sich „planmäßig“ auf den Tod vor; keine Visionen, keine Extravaganzen. Nein, alles geht seinen geregelten – aberwitzigen – sozialistischen Trott. Die Bevölkerung scheint durch die „Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei“ gelähmt und korrumpiert, was nichts anderes bedeutet, als dass man den Leuten vorgaukelt, auf Konsumebene mit dem Westen Schritt halten zu können (was für eine Absurdität). Dafür darf auch keiner aufmucken. Dem Arbeiter geht es – „den Umständen entsprechend“ – gut (solange er nicht anfängt nachzudenken), dem Intellektuellen (auch jedem „Künstler“) geht es schlecht, weil er, um ER zu sein, NACHDENKEN MUSS. Man lese im „Neuen Deutschland“: Angesagt ist die allgemeine Verblödung im Namen der fortschrittlichsten und revolutionärsten Gesellschaft. Ein organisierter Versuch der persönlichen Entmündigung. Und ein vergreister und realitätsenthobener Erich Honecker glaubt, mir vorschreiben zu können, was ich zu denken, zu sagen und zu machen habe. Es ist einfach lächerlich, und tot-ernst zugleich.

9.7.83, Leipzig ||| Am 4.7. hatte ich bei Dr. Weber Sprachwissenschafts-Prüfung: machte eine glatte 4. Nun ja, kein Kommentar. Ein Desaster. Gestern las ich „Das Gemälde“ von Daniil Granin aus. Letzte Woche, in Vorbereitung auf die Literaturwissenschaftsprüfung, führte ich mir eine Reihe von Büchern erneut zu Gemüte: „Die Geliebte der Morgenröte“ (3 Erzählungen) und „König Ödipus“ von Franz Fühmann, „Tod in Venedig“ von Thomas Mann, „Stechlin“ von Fontane, Lessings „Miss Sara Sampson“, Annette Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“, Grillparzers „Der arme Spielmann“, Hauffs „Das kalte Herz“, E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“, Novalis‘ „Hymnen an die Nacht“, Hugo von Hoffmannsthals „Eine Reitergeschichte“.

27.10.83, Leipzig ||| Am Montag zog ich bei Uwe ein. Dann tranken wir Whisky. Ziemlich viel, glaube ich. Nabil war kurz da. Seit vorgestern übersetzte ich zehn Seiten vom Tonband: das Ritsos-Interview für die Zeitschrift „Sinn und Form“. Las in den letzten Tagen alles Mögliche von Euripides: „Die Troerinnen“, „Helena“, „Elektra“, „Iphigenie auf Tauris“. Was für ein Autor! Doziere stundenlang über meine „Entdeckungen“ und meine „Erkenntnisse“ – Uwe hört geduldig zu und macht seine weisen Bemerkungen. Überflog heute wieder den Ritsos-Roman „Was für eigenartige Dinge“. Eine Fundgrube! ||| Von Uwe entdeckt, für mich aufgeschrieben: „Das Reich der Vernunft ist das Reich der Freiheit und keine Knechtschaft ist schimpflicher, als die man auf diesem heiligen Boden erleidet. Aber viele, die sich ohne innere Befugnis darauf niederlassen, beweisen, dass sie nicht freigeboren, bloß freigelassen sind.“ Friedrich Schiller, 13. Juli 1793

1.11.83, Leipzig, nachts ||| Heute Nachmittag hier bei Uwe angekommen, seitdem durchgearbeitet. Er ist immer noch nicht da. Bei mir häuft sich wieder alles: Gestern in Dresden fand ich 1) vom Verlag Neue Musik die griechische Fassung der „Sadduzäer-Passion“ zum Korrektur-Lesen; heute schon erledigt. 2) Die Fahnen des Jannis-Ritsos-Poesiealbums zur Korrektur (heute erledigt); bei einigen meiner Gedichtübersetzungen sind Veränderungen vorgenommen worden, vorwiegend Interpunktion, aber auch anderes. Und 3) ein Telegramm von Rainer: Bis zum 6. Dezember will das Fernsehen mein Szenarium für den Ritsos-Film haben. Ich muss übersetzen, schreiben, übersetzen. Wo bleibt nur Uwe, dass ich ihm das alles erzählen kann …

Georg Lukacs oder Ich bin das Suchen (Ein Hörspiel)

2.11.83, Leipzig ||| Heute früh kam Uwe. Wir sprachen lange über meine verkorkst-normale Geschichte mit B. usw. Wollten dann zu Nabils Doktoranden-Verteidigung gehen. In der Stadt traf ich B., sie bebte am ganzen Körper, ich schlug ihr vor, dass wir zusammen einen Kaffee trinken. Sie nahm meinen Arm und wir gingen in die Teestube. Blieben dort 1 1/2 Stunden. Bin fix und fertig. Uwe versucht, mich aufzumuntern.

8.11.83, Leipzig, nachts ||| Heute vor einem Jahr starb Vater. Ich ging mit Uwe einen Wodka auf ihn trinken. Wenn ich könnte, würde ich jetzt für ihn Padmoskowskje Vetschera singen … ||| Gestern kam ich in Leipzig an und wir unterhielten uns lange. Abends dann zu Czecho und Ingrid, ich holte sie ab, wir sahen den „18. Brumaire“ von Karls Enkel. Auch Peter Geist war da und die ganze Clique der 11. Etage. ||| Lernte Peter Gosse kennen. Sprach wieder lange mit Steffen & Wenzel. Steffen bemerkte zu meinem Ritsos-Text, dass die Konstruktivität der Dichtung und Sprache als Fakt noch hineingehört. ||| Übersetzte gestern und heute für unseren Film Ritsos-Interviews. Bin etwas paralysiert. Kann nicht viel anderes machen. Um 19.00 bis 21.30 im Rundfunk DDR II „Athener Abend“: furchtbar! 



1984, Abschied von Leipzig

23.5.1984, Dresden ||| Vorgestern in Leipzig Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ritsos, den Eri begleitet. In seiner kurzen Ansprache machte er auf einen merkwürdigen Zufall aufmerksam: „Die Leipziger Universität wurde 1409 gegründet, und ich wurde 1909 geboren, also genau 500 Jahre später. Sie feierten in diesem Jahr das 575jährige Bestehen Ihrer Universität und ich meinen 75. Geburtstag. Ich bin in gewisser Weise ein Altersgenosse Ihrer Universität, nur 500 Jahre jünger. Rechnet man mir die griechische Tradition zugute, aus der ich komme, bin ich natürlich ein paar Tausend Jahre älter. Auf jeden Fall bin ich stolz darauf, Ehrendoktor einer Universität zu sein, an der ein Lessing, ein Leibniz und ein großer, ein sehr großer Autor, nämlich Goethe, studiert haben. Und auch weil mein Freund Pablo Neruda den Titel eines Ehrendoktors hier erhalten hat.“

Mai 1984, Leipzig ||| Abschlussvorlesung von Prof. Claus Träger. Sein letzter Satz: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn diese Fakultät – ich eingeschlossen – ihnen nach fünf Jahren Germanistikstudium beibringen konnte, WIE man ein Buch liest, bin ich sehr zufrieden.“ Mein Studium ist zu Ende …

© Asteris Kutulas

„Kassandra“ von Christa Wolf (Tagebücher)

Gottfried Bräunling im Interview, befragt von Asteris Kutulas

Der Maler und Bildhauer Gottfried Bräunling im Interview (unmittelbar nach seiner Flucht und seiner Ausbürgerung aus der DDR – 08.05.1988, Tübingen

Asteris Kutulas: Wie fühlst du dich hier im Westen, deiner neuen Heimat?

Gottfried Bräunling: Wie zu Hause. Bloß ein bisschen anders.

Kutulas: Wie anders?

Bräunling: Ja, das kann ich wahrscheinlich noch gar nicht formulieren. Das muss ich erstmal verdauen.

Kutulas: Würdest du sagen, dass es in dieser anderen Gesellschaft hier besser ist?

Bräunling: Hm, eine Wertung bezüglich einer Qualität … Ich habe einfach nur ein Gefühl, das ich erstmal ausloten muss. Du weißt ja, dass sich mit meinem Weggang aus der DDR meine Weltsicht nicht verändert hat. Ich war vorher engagiert, und für mich bleiben die Probleme weiter bestehen – sowohl die in meinem persönlichen Leben als auch die in meiner Arbeit und die in Bezug auf meine politische Haltung. Da gibt es ganz klare Kriterien … Ich will mich auch nicht, wo ich jetzt in einer neuen Welt lebe, eine andere Lebenssituation habe, zurückziehen in eine Enklave, wo man nicht mehr nachdenkt oder nicht mehr politisch denkt. Ich will weiterhin für humanistische Ziele eintreten. Das ist doch ganz klar. Ich kann ja nur in einer günstigen Situation etwas schaffen – und das ist Frieden. 

Hier zum Beispiel in Tübingen, wo wir gerade sind, gibt es viele engagierte Leute, namhafte Leute, und da gibt es natürlich die Möglichkeit, in ein neues Kommunikationsfeld einzutreten. Es eröffnen sich ganz neue, klare Wege für meine Arbeit … Ich brauche erstmal einen Raum, ich brauche Zeit, um das alles zu durchdenken. Was alles auf mich einströmt … Ich stehe in einer neuen Welt mit ganz neuen Gegebenheiten, wo sich zwar vertraute Punkte kreuzen, denn solche Begegnungen hatte ich ja auch schon vorher, aber vorher in einer anderen Qualität, unter anderen Bedingungen … Ich kann noch gar nicht benennen, was ich denke, was sich daraus alles ergeben wird, was daraus resultiert.

Gottfried Bräunling, Asteris Kutulas, Kunst, Malerei, DDR
Gottfried Bräunling, 2007 – Foto © Asteris Kutulas

Kutulas: Kommt denn eine Fortentwicklung deiner Malerei, deiner Technik eher aus deiner eigenen Schöpferkraft oder auch aus der Malerei anderer? 

Bräunling: Ich bin ja jemand, der weiß, welchen Weg er gehen will. Dass es da zu Wandlungen und neuen Qualitäten kommt, wenn man Begegnungen hat, das halte ich für durchaus möglich und das hoffe ich auch.

Kutulas: Ich meine … ich habe jetzt vor kurzem einige neue Bilder von dir gesehen und mir fiel der Unterschied zu denen von 1982, 1983, 1984 doch sehr auf.

Bräunling: Ja, Impulse zu solchen Veränderungen erfahre ich natürlich auch hier.

Kutulas: Ich frag dich jetzt mal was Seltsames, weil ich sehen will, wie du darauf reagierst: War eigentlich der Wandel in deiner Bildsprache die Voraussetzung, der Auslöser dafür, dass du die DDR verlassen und in Westberlin geblieben bist?

Bräunling: Nein, ich glaube nicht, dass der Wandel in meiner Bildsprache in Grund für meine Entscheidung war. Es war meine Auseinandersetzung mit mir selber, mit der Gesellschaft, in der ich lebte, mit meinem Umfeld. Das führte bei mir zu Erkenntnissen, die mich eines Tages zu dieser Entscheidung trieben, was sich natürlich vorher schon in meinen Arbeiten zeigte. Ich hatte intensive Auseinandersetzungen in der DDR. Es gab diese Zeit, als ich nicht in den Künstlerverband aufgenommen wurde. Die Zeit von 1976 bis 1982 als Kandidat, dann nochmal zwei Jahre Kandidatur, drei Jahre Kanditatur. 1985 wurde ich dann aufgenommen. Das waren Zeiten, die … Ich konnte nicht ausstellen, durfte nicht verkaufen. Das brachte grundlegende Spannungsmomente. Es mussten Klärungen herbeigeführt und Entscheidungen getroffen werden. Das Problem „Verband“ hatte sich dann für mich geklärt, aufgrund meiner Energie, die ich aufbrachte, um das durchzustehen, und dank meiner Freunde, die mich immer ermutigt haben, damit ich nicht aufgebe. Da war Ralf Winkler, da war Wolfgang Opitz. Diesen einen Punkt hatte ich für mich geklärt, aber die Probleme blieben trotzdem weiter bestehen. 

Kutulas: Ja, eben. Mir scheint auch, dass diese Abstraktion, das Abstrahieren der Dresdner Landschaft so ein Sich-Freimachen war. Du kamst zu „menschlichen Gesichtern“, zu archetypischen Bildern. Ich sehe das als eine Art innere Loslösung – von einer Landschaft, von einem Raum. Ich hatte den Eindruck, dass das eine Art Vorbereitung war …

Bräunling: Ich bin in einem Raum, einem Umfeld großgeworden, das eigentlich sehr harmonisch war. Diese Harmonie hat bei mir zu einer sehr menschlichen Haltung geführt.

Kutulas: Ich denke, dazu kann man doch stehen!

Bräunling: Ja, ich stehe ja auch voll und ganz dazu. Aber in dieser Zeit hatte ich auch keine Probleme, keine wirklichen Probleme. Ich habe mich damals auch in meinen Bildern nie auseinandergesetzt mit Problematiken, weder mit gesellschaftlichen noch mit zwischenmenschlichen. Ich hätte so etwas gar nicht formulieren können, absolut nicht. Ich habe Mädchen gemalt, weil ich Mädchen liebte. Ich habe Akte gemalt, weil ich die als schön empfand. Für mich war das ein Ausdruck von Schönheit, von einer Perfektion, die es eben nur in dieser Form gibt. Ich habe Landschaften gemalt, weil ich mich dort zuhause fühlte, weil ich das als etwas sah, was man interpretieren müsste, um ein Stück von dem, was man liebt, bei sich, um sich zu haben. 

Kutulas: Wann änderte sich das?

Bräunling: Als die Probleme begannen, da musste ich über vieles nachdenken, da zerbrachen meine harmonischen Welten. Das war, als bestimmte Aktivitäten nicht anerkannt wurden, dass Arbeiten negiert wurden und und und … Plötzlich kam ich zu einem ganz anderen Resultat. Vorher hatte ich große Honorarverträge bei großen Firmen, dir mir unheimlich viel Geld brachten, und dann, als ich in der Misere war, haben die nicht mal mehr für einen Hundertmarkschein was gekauft. Da wurde mir klar: Irgendwas stimmt doch in dieser ganzen Beziehung, in diesem Verhaltensgefüge nicht. Das hat sich dann auf meine Arbeit ausgewirkt. Ich musste kritischer werden. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Probleme kamen. Immer wieder neu. Wenn du den Mund aufmachtest, dein Problem benanntest, musstest du Stellung beziehen, ganz frontal. Und dort konnte es unter Umständen auch „tödlich“ werden. Und bei mir gab es so einen Schnitt, einen Bruch, der nahezu „tödlich“ war. Daraus resultierte dann letztendlich auch mein Schritt in den Westen, meine künstlerische Wandlung, aber nicht die Wandlung meiner Ideologie.

Kutulas: Ich sehe bei dir diese Affinität zu den Themen „Fernweh“ und „Zauberer“ … Die Muschel, der Vogel usw.

Bräunling: Na ja, was sagte uns Robert Jungk gestern: „Ihr müsst Träume haben! Ihr habt Träume. Sprecht sie aus!“ Nichts anderes mache ich. Ich spreche meine Wünsche aus, formuliere meine Träume, meine Hoffnung. Und das hat alles etwas mit meiner Realität zu tun und mit der Realität meiner Umwelt. Und mehr kann ich fast gar nicht tun.

Kutulas: Was denkst du, in welche Richtung sich deine Malerei entwickeln wird, nachdem du diesen Schritt in den Westen getan hast? Wie würdest du das einschätzen? Wenn ich an diese Dresden-Ausstellung denke – das waren doch Arbeiten, die sehr bedrohlich wirkten …

Gottfried Bräunling, Asteris Kutulas, Kunst, Malerei, DDR, Mikis Theodorakis
Gottfried Bräunling mit Mikis Theodorakis bei der Ausstellungseröffnung in der Athener Galerie FÜNF mit Werken von A.R.Penck & Gottfried Bräunling

Bräunling: Ich glaube, dass meine Arbeiten in nächster Zeit wahrscheinlich viel farbintensiver werden. Das hat einfach mit den neuen Erlebnissen zu tun, mit dieser Frische hier. Das Optische, das Visuelle ist so intensiv. Das Reklame-Gehabe. Die Geschäftsauslagen sind anders, die Plakatwerbung. Fast die ganze Gesellschaft ist auf eine aktive Werbe-Situation ausgeprägt, so dass man fast Angst haben muss und sich Scheuklappen anlegen möchte, damit man nicht alles andere, was auch erfahrenswert ist, überblendet bekommt durch diese grelle, schrille, überladene Situation, die sich ja niemand in Wirklichkeit für sich selber leisten kann. Ich glaube, dass meine Arbeiten nicht nur farbintensiver werden, sondern dass sie weiterhin auch sozialkritisch sein werden. Eigentlich ändert sich ja gar nichts. Überall gibt es Probleme, die aus Spannungen und Auseinandersetzungen resultieren.

Kutulas: In gewisser Weise bist du vielleicht auch „dankbar“ dafür, dass dir in der DDR Steine in den Weg gelegt wurden, die dann schließlich zu Spannungen und zu deiner neuen Bildsprache führten …

Bräunling: Nein, dafür bin ich natürlich nicht dankbar. Teilweise war es unerträglich furchtbar. Andererseits waren es natürlich Steine, die mir Anstoß waren. Es waren Situationen, die mich geformt haben.

Kutulas: Die Bilder, die du danach gemalt hast, sind etwas ganz anderes als die Landschaften, die Akte, die zwar als Bilder sehr gut waren, aber zu denen ich persönlich zum Beispiel nicht so eine Affinität hatte. Ich verspürte nicht diese Brisanz, nahm nicht diese Kraft der Aussage, diese Power wahr wie bei den Bildern danach. „Dankbar“ meinte ich in Anführungsstrichen. 

Bräunling: Zu meinen früheren Arbeiten – was deine Gedankenwelt betrifft, kann ich dir sicher zustimmen, nicht aber, was meine betrifft. Für mich war die Harmonie Ausdruck meines Lebensgefühls. Da kann es genauso ausdrucksstarke Momente geben. Denk an Modigliani, an seine Porträts und Akte, vor denen wir verzückt stehen, begeistert, beglückt … Was die Zukunft anbelangt … Ich bin noch nicht so lange hier. Du hast erste Arbeiten gesehen. Ich hab noch viel Heimatliches in mir, aber andererseits bin ich bereits mit den Problemen hier konfrontiert. Hattest du diese Serie mit den Punker-Porträts gesehen?

Kutulas: Ja.

Bräunling: Die Punker und die Skinheads, das ist eine Variante. Dann gibt es noch andere Arbeiten. Darin setzte ich mich auseinander mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit Formen der Isolierung, des Sich-Zurückziehens auf eine Insel oder so. Das sind Problematiken, die ich wahrnehme, die ausgesprochen werden müssen.

Kutulas: Und wie vermitteln sie sich dir? Ist dieses Spannungsfeld ein äußeres, ein visuelles, oder hast du das, diese Widersprüche bereits so grundlegend emotional wie z.B. in der DDR erlebt?

Bräunling: Ich hab das rational untersucht aber auch emotional erlebt. Ich gehe auf die Straße und sehe dort irgendwelche Menschen in verschiedensten Situationen, wo ich mich einfach frage: Wie kann das passieren? Wie kommt es dazu? Wie kann sich jemand von der Gesellschaft, aus seinem Umfeld lösen, in das er eigentlich integriert sein könnte und sollte? Was treibt den dazu, ein ganz entfremdetes Existenzmoment anzunehmen? Ist es Logik? Ist es eine Anti-Haltung? Ist es Lebensfeindlichkeit? Oder wohin geht das? Mit diesen Dingen habe ich mich auseinandergesetzt. Vieles bleibt für mich noch an der Oberfläche, weil … Du kannst, bei den vielen Möglichkeiten, die es gibt, in einem Jahr gar nicht alles aufschlüsseln. 

Kutulas: Wie waren deine Begegnungen mit Kollegen aus der DDR, die nach Westberlin gezogen sind?

Bräunling: Zum großen Teil herzlich kalt. Ich glaube, mehr muss man dazu nicht sagen. Es gab Ausnahmen. Da war es mehr, wie es immer gewesen war. Ich bin von jeher ein Einzelkämpfer gewesen, und Einzelkämpfer haben auch immer nur einzelne Freunde. Das sind diejenigen, die wahrhaftig zu einem stehen. Die anderen sind Annäherungs- und Weggehpunkte. Das ist wahrscheinlich auch der Moment des Begegnens oder der, in der der Moment einer Begegnung zum Ausdruck kommt.

Kutulas: Sicher kennst du ja auch viele Leute aus Dresden, die jetzt nach Westberlin gezogen sind und die du dort wiedertriffst. Haben sich da bei dem einen oder anderen neue Anknüpfungspunkte ergeben?

Bräunling: So etwas gibt es natürlich. Aber wie lange so etwas hält oder sich trägt … Jedenfalls gab es sogar Anknüpfungspunkte aufgrund von Beziehungen aus sehr weit zurückliegender Zeit, wo inzwischen sehr viel passiert war. Da ist es erstmal ein Stück Neugier, es sind Erinnerungen an alte Kontakte, frühere Erlebnisse. Sentimentalität spielt genauso eine Rolle wie Neugier.

Gottfried Bräunling, Asteris Kutulas
Gottfried Bräunling und Asteris Kutulas bei einer gemeinsamen Ausstellung

Kutulas: Was war für dich in Dresden, für deine künstlerische Entwicklung das wichtigste Ereignis? Gab es so etwas?

Bräunling: Das wichtigste Ereignis? Da gibt es vielleicht zwei. Das eine war die Begegnung mit meinem Lehrer, Professor Horlbeck, der einen nie animierte, Kunst zu machen, sondern der einen animierte nachzudenken, der immer wieder darauf zurückkam, dass Kunst ein Problem des Denkens ist. Das war das Eine. Das andere war, dass ich trotz meines ehrlichen Glaubens an ganz bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsformen und -kriterien aus meiner Laufbahn geschubst wurde, nach vielen Unstimmigkeiten, und ich mir plötzlich einen neuen Weg suchen musste, der mir eine Existenz ermöglichte in dem Raum, wo man sie mir nicht mehr gewährleistete, obwohl ja jeder den Anspruch auf Arbeitsraum und Arbeit hatte. Ich musste nach einem Weg suchen, um das durchzustehen. Und an diesem Punkt musste ich prinzipiell und grundlegend über ganz viele Kriterien der gesellschaftlichen Entwicklung nachdenken. Und gleichzeitig musste ich über meine eigene künstlerische Konzeption nachdenken, die ich bis dahin gefahren war. Da kam dann die Erkenntnis, dass die zwar nicht falsch gewesen war, aber letztendlich ziemlich lau und unproduktiv, nicht, was die Quantität, aber was die geistige Auseinandersetzung betraf, das Engagement im Sinne eines geistig-künstlerischen Engagements.

Kutulas: War das für dich ein Reibungspunkt: Noch in dieser sowohl gesellschaftlichen als auch bildnerischen Homogeniät gelebt zu haben, in dieser beinah Konfliktlosigkeit, und in Dresden einen so exaltierten Widerpart wie Ralf Winkler zu haben? War das für dich ein Punkt der Auseinandersetzung oder ging das für dich zusammen?

Bräunling: Streckenweise war es ein Problem. Ich kann mich noch gut erinnern, als wir uns das erste Mal begegneten. Die ersten Male haben wir stundenlang miteinander geredet. Ich hab gar nichts verstanden, wusste überhaupt nicht, was los ist. Wir haben nur gesprochen und es ging immerzu aneinander vorbei. Für ihn vielleicht gar nicht, aber für mich. Ich konnte in seine Welt nicht einsteigen. Meine damalige Frau hat dann sozusagen für mich gedolmetscht. Und nach 14 Tagen konnte ich dann alles verstehen und einsteigen. Sie hatte mir irgendeinen Schlüssel in die Hand gegeben, der mir das eröffnete. Ich hab den Ralf in seinem System begriffen. Es war ein System, das mir bis dahin völlig konträr ging. Auch aus Eitelkeit hatte ich mich diesem System nicht geöffnet. Und das ist es eigentlich, was uns hat Freunde werden lassen. Denn hätte ich mich geöffnet, hätte er mich kaputtgemacht. Es ist sein Weg, zu sehen, wie weit man jemanden treiben kann oder wie weit sich jemand gesellschaftlich treiben lässt, wenn er gesellschaftlich ungebunden ist oder so ähnlich. Ab wann bedeutet es für ihn den Untergang, wird es „tödlich“? Darauf hatte ich mich nicht eingelassen. Und in dieser Zeit gab es ja dann auch schon diese Probleme für mich, die Spannungen; dadurch relativierte sich das dann nochmal, auf andere Weise. Bei mir war es so, dass ich in der Partei war und von meinen eigenen Leuten in den Arsch getreten wurde. Andererseits hatte ich Ralf, also jemanden aus dem „anderen Lager“, der mir beistand, was natürlich wieder Kontroversen mit sich brachte. Und die, die nicht in der Partei waren, die traten mich auch, weil ich in der Partei war. So kam es zu diesem Dazwischen-Sitzen.

Gottfried Bräunling, Asteris Kutulas, Kunst, Malerei, DDR
Jesus – Plastik von Gottfried Bräunling

Kutulas: Gab es eigentlich mal so eine Zeit, da man versuchte, dich in Schubladen zu stecken, vielleicht auch zu dem Zeitpunkt, als du in den Westen kamst?

Bräunling: Ach, es gibt Schubladen, die ich eigentlich sehr liebe.

Kutulas: Aha!

Bräunling: Aber wenn ich drin stecke, ist es mir unbequem. Ich muss dir sagen, es gibt Seelenverwandtschaften, da kommt man manchen Wesen plötzlich ganz nahe, von denen man sich kaum freimachen kann. Da muss man einfach ‚ja’ oder ‚nein’ sagen. Es gibt auch Schubladen, die ich vorher gar nicht kannte und die ich hier endlich intensiv kennenlernte. Ich mag afrikanische Plastik sehr – oder den Dresdner Expressionismus mit den Brücke-Leuten. Daraus resultiert natürlich viel, so ein Erbe prägt unwahrscheinlich. Sich davon freizumachen … Ich weiß nicht, ob es immer gut wäre.

Kutulas: Du hast mir mal gesagt, du bist nach Westberlin mit einem Pinsel gegangen. Und dann waren lauter weiße Wände da, und du musstest dir langsam eine neue Bildwelt schaffen. Das ist dir so zum ersten Mal passiert, denn sonst waren ja immer Bilder um dich herum. Diese Situation, die ist, glaube ich, sehr interessant.

Bräunling: Das war eine besondere Situation, dieses Plötzlich-in-einer-neuen-Welt-Sein, dieses Unbekannte, was da auf einen einstürzt, das man auf einmal ständig um sich hat – und dann nur leere Wände. Ich war fast wie ohne Vergangenheit. Wie damit fertigwerden, wenn man das Neue noch gar nicht richtig begreift, noch gar nicht fassen kann? Daraus resultierten dann die ersten Umbrüche. Im Malerischen wie im Geistigen. Langfristig wird man sich sicher wandeln, weil man in dieses Leben tiefer eindringt und ein Teil davon wird. Man kann sich nicht davon fernhalten oder loslösen. Ob ich eines Tages integriert sein werde oder ein Außenseiter, gegen dieses Leben ankämpfend oder dafür kämpfend – das kann ich jetzt nicht voraussagen. Ich nehme an, dass ich sicherlich kein absoluter Dafür-Kämpfer wäre, was die gesellschaftliche Situation hier angeht. Weil mir da genauso wenig gefällt wie in der anderen auch, in der ich vorher war.

Kutulas: Ich sehe es eigentlich so, dass du dich bewegst zwischen Dresden, Westberlin und seltsamerweise auch Athen, als drittem, imaginärem Ort. Wo du noch nicht warst. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch in deine Bildsprache einfließen kann, in deine Weltsicht, in dein Lebensgefühl. Eigentlich hast du doch bereits von Dresden aus Griechenland „mit der Seele gesucht“. Damals konntest du ja nicht hin. Jetzt steht es dir bevor.

Bräunling: Sobald ich kann, fahre ich los. Griechenland hat für mich ziemlich große Bedeutung. Weil es noch ein Traum ist, eine Illusion. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalte, wenn ich durch diesen „Raum“ durchgegangen bin und ihn erlebt, in mir aufgenommen habe, eine Möglichkeit der wahrhaftigen Verarbeitung für mich gefunden habe, einer Interpretation in meiner eigenen Sprache. Bisher ist alles, was mir begegnete, mir entgegengekommen und hat mich gereizt, danach zu suchen, ihm zu begegnen. Wie es sich aber vollenden mag … Was Griechenland betrifft, so gab es Begegnungen mit Menschen, mit der Kultur, mit meinen Freunden, die aus Griechenland kommen, die mir das nahe brachten, wo es diese Herzensverbindung gab. Vielleicht liegt so etwas ja in einem Menschen begründet, der bildnerisch tätig ist, vielleicht ist es auch eine Flucht, eine Sehnsucht oder Fernweh? Und eigentlich hatte ich noch mehr Fernweh, wenn ich an Afrika dachte.

Kutulas: Und warum dann Griechenland und nicht Afrika?

Bräunling: Das hat etwas mit dem Geistigen zu tun. Der Wunsch nach geistiger Auseinandersetzung ist stärker als der nach Flucht. Für mich war die Auseinandersetzung z.B. mit der griechischen Literatur enorm wichtig, z.B. mit der von Jannis Ritsos, was letztendlich ja auch dazu führte, dass ich diese Mappe zu seinen „Monochorden“ machte. Das spielte bereits während meines Umwandlungsprozesses in Dresden eine große Rolle.

© Asteris Kutulas, 1988

Ralf Winkler alias A.R.Penck & die dresdner Malergruppe „Lücke“

Mythos Konstantin Kavafis

Konstantin Kavafis und kein Ende

Mythos Konstantin Kavafis: Darüber habe ich oft nachgedacht in den letzten zwanzig Jahren, über Kavafis‘ scheinbar unerschöpfliche Modernität, wobei dieser Ausdruck nicht genau das trifft, was ich meine. Macht nichts, die Ungenauigkeit beschreibt letztendlich vielleicht besser den Kern. Jedenfalls sehr erstaunlich und ein Phänomen, dass Kavafis mit seinem spröden und kargen poetischen Stil noch so viele Menschen überall auf der Welt anspricht. Unerwartete Begegnungen mit seinen Gedichten oder Gedichtfetzen zu den verrückstesten Gelegenheiten. Ein Rätsel für mich auch, wie er als homosexueller Dichter innerhalb der griechischen Gemeinde Alexandriens so gut überleben konnte, scheinbar entrückt in eine eigene Realität, gemacht aus Worten …

Mythos Konstantin Kavafis von Asteris Kutulas
Mein erster Kavafis-Band mit Werken aus seinem Nachlass, veröffentlicht 1991 im Hanser-Verlag

Gedanken zu Konstantin Kavafis 

I

Der Mythos Konstantin Kavafis setzt sich aus folgenden Ingredienzien zusammen: 

  • Konstantin Kavafis hat zeitlebens kein Buch veröffentlicht und nur 154 Gedichte als Opus hinterlassen, abgesehen von etwa zwanzig anderen, in seiner Jugend veröffentlichten lyrischen Texten, deren Autorenschaft er leugnete. 
  • Kavafis, der die griechische Literatur erneuerte, hat niemals in Griechenland gelebt, was einige zu der These veranlasste, diese gerade deshalb revolutioniert zu haben. 
  • Kavafis war homosexuell und hat – was einige Kavafologen behaupten und andere bestreiten – darunter gelitten. Auch gibt es diesbezüglich die These, Kavafis sei nicht in Wirklichkeit homosexuell gewesen, sondern nur im Geiste usw. usf. 
  • Kavafis war ein Dichter des introvertierten „geschlossenen Raums“, der Bibliothek, im Gegensatz zur „Extrovertiertheit“ seiner anderen griechischen Dichterkollegen. Das galt sowohl für den Ton als auch für die Thematik seiner Lyrik. 

Der Grund jedoch für die Existenz des Mythos ist: Kavafis war ein sehr guter Autor. Und obwohl die Beschränkung auf die bekannten 154 Gedichte tatsächlich Programm war und geholfen hat, seine eigentliche Intention deutlich zu machen, haben die im Verlauf der letzten siebzig Jahre nach und nach veröffentlichten anderen Texte seinen Ruhm nur noch mehr gefestigt und am Mythos „Kavafis“ weitergestrickt. Ich muss gestehen, dass mich Kavafis früher auch mehr als Mythos fasziniert hat, denn als Dichter. Darum fand ich meinen Zugang zu diesem eigenwilligen Autor über seine Prosa, konkreter über seine Notate, die mir eine für mich reizvolle Welt eröffneten. Diese Notate also waren mir der Anlass, Kavafis zu übersetzen. Inzwischen ist aus mir, dem ehemaligen Skeptiker, fast ein Kavafologe geworden – wobei dieses „fast“ von ausschlaggebender Bedeutung ist. 

II

Kurz vor seinem Tod bemerkte Kafavis: „Zwei Dinge hätte ich machen können: Gedichte und ein Geschichtsbuch. Das Geschichtsbuch habe ich nicht geschrieben und nun ist es zu spät“. Der das sagte hinterließ ein poetisches Werk, das – bestehend aus 154 von ihm selbst veröffentlichten Gedichten – wie kaum ein anderes die griechische Moderne tief beeinflußt hat. Konstantinos Kavafis, der als achtes Kind eines reichen Großhändlers am 29.April 1863 geboren wurde und auf den Tag genau siebzig Jahre später, am 29.April 1933, starb, brachte – in seiner Eigenschaft als Dichter K.P.Kavafis, wie er etwa seit seinem vierzigsten Lebensjahr an die Öffentlichkeit trat – einen neuen „sachlichen“ Ton in die griechische Lyrik ein. Zu einer Zeit des in Griechenland vorherrschenden Symbolismus mit den sprachgewaltigen Bildern eines Angelos Sikelianos (1884-1951) oder der blumigen Poesie des vom demotischen Lied tief beeinflußten Kostas Kristalis (1868-1894) oder der hehren Wortkaskaden des schon zu Lebzeiten als unantastbaren Klassiker verehrten Kostis Palamas (1859-1943), dem poetischen Gegenpol zu Kavafis, entwickelte dieser eine karge, epigrammatische Sprache, die Ausdruck einer prosaischen, da pessimistischen, Weltsicht war. Kavafis sah in der Gegenwart den Schlußpunkt eines fatalen Geschichtsverlaufs: Der untergehende, in seinen Strukturen verfaulte Hellenismus der vorchristlichen Zeit diente ihm als poetische Metapher für das im 19.Jahrundert – nach einer vierhundertjährigen osmanischen Okkupation – krankgeborene moderne Griechentum. Seltsam genug: Kavafis tritt, nur wenige Jahrzehnte nach der Gründung des neugriechischen Staates im Jahre 1829, in seinen Gedichten als Chronist einer Endzeit auf. Und die „Trojaner“ eines jeden belagerten Troja, wie die im gleichnamigen Gedicht von 1900, tragen, obwohl sie sich noch im Kampf befinden, das Wissen um ihre endgültige Vernichtung mit sich herum: 

Aber das Verderben ist uns gewiß. Dort oben, 
auf den Mauern, beginnen schon die Totenklagen. 

Kavafis studiert griechische, römische und byzantinische Geschichtsbücher und beschreibt, in kurzen poetischen Skizzen, als würde es gerade geschehen, den Untergang der Diadochenreiche Alexander des Großen, den Sieg der Römer über die Griechen, apokalyptische Bilder aus dem byzantinischen Reich – für einen griechischen Intellektuellen um die Jahrhundertwende vertraute Assoziationen, möchte man heute meinen. Doch dem war nicht so. Eher beherrschten die heroischen Taten der griechischen Stadtstaaten im Kampf gegen die Perser, so der Kampf des Spartanerkönigs Leonidas bei den Thermopylen, und die klassischen Meisterwerke, etwa der drei Tragiker, die Bilderwelt der neugriechischen Literatur nach der Revolution von 1821. Fast alle Schriftsteller verstanden sich als geistige Verfechter der nationalen Wiedergeburt. Die Aussparung der klassischen Antike in seinen „historischen“ Gedichten, die das Gros seines poetisches Werkes ausmachen, ging bei Kavafis einher mit einem intensiven Gefühl für aktuelle Ereignisse und einem unnachgiebigen Skeptizismus: Die Gedichte „Krieger für den achäischen Bund“ (1922), „Die Schlacht von Magnesia“ (1913), „Zu Antiochos Epiphanes“ (1911) und viele andere beschwören den Untergang der Nation, sie „beginnen schon die Totenklagen“ im Augenblick der nationalen Euphorie. Kavafis schuf sein reifes Werk in einer Zeit großer kriegerischer Auseinandersetzungen, die von seinen Dichterkollegen stürmisch begrüßt und patriotisch besungen wurden: 1897 der Kampf um Kreta und die Niederlage Griechenlands gegen die türkischen Truppen, 1903 bis 1908 die militärischen Operationen in Makedonien, 1909 die revolutionäre Bewegung auf Kreta, 1912 bis 1913 die Balkankriege, 1915 bis 1918 die Teilnahme Griechenlands am 1.Weltkrieg und schließlich 1922 die Kleinasiatische Katastrophe mit ihren verheerenden Folgen und dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. Vielleicht half ihm die „Ferne“ Alexandriens solche, in der griechischen Literatur unerhörten, Gedichte wie „Wartend auf die Barbaren“ (1904) zu schreiben oder folgende, im Heimatland kaum denkbare, Antinomie im Gedicht „Der Darios“ (1917) aufzustellen: 

Im Krieg – stell dir vor!, griechische Gedichte. 

Denn im griechischen Mutterland hätte man viel eher ausgerufen: 

Im Krieg – jetzt erst recht!, griechische Gedichte. 

und sich vielleicht an die „Perser“ von Aischylos erinnert. So setzt Kavafis oftmals gegen den rhethorischen Wortschwall der griechischen Dichter die Lapidarität historischer Kommentare, die die distanzierte Haltung zum poetischen Geschehen verstärken und jede emotionale Regung unterdrücken oder gar ironisch erscheinen lassen. 

Giorgos Seferis (1900-1971), der erste griechische Literaturnobelpreisträger, nannte Kavafis in einem seiner vielen Essays über den „Alexandriner“ einen „proteischen Dichter“ – in Anlehnung an Proteus aus der antiken Sage, dem alten Meergreis, der sich in verschiedene Wesen verwandeln konnte: Kavafis, der Gelehrte des geschlossenen Raumes, der Bibliothek, der am liebsten Historiker hätte werden wollen, der durch diese Wendung nach innen, durch das intensive Er-Leben – ähnlich wie wir es bei dem bedeutenden argentinischen Schriftsteller J.L.Borges finden – der aus den Büchern erfahrenen Geschichte des Griechentums, sich diese Fähigkeit des Hineinschlüpfens in andere geschichtliche Persönlichkeiten, wirklichen und imaginären, erworben hatte. Diese kavafische Methode, die Gegenwart durch die Brille der Vergangenheit abzubilden und zu verfremden, bezeichnete Seferis in Anlehnung an den Dichter T.S.Eliot als „historischen Sinn“, der dem Dichter ermögliche, sich selbst und seine Epoche ins Gedicht mit einzubringen. Die Lakonie seiner Poetik übertrug Kavafis sehr konsequent auch auf seine Selbstdarstellung als Künstler. Folgende biographische Notiz gab er 1924 einer Athener Zeitschrift, die ihn dem griechischen Publikum vorstellen wollte:

Ich stamme aus Konstantinopel ab, bin aber in Alexandria geboren worden – in einem Haus auf der Serif-Straße; bald danach verließ meine Familie diese Stadt und ich verbrachte einen guten Teil meiner Kindheit in England. Dieses Land besuchte ich noch einmal viel später, doch nur für kurze Zeit. Wir haben auch in Frankreich gewohnt. In meiner Jugend lebte ich über zwei Jahre in Konstantinopel. In Griechenland bin ich schon sehr lange nicht mehr gewesen. 
In der letzten Zeit arbeitete ich als Beamter im Büro des Ministeriums für öffentliche Bauten in Ägypten. Ich spreche Englisch, Französisch und ein wenig Italienisch.

III

Ich muß gestehen, daß mich Kavafis früher mehr als Mythos fasziniert hat, denn als Dichter. Darum fand ich meinen Zugang zu diesem eigenwilligen Autor über seine Prosa, konkreter: über seine Notate, die mir eine mich faszinierende Welt eröffneten. Diese Texte habe ich in den Mittelpunkt des bei Hanser erschienen Bandes mit Kavafis-Prosa gestellt, den ich – zugegebenermaßen – nur ihretwegen gemacht habe:

Konstantin Kavafis, Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit. Notate, Prosa und Gedichte aus dem Nachlass. Herausgegeben von Asteris Kutulas. Übersetzt von Asteris & Ina Kutulas, Hanser Verlag, München 1991

Die Notate also waren für mich der Anlaß, Kavafis zu übersetzen. In diesen ersten Hanser-Band nahm ich außerdem einige der „Unveröffentlichten Gedichte“ auf, erstens weil ich Bücher mag, die Unterschiedliches beinhalten und dadurch spannender zu lesen sind, zum anderen weil die Gedichte mir von der Thematik zusagten. Ich war allerdings davon überzeugt, daß ihre Qualität nicht an die der bekannten Gedichte heranreicht. Doch durch die Übersetzung entschärfte sich der im Griechischen zum Teil existierende Schwachpunkt, nämlich die sprachliche Substanz – das Problem, das Kavafis so sehr beschäftigte. Sie wurden durch die Optik des Übersetzers zu deutschen Texten, gänzlich herausgelöst aus ihrem natürlichen sprachlich-stilistischen Umfeld. Und plötzlich unterschieden sie sich nicht mehr – im Deutschen – von den sogenannten anerkannten Gedichten. So kam es, daß in einigen Rezensionen zu diesem Buch eine deutsche Edition mit allen „Unveröffentlichten Gedichten“ verlangt wurde, was mich veranlaßte, meine anfänglich ablehnende Haltung zu revidieren. Es erschien zwei Jahre später bei Hanser der zweite Kavafis-Band mit den 78 unveröffentlichten und den 23 verworfenen Gedichten sowie weiteren Texten aus dem Nachlaß:

Konstantin Kavafis, Die vier Wände meines Zimmers. Verworfene und unveröffentlichte Gedichte. Herausgegeben von Asteris Kutulas. Übersetzt von Ina & Asteris Kutulas, Hanser Verlag, München 1994

Ich muß dazu sagen, daß mein Verleger Michael Krüger, der selbst ein ausgezeichneter Literat ist und als Herausgeber der Edition Akzente Vorbildliches leistet, mich bereits während der Arbeit am ersten Buch zu einer Übersetzung dieser nachgelassenen Gedichte gedrängt hatte, ich aber mit Verweis auf deren unzureichende Qualität davon abgeraten hatte. Inzwischen ist aus mir, dem ehemaligen Skeptiker, fast ein Kavafologe geworden (wobei dieses „fast“ von ausschlaggebender Bedeutung ist). 
Nachdem nun in Griechenland 1995 die „Unfertigen Gedichte“ veröffentlicht wurden, von denen ich zehn in deutscher Erstübersetzung in der Chronika-Zeitschrift 1996 vorstellte, arbeite ich an einem dritten Nachlaß-Band, der autobiographische Texte, einen längeren Essay sowie die 30 „unfertigen Gedichte“ von Kavafis beinhalten wird. Wobei ich mich in Sachen Kavafis immer noch wie auf einer Entdeckungsreise wähne, also mir mehr mit Spaß, Lust und wachsendem Interesse seine Texte für mich „aufschließe“ und sie ins Deutsche übertrage, wie um sie besser zu verstehen … Doch sehen wir uns abschließend systematischer an, welche Editionen nach dem Tod von Kavafis erschienen sind:

  • Zunächst Prosa, also Essays, Buchkritiken, Notate, Erzählungen, Kolumnen, Autobiografisches: Das meiste davon ist gesammelt in drei Bänden (1963 Unveröffentlichte Prosa,1963 Prosa,1983 Unveröffentlichte Notate), viele andere kleinere Prosastücke erschienen in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften.
  • Unveröffentlichte Gedichte: 78 von Kavafis vollendete und der Nachwelt willentlich hinterlassene Gedichte (1968).
  • Verworfene Gedichte: 23 von Kavafis in seiner Jugend in Zeitschriften Alexandriens veröffentlichte und später verleugnete Texte (1983).
  • Und schließlich erschienen 1996 in Griechenland 30 „Unfertige Gedichte“. Also Texte, die mehr oder weniger ausgearbeitet waren. Bedeutend ist, daß sie fast ausschließlich aus dem letzten Jahrzehnt seines Schaffens stammen, und daß es Texte sind, die Kavafis hatte unbedingt zu Ende schreiben wollen. 

Diese Editionen runden (in großem Maße) das Bild vom Dichter und Menschen Kavafis weitgehend ab. Und Georgios Savidis, dem bedeutendsten Kavafologen zufolge, ist aus dem Archiv kaum etwas Neues in größerem Umfang zu erwarten. Ab jetzt bleibt es also dem Leser vorbehalten, sich sein eigenes Kavafis-Bild zu machen bzw. dem „Mythos Konstantin Kavafis“ in seine Unergründbarkeit zu folgen. 

© Asteris Kutulas, 1991/2002

Mythos Konstantin Kavafis von Asteris Kutulas
Mein zweiter Kavafis-Band mit Werken aus seinem Nachlass, veröffentlicht 1994 im Hanser-Verlag

Kutulas/Zotos/Petzold – Deformationen, eine Jannis-Ritsos-Klanghommage

Der 1909 geborene griechische Dichter Jannis Ritsos sah sich zeit seines Lebens mit den unterschiedlichsten Deformationen konfrontiert – mit gesellschaftlichen, geistigen, politischen und psychischen Miss- oder Verbildungen, mit gewissen Konstellationen, Energiezuständen und mit Bildern, die in unserem Kopf, vor unserem inneren Auge ablaufen, was philosophisch treffend mit dem „großen Unterbewusstsein“ umschrieben wurde, das dafür ein Reservoir bildet. Die Unmassen an Verdrängtem, unsere heimlichen und unheimlichen Sehnsüchte, verdichtete Ritsos zu phantasmagorischen Alpträumen des Tags und der Nacht – uns durch ihre Monstrosität die Gewissheit vermittelnd, sie hätten nichts, absolut gar nichts mit uns zu tun. Andererseits lässt es sich mit ihnen plötzlich leben, durch ihre poetische Ausformulierung werden sie uns seltsam nahegebracht, verlieren ihre erschreckende Fremdheit.

Das Konzept dieser strapaziösen, schmerzlichen und zum Teil befreienden Poetik bildete die Grundlage für das einstündige „Deformationen“-Programm, dessen Text-, Musik- und Klangstruktur von Jannis Zotos, Dietrich Petzold und mir entwickelt wurde. Unser Freund Stefan Körbel produzierte diese Aufnahme und wollte sie im DDR-Rundfunk spielen, was aber, glaube ich, nicht klappte.

Alle Texte von Jannis Ritsos
Asteris Kutulas, Übersetzung & Rezitation
Jannis Zotos, Gitarre & Bouzouki & Percussion, Vocals
Dietrich Petzold, Violine & Percussion, Vocals
Aufgenommen und produziert von Stefan Körbel
Live aufgenommen 1988 in Ostberlin

Hier also die Erst-Veröffentlichung dieses akustischen Experimental-Stücks:

*** *** ***

Deformationen

Diese Frau zählte viele schöne Liebhaber. Jetzt / hat sie genug davon; sie schminkt nicht mehr ihre Augen; zieht nicht mehr / die Härchen um ihren Mund mit der Pinzette einzeln heraus; / sie bleibt bis um zwölf Uhr mittags im breiten Bett; / ihr Gebiss hat sie unter dem Kopfkissen liegen. Die Männer / bewegen sich nackt von einem Zimmer zum andern, sie gehen / oft ins Bad, drehen mit großer Vorsicht die Wasserhähne zu; / rücken wie zufällig eine Blume auf dem in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch zurecht / im Vorbeigehen, so lautlos, widerwillig, so ohne Leidenschaft jetzt, / ohne Ungeduld und Geilheit, – die Leidenschaft indessen / ist deutlicher noch zu erkennen, wenn sie verlischt. Der Männer dichte Behaarung / lichtet sich, verwelkt, ergraut. Die liegende Frau / schließt die Augen, um die Zehen ihrer Füße nicht länger sehen zu müssen, / die voller Schwielen, ganz deformiert; sie, die einst robuste – / hat nichtmal die Kraft, die Augen soweit zu schließen, wie sie will, / so beleibt, versunken in ihrem Fett, erschlafft, / wie die Dichtung wenige Jahre nach der Revolution. 

Jannis Ritsos, Athen, 29.1.72

*** *** ***

DEFORMATIONEN

… das war die Überschrift eines Gedichts von Jannis Ritsos aus dem Jahre 1972. Ich musste während der aufwühlenden Monate zwischen November 1989 und Ende 1990 ständig daran denken – der Untergang des Sozialismus vorweggenommen in einem krassen poetischen Bild. Und alle privaten und verinnerlichten Deformierungen führten unweigerlich in die Katastrophe bzw. die Erlösung, je nachdem welcher Denkungsart man war.

Im Mai 1984 konnte ich während drei Tagen in Dresden mit Jannis Ritsos zusammen sein. Er war einer Einladung zu den Musikfestspielen gefolgt, während denen die 7. Symphonie von Mikis Theodorakis uraufgeführt wurde, die auf Gedichten von ihm beruht. Es wurde eine bedeutsame Begegnung, schon durch die Art, wie dieser Mensch seinen Visionen durch seine Sprache Körperlichkeit gab. Für mich ist sie unvergesslich geworden.

Nun erschien im Romiosini Verlag: „Deformationen“, eine geradezu aufregende Anthologie, herausgegeben von Asteris Kutulas. Er zeichnet nicht nur für die Auswahl verantwortlich, sondern gibt im Anhang auch die notwendigen Erläuterungen, zudem fügt er ein vollständiges Werkverzeichnis an, sowie alle deutschsprachigen Erstausgaben, eine Diskographie und eine Liste aller Theateraufführungen, die auf Ritsos-Texten beruhen.

Über dieses Buch zu schreiben beginnen, heißt daher von vornherein, unvollständig zu sein und fragmentarisch zu bleiben: Allzu viel findet sich auf diesen 318 Seiten, allzu reichhaltig ist das Angebot, allzu vielseitig die Auswahl, allzu üppig der Stoff.

Asteris Kutulas, ein enger Vertrauter von Mikis Theodorakis und Jannis Ritsos, der Übersetzer und Herausgeber von Konstantin Kavafis’: „Die vier Wände meines Zimmers“ und „Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit“ (Akzente, Hanser), sowie u.a. der dreibändigen Theodorakis Autobiographie (Ed. Phi, und verkürzt, Insel Verlag) nennt „Deformationen“ eine „innere Biographie“ von Ritsos und sieht sich einig mit dem großen Dichter, der in seinem Werk immer auch und immer wieder Zwiesprache mit sich selbst hält.

Kutulas hat sehr genau hingehört und vor allem, sehr genau gelesen.

Bevor er dieses Buch veröffentlichen und dabei mit sich selbst im Reinen bleiben konnte, wissend, dass er den geliebten großen Mann der griechischen Dichtung nicht verriet, sondern dem Leser näher zu bringen imstande war, musste er alles lesen, was Ritsos je geschrieben hatte.

Das schreibt er denn auch gleich am Anfang seines „Editorischen Nachwortes“: „In Vorbereitung auf dieses Buch habe ich da gesamte editierte Werk – fast 100 Bände unterschiedlichen Umfangs – sowie viele der unveröffentlichten Gedichtzyklen von Jannis Ritsos (1909-1990) durchgesehen. Von den über 7.000 Gedichten, die er zwischen 1930 und 1989 geschrieben hat, wählte ich etwa 320 aus.“ Sie stellt er in chronologischer Reihenfolge vor, blendet aber dazwischen einzelne Prosatexte, Essays und Vorworte von Ritsos ein, die das Geschriebene weiter erhellen.

Dabei handelt es sich fast nur um Texte, die bisher noch nicht auf deutsch veröffentlicht worden sind: Nur etwas mehr als zehn Prozent erschienen in anderen Ausgaben.

Ein besonderer Abschnitt des Buches ist Ritsos genialer Dichtung „Das Ungeheure Meisterwerk“ vorbehalten, für den Dichter selbst seine tiefste Aussage über sich selbst, für Kutulas, eine „Spiegelung“ seiner eigenen Auswahl, „de facto eine „autorisierte“ innere Biographie des Dichters“.

Abgerundet, ja, auch besondere Weise vertieft, wird die Edition durch ein Tagebuch des Herausgebers, das dieser vom 18.3.1982 bis zum November 1990 führte und in dem er über seine Begegnungen, seine Treffen, seine Gespräche, seine fruchtbaren, erhellenden Diskussionen und seine persönlichen Empfindungen gegenüber dem Schicksal Ritsos‘ berichtet.

Sie bewirken genau das, was Kutulas damit erreichen will: Sie bringen uns diese Persönlichkeit näher, machen sie besser verständlich und machen vor allem deutlich, warum Ritsos nicht mehr leben wollte, als alles, woran er kritisch geglaubt und für das er gelitten hatte, für ihn und in ihm zusammenbrach, als deutlich wurde, wie sehr die „geistige Wirklichkeit“ (Kutulas) des Kommunismus durch den „real existierenden Sozialismus“ pervertiert worden war und ein politisch erstarrtes Gefüge in sich selbst zusammenbrach: „Den Untergang seiner Epoche vermag er nicht zu ertragen“ (Kutulas).

Zum Ende seines Lebens nimmt Ritsos nichts mehr zu sich, trinkt nur noch Wasser und „erlischt“ (id.) regelrecht.

Eigentlich ist damit schon fast gesagt, was unbedingt gesagt werden musste, nämlich, wie wichtig, wie unersetzlich diese Veröffentlichung sein wird für all jene, die mehr (oder überhaupt etwas) über einen der größten Meister des Wortes unseres Jahrhunderts erfahren wollen, die sich mit seinen unendlich schönen Versen auseinandersetzen wollen, für die durch seine Bilder neue Türen aufgestoßen werden und die sich von seinen Visionen mittragen lassen wollen.

Dies zumal, da die Übertragungen ins Deutsche ungemein einfühlsam und rhythmisch prägnant sind, und hier soll der Beitrag von Ina Kutulas gewürdigt werden, die selbst eine echte Dichterin ist und mit sensibler Behutsamkeit jeden Vers so präzise und so geschlossen werden lässt, dass er nicht anders sein kann in ihrem „Hinüber-Setzen“ in eine andere, die deutsche Sprache.

Guy Wagner

Ralf Winkler alias A.R.Penck & die dresdner Malergruppe „Lücke“

Der Dresdner Maler WOLFGANG OPITZ, befragt von Asteris Kutulas zu A.R. PENCK und zur dresdner Künstlergruppe „Lücke“ 

(Februar 1989)

Asteris Kutulas: Du bist seit 1969 mit Ralf Winkler befreundet, ihr habt zwischen 1969 und 1980 etwa zwei Dutzend Filme zusammen gedreht, außerdem von 1971 bis 1976 in der Malergruppe „Lücke“ zusammen gemalt und installiert. Mich interessiert zunächst die allgemeine Situation in Dresden, besonders in den sechziger Jahren, kurz vor eurem Kennenlernen.

Wolfgang Opitz: Ralf Winkler hatte, als ich ihn kennenlernte, schon seine eigene Geschichte. In seiner Biografie wird als erste prägnante Station der Besuch der Abendschule der Kunsthochschule Dresden genannt. Das war wohl 1955. Jürgen Böttcher leitete als 23-jähriger diese Klasse. Und das war der Ausgangspunkt einer langjährigen und langbewährten Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Jürgen Böttcher und den damaligen Schülern Peter Makolies, Peter Graf, Peter Herrmann und Ralf, mit 16 Jahren der Jüngste. Das Verdienst Böttchers war es, den großen Atem der Weltkunst als Erlebnis vermittelt zu haben. Damals entwickelten sie einen Stil und eine künstlerische Haltung mit vielen Gemeinsamkeiten. Einflüsse von Rembrandt, Corot, den spanischen Realisten bis zu Goya, dazu kubistische Einflüsse, aber weniger den mediterranen Genuß von Picasso.

Penck vs. Ost-Zonen-Rembrandt

Ralf wurde in Anspielung auf seine Zeichnungen der Ost-Zonen-Rembrandt genannt. Die Kunst dieser vier Leute baute also auf Traditionen, die aber kaum etwas mit der Dresdner Kunst zu tun hatten, also keine Mischung aus Nach-Expressionismus, Impressionismus und Akademismus, auch nicht der veristischen Eitelkeiten der Dix-Schule. Ihre Malerei war eher erdig schwer, von schonungsloser Direktheit, fast ein Gemeinschaftsstil mit individuellen Ausprägungen. Peter Graf und Peter Herrmann sind den damals gefundenen Weg ohne größere Brüche weitergegangen. Ralf Winkler verließ ihn zuerst mit seinen Strichfiguren, System- und Weltbildern. Peter Makolies ist heute ein bedeutender Plastiker, der mit seinen Arbeiten unsere Sehnsucht nach Klassizität und Moderne erfüllt. Jürgen Böttcher wurde Dokumentarfilmregisseur, immer noch mit starker Bindung zur bildenden Kunst. Strahwalde wurde später sein Künstlername, als er praktisch aus seiner Filmarbeit heraus Ende der 70er Jahre die Serien von Übermalungen entwickelte.

Kutulas: Man kann also davon ausgehen, daß Jürgen Böttcher die vier beeinflußt und sie in eine Richtung gedrängt hat?

Opitz: Ja, das ist bestimmt richtig. Ich glaube aber, daß Ralf aufgrund seiner universellen Veranlagung in Bereichen wie Philosophie, Mathematik, Logik, Musik und Lyrik diesen gemeinsam erarbeiteten Stil nicht mehr als ausreichend empfunden hat. Er ist ein analytischer Typ.

Kutulas: Gemeinschaftsstil oder gemeinsamer Stil – läßt der sich auf diese Formel bringen, die du genannt hast: Einflüsse spanischer Realisten, kubistische Einflüsse?

Opitz: Ja, in der Übereinstimmung, wofür man ist und wogegen. Jedes Bild ist auch gegen etwas. Es war eine sensualistische Malerei, und die Übereinstimmung lag darin, die sogenannten einfachen Dinge des Lebens darzustellen und die Wahrheit in der Haltung zum Dargestellten auszudrücken.

Kutulas: Sah der Gemeinschaftsstil auch so aus, daß sie zusammen gearbeitet haben?

Opitz: Der von mir angesprochene „Gemeinschaftsstil“ sollte sich nicht unkritisch festsetzen. Aber es war so, daß sich zunächst die Bilder von Peter Graf und Peter Herrmann sehr ähnelten. Beide galten damals als unzertrennlich. Ich weiß nicht, ob sie beim Malen zusammen arbeiteten. Zwischen Peter Makolies und Ralf Winkler bestand bis 1964/65 eine Ateliergemeinschaft.

Kutulas: Wo befand sich diese Ateliergemeinschaft?

Opitz: In Dresden Neustadt, auf der Löbauer Straße. Im Katalog zur Berliner Penck- Retrospektive befindet sich ein Foto, da stehen beide vor dem Tor des gemeinsamen Ateliers. Ihre Arbeiten wurden damals als abseitig bewertet.

Kutulas: Von wem wurden sie abseitig bewertet?

Opitz: 1960/61 in Berlin, disqualifizierend von der offiziellen Kunstwissenschaft anläßlich einer Ausstellung an der Akademie der Künste und 1965 in Dresden. Durch Vermittlung konnten sie ihre erste Gemeinschaftsausstellung im damaligen Haus der DSF auf der Leipziger Straße aufbauen. Hier war es wohl das sogenannte gesunde Empfinden des Volkes, welches zum Eklat führte. In dem Haus fanden auch Hochzeitsfeierlichkeiten statt, und ein Brautpaar lehnte es ab, angesichts so schrecklicher Gemälde ins gemeinsame Leben zu starten. Die Bilder mußten vorzeitig abgehangen werden.

A.R. Penck alias Ralf Winkler, Asteris Kutulas
Veröffentlichung des Interviews in der Zeitung „Die Union“, 6./7.10.1990

Kutulas: Du sprachst auch von Ralfs universeller Veranlagung und hast ihn damit von den anderen getrennt … Könntest du das genauer bestimmen?

Opitz: Malerei/Grafik war immer sein hauptsächliches Aktionsfeld. Zur Plastik hatte er damals nur ein rezeptives Verhältnis, aber die Besonderheit der Plastik gegenüber der Malerei/Grafik, das Material, welches körperlich erfahrbar ist – seine Schwere eben – und die körperliche Anstrengung, die zu investieren war usw., das alles reizte ihn sehr. Um 1970 erstellte er Objekte aus Kartons, Alufolie, Leuko-Plast und anderen Materialien, 1988 schickte er mir ein Foto von seiner ca. 4 m hohen Skulptur aus Carrara-Marmor. Bekannt sind ja seine Stelen aus Holz, damit hatte er noch in der DDR begonnen, in den 80er Jahren kamen Bronzen hinzu. Allen diesen Arbeiten ist eines gemeinsam: den technischen Aufwand so gering wie möglich zu halten, um dadurch Unmittelbarkeit in der Wirkung zu erreichen.

Um die universelle Begabung oder Intention zu belegen, habe ich einige Gebiete aufgezählt. Ich kenne frühe Tagebücher von ihm, so von 1961. Es sind Zeichnungen und Gedichte darin, Gedichtfassungen. Aber die Hälfte der Seiten sind Aufzeichnungen über Physik, speziell die Mechanik, mit vielen grafischen Darstellungen, Vektoren, Maßeinteilungen, Kraftfeldern, die sich durchdringen. Wenn später solche Dinge bei den Strichfigurenbildern und in den Standart-Serien Verwendung finden, dann nicht aus vordergründig ästhetischen, bildgestalterischen Erwägungen, wie es heute modern ist, Kreuze und Pfeile auf dem Bild einzubauen.

Philosophie

Philosophie hat er systematisch durchgearbeitet. Kant, Hegel, Marx. Als mein Kontakt zu ihm enger wurde, so ab 1964, trug er Lenin bei sich. Lenin und die Krise mit den Kronstädter Matrosen, das hab ich mir von damals gemerkt. Und das wird verkannt: Ralf war nicht „prowestlich.“ Neben dem Ost-West, welches unser Denken so okkupiert, stand auch Süd- Nord, schon damals. Modell Afrika: vorkolonial, Natur bietet Überfluß, Modell Eskimo, abfallfreie, totale Nutzung der beschränkten Ressourcen.

Schwerpunkt seiner Analyse: Was ist das System hier? Und welche Wege und Möglichkeiten gibt es im allgemeinen für das System und für ihn selbst. Dazu mußte man zum Kern vordringen, das System von seiner ideologischen Hülle trennen. Mit diesem Konzept hat er mehrmals ernsthafte Integrationsversuche unternommen.

Kutulas: Wie sahen die aus?

Opitz: Er hat sich bei der Armee für ideologische Kriegsführung und als Lehrer beworben …

Kutulas: Bei der Armee und als Lehrer?

Opitz: Ja, beides abgelehnt. In den 60er Jahren hat er regelmäßig Gespräche mit Kadern der Stadtparteileitung geführt. Man konnte mit seinem Denksystem nichts anfangen. Für sie war er eher ein Unikum, ein Clown. Ich selbst war an einem Integrationsversuch beteiligt. Wir beide machten im Auftrag der Pädagogischen Hochschule Dresden einen Lehrfilm für Studenten über Plastik. Der ist aus skurrilen Gründen nicht veröffentlicht worden.

Kutulas: Wann war das?

Opitz: Das war 1972. Unsere Konzeption, die akzeptiert worden war, bestand darin, einen Film über Prinzipien in der Plastik und deren Funktion im Raum zu machen. Die Eingangsszene etwa: Dresden, der Rathausmann mit dem Füllhorn oben auf dem Turm des Rathauses, vergoldet, Kameraschwenk nach unten, die vor dem Gebäude stehende Bronze der Ziegelputzerin mit Ziegelhammer, die Menschen gehen vorbei.

Der erste Teil gab einen historischen Abriß, aber nicht im Sinne der geläufigen Kunstgeschichte: Antike, Romanik, Gotik usw., sondern Gegenüberstellung: archaische Naturform, zum Beispiel die Menhire von Stonehenge, zu imitierender Kunstform, als Beispiel die gründerzeitliche Brunnenanlage am Platz der Einheit.

Den Hauptteil machten drei Plastiker der DDR aus, zu denen Ralf persönliche Beziehungen hatte, deren Arbeiten sich für das Anliegen des Films anboten: Theo Balden, der die Negativform betont, den plastischen Raum durch das Weggenommene verdeutlicht. Werner Stötzer, der die rhythmische Gliederung betont, das Volumen beläßt. Dann Ralfs Freund Peter Makolies, der archaischer Grundform unter anderem durch präzise, oft minimale Linie und Kante Gestalt gibt.

Einige größere Arbeiten von Stötzer filmten wir im Staatsatelier Berlin-Pankow. Da stand noch eine geballte Ladung stalinistischer Kampfkunst. Es war ein ca. 40 m langer Demonstrationszug, Menschen, Fahnen, Gewehre und anderes aus Gips, verstaubt. Wir ließen uns das für den Film nicht entgehen. Unser Film wurde im Rohschnitt dem Lehrstuhl Kunstwissenschaft vorgeführt.

Parallel dazu betreute der Lehrstuhl die Diplomarbeit von zwei Studenten, einen Fim über den Barockgarten Großsedlitz, in technischer Kooperation mit einem Betriebsfilmstudio. Um die praxisnahe Ausbildung durch den Lehrstuhl richtig zu würdigen, lud man einen illustren Kreis, Presse usw., zur Premiere ein, auch den Lehrstuhl Marxismus-Leninismus aus dem Hause. Das war im Dezember 1972, als Erich Honecker die Macht übernommen hatte. Um sich von der Ulbricht-Ära gebührend abzusetzen, kreierte man die Abgrenzungstheorie: die Behauptung von der absolut getrennten Entwicklung der zwei deutschen Nationen. Demnach stehen sich auch zwei Kulturen unvereinbar gegenüber.

Auch von einer gemeinsamen Kultur vor 1945 zu sprechen, sei nur reaktionäres Gefasel, um die politischen Realitäten zu negieren und die sogenannte deutsche Frage offen zu halten. Nach der Filmaufführung monierten die Marxismus-Leute den Begriff deutscher Barock, eine solche Verwendung widersprach der damals neuesten Honecker-These.

Der Spaß hatte seinen Höhepunkt, als der Kunstgeschichtsprofessor glaubte, für seine Studenten in die Bresche springen zu müssen und ins Auditorium rief: „Also, wenn es keinen deutschen Barock gibt, dann war wohl Goethe auch kein deutscher Dichter?“ Tage danach erschienen Leute vom ZK. Der Professor und sein Mitarbeiter mußten über die Weihnachtsfeiertage die Konzeption überarbeiten. Mit der neuen Konzeption erschienen sie im Betriebsfilmstudio in Heidenau, doch die Studiomitglieder sagten: „Nö, das ist unser Film genauso, und der ist gut. Den machen wir nicht noch einmal.“ Der Witz ist, daß der Film zu den Arbeiterfestspielen in Suhl vom Betriebsfilmstudio eingereicht wurde und wohl eine Goldmedaille erhielt.

Nach diesem Dilemma betreten Ralf und ich das Foyer der Hochschule, werden von dem betreuenden Mitarbeiter empfangen: „Herr Winkler, Herr Opitz. Ich bitte Sie, schneiden Sie bitte aus dem Vorspann Ihres Film ‚Im Auftrag der Pädagogischen Hochschule Dresden, Sektion Kunsterziehung‘ heraus! Schneiden Sie das bitte raus! Alles andere müssen wir später besprechen“.

So, jetzt war die Geschichte zu Ende, und so ist fast alles bei Ralf gelaufen.

A.R. Penck, Ralf Winkler von Asteris Kutulas
Veröffentlichung des Interviews in der Zeitung „die andere“, 36/1990

Kutulas: Du hast gesagt, daß Ralf im Vergleich zu den anderen eher der analytische Typ war. Wie ist das gemeint? Analytisch in Bezug auf seine Technik, auf seine Bildfindung oder in Bezug auf seine theoretische Analyse von Vorgängen?

Opitz: Wenn wir unter Technik das gleiche verstehen, dann beides. Jürgen Böttcher kenne ich nicht so gut, um seine Strukturen mit denen von Ralf vergleichen zu können. Ralf zeichnete und malte, um sich im sprichwörtlichen Sinne „ein Bild zu machen“. Deshalb ist die Rembrandt-Phase kein historisierender Rückgriff; Rembrandt war für ihn eine Technik, besser gesagt, eine Methode, um den Augenblick einer Situation in seiner Veränderlichkeit zu fixieren. Zur Figur wurde die Raumsituation mit wenigen groben Schraffuren bestimmt, das ist eine Möglichkeit, Naturform und hohen Abstraktionsgrad miteinander zu vereinen.

Penck & Serien

Ralf erarbeitete Serien. Training durch Serien, das kommt ja wieder beim Standart-Programm. Damals hat er jede Situation genutzt, die ihm zugänglich war, um vor dem Objekt zu zeichnen: Portraits, Menschen an der Straßenbahnhaltestelle, beim Federballspielen auf der Straße, Mutter, Schwester zu Hause, den Großvater, die Freundesrunde zum Geburtstag, die Freundin in allen Stadien des Verhältnisses, die Landschaft der näheren Umgebung. Immer in Serien, die dann zwecks Analyse auf dem Fußboden ausgelegt wurden. In der Portraitserie eines Mädchens konnten zehn Zeichnungen enthalten sein und, wo es ihm um die zeichnerische Bewältigung ging, immer wieder angesetzt werden, die Kontur in einer Linie zu erfassen, wenn notwendig, eine grobe Korrektur darüber.

Es ging ja nicht um das schöne, vollendete Kunstwerk. Einige Blätter zeichnete er so, wie sich das Mädchen gerne sehen würde. Meist wählte es sich ein Blatt davon als Geschenk aus. Wenn es ihm wichtig war, ging er weiter zum Kern vor, löste die Linien auf, veränderte bewußt die Proportionen, damit das Problem der Persönlichkeit hervortrat. Mich hat er als eine Mischung von Wolf und Schaf dargestellt, da ist was dran.

Penck & Landschaft

Wenn Landschaft, dann nicht, weil er sie besonders schön fand und das dem Betrachter mitteilen will. Ihn interessierten die Phänomene im Landschaftsraum, das Trennende und das Verbindende: Stein, Wasser, Erde, Luft, Mensch, Tier, Pflanze. Diese Momente als Prinzipien in den Bildraum einzubringen, bei der Pflanze das Heliotropische, beim Menschen das Psychologische als Antrieb, so etwas interessierte ihn. Zu den Serien von der Natur kommen die Serien im Atelier oder zu Hause bei seiner Mutter oder bei der Lebenskameradin. Die Elemente werden reduziert, zum Beispiel Stein – Baum – Mensch, der Mensch im Beharren, der Mensch in der Bewegung, der Mensch im Zwiespalt und im Verhältnis zu den oben genannten Elementen.

Penck & Musik

Neben der Plastik galt seine heimliche Liebe der Musik. Er spielte Klavier und Gitarre. Er ging in die Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek und studierte die Notenwerke der Klassik und der klassischen Moderne, hat aber selbst nicht nach Noten gespielt. Wenn er ein richtiges Bild gemalt hatte, stellte er es auf das Klavier und spielte dazu. Das war schön. Ich bat ihn: „Ralf, spiel mal Bach“. Dann spielte er nicht ein bestimmtes Stück von Bach, er begann höchstens mit einem Zitat. Winkler spielte Winkler wie Bach.

Kutulas: Ralf genügte also der Gemeinschaftsstil ab einem bestimmten Punkt nicht mehr?

Opitz: Ich habe das alles erzählt, um damit nachzuweisen, daß der Punkt einfach kommen mußte. Also keine Abhängigkeit mehr von dem, was man sieht, sondern eine Methode, die so stark reduziert, um damit komplexere Bereiche visualisieren zu können. Das heißt, eine phänomenologische Überschau zu erreichen. Das waren die Strichfiguren- und Weltbilder. Für mich sehr interessant, weshalb danach die Erfindung der Standart-Theorie so notwendig erschien. Ich sehe hier die Wechselwirkung zwischen Künstler und Gesellschaft bestätigt, also den Zusammenhang zwischen dem Weg, den Ralf bisher zurückgelegt hatte, und der Kunstentwicklung in der DDR.

DDR-Kunst & Individualismus

In den 50er Jahren wurden aus der DDR-Kunst die progressiven bürgerlichen Künstler eliminiert, ich denke an Grohmann und Carl Hofer. Leute wie Lachnit, Willi Wolf, Hermann Glöckner wurden ins Abseits gedrängt, selbst die Kollwitz, Barlach und Hans Grundig, der das noch erleben mußte, wurden suspekt. Die Kunstgeschichte hörte bei Repin und Menzels Walzwerk auf und begann erst wieder bei sowjetischer Kunst stalinscher Prägung. Für die DDR-Kunst waren die ersten Repräsentationsmodelle dazu erstellt. Ralf und die Gruppe um Böttcher reagierten mit verstärktem Individualismus. Was passierte nun in der DDR-Kunst, so etwa ab 1960? Man merkte, ganz so glatt geht es nun doch nicht, und langsam wurden Erfahrungen von Cézanne und Späteren in den sogenannten Sozialistischen Realismus eingebaut. Das führte zu langjährigen Diskussionen von Scheinproblemen. Man nannte das wohl Inhalt-Form- Problematik. Etwa, ob man die Augen wie bei Modigliani ohne Pupille darstellen darf oder nicht. Die Konservativen bezeichneten so etwas als anti-humanistisch, typisch für den Kapitalismus, wo der Mensch nicht sehen kann und darf usw. Eine heillose Verwirrung der Kriterien und Maßstäbe. Ralfs Strichfiguren und Weltbilder waren bei aller Reduktion noch subjektivistisch. Aber Objektivierung tat Not, deshalb Standart! Er hat herausgefunden, daß sich die Welt auf Zeichen reduzieren läßt und als Zeichen erfaßbar ist. „Ein Standart ist ein Bild nur dann, wenn es in seiner Struktur so einfach ist, daß jeder es perzipieren und imitieren kann.“

© Asteris Kutulas, Februar 1989

Dieses Interview erschien in verschiedener Form und Länge in folgenden Publikationen:
– Als wir uns bewusst als Untergrund bezeichneten. Die Dresdner „Lücke“ und Ralf Winkler alias A.R.Penck: Der Maler Wolfgang Opitz befragt von Asteris Kutulas, in: Die Union, 6./7.10.1990
– Ralf Winkler alias Ost-Zonen-Rembrandt alias A.R.Penck. Wolfgang Opitz befragt von Asteris Kutulas, in: die andere, 36/1990
– Ralf Winkler und die zornigen jungen Männer Dresdens. Der Dresdner Maler Wolfgang Opitz befragt von Asteris Kutulas, in: Sondeur, Nr. 8, November 1990
– Die Schließung der Dresdner „Lücke“. Wolfgang Opitz befragt von Asteris Kutulas, in: Sondeur, Nr. 11, Februar 1991

Ralf Winkler alias Penck von Asteris Kutulas
Katalog zur LÜCKE Ausstellung

Ralf Winkler, alias A.R.Penck

kannte ich noch aus meiner Dresdner Zeit, bevor er die DDR verließ. Giorgos, einer meiner besten Freunde, war ihm sehr verbunden … und ich glaube, und er war es, der Ralf zu seiner Ausreise mit seinem alten VW Käfer an die westdeutsche Grenze fuhr.
Später brachte ich den Erfinder der Strichmännchen mit Mikis Theodorakis zusammen, wobei der Maler Gottfried Bräunling der spiritus rectus dieser Produktion war:

Mikis Theodorakis – A.R.Penck, Das Meer, der liebe Gott und das Muli (deutsch-griechisch), Mit neun Original-Siebdrucken von A.R.Penck, Übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Herausgegeben von Asteris Kutulas und Gottfried Bräunling, Mit einer CD von Mikis Theodorakis (Macbeth) und einer Kleinplastik von Gottfried Bräunling; GB edition & Asti Music, Hohenöllen 1995

Als nach dem Münchner Konzert Theodorakis in der Hotelhalle des Bayerischen Hofs Ralf traf, mit dem er gerade das oben genannte bibliophile Buch zusammen gemacht hatte, begrüßte dieser ihn mit den Worten: „Eigentlich kenne ich dich ja gar nicht. Aber ich habe eine Schallplatte mit Songs von dir, die ich fast jeden Tag höre, und die geht so: … „Der Maler holte mit den Armen weit aus und begann, dabei dirigierend, in der Hotelhalle unüberhörbar die Titel-Melodie des Films „Serpico“ zu singen. Der Ursprungssong hatte folgenden ihm unbekannten Text: „Und ich schritt weiter, hinein in die Nacht, und niemanden erkannte ich, und niemand erkannte mich.“ Was zur Folge hatte, dass die Aufmerksamkeit aller gerade in der Halle Anwesenden sich für einige Augenblicke auf Theodorakis und Penck richtete. 

Ich kann mich noch ganz gut an seine Erscheinung erinnern Mitte der siebziger Jahre in Dresden: er kam mir vor wie ein vagabundierender sächsischer Anarchist. Er paßte überhaupt nicht zur DDR und war doch ganz klar ihr Kind. Ich hatte damals natürlich keine Ahnung um seine Bedeutung als Maler, oder besser gesagt als Konzeptkünstler. Aber er war ein ziemlich straighter Typ. Mir kam er immer etwas heruntergewirtschaftet vor, abgesehen davon, dass ich mit seiner Malerei oder seinen Filmen, – die ich ohnehin nur sehr bruchstückhaft kannte, – nichts anfangen konnte. Eine poetische Gestalt in einer kulturell verdurstenden Landschaft – – das allerdings war mir instinktiv damals schon klar, und nicht nur wegen der verrückten Geschichten, die sich um seine Person rankten.

© Asteris Kutulas

Theodor Storms Novelle „Hans und Heinz Kirch“

Theodor Storms Novelle „Hans und Heinz Kirch“
Ein Essay von Asteris Kutulas (1981)

I

„Auf einer Uferhöhe der Ostsee liegt hart am Wasser hingelagert eine kleine Stadt, deren stumpfer Turm schon über ein Halbjahrtausend auf das Meer hinausschaut.“ (364) Gefangennahme der Phantasie; sacht, aber unerbittlich werden die Sinne hineingezogen in diese Stimmung einer „abgeschlossenen Einsamkeit“. Die „kleine Stadt“ am Meer, gleichsam ruhig, ohne Lärm, nur im „Frühling“ durch das „unablässige Geschrei der Strand- und Wasservögel“ in ihrer scheinbaren Trägheit etwas gestört. Schöne Landschaft – Eindruck einer Idylle, in der Veränderung kaum denkbar; der Turm ist schon seit einem „Halbjahrtausend“ stumpf, die Leuchttürme „entzünden“ wie von allein „ihre Feuer“. Doch dann der leise Hauch einer Bewegung: „die sogenannte Bürgerglocke“ hängt nicht mehr „wie seit Jahrhunderten“ im Kirchturm auf dem Markte. Das „Gesinde“ oder auch der „Haussohn“ brauchen sich nicht mehr der absoluten Herrschaft des Familienoberhauptes unterzuordnen.

Dann die Entschuldigung der „tüchtigen Menschen“ für ihre, „noch vor kurzem“ bestehende, Rückständigkeit. Es ist der Hinweis auf die Bewohner der „kleinen Stadt“, „unabhängig von dem Gelde und dem Einfluss der umwohnenden großen Grundbesitzer“, aus „alten Bürgergeschlechtern“ (364 f.) stammend. Die gleichen genetischen Wurzeln münden in die gegenwärtige Agonie zwischen einem „kleinen Patriziat“ mit stattlicheren Wohnungen und den anderen Bewohnern in den „niedrigeren Häuserreihen“ (365). Und dann erscheint ein „Aber“, wie zur Beruhigung, dass auch die jetzt Reichen noch „bis zum letzten Jahrzehnt“ sich ihre „Wohlhabenheit“ auf dem gleichen „Weg“ wie ihre „Vorfahren“ erworben haben. Die Aussage braucht nur weitergeführt zu werden: Jetzt müssten die Söhne nicht mehr diesen Weg gehen…

Der Auseinanderfall zwischen Arbeit und Reichtum, zwischen Reichtum und Rechtschaffenheit überschattet die Beziehungen zwischen den Bürgern der Stadt. Der zwingende „Stufengang der bürgerlichen Ehren“, dessen eine Stufe ihren Ausdruck im privilegierten Schifferstuhl mit dem „Barkschiff“ hat, lässt sogar „statt der Andacht ein ehrgeiziges Verlangen“ im „kleinen Bürgerstande“ aufkommen. Die dadurch ihrem Wesen entfremdete Kirche führt statt zu „gottseligen Gedanken“ (365 f.) zu „erregten weltlichen Entschlüssen“ (366). Die Horizonte und die Ideale – ihre eigentlichen Grenzen.

Theodor Storm Hans und Heinz Kirch von Asteris Kutulas
Graffiti Berlin

II

Rückversetzung in die Zeit davor. Zeit zwischen Zeiten: erzählte Zeit. Die „Abschaffung der Bürgerglocke als eines alten Zopfes war in der Stadtverordnetenversammlung von einem jungen Mitgliede zwar in Vorschlag gebracht worden, aber zwei alte Herren hatten ihr das Wort geredet … Und nach wie vor, wenn es zehn vom Turm geschlagen hatte, bimmelte die kleine Glocke hinterdrein“ (389). Fünfzehn Jahre vor diesem Sieg der alten Herren über den Geist der neuen Epoche verabschiedete Hans Kirch seinen Sohn Heinz zu einer mehrmonatigen Bewährungsreise als Matrose. Dass der nicht wiedergekommen, liegt an der Eigenheit einerseits des Vaters, der dem Sohn einen zornigen Brief mit Vorwürfen über dessen Verhalten am Vorabend der Fahrt schreibt und andererseits des Sohnes, der daraufhin, in der Überzeugung, zu Unrecht beschuldigt worden zu sein, nicht nach Hause zurückkehrt, sondern eine „neue Heuer“ annimmt, so seinem Vater trotzend. Doch „je weiter die Zeit verrann, desto fester wurzelte der Groll“ in Hans Adams Herzen, so dass er, als ein Jahr später ein unfrankierter Brief des Sohnes ankommt, diesen ungeöffnet zurückweist. Die Rückkehr des Heinz, auch vom Vater heimlich gewünscht, findet somit auch in den nächsten fünfzehn Jahren nicht statt – währenddessen die Mutter stirbt und seine Schwester Lina die Ehe eingeht.

Nach insgesamt siebzehn Jahren Trennung erfährt Familie Kirch, dass der Totgeglaubte sich in Hamburg unter falschem Namen aufhält. Dem „alten Schiffer …ist, als fühle er eine erkaltende Hand, die den Druck der seinigen erwarte“: Das Versprechen, das er seiner sterbenden Frau gegeben, ist das „Perpendikel“ für ihn, seinen Sohn nach Hause zu holen, der, zwar „widerstrebend“, ihm aber doch folgt, denn auch er muss „Gott weiß was, herunterspülen“.

Jedoch „kostet es Künste, in diesem Burschen mit dem roten Bart den alten Heinz herauszufinden“ (406), wie der Vater bemerkt, nachdem in der Stadt ein Gerücht seine Kreise zieht, „der Heimgekehrte sei gar nicht Heinz Kirch, er sei der Hasselfritz, ein Knabe aus dem Armenhause, der gleichzeitig mit Heinz zur See gegangen war“ (404). Da sich zudem der Zurückgekommene nicht „heimisch“ fühlt, ihn die Hausangelegenheiten „wie etwas Fremdes“ anmuten und eines abends „allerlei in seiner Erinnerung“ aufwacht, so dass sein Wesen hervorbricht und er die Nacht in einer verrufenen Kneipe verbringt, glaubt sich der Vater gezwungen, einen Schlussstrich zu ziehen und „hastig“ (422) den Sohn fortzuschicken. Diesen hält ebenfalls nichts mehr in seiner Heimatstadt: Wieb, seine Kinder- und Jugendliebe, ist inzwischen verheiratet. So reist er ab, ohne „the alms“ (424) des Vaters anzunehmen. Letzterer, gedrückt und gebrochen jetzt, erfährt durch eine Vision vom Tod seines Sohnes, „und der Tote hatte alle Rechte, die er noch eben dem Lebenden nicht mehr hatte zugestehen wollen.“ Buße mit Hilfe und an der Seite Wiebs, deren Mann „sich totgetrunken“. Der alleinige Gewinnende aus dieser Familienkatastrophe: der Schwiegersohn Christian Martens.

Theodor Storm Asteris Kutulas Graffiti Berlin
Graffiti Berlin

III

Nachdem der Ort und die Einwohner vorgestellt, charakterisiert der Erzähler die Hauptfigur: „Zu diesen strebsamen Leuten gehörte Hans Adam Kirch“ (366). Ein Mann, der ein Ziel hat und alles „rastlos“, „eilfertig“ darauf zusteuert – den „Platz im Schifferstuhle hatte er sich errungen; jetzt schwebten höhere Würden … vor seinen Sinnen“ –, ein Mann im sozialen Aufstieg begriffen, der alles diesem Aufstieg unterordnet, „denn auch die Sitze im Magistratskollegium, wenn sie auch meist den größeren Familien angehörten, waren mitunter von dem kleineren Bürgerstande aus besetzt worden“ (367). Dem entspricht die Darstellung seiner Familienverhältnisse, seines Eigentums: das Haus „aus der väterlichen Erbschaft… ein Stück Wiesenland … Eine Frau hatte Hans Kirch sich im Stillen vor ein paar Jahren schon genommen; zu der Häkerei … kam nun noch eine Milchwirtschaft: auch ein paar Schweine“ (366). Einbeziehung der Frau in die Aufzählung, um das Verständnis dieser patriarchalischen Familienform zu offenbaren.

Einerseits strebt Hans Kirch nach Reichtum und nach politischer Macht, andererseits sind in seinem Innern eine „angeborene Rechtschaffenheit“ sowie ein „Ehrgeiz“ fest verwurzelt, die ihn als einen „zuverlässigen Geschäftsmann“ (367) charakterisieren. Zwei Tatsachen, die unter den neuen, durch den Erzähler am Anfang skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen einander ausschließen.

Zu der Zeit, in der die Handlung der Novelle angesiedelt ist, in dieser „Zwittergesellschaft“, sind die Erwirtschaftung eines Schiffes und das Ablegen eines Steuermannexamens möglich, „aber auch die schon in die Kaufmannschaft Übergetretenen, die ersten Reeder der Stadt, hielten … hier oben unter den anderen Kapitänen ihren Gottesdienst“ (365). Hans Kirch muss in seinem Versuch scheitern, ehrlich zu Reichtum und Macht gelangen zu wollen. Seine Schwester Jule wird dies, nach der Wahl des Bäckermeisters, „mit dem er freilich weder an Reichtum noch an Leibesgericht sich messen durfte“, in einem von Kirch beanspruchten Ratsherrnstuhl aussprechen: „Du hast einen scharfen Kopf, und den können die regierenden Herren nicht gebrauchen, wenn er nicht zufällig auf ihren eigenen Schultern sitzt; da passt ihnen so eine blonde Semmel besser, wenn sie denn doch einmal an uns Mittelbürgern nicht vorbeikönnen.“ (380) Das ist deutlich genug! Und darin liegt die Ursache für einen Konflikt zwischen Hans Adams Wesen, seinem Ideal und dessen Realisierung.

In seinem Sohn Heinz spiegelt er sich, spiegelt er den Sinn seines Lebens wider, „sagen die Leute doch, er sei sein Ebenbild“ (367). Wollte er diese Einstellung verwerfen, müsste er sein Leben verwerfen. Er muss eins sein mit dieser Einstellung, „glaubte er doch selber nur den Erben seiner aufstrebenden Pläne in dem Sohn zu lieben“ (369). Jedoch bleibt noch eine Möglichkeit: Hans Kirch „glaubte … nur“. Denn, und das wird am Schluss der Novelle deutlich, ist in ihm noch eine andere Art Liebe verwurzelt, eine Liebe des Vaters zum Sohn, die zuerst mit der Liebe zum Erben (also zu sich) zusammenfällt, unsichtbar in seinem Innern harrt, sich jedoch schließlich von diesem löst und verselbständigt. Dieser innere Konflikt ist der dramatische Höhepunkt, das psychologische Zentrum der Novelle.

Theodor Storm von Asteris Kutulas
Graffiti Berlin

IV

Kurz bevor Heinz das Elternhaus für immer verlassen soll, wird dieser scheinbar unsichtbare Konflikt „hervorgekehrt“: „Plötzlich fuhr er auf, seine grauen Augen öffneten sich weit: ‚Hans! Hans!’ hatte es gerufen; hier im leeren Zimmer, wo, wie er jetzt bemerkte, schon die Dämmerung in allen Winkeln lag. Aber er besann sich; nur seine eigenen Gedanken waren über ihn gekommen; es war nicht jetzt, es war schon viele Jahre her, dass ihn diese Stimme so gerufen hatte …“ (422). In diesem „leeren Zimmer“ ist er allein, allein mit sich, und die Stimme ruft aus ihm heraus, als würde sie Besinnung fordern seitens des anderen Ich’s, das Kirch wie eine äußere Gewalt vorkommt. Hans Kirch verstößt gegen die „Ewigkeit“ (434), verstößt gegen die ewigen menschlichen Gesetze, gegen das „Sittengesetz in uns“ und muss so seinen Sohn verlieren.

Erst als Heinz für ihn stirbt, kann es zu einem Erkennen seines Irrtums kommen – meisterhafte Gestaltung dessen durch Storm. Erst nachdem „die letzten Trümmer lang gehegter Lebenspläne“ (422) weggeräumt sind in ihm, als es „in der grauen Zukunft keine Hoffnung mehr für ihn“ (427) gibt, erst nach Heinz’, als er in ihm nicht mehr den Erben sehen kann, ist die Grundlage geschaffen, den menschlichen Sohn zu erkennen.

Abstrakt gefasst, vollzieht sich die innere Auseinandersetzung des Hans Kirch zwischen den historisch determinierten Werten, Normen und den dem Menschen wesenseigenen Gefühlen. Storm schreibt am 12. Dezember 1885 an Wilhelm Petersen, dass der Stoff der Poesie „nicht auf vorübergehenden Zuständen beruhen soll, sondern auf rein menschlichen Konflikten, die wir ewig nennen“. (Briefe 2, 342)

Storm-Essay von Asteris Kutulas
Graffiti Berlin

V

Der Titel der Novelle weist uns auf den äußeren Konflikt hin, jedoch bedeutet er mehr. Erwartet der Vater absoluten Gehorsam von Heinz, so muss dessen Persönlichkeitsentwicklung unvermeidlich zu einer Kollision führen. Der Aufeinanderprall als Mittel, den inneren Konflikt auszulösen. Heinz’ erste Handlung ist passiv: „Erstaunt und furchtsam“ (369) sieht er zum Vater hoch, der die Hand gegen ihn erhoben hatte. Dieser duldete keinen Widerstand vom Sohn, und so kommt die „Zärtlichkeit des … (Vaters) gleicherweise immer seltener zutage, je mehr der eigene Wille in dem Knaben“ (369) wächst. Dessen Passivität verschwindet und macht einer charakteristischen Persönlichkeitsentwicklung Platz. Im sechsten Lebensjahr ist die Charakterentwicklung noch in einem kleinen „aber“ enthalten: „Als Heinz das sechste Jahr erreicht hatte, nahm ihn der Vater zum ersten Mal mit sich auf die Fahrt, als ‚Spielvogel’, wie er sagte…; der Knabe aber freute sich über sein blankes Hütchen und lief jubelnd über das schmale Brett an Bord …“ (367)

Ein Jahr später, mit sieben, tritt sie schon deutlicher zutage, musste Heinz doch „mit Gewalt an Bord gebracht werden …“ – „Er fürchtete seinen Vater und trotzte ihm … zugleich.“ (369) Heinz war wohl des Vaters „Ebenbild: die fest auslugenden Augen, der Kopf voll schwarzbrauner Locken seien väterliche Erbschaft, nur statt des krummen Rückens habe er den schlanken Wuchs der Mutter.“ (367) Aussehen als entäußertes Wesen: der nicht gebeugte Rücken. Und der Ausspruch des Pastors – „Seeleute und Studenten, das waren die freien Männer“ (406) – trifft so auf das Wesen des Heinz Kirch zu. Natürlich war es die erzwungene Freiheit eines Ausgestoßenen, eines von „Vaters Hand“ Verstoßenen. Er erfährt in der Novelle einen so großen Individualitätsgewinn, dass er sein „altes Gesicht“ verliert. Deshalb ist es für Hans Kirch unwichtig, ob dieser sein Sohn ist, er „war in dieser Gesellschaft für jetzt nicht wohl zu präsentieren“, und über die Vergangenheit Heinz’ „frug er so leise, als ob es niemand hören dürfe“.

Die Einheit von äußerer Erscheinung und innerem Wesen wird auf die Spitze getrieben: Heinz’ Unkenntlichkeit ist Ausdruck seiner ausgeprägten Individualität als Abgrenzung von der heimatlichen Umwelt, in der er aufgewachsen ist. Der Pessimismus Storms, der hier zutage tritt (als einzige Alternative bleibt die „Piraterie“), zeigt das Fehlen jeglicher Alternative. Der Tod Heinz’ wird notwendig – übrig bleibt eine Hoffnung im Sinne humanistischer Aufklärung: Erst nachdem die Vaterliebe, durch den Tod Heinz’ ermöglicht, in Hans Kirch gesiegt, als dieser die volle Persönlichkeit seines Sohnes in der Person der Wieb anerkennt, wird er selbst zum menschlichen Individuum: „’Er ist tot’, sagte er, ‚ich weiß es jetzt gewiss; aber – in der Ewigkeit, da will ich meinen Heinz schon wiedererkennen’.“ Damit ist allerdings eine andere „Ewigkeit“ gemeint als die in den „Köpfen alter Weiber“ (434), die ihm der alte Tischler und „Sozialdemokrat“ (433) Jürgen vorwirft. 

Storm-Essay von Asteris Kutulas
Graffiti Athens

VI „Die Macht des bloßen Geredes …“ (Theodor Fontane)

Hans Adams Hoffnungen haben ein vergegenständlichtes, zeitgeronnenes Ideal. Die „Marmorbürste eines stattlichen Mannes in gewaltiger Allongeperücke …; gleich seinem Heinz nur eines Bürgers Sohn, der gleichwohl als Kommandeur von dreien seiner Majestät Schiffen hier in die Vaterstadt zurückgekommen war“ (375). Dieses allgemein-gültige Ideal, in der Kirche aufgestellt, offenbart die verweltlichte Funktion dieser Institution, aber auch das Verschmelzen der kirchlichen und der weltlichen Macht unter der Herrschaft des Geldes. Wie sehr die Geschicke des Sohnes durch die Pläne des Vaters, aber auch durch die Zwänge der Gesellschaft bestimmt wurden, zeigt ein Ausspruch des Pastors gegenüber Hans Kirch: „… und wenn er kommt, er ist ja von Ihrer Art, Herr Nachbar, so wird es nicht mit leeren Händen sein!“.

„Plötzlich, Gott weiß woher, tauchte ein Gerücht auf und wanderte emsig von Tür zu Tür …“ So tritt punktuell eine Bewusstseins-Verdopplung in Kraft, die Hans das Erkennen seines eigenen Sohnes nicht gestattet. Die Entwicklung seines Vater-Seins ist die Verwirklichung seines Wesens als privates bürgerliches Individuum. Zweimal verstößt Hans Kirch seinen Sohn von zu Hause, beide Male steht als Anlass und als konsequente Ursache die „öffentliche Meinung“ (als Sprachrohr und als Ausdruck gesellschaftlicher Organisierung) dahinter, beide Male personifiziert durch seine Schwester Jule. Und immer wird diese Beeinflussung begleitet von einer persönlichen Verstimmung und geschäftlicher Einbuße. „Verdrießlich war er eben aus einer Deputiertensitzung gekommen“ (379), da der Bäcker auf dem Ratsherrnstuhl saß, als Jule ihm mit dem Vorurteil gegen „die schmucke Wieb, die kleine Matrosendirne“ den Anstoß gibt, „einen Brief an seinen Sohn“ zu schreiben, „in welchem in verstärktem Maße sich der jähe Zorn ergoss, dessen Ausbruch … verhindert worden“ (382) war.

Dann kommt der unfrankierte Brief in dem Augenblick, als er „mit seinem Verlustkonto beschäftigt“ war, „das sich diesmal ungewöhnlich groß erwiesen hatte“ (385). Und wieder schiebt sich zwischen ihn und den Sohn seine Weltanschauung, sein Ideal: „Nicht mal das Porto hatte er gehabt! Und der, der sollte im Magistrat den Sitz erobern, der für ihn, den Vater, sich zu hoch erwiesen hatte!“ (386). Hans Kirch – in seiner Beschränktheit, in seinen festgefahrenen Horizonten, erkennt nicht bzw. kann nicht erkennen, was er an diesem Sohn hat, obwohl sich in seinem eigenen Haus, vor seinen Augen die normale, gesetzmäßige Entwicklung der Gesellschaft abspielt.

Der „Ehrgeiz“ hat sich in „anderer Form“ (392) entwickelt, der durch die jüngere Generation, durch seinen Schwiegersohn Christian verkörpert wird. Dabei tritt ein dem kleinbürgerlichen Geist immanenter aristokratischer Drang nach Repräsentation immer mehr hervor: Für „einen feinen Mann gelten, mit den Honorationen einen vertraulichen Händedruck wechseln, etwa noch eine schwergoldene Kette auf brauner Sammetweste“ schienen ihm notwendige Bedürfnisse zu sein. Das ist aber sogar Hans Adam mit seinem patriarchalischen Verständnis fremd, und so „drängte (es) ihn nicht mehr, in den Gang der kleinen Welt, welche sich um ihn her bewegte, einzugreifen.“ (427). Aber auch die erste Seite „seines Wesens“ verwirklicht er nicht mehr, „hatte er das Steuer … in der Hand des jüngeren Teilhabers der Firma übergehen lassen“ (427). Die Teilung des Individuums in zwei Wesen und, gerade diese Spaltung (hier privates Geschäft, dort öffentliches Wohl) ist bekannt. Das Auftreten von Entfremdungserscheinungen ist nicht zu verkennen „Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen“ geht durch die Persönlichkeit von Hans Kirch. Indem er sich von beiden Wesen lossagt, da er dem neuen Nützlichkeitsprinzip nicht huldigen kann, überwindet er auf diese Art und Weise die beschränkte bürgerliche Individualität in sich und kommt zur wahren Menschlichkeit. Die Entwurzelung von seinen bisherigen Lebensprinzipien ist die Grundlage, aus der Endlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft geistig in die „Ewigkeit“ des Menschseins zu gelangen, weiterhin aber in der alten Welt physisch verwurzelt zu bleiben. Womit er die neu geschaffenen Lebensinhalte ablehnt.

Der Name „Harmoniegesellschaft“ (392) ist bezeichnend; „Harmonie“, da doch bekannt ist, „dass nur angesehenere Bürger zugelassen“ werden. Die Differenzierung der Gesellschaft ist im Verlauf der Handlung der Novelle spürbar geworden. Man „spricht schon von dem ‚reichen’ Christian Martens, und Hans Adams Tochtername wird der Stadtrat nicht entgehen“ (435). Das ist er – der Weg, den Hans Kirch für seinen Sohn vorgesehen hatte, der Sinn seines Lebens. Dahinter steckt Zwang. Denn nur dieser Weg, dieser Lebensinhalt bleibt ihm übrig, will er mit seinem relativ kleinen Vermögen sich und seine Familie ernähren, will er überleben. Das bedeutet für ihn also Schutz, eine Absicherung vor dem Verfall; gleichzeitig aber gibt es Momente, in denen er seinen Sohn, dessen Ungebändigtsein er beneidet, vielleicht versteht, hatte sich doch auf „Hans Adams Antlitz … mehrmals bei solcher Auskunft ein recht ungeeignetes und fast befriedigendes Lächeln gezeigt“ (374). Dass „Heinz … mehr lernen (sollte), als jetzt noch in der Rektorschule für ihn zu holen war“ (370), ist auch Ausdruck für das Streben Hans Adams, seinem Sohn die Möglichkeit zu geben, sich aus seiner, des Vaters Welt, freizumachen. Jedoch geht das nicht auf ehrliche, menschlich-reine Weise. Das ist die wahre, die große Tragik des Hans Adam Kirch: Der Unternehmer, der kalt kalkulierende Kapitalist, handelt. Er, dem „die Verschollenheit des Haussohnes … wenigstens den zweiten Grund zum Werben um Hans Adams Tochter abgegeben“ (397) hat, ist der Aktive, der Überlebende, der Gewinner: Christian Martens.

Resignation des Dichters, die Abkehr des Hans Kirch von der Welt, die Besinnung auf sein wahres Ich (die Einbeziehung der „Sterne“ (434), des Universums seiner Anschauung) kann und muss als Kritik verstanden werden, aber auch diese recht zweifelhafte Auswegmöglichkeit kann nur unter der Voraussetzung des Todes von Heinz wahrgenommen werden.

Dass die „Werther“-Alternative von Storm aufgeworfen wird, ist erstaunlich. Außerhalb der Gesellschaft ist jedoch für ihn menschliche Existenz unmöglich bzw. nur unter Preisgabe dieser denkbar. „Bleib lieber in deines Vaters Stor und spiel mit deines Nachbars Katze.’“ – der Verweis, innerhalb der Gesellschaft zu bestehen, kommt von Heinz Kirch selbst … In dieser aber gehen die menschlichen Bindungen, die menschlichen Bande der Familie durch die Versachlichung der Beziehungen und durch die aufkommende Doppelmoral der Gesellschaft zugrunde. Und Storms Sympathie gilt eindeutig auch dem Hans Kirch, denn dessen „Schuld“ wurzelt in seiner „angeborenen Rechtschaffenheit“, die in diesem Zeitalter zu seinem Untergang führen muss. Die Wehmut, die sich in dieser Novelle entäußert – Ausdruck eines humanistischen Pessimismus –, zeugt von einer absoluten Ausweglosigkeit, von dem Sehnen nach einer „intakten Vergangenheit“ und von einer verlorenen Identität.

© Asteris Kutulas, Leipzig, 18.5.1981

Anmerkungen: Alle Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden, Berlin 1978

PorNO & Erotische Kultur von Frauen – Interview mit Claudia Gehrke

 

Claudia Gehrke ist eine spannende und sehr interessante Frau (… und das nicht nur als Chefin des Tübinger Konkursbuchverlags). Sie hat mit dazu beigetragen, Anfang der achtziger Jahre Kunst, Erotik und Rebellion zu einer neuen Art von „feministischer Lebensphilosophie“ zu verschmelzen.

Claudia hat durch ihre zahllosen anti-sexistischen und frauen-freiheitlichen Publikationen vielen Denkmustern und Denkansätzen, die heutzutage durch das Porno-Entertainment sowie Texte wie „Feuchtgebiete“ etc. allgegenwärtig sind, den Weg bereitet. Wo wäre die deutsche Kultur-Welt ohne ihren feministisch-revolutionären Konkursbuchverlag mit dem „Heimlichen Auge“ und Autorinnen wie die hardcorigen Krista Beinstein, Cleo Uebelmann etc.? 

Das folgende Interview führte ich mit Claudia 1990 – als Herausgeber der Monatszeitschrift Sondeur, wo es auch in drei Folgen in den Heften 6-8 abgedruckt wurde.  Asteris Kutulas, 2008

Claudia Gehrke und Asteris Kutulas

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„Der Blick auf Männer mit erigierten Schwänzen“Claudia Gehrke befragt von Asteris Kutulas, Tübingen 1990 

Asteris Kutulas: Du hast dich wiederholt eingesetzt für eine „Politik erotischer Kultur“ von Frauen. Was willst du darunter verstanden wissen?

Claudia Gehrke: Ich plädiere dafür, daß Frauen versuchen, sich Bilder zu machen von ihren sexuellen Wünschen, von ihrer sexuellen Praktik und daß sie das sozusagen in künstlerischer Form tun, in Bildern, in Texten, und nicht immer Angst davor haben, daß das, was sie machen – das ist ja bei uns so ’ne Debatte – männlich besetzt sein könnte, weswegen sie lieber gar nichts machen oder erst mal nur die Bilder, die sie ablehnen, bekämpfen sollten. Und mir geht es einfach darum, daß es wichtig ist, auf dem Gebiet der Sexualität eine Sprache zu finden und damit umzugehen, darüber reden zu können, ohne daß es peinlich oder komisch wird, wie das ja sehr oft der Fall ist. Und das ist vielleicht – das hoffe ich zumindest – Frauen eher möglich, weil sie eben noch nicht so eine vermuffelte Pornosubkultur haben. Das ist ja eine Männerkultur, diese Art der existierenden Pornofilme.
Natürlich gibts auch Frauen, denen diese Filme gefallen oder einige Stellen darin, das will ich jetzt nicht verallgemeinern, aber ich denke, daß Frauen dadurch, daß sie da noch nicht so festgelegt sind – weil es ihnen ja historisch nicht zugestanden wurde, sich Bilder über Erotik zu machen – eine größere Chance haben. Andererseits gibt es natürlich – alles hat immer seine zwei Seiten und auch eine lange Geschichte – erotische Literatur von Frauen. Ich hab für einen Sammelband gearbeitet, in dem erotische Texte von Frauen veröffentlicht wurden, geschrieben seit dem Mittelalter bis heute. Ich habe dabei sehr viel Material gefunden und festgestellt, daß Frauen doch darüber nachgedacht haben und daß es ganze Kulturen gab, Salons, wo nur über Erotik geredet und daß darüber geschrieben wurde, und zwar nur von Frauen. Es ist also eine rein weibliche Sicht auf diese Dinge z.B. aus dem 16./17. Jahrhundert, festgehalten in wunderbaren, zehntausend Seiten dicken Romanen. Das ist die andere Seite. Es gab also eine Geschichte, nur ist die eben – wie alles – untergegangen; man kennt sie nicht, weil die männlichen Produkte im Bewußtsein geblieben und die weiblichen verschütt gegangen sind.

Kutulas: Nun gibt es in dieser Diskussion die Tendenz zu sagen: dieses oder jenes Thema sei „männlich besetzt“; zum Beispiel die Pornokultur. Und es bedeutet eigentlich, wenn ich dich recht verstanden habe, im Sinne der Frauen etwas „Negatives“, Un-Eigenes, jedenfalls etwas Problematisches. Wo würdest du den Unterschied festmachen wollen, daß das von Frauen Gemachte anders ist? Kommt es daher, dass es für Frauen gemacht wurde und nicht für Männer, oder gibt es auch qualitative Unterschiede?

Gehrke: Ich bin sicher, daß es qualitative Unterschiede gibt. Nur sind die natürlich jetzt ganz schwer in so einem Gespräch festzumachen. Ich müßte dann Bilder zeigen, und ich mache ganz oft nach Vorträgen den Test, daß ich Bilder ohne Namen verteile und dann die Leute suchen lasse, und die „Chance“, daß richtig getippt wird, so beim ersten Hinschauen, ist groß; Sachen von Frauen werden tatsächlich in den meisten Fällen als solche identifiziert.

Kutulas: Akzeptieren die Künstlerinnen diese Festlegung auf „Frauenkunst“? Ist das nicht eine neue Diskriminierung?

Gehrke: Natürlich sagen viele Frauen/Künstlerinnen, ich möchte weg davon, „Frauenkunst“ zu machen – darum geht es ja auch nicht, sondern darum, ob es bei dieser erotischen Abbildung vielleicht doch ’nen anderen Blick gibt, der sich auch wieder historisch gebildet hat und der auch andere Bilder erzeugt, obwohl die – also, ich spreche natürlich jetzt paradox – auf den ersten Blick nicht so zu erkennen sind. Natürlich sieht man auch deftige sexuelle Dinge, wenn Frauen die Bilder machen, oder es wird sehr Deftiges, Sexuelles erzählt, was sie sich ja oft nicht eingestehen, daß sie das dürfen …

Kutulas: Pornographie von Frauen …

Gehrke: Ja, das meine ich mit deftig sexuell, also es kommt zur Sache, zum Geschlechtsakt.

Kutulas: Das ist eben das Problem. Wie definierst du dann die „männliche Pornographie“?

Gehrke: Ich kann das nicht verallgemeinern, aber was ich an pornographischen Produkten gesehen habe, womit viele Frauen – und ich auch – nichts anfangen können, ist für einen voyeuristischen Blick von außen inszeniert worden. Es wird sich immer in die Kamera hineinverrenkt, was mich nach ’ner Weile einfach langweilt. Aber vielleicht funktionieren Männer da anders, für sie hat das ’ne bestimmte symbolische Bedeutung: daß eben „alles funktioniert“. Aber Frauen funktionieren offensichtlich sexuell nicht so, als daß man für sie – die Story ist eh nicht wichtig – einfach bestimmte Bilder inszeniert, und dann ist das ein Kitzel … Wenn Frauen was machen, dann ist das mehr von innen heraus inszeniert. Ich verallgemeinere natürlich, es gibt immer Gegenbeispiele.

Erotik & Bewegung

Ich mach jetzt ein Buch über Filme, und zwar suche ich erotische Filme oder Videos, die von Frauen gemacht wurden. Da geht es um Bewegung, und Bewegung hat ja unmittelbar mit Erotik zu tun – deswegen interessieren mich Filme. Ich merke, daß in vielen dieser weiblichen Filme wirklich Lust inszeniert wird, und die Kamera – da kann man natürlich sagen, das kommt daher, daß es zumeist Laienproduktionen sind –, die Kamera steht irgendwie nicht so weit außen. Da wird nicht alles für einen „anderen“ Blick inszeniert, sondern da passiert etwas für einen selbst. Diese Lust ist natürlich auch inszeniert, und es sind oft langwierige Produktionen, aber es passiert etwas in den Bildern, wodurch ich diesen berühmten Sog stärker spüre; ich bin da plötzlich mit drin. Allerdings ist es schwer, so abstrakt, ohne ein Beispiel darüber zu reden …

Kutulas: In deinem Gespräch mit der Filmemacherin Ulrike Zimmermann erklärt sie, wie frau/man durch die Möglichkeit des Standbildes eines Videorecorders sich aus einem beliebigen („männlichen“) Pornofilm eine eigene Variante erstellen kann. Das ermögliche ihr/ihm, z.B. beim Höhepunkt während der Selbstbefriedigung das richtige Bild abzurufen.

Gehrke: Ja, das heißt natürlich – und das ist das Spannende bei Ulrikes Feststellung –, daß bei Frauen die Lust, die durch Sehen erzeugt wird, letztlich ähnlich funktioniert wie bei Männern. Das heißt: man sieht etwas und kommt dadurch zu einem sexuellen Höhepunkt, oder frau sieht etwas und kommt dadurch zu einem sexuellen Höhepunkt, nur muß sie sich ihre Bilder anders zusammensetzen, damit das Raster bei ihr funktioniert. Und dieses „anders zusammensetzen“, das ist eben wichtig, und das ist dann vielleicht in den Sachen auszumachen, die von Frauen produziert werden. Aber es gibt natürlich Texte und Filme von Frauen, die eben auch so aufgebaut sind, daß es dazu kommt, und auch die haben natürlich ’ne gewisse Spannung.

Claudia Gehrke und Asteris Kutulas

Erotik & Abenteuer

Für mich ist allerdings Erotik, erotische Kultur eigentlich eine viel weitere Sache, als jetzt etwas zu produzieren, womit ich zum Orgasmus gelangen kann – das ist nur ein kleiner Punkt innerhalb der Erotik. Ich denke, daß dazu noch mehr gehört. Erotik hat für mich auch immer was mit Abenteuer zu tun. Ich meine jene Gefühle, die du während irgendwelcher Abenteuer in der Kindheit hattest oder die du empfandest, als du Abenteuergeschichten gelesen hast … Und für mich ist wichtig, daß so kleine Geschichten inszeniert werden, die dieses Prickeln des Abenteuers erzeugen. Ich glaube, daß diese besonders bei Frauen ausgeprägte Kultur, sich kleine Abenteuer zu inszenieren, auf ’ne bestimmte Art mehr Vielfalt hat als die männliche, die in der Regel wirklich nur darauf zielt, daß das jetzt mit dem Orgasmus klappt – und damit ist es dann beendet.

Kutulas: Ich bin aber sicher, daß auch Männer eine andere Art von Lust empfinden können?

Gehrke: Die Männer haben doch in ihrer Geschichte ganz viel verloren an Lustpotential. Das war nicht immer so, daß die auf den Schwanz fixierte Sexualität vorherrschte. Ich will da jetzt nicht konkret werden, aber es gibt ja noch ganz andere Lustbereiche, wenn wir nur den Körper betrachten, selbst den der Männer. Und ich denke nicht, daß die Geschlechter prinzipiell unterschiedlich sind. Nur haben Frauen, weil ihnen in ihrer Geschichte Lust offiziell nicht zugestanden wurde, einfach vielleicht auch verspieltere Möglichkeiten. Das ist so die eine positive Seite. Die andere, negative ist, daß viele Frauen ja erst mal dazu kommen wollen müssen, daß sie überhaupt Lust empfinden, also wirklich diese sexuelle Lust zulassen.

Kutulas: Ich habe keine Frau kennengelernt, die nicht ihre Lust frei empfinden wollte …

Gehrke: Aber für viele Frauen trifft es zu. Das denke ich schon, daß die Geschichte in den Knochen sitzt und im Prinzip die Lust für die Männer reserviert ist. Frauen sind im gewissen Sinne die „Dienenden“. Da gibt es sicher kulturelle Unterschiede aller Art auch in der Gegenwartskultur.

Erotik & Spaß

Was der Erotik ein bißchen verloren gegangen ist – und da sehe ich eher bei Frauen, daß dies wiedergefunden wird –, ist das Spiel, der Spaß, den man/frau damit hat. Zelebriert wird immer so ein sexueller Ernst. Wenn Paare zusammen sind, sich lieben, hat das eher mit diesem sexuellen Ernst, mit „Leidenschaft“ zu tun. Klappen muß alles, lachen darf man dabei schon gar nicht … Daß mal was schiefgeht, worüber auch gelacht werden kann, ist nicht vorgesehen. Auch nicht, daß man über Sexualität spricht, indem man sich Geschichten erzählt. Und ich denke, daß da Frauen – einfach weil sie auch eine andere Gesprächskultur besitzen – vielleicht ’ne größere Chance haben, sozusagen im Kleinen wieder verspieltere Möglichkeiten einzubringen, mit Sexualität und Erotik umzugehen … Ich spreche jetzt nicht darüber, ob man monogam lebt oder ganz viele Freunde hat – darum geht’s nicht, sondern um die Formen.

Kutulas: Ist die eigene „Gesprächskultur“ eine eine wichtige Komponente für die von dir beschworene erotische Kultur von Frauen?

Gehrke: Das würde ich mir wünschen. Ich versuche mit meinem Verlag einfach auch diese Möglichkeiten zu eröffnen. Es ist natürlich so, daß es so viel auch noch nicht gibt. Ich merke, daß es doch immer mehr so „subversive“ Frauen gibt, die ich durch meine Verlagsarbeit zufällig treffe, die wirklich ihre Art von Sexualität in inszenierten Räumen und in „Gesprächszusammenhängen“ leben.

Kutulas: Da fallen mir zwei Bücher ein, die in deinem Verlag erschienen sind, das eine von Cleo Uebelmann, das zweite von Christa Beinstein, die „inszeniert“ sind, das ist nicht nur Sex in Reinform, sondern da findet auch ein Spiel statt …

Gehrke: Deswegen ist diese Form der Sexualität auch eher abbildbar, weil sie sozusagen mit kleinen Geschichten zu tun hat. Das ist allerdings auch eine Sexualität, die sehr oft abgelehnt wird, weil man sagt, das hat mit Gewalt zu tun. Christa Beinstein und Cleo Uebelmann machen ja auf sehr unterschiedliche Weise, was man so klassisch unter sadomasochistischen Inszenierungen versteht. Ich möchte da noch mal auf den Unterschied kommen.

Sexualität & Schmerz

Bei Christa Beinstein sind das wirklich Abenteuer, kleine inszenierte Geschichten; das hat viel mit Verkleidung zu tun, wo alle Beteiligten für eine bestimmte Zeit in einen bestimmten Raum gehen, den sie ausstatten mit Spielzeugen. Obwohl Christa nicht will, daß ich das Wort „Spiel“ verwende, weil es schon sehr ernst ist, gefährlich auch, denn es gibt schon diese Grenzüberschreitung zu wirklichem Schmerz. Aber im Grunde ist das Ganze – und das sieht man auch den Gesichtern auf den Fotos an, wenn man genau guckt – ein freiwillig inszeniertes Spiel, wo einfach bestimmte Sachen vielleicht erlebt werden, die sonst nicht erlebt werden können. Sexualität hat ja mit Hingabe zu tun, und Hingabe in einem nichtbewußten Sinn hat auch schlimme Seiten. Es gibt diese Abhängigkeitsverhältnisse, wo Frauen von Männern wirklich abhängig sind, sexuell oder wie auch immer, umgekehrt auch … und das aber oft so ’n unbewußtes Ausleben dieser ganzen Hingabeproblematik ist. Denn in der Sexualität ist es ja etwas sehr Schönes, daß du dich in die Hände eines anderen begibst oder einer anderen, der oder die dir Lust macht, und du lieferst dich dem aus, und du kannst wirklich mal für Momente sozusagen embryonal sein und einfach von einem anderen was gemacht bekommen, und das hat natürlich auch immer mit Erwartung, mit Spannung, mit Schmerz und mit Erlösung zu tun … Und ich glaube, daß dieser bewußte Umgang mit dem Problem „Hingabe“ viel besser ist, weil man dann auch über seine psychischen Abhängigkeiten anders nachdenkt und selbstbewußter damit umgeht.

Kutulas: Was meinst du damit?

Gehrke: Zum Beispiel, wenn du Fesselungsspiele mit deiner Freundin machst, wie die zwei Frauen in dem Buch von Cleo Uebelmann – bei ihr ist es aber ’ne inszenierte Sache, es geht dabei gar nicht um die Realität, aber es geht immer um die Fesselung. Während einer solchen Fesselung bin ich sozusagen in mich gekrümmt, was eigentlich auch körperlich ’n sehr schöner Zustand ist – dieses sich an sich selbst reiben –, es sind nur noch ganz kleine Bewegungen möglich. Das Ganze existiert auch als Film, der darum sehr erotisch ist, weil diese kleinen Bewegungen stattfinden.

Fesselung & Lust

Also die Frau liegt in dieser embryonalen Haltung, und ihre Beine bewegen sich ganz leicht, ihr Po bewegt sich ganz leicht, und das strahlt eine ungeheure Schönheit und eine ungeheure erotische Spannung für mich aus. Und diese kleinen Bewegungen sind nur deswegen möglich, weil sie auf eine bestimmte Art gefesselt und ihr Bewegungsspielraum begrenzt ist. Diese Bildern erzeugen Lust, denn nur dadurch, daß der Bewegungsspielraum begrenzt ist, kann sie sich durch diese kleinen Bewegungen in sich einkringeln.
Ganz anders die andere Person, die immer in Erwartung ist und wie ein Löwe um sie herumläuft und sich ihr nähert, aber es passiert nichts. Diese Erwartung erzeugt in der gefesselten Person, die auf eine Berührung wartet oder darauf, daß die Fesseln gelöst werden, auch eine ungeheure Spannung, die wiederum mit sexueller Lust zu tun hat. Das kann man in solchen Räumen, wenn sich beide über dieses „Spiel“ – um wieder das Wort zu verwenden – klar sind, inszenieren und vielleicht auch wesentlich besser genießen, als wenn es unbewußt ablaufen würde wie in der normalen Sexualität. Ich möchte aber auf keinen Fall behaupten, diese Form der Sexualität sei die einzige. Es ist eine Möglichkeit unter vielen.

Claudia Gehrke PorNo
Claudia Gehrke befragt von Asteris Kutulas, in: Das Blatt, 27/90, 23.8.1990

Kutulas: Du gibst ja in deinem Verlag das Jahrbuch für Erotik „Mein heimliches Auge“ heraus, wo du dein „demokratisches“ Verständnis aller sexuellen Formen gleichsam editorisch formulierst.

Gehrke: Mit „Mein heimliches Auge“ möchte ich, daß alle sexuellen Lebensformen – also das ist die eine Seite dieses Buches – gleichwertig nebeneinander vorkommen. Daß die Menschen die Möglichkeit haben zu wählen, also wirklich frei zwischen diesen klassischen heterosexuellen oder schwulen Formen zu entscheiden. Und daß es in gewisser Hinsicht als gleichwertige Möglichkeit erscheint, ’ne Liebesbeziehung einzugehen. Und die andere Seite des Buches „Mein heimliche Auge“ besteht darin, darauf hinzuweisen, daß Erotik immer so was Doppeltes hat: Einmal ist es etwas Geheimnisvolles (die Lust und warum sie plötzlich zwischen zwei Menschen entbrennt) und der Versuch, dieses Geheimnis in Bildern und Texten einzufangen, zum anderen jedoch hat Erotik – und das wird gerne übersehen – auch mit Technik zu tun, mit Wissen darum, wie es geht. Und dafür haben wir eigentlich nur so eine psychotherapeutische, aber keine literarische, poetische, bildnerische Sprache. Zur literarischen Sprache über diese Techniken möchte ich animieren, und zwar tatsächlich Frauen wie Männer gleichermaßen – ich gebe den Frauen etwas mehr Raum wegen der historischen Ungerechtigkeit, aber es ist keine prinzipielle Geschlechtertrennung.

Kutulas: In der Noch-DDR in der Übergangsphase wurde viel über Pornographie diskutiert und wie man sich dazu stellt, wenn Geld eine Rolle spielt. Also wenn eine moralische Instanz das Ganze in Frage stellt – für viele Leute in der Nicht-mehr-DDR ist das ein Problem. Wie stehst du dazu?

Sexualität & Liebe

Gehrke: Das ist ein allgemeines Problem, daß wir eigentlich Sexualität nur dann als wahr erkennen, wenn sie mit wahrer Liebe zu tun hat. Ein romantisches Ideal also, das in unser aller Köpfe sitzt: daß wir den Richtigen oder die Richtige finden, mit dem/der wahre Sexualität möglich ist, ohne jeglichen materiellen Hintergrund. Natürlich gibt es diese Märchenprinzessin und den Märchenprinzen, es gibt diese Liebe und diese Liebesgeschichten, und die sind ganz wichtig auch für Erotik, weil es dann eine besondere Lust ist, sich zu vereinigen. Aber auch das andere, daß sozusagen Sexualität eingetauscht werden darf gegen Geld, was ja leider immer nur von Männern benutzt wurde. Die altmodische Erklärung benennt diesen Vorgang als „Ausbeutungsverhältnis“, aber man könnte dem entgegensetzen, daß sich die Prostituierten mit Lust ihr Geld verdienen, was nicht heißt, mit Lust an der Arbeit, sondern sie nutzen umgekehrt die Männer aus. Ich denke, man sollte darüber moralisch nicht so schlecht denken, denn warum sollen eben alle anderen Formen eines kulturellen Genusses wie ins-Theater-gehen, ein-Buch-kaufen, Musikhören anders bewertet werden? Das hat ja auch alles mit Sinnlichkeit zu tun und wird trotzdem ohne schlechtes Gewissen mit Geld bezahlt. Ich gehe ins Theater und gebe 50 Mark aus. Warum soll ich nicht für etwas Sexuelles, was ja auch ein sinnlicher Genuß ist (für mich gleichwertig mit einem Theaterbesuch – ich will ja auch die Sexualität nicht über alles stellen), auch Geld ausgeben dürfen. Unsere ganze verkrampfte Haltung zur Sexualität kommt daher, daß wir sie aus den anderen kulturellen Zusammenhängen herauslösen.

Kutulas: Aus vielen deiner Texte lese ich den Appell an die Frauen heraus, selbst mal in einen Männerpuff zu gehen. Die Zuspitzung akzeptiere ich. Ist das Problem aber wirklich so einfach zu lösen?

Gehrke: Weil es eben nur die Männer können, ist es nicht unproblematisch. Frauen werden immer noch mißachtet, wenn sie das umgekehrt tun. Auch abgesehen davon, daß es vielleicht keine Lust macht, auf Männer zu schauen. Doch das ist jetzt eine andere Frage, ob es nur kulturell bedingt ist, daß das keine oder weniger Lust macht. Frauen schauen gern auch immer wieder auf Frauen …

Kutulas: Dann wollen Frauen gar nicht in eine Männer-Peep-Show gehen?

Lust auf Männer mit erigierten Schwänzen

Gehrke: Das weiß ich nicht. Es ist eben wirklich die Frage, ob das ein kultureller Druck ist, der auf uns wirkt, weil wir das nicht dürfen: Lust, Zeigelust zu entwickeln an Männern. Dorothea Thums hat einen schönen literarischen Text im HEIMLICHEN AUGE 4 geschrieben, in dem sie diese Lust für sich einklagt, Lust nur auf die Sexualität der Männer, Lust im Blick auf Männer mit erigierten Schwänzen. Ich bin mir da selbst noch unsicher, ob wir uns diese Lust nur nicht eingestehn oder ob sie bei uns mehr auf das Weibliche gerichtet ist, weil es einfach irgendwie „ästhetischer“ ist … Da hab ich ein schönes Erlebnis bei einer Veranstaltung gehabt. Es saßen vierzig Frauen zwischen 40 und 70, verheiratet, die mit dem Thema nicht so viel zu tun hatten. Wir machten eine kleine Einführung in Form eines Gesprächs und lasen anschließend die erste deftig sexuelle Geschichte. Da saßen sie alle noch etwas verklemmt und unsicher auf ihren Stühlen. Wir sprachen dann darüber, daß Frauen das dürfen, sich nur des erotischen Genusses wegen solche Geschichten anzuhören.
Natürlich war es wichtig, daß ausschließlich Frauen anwesend waren. Mit Männern im Raum wäre es gar nicht möglich gewesen. Jedenfalls wollten sie nur noch diese scharfen Geschichten hören. Sie gestanden sich plötzlich ein: Ja, wir dürfen das. Dann hab ich was Diskreteres gelesen, wo überhaupt nichts Sexuelles passiert, was aber trotzdem sehr erotisch war. Doch das wollten sie gar nicht hören, sie wollten nur noch Sachen, die auf den Punkt kommen. Das heißt, diese Lust gibt’s auch bei Frauen, wenn sie zugelassen wird, irgendwo schon.

Kutulas: Das ja, aber ich komme wieder auf meine Frage zurück – nach dem Geld, das ja auch mit dem männlichen Voyeurismus zu tun hat …

Gehrke: Das ist schon eine prinzipielle Sache, die man erst mal kulturell befragen sollte: Was ist mit dem Geld – wofür wird gezahlt und wofür nicht? Dann die geschlechtsspezifische Komponente. Immer sind es die Frauen, die bezahlt werden. Ob als Hausfrau oder als Prostituierte, diese Zweiteilung gibt es ja irgendwie immer noch … Sie werden immer irgendwie bezahlt für ihre sexuellen Leistungen. Also sie sind – wie sagt man dazu – die Empfangenden und werden dafür bezahlt. Das ist noch mal ein anderer Themenkomplex, denn auch Frauen zahlen natürlich dafür, ihre sexuellen Gelüste zu befriedigen. Sie kaufen ja meine Bücher. Mehr als die Hälfte der Abonnenten vom HEIMLICHEN AUGE sind Frauen. Und sie zahlen.

Kutulas: Dieser Vorgang stünde dann im Gegensatz zur PorNO-Kampagne von EMMA …

Gehrke: Ja, weil ich dafür plädiere, daß Frauen ihre eigenen erotischen Dinge produzieren und daß diese Produktion genauso ernstgenommen wird wie die der Männer. Daß also genauso viele Sachen von Frauen verkauft, gefilmt, gefördert werden, daß zum Beispiel im Filmbereich – womit ich mich gerade beschäftige – frei auch „Pornos“ produziert werden können, und zwar, wie sie Frauen, nicht Männer verstehen. Vielleicht ist das ja etwas ganz anderes. Vielleicht sind das für Männer gar keine Pornos. Aber schon, wo es um Sexualität im direkten Sinne geht. Manche Sachen von Frauen sind nämlich erstaunlicherweise viel härter. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

Kutulas: Was ist das eigentliche Anliegen dieser PorNO-Kampagne?

PorNO-Kampagne

Gehrke: EMMA ist damals angetreten – was ich auch unterstütze – die Bilderwelt der Männer zu bekämpfen, in der Frauen immer in einer bestimmten, meist dümmlichen Position dargestellt werden. Das ist zum Beispiel in den Gesichtern im PLAYBOY oder in den ganzen Beate Uhse-Heften oft zu sehen: das ärgert mich viel mehr als sichtbare Schamlippen – die sind ja eigentlich was Schönes und werden immer retuschiert. Aber bei den Gesichtern zeigt sich der eigentliche Umgang der Männer mit diesen Frauen-Bildern.
Die Art von dummen Gesichtern, die anscheinend nur darauf warten, daß irgendein Idiot ihre plastikpuppenhaften Körper fickt. Und diese Art von Dummheit, die den Frauen da ins Gesicht geschrieben wird in den Männer-Bildern – die nenne ich jetzt nur als Beispiel – die möchte ich auch bekämpfen. Aber ich möchte sie nicht in der Art wie EMMA bekämpfen, die versuchen will, diese Bilder irgendwie zu verbieten, obwohl man sie gar nicht verbieten kann. Außerdem glaube ich nicht, daß durch Verbot etwas unmöglich wird, sondern – wenn überhaupt – nur durch das Entgegensetzen anderer Bilder. Natürlich ist die Gefahr groß, daß wir vielleicht erstmal die selben Bilder produzieren, weil wir nicht frei sind …

Asteris Kutulas: Das will ich meinen …

Claudia Gehrke: Niemand kann frei sein. Auch eine Frau nicht. Das ist ein Prozeß. Nur, ich glaube, die Vorstellung, diesen Prozeß durch Verbotskampagnen in Gang zu setzen, ist ganz gefährlich. Verbotskampagnen, die dann irgendwie staatlich reglementiert werden, sind letztlich doch immer, auch wenn es Zivilrechtsgeschichten sein sollen – also nicht sofort der Staatsanwalt klagt, sondern eine Person –, eine politische Angelegenheit. Und je nachdem, wie die politische Lage gerade ist, wird dann entschieden.

 
 
abgedruckt 1990 in Sondeur Nr. 6, Nr. 7, Nr. 8
Erstveröffentlichung: Die inszenierte Lust der Frauen. Pornographie – hinsehen oder wegsehen? Claudia Gehrke befragt von Asteris Kutulas, in: Das Blatt, 27/90, 23.8.1990

Bizarre Städte Diskurs

Eine Erwiderung auf Michael Thulin (1988/89)

Zunächst muß betont werden, dass ich Michael Thulins allgemeinen Frust verstehe und seine theoretischen  Prämissen akzeptiere, obwohl sie die meinen nicht sind. Allerdings erhoffte ich mir eine kritische Würdigung oder eine würdige Kritik (je nach dem) der ersten drei Bücher der „Bizarren Städte“ (weiter: BS), weil, wie in meinen Vorworten festgehalten, das Projekt für uns ein Experiment war. Aber auch weil Thulin vom „Unvermögen“ seiner zwei Kollegen Peter Wawerzinek und Olaf Nicolai, die drei Bücher „richtig“ einzuordnen, ausgeht, also von einer Behauptung, die nur durch eine fundierte Analyse der BS-Bücher aufrechterhalten werden könnte. Und schließlich erwartete ich bei der Beurteilung der Produktion der drei Bücher und  der Arbeit der Autoren, Grafiker und Fotografen eine gewisse Sensibilität, besonders wenn man bedenkt, auf welch unsicherem  Terrain sich der autonome Literaturbetrieb in der DDR bewegen muss.

Seriöse Kritik?

Ich spreche nicht von weniger, sondern von fairer, ernsthafter Kritik. Doch Thulins Behauptungen und Unterstellungen werden de facto durch die in den letzten drei Monaten fertiggestellten vier neuen BS-Bücher  (Sonderheft 1 und 2,  Dresden-Heft, Band 4) widerlegt. Diese Art der Entgegnung entspricht mir – einem „Macher“ – mehr, als mich theoretisierend ins Weltgeschehen einzubringen. Trotzdem möchte ich Thulins „Kritik“ (die mich an T.S. Eliots Feststellung erinnerte, die meisten Kritiker bemühten sich nur um Vernebelung, indem sie u.a.  behaupten, der einzige Unterschied  zwischen ihnen und den anderen  liege darin, dass sie selber nette Menschen und die andern recht zweifelhaften Rufes seien) zum Anlass nehmen, ein paar allgemeine Bemerkungen zu der Geisteshaltung zu machen, die sich dahinter verbirgt.

Wegen der Vernebelung, die Thulins „kritischer“ Methode eigen ist, meint man, einen Krimi zu lesen, der in London spielt und in dem  die  Polizei mit einer extra dafür konstruierten Maschine Nebel produziert, um darin zu verschwinden und nicht als Verbrecher entlarvt zu werden; was es tatsächlich gegeben haben soll. Wachtmeister Thulin  geht wie folgt vor: Er unterscheidet nicht zwischen den drei BS-Büchern als fertige Produkte – für die der Herausgeber ohne  weiteres „belangt“ werden könnte – und den bezeiten geführten Gesprächen: Den sich verändernden, widersprechenden verbalen Aussagen zwischen März und April 1988 – die, ihrer Natur gemäß, nichts Apodiktisches besaßen – verschiedener am Projekt beteiligter Autoren und  Grafiker, den Herausgeber mit eingeschlossen.

Das Gespenst der Aufklärung

Thulin macht nichteinmal den Versuch,  Licht in diese düstere Affäre zu bringen und läßt im Dunkeln, worauf er seine >Dekonstruktionen< stützt: auf die drei BS-Bücher mit den darin versammelten Texten? Auf Gespräche? Auf eine Diskussion? Auf Gerüchte? Die  Verwirrung beginnt bereits bei den Begriffen; so geht – nach Thulin – ein Gespenst in der Gesellschaft um, das allerdings – nach Thulin – gescheiterte Gespenst der >Aufklärung<. Was er darunter versteht (Landläufiges, Weltläufiges, Prenzelbergläufiges?), verschweigt der Meister. Zudem bleibt Thulin die Erklärung schuldig, wie sein Wahn-Gebilde, obwohl (fast) tot, noch so viel Unheil unter den Lebenden anrichten kann, aber wahrscheinlich will er uns vor Nekrophilie schützen, vor solch verwerflichem Gedankengut: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der  selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen,  sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines  andern zu bedienen …“

Die gescheiterte Aufklärung

Also warnt Wachtmeister Thulin vor  dem Grufti Immanuel Kant und deutet – nach durch ihn heimlich begangenem Mord – auf die Leiche: Diese >Aufklärung ist gescheitert<! (Der  Widerspruch wird deutlich, wenn Thulin selbst als ein „restlos Aufgeklärter“ auftritt,  so dass man die Horkheimer/Adorno-Feststellung: „Aufklärung ist totalitär  wie nur irgendein  System“ leicht auf sein eigenes Gedankengebäude anwenden kann.) Ähnlich konfus, ohne ihrer Begrifflichkeit Herr zu werden, verwendet er auch andere Wörter, zum Beispiel >Selbstverständnis<, >Lebensweise<; und wenn er gar das bittere Ende  der BS prophezeit, greift er zum Polizistenjargon: >wenn es je so etwas wie ein authentisches Gesicht (des Editionsunternehmens BS; A.K.) gegeben hat, – sieht man einmal von  der Aufmachung ab -,  dann ist ihm der Boden unter den Füßen entzogen<, um zu beweisen, dass nicht nur Lügen, sondern auch Gesichter kurze Beine haben, was aber Thulins  wachendem Auge  nicht entgeht, genausowenig wie der Umstand, dass  sich hinter einer ordinären >Aufmachung< ein >authentisches Gesicht< verbergen kann.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Einband von Trak Wendisch für Bizarre Städte, Band 3 (1988)
Literatur & Politik

Der Sinn jeder seriösen Kritik – und gerade einer Gegenkritik, die anhand des besprochenen Gegenstandes die andere Meinung postuliert! –,  hätte für mich darin bestanden, die Texte (hier: in den BS), den inneren Zusammenhang jedes Heftes, die inhaltliche Klammer des gesamten Projekts etc. zu untersuchen. Aber nicht für Thulin: kein Wort über die Autoren, kein Wort über die Struktur der Beiträge, über die formale und inhaltliche  Entwicklung von Band 1 bis Band 3, nichts über Art und Prinzip der Edition. Sind es überhaupt die BS, für die  sich Thulin interessiert? Denn, seltsam genug, er argumentiert “politisch” und nicht literarisch, obwohl er nicht müde wird zu behaupten, ihm ginge es nur um „Literatur“.

Zunächst „beweist“ er, wie beschränkt die  beiden Kritiker Olaf Nicolai und Peter Wawerzinek sind, die sich bislang zu dem Projekt geäußert haben. Dann zeigt Thulin, auf welch verlorenem Posten die BS stehen, mit einem  Hinweis auf das gegenüberliegende leuchtende Ufer der „ariadnefabrik“ (die ich übrigens schätze) und der anderen von ihm gelobten Zeitschriften. Und zu guter Letzt entlarvt er den Herausgeber als >Manager<, der die Autoren nur beim Denken und Arbeiten stört. Man gewinnt den Eindruck, liest man  Thulins Untersuchungsbericht, dass  der Herausgeber – dem es >um das Verteilen (sic!) und Verlegen von Literatur (geht), wenn die anderen (die  schutzlosen Autoren!  A.K.) von  ihren  eigenen Problemen  sprechen< wollen – aus dem nicht-öffentlichen  Verkehr gezogen werden muß.

flanzendörfer, Böthig, Hensel, Jansen, Schmidt u.a.

Dabei muß man nur einen Blick in die BS werfen, um zu sehen, dass die BS zumindest eins erreicht haben, was Legitimation genug für ihr Bestehen (das Bestehen jeder beliebigen  literarischen Zeitschrift) ist: Es sind im Auftrag der Redaktion Texte, Grafiken und Fotos entstanden: so der längste Text, den Frank Lanzendörfer, angeregt  auch von Johannes Jansen, je geschrieben hat: die 25seitige aus Gedichten,  Fotos  und Zeichnungen bestehende Collage „garuna, ich bin!“, genauso wie der im 4. Band abgedruckte Text „zwischen hoffnung und resignation“, weiterhin Peter Böthigs „kleiner versuch über den  schaden“,  Walsdorfs  „frauen  ohne  unterleib“, Kathrin Schmidts „der um die Ecke einbog“, Janovskis „photobiographischer versuch über die szene“, Jansens grafisch-poetischer Beitrag „Fang“, Kerstin Hensels „Anschläge über das  Literaturinstitut“, Uwe Lummitsch‘ „Zwiesprache“, Kunz‘ „Messer im Kopf“, Menschings „Die Stadt“, Adloffs „Bemerkung“, Schwarz‘ „Splittersammlung etc.etc. Ganz abgesehen von den Grafiken,  Zeichnungen, den beiden Kassetteneditionen, der Grafikmappe mit dem dafür geschriebenen Text von Elmar Jansen und natürlich den Erstveröffentlichungen von fast allen Texten (darunter immerhin Brauns „Freizeitpark“ und „Schiff im Land“, Endlers „Bubi Blazezaks  gedenkend“, Papenfuß‘ „remembering cerstin“, Czechowskis „Das Zwingende“ und „Tag im Februar“, Menschings  „Wetterbericht“). Das  alles ist Thulin keiner Erwähnung wert. Viel wichtiger scheint ihm  dagegen, diese gesamte  Produktion auf den Begriff der >kulturpolitischen Pauke< zu reduzieren – tatsächlich: >inhaltlich  ist  damit leider noch nicht viel gesagt< (sic!) –,  was ihm zumindest ermöglicht, den Herausgeber ob seines anti-literarischen Verhaltens zu rügen.

Thulins Diffamierungen

Da  Thulin es ist, der von Wawerzinek und Nicolai eine durchdachtere Kritik des Experiments BS verlangt, erwartet man diese verständlicherweise von ihm: vergebens: Nach „politischen“ Unter-die-Gürtellinie-Schlägen gegen Olaf Nicolai – auf dessen  harmlosen Satz hin: „der verlust von gesellschaftlichem  interesse an kunst führt zu elitären zirkeln, die in der folge selbst ein mangelndes interesse an bestimmten gesellschaftlichen prozessen sich zueignen“ sich Thulin zur Behauptung hinreißen läßt, hier spräche ein Shdanow (sogar ein Seferis, ein Eliot und ein Enzensberger, denen man schwerlich Stalinismus vorwerfen kann, hätten diesem Satz zugestimmt!) – und gegen Peter Wawerzinek – der aufgefordert wird, seine nächste Kritik doch im „Sonntag“ zu  veröffentlichen – (deutlich in beiden Fällen ein Angriff auf der Ebene der (im weitesten Sinne) politischen und persönlichen Diffamierung) sieht sich Thulin dem Dilemma gegenüber, behaupten zu müssen, dass die Autoren, Maler und Fotografen (wie Faktor, Wendisch, Brinkmann, Fries, Burchert, Hussel, Wenzel, Stürmer-Alex etc.) sich vom Herausgeber haben einwickeln und benutzen lassen. Er kommt nicht auf die Idee (und will nicht sehen), dass diese – im Gegenteil – mit ihrer Mitarbeit einen Versuch unterstützt haben, der ihnen wichtig war. Thulin hat für deren Mittun eine gewichtige  Erklärung parat: Sie alle seien dem Herausgeber >auf den Leim<  gegangen, >geblendet von der gediegenen Aufmachung<! Doch Wachtmeister Thulin eilt herbei, die hier versammelte getäuschte   Autorenschaft der DDR vor dem gerissenen Griechen zu warnen und dessen Treiben ein Ende zu setzen! Denn: in den BS >geht (es) um allerlei, bloß nicht um Literatur<!

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Originalsiebdruck von Karsten Nicolai für Bizarre Städte, 1988
Worum es uns ging

Ich habe es eher so empfunden: Für die meisten Autoren von BS war es wichtig, dass „Literatur“ im Verständnis des Herausgebers mit Mündigkeit und Freiheit, mit Phantasie und Toleranz zusammenhängt.  Literatur in BS hatte und hat nichts mit Engstirnigkeit und Borniertheit zu tun, die den eigenen Literaturbegriff als alleinigen Maßstab anerkannt wissen und die „Literatur an sich“ damit in Beschlag nehmen will. Der Herausgeber hält es mit Bloch, mit einem jener von Thulin verabscheuten und für tot erklärten Aufklärer: Literatur hat allemal  mit Utopie zu tun, die Thulin – daraus mache  ich  ihm keinen Vorwurf, ich lese es nur aus seinem Text heraus – völlig fehlt. Anliegen der BS ist, Voreingenommenheit und Verhärtung, Isolation und fehlende Gesprächsbereitschaft zwischen Autoren abzubauen, zwischen ihnen zu über-setzen, „Aussagen zur Zeit“ zu dokumentieren, und sich zum andern gegen die „industrielle“ Ver-Wertung von „Idealen“, ausgedrückt in der offiziellen Doktrin der Interessenvertretung des ganzen Volkes durch die monopolistisch geführten Massenmedien (als wäre das  möglich!) zu wehren. Die vor einem Jahr fertiggestellten drei Bände – in denen (erstmals so breit) wenigstens Ko-Existenz möglich war – haben die Grundlage für Kommunikation (noch  nicht: Dialog) geschaffen, die in den nächsten Büchern in Form von Interviews und neuen  Konzepten angestrebt wird. Das steht (mehr oder minder deutlich) in den Vorworten.

Moralisches Aus

Aber  Thulins „kritische“ Methode ist nicht in erster Linie durch die frappierenden Unterlassungen gekennzeichnet, die ich angedeutet habe,  auch nicht durch die versuchte  Verwischung seines eigentlichen Anliegens, worauf ich noch zurückkomme, sondern durch die eklatante Unfähigkeit, auch nur eine einzige stimmige Argumentationskette aufzubauen. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern, und zwar an einem wichtigen Punkt seiner „Kritik“: >Das Anliegen der BS ist, wie  die Vorworte zeigen, zunächst einmal ein kulturpolitisches: Veränderung der Druck- und Veröffentlichungspraxis, eine Autorenzeitschrift. Glasnost, um Kutulas zu zitieren. Aus diesem Grunde geht es den Heften weder um die darin versammelten Autoren, noch um die  Individualität und spezifische Qualität der einzelnen Beiträge. Autoren und Beiträge sind Makulatur, sie sind heranzitiert und versammelt zur Demonstration eines Beweises …< Wie die Vorworte  zeigen? Thulin zitiert? Aber vergebens sucht man in den Vorworten  die Worte >Glasnost<,  >Autorenzeitschrift<; auch keine Spur von dem in Thulins Augen unzüchtigen Anliegen, die Druck- und Veröffentlichungspraxis zu verändern (geschweige denn die Forderung danach (meine diesbezügliche Meinung steht hier nicht zur Debatte). Also aus diesen – nichtvorhandenen – Gründen unterstellt Thulin dem Herausgeber ein  Verhalten, das, wenn es ruchbar würde, sein moralisches und damit faktisches Aus bedeutete. Ich will es bei diesem Beispiel belassen. (Angesichts der pejorativen Belastung dieser Begriffe, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren,  Thulin sei gegen Glasnost, gegen eine Liberalisierung und Demokratisierung  der Druck- und Veröffentlichungspraxis etc., wenn ich sehe, wie blind er um sich schlägt, als wolle er nicht argumentieren, sondern provozieren – den BS so eine Art politische Plattformbildung unterstellend).

Bizarre Städte Statement

Obwohl, wie gesagt, das Wort „Autorenzeitschrift“ in keinem der Vorworte  auftaucht – weil die ersten drei Bände der BS diesem Namen nicht gerecht würden –, möchte ich jenes Prinzip (das auch eine solche  Zeitschrift charakterisieren würde) erläutern, das von Anfang an die  editorische Praxis der Redaktion bestimmte: Ziel war, ein Forum für das Schreiben und Denken von verschiedenen Autoren zu schaffen, eine  offene Konzeption nach allen Seiten hin zu vertreten (sich nur verweigernd  dem „rechten“ und „linken“ Opportunismus) – all das geleitet von einem elementaren Respekt vor dem Autor/Künstler und seiner Produktion. Eine Zeitschrift also, die  sich als unabhängiges Blatt/Medium für  das  geschriebene und gedachte/gesprochene Wort ihrer Autoren versteht – und die auch so von den verschiedensten  Autoren angenommen und befördert wurde.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Siebdruck-Plakat von Erika Stürmer-Alex zur Vorstellung von Bizarre Städte Nr.1 bis 3 in der Akademie der Künste, 1988
Elfenbeintürme

Während einer Lesung in der Akademie der Künste berichtete Christa Wolf über Gespräche,  die sie mit Franz Fühmann (wenn ich mich recht  entsinne) darüber geführt hatte, was sie gemeinsam geschrieben, welche Themen sie angepackt hätten, wäre  ihnen eine Spalte in einer  Wochen- oder Tageszeitung angeboten worden. In einem Land, das sich leisten kann, auf solche Angebote nicht zu reagieren, ja, sie gar nicht wahrzunehmen, ist es, gelinde gesagt, unverantwortlich, so blauäugig für andere  Elfenbeintürme (oder Gefängnisse?) in die Landschaft  stellen zu wollen, in denen man sich Ende des 20. Jahrhunderts als Schriftsteller eh nur selbstkasteien kann. Ich habe nichts dagegen,  wenn Thulin für sich einen  solchen Turm errichtet – ich werde der letzte sein, der ihn daran hindert. 

Der Standpunkt,  den Thulin angreift – die eher provokativ gestellte Forderung während zweier Lesungen (nicht nach >Institutionalisierung<, sondern:) nach einer unabhängigen, ausschließlich von Autoren herausgegebenen  Publikation, was Thulin wohlweislich verschweigt, also eine Forderung, die so in der DDR,  soweit mir bekannt, noch nicht gestellt wurde –, hat nicht nur nichts mit dem konkreten Projekt zu tun und wird in keinem der drei Bücher vertreten, er ist auch als verbaler Standpunkt seit fast einem Jahr nicht mehr im Gespräch. Das Weiterbestehen von BS hing für die Redaktion von der Bewahrung des autonomen Charakters des Projekts ab. Das Interessante an Thulins Kritik ist die a priori mitgemeinte Diffamierung des Begriffs „Institution“, interessant, weil sie einerseits vom demokratischen Impetus der BS absieht (es würde zu  weit führen, und es ist nicht unser Thema, darzustellen, wie die BS produziert wurden), weswegen überhaupt viele der Autoren sich am  Projekt beteiligt haben, und andererseits von der dogmatischen Praxis auch jeder nichtoffiziellen „Institution“, die es in der imaginären „Szene“ (ich weiß, ein ungenauer Begriff), die Thulin  beschützen möchte,  in vielerlei Gestalt gab und zum Teil noch gibt,  und von der auch die von ihm genannten Zeitschriften (genauso wie die BS) gar nicht frei sein können, was Adolf Endler in seiner Besprechung  des  Buches „Sprache & Antwort“ als Gefahr für einige dieser Blätter auswies, „ins schwiemelige Abseits des Sektiererhaften und Dumpf-Provinziellen“ zu geraten.   

Demagogie

Thulins Demagogie erreicht in dieser Hinsicht einen (ungewollten) Höhepunkt: Einerseits wirft er den BS vor, ein fatales  Öffentlichkeitsverständnis zu haben, andererseits übersieht er geflissentlich, dass eine repräsentative Auswahl aus „mikado“ in einer Auflage von mehreren Tausend als Taschenbuch bei „Luchterhand“ vertrieben  wird;  einerseits behauptet er, die von ihm gelobten Zeitschriften wendeten sich vor allem >an den Kreis ihrer Autoren< und der unmittelbar Interessierten (>Mehr möchte man nicht …<!), andererseits verschweigt er, dass eine Reihe von Gesprächen aus dem „schaden“ in der „Collection S. Fischer“ veröffentlicht wurden (das von Egmont Hesse herausgegebene  interessante Buch „sprache & antwort“); einerseits regt sich Thulin auf, weil BS versucht haben, neue – unabhängige – Freiräume und Möglichkeiten für Kommunikation zu schaffen, andererseits stört es ihn überhaupt nicht, dass „ariadnefabrik“, „schaden“ etc. in westlichen  Gazetten wie „Niemandsland“ sowie die literarische, musikalische  und künstlerische „AvantgardeSzene“ drüben genauso wie neuerdings auf hiesigen Veranstaltungen vereinnahmt und vermarktet werden (was  nicht in jedem Fall im Sinne der Künstler ist,  aber es geht mir  um die Tendenz); Thulin reicht es einerseits, dass während eines Gesprächs, das verbale Angebot gemacht wird, man möge sich doch überlegen, ob in der DDR ein oder mehrere Publikationsorgane möglich wären, die selbständig von Autoren herausgegeben werden, um diesen Gedanken als >Schwachsinn< und als >nebulöse Globalforderung< abzutun, entdeckt aber andererseits  keine >konzeptionelle Unaufrichtigkeit< im Ver-Öffentlichen jener von ihm hochgelobten (angeblich) öffentlichkeitsabstinenten Literatur beim Aufbau-Verlag, in „Sinn und Form“, sogar im Verlag Neues Leben etc., also einer Literatur, die seinem Verständnis zufolge für einen erlauchten Kreis von Auserwählten geschrieben wurde – eine Ansicht, der ich nicht folgen kann. (Papenfuß‘ Band „dreizehntanz“ z.B. war nicht nur längst „fällig“, er gehört außerdem zu den herausragenden Veröffentlichungen der letzten Zeit.) Und, so viel ich weiß, gibt es auch keine abstrakte „Zeitschrift“, unabhängig von  ihren Texten und der Intention der Autoren!

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Aus Johannes Jansen Textcollage „FANG“, Bizarre Städte, Band 2 (1988)
Die „Brisanz der Gegenwart“

Thulin übersieht schließlich, dass die meisten der von ihm doktrinär vereinnahmten Autoren eine mehr oder minder konträre Haltung zu seiner Position erkennen lassen. Ich bezweifle, dass Reiner Schedlinski, Egmont Hesse, Andreas Koziol, Ulrich Zieger etc., die Thulin in Beschlag nimmt, einen Anwalt wie ihn brauchen, besonders wenn ich an theoretische Texte von Hesse und Schedlinski denke. Da halte ich mich lieber an ihre Bücher und Schriften – und nicht an die Karrikatur, die Thulin von ihnen zeichnet. Immerhin plädiert Schedlinski in einem Brief an den Verlag Neues Leben für die größte Öffentlichkeit literarischer und essayistischer Texte, wenn er  auf  deren Publikation in der Tages- und Wochenpresse der westlichen Kulturlandschaft (seit einigen Jahren auch der Sowjetunion) als einen normalen geistigen Zustand  aufmerksam macht. Und die Herausgeber der Zeitschrift „mikado“ Uwe Kolbe, Lothar Trolle, Bernd Wagner beschreiben im Vorwort des äußerst aufschlußreichen Buches „Mikado oder Der Kaiser ist nackt“ den gesellschaftlichen Kontext,  der sie zum editorischen Selbsthelfertum geführt hat: „Es bedurfte etlicher Winter der Depression, einer Bibliothek voll ungedruckter Texte und schließlich des Zurückgewiesenwerdens einer gesamten Schriftstellergeneration,  bevor der Blick überhaupt in  eine solche Richtung gehen konnte“. Der für sie wichtige Ansatz – „Wir suchten die Brisanz der Gegenwart  in der Sprache, diesseits und jenseits des Vokabulars der Macht und der Anpassung“ – könnte genauso für die  BS gelten. 

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Aus flanzedörfers Werk „Garuna, ich bin“ aus Bizarre Städte, Band 1 (1987)

Ich habe den Eindruck, dass es Thulin nicht darum gegangen ist, darzustellen, was in den BS versucht wurde, diesen Versuch mit anderen zu vergleichen und anschließend zu werten, sondern die  Tatsache, dass etwas versucht wurde, von vornherein zu verurteilen,  weil es nicht mit seiner bornierten und dogmatischen Konzeption übereinstimmt. (: Eine Methode, die er mit der hierzulande weit verbreiteten orthodoxen Literatursoziologie gemein hat:) Das treibt dann in seinem Text   absonderliche Blüten: >Literatur wird (in den BS;  A.K.) lediglich benutzt, um ein außer ihrer Produktionssphäre liegendes Ziel – nämlich die Veränderung des Institution Kunst – zu bewirken<. Um Gottes willen! Und weiter: >Kunst … wird durch dieses Anliegen instrumentalisiert und  mit einer genau umrissenen Funktion belegt: als Mittel der Aufklärung und Durchsetzung kulturpolitischer Zwecke<! Kein Kommentar.

Thulins „Gegen-Kritik“ stellt die Daseinsberechtigung der BS in Frage, und zwar nicht aufgrund einer ernsthaften Auseinandersetzung – man sucht vergebens den Willen dazu und die  dafür erforderliche analytische Genauigkeit –, sondern durch eine moralische Denunziation: Was er in seinem  Beitrag angreift ist – schlicht und einfach und kaum kaschiert – die Integrität des  Herausgebers und der Redaktion, also die Grundlage für solche   Editionsarbeit außerhalb der „zentralisierten Öffentlichkeit“ (Böthig). In der DDR ist es scheinbar gang und gäbe, so etwas zu tun,  indem man den Herausgeber der Zusammenarbeit mit der Stasi, der FDJ, oder, wie bei Thulin (etwas abgeschwächter!, danke!), mit dem Schriftstellerverband  und den Verlagen bezichtigt. Aber die Zeit, für die Thulin streitet, ist längst vorbei, der Zug, auf den er wartet, abgefahren.

Bizarre Städte Diskurs

Diese Erwiderung, das merke ich jetzt, war mir wichtig, um auf jenes „kulturpolitische Terrain“ hinzuweisen, auf dem sich Thulin bewegt. Sie sollte auch zeigen, worum es ihm eigentlich geht: nämlich nicht  um eine Kritik der literarisch-editorischen Arbeit, sondern um eine Kritik der Gesinnung (was sich u.a. hinter der ganzen Aufklärungs-Diskussion verbirgt, die einer gesonderten Erwiderung bedürfte). Die ideologische Brille hat Thulin die Sicht auf BS getrübt, und die beiden Besprechungen von Nicolai und Wawerzinek waren ihm ein willkommener Vorwand, seine ideologischen Vorbehalte gegen die Haltung, die er als Grundlage für das Projekt BS vermutet, auszuspielen.  Mir ist klar, dass es zwei und mehr „Sprachen“ gibt, dass gewisse Differenzen bestehen. Darüber kann man sich einigen. Doch das ist ein anderes Thema.

Asteris Kutulas, Eggersdorf, 12.-14. Februar 1989

Anmerkung: Die in > < eingefaßten Wörter bzw. Sätze entstammen Michael Thulins Feder. 

Veröffentlicht in: Bizarre Städte, Band 4, Hrsg. von Asteris Kutulas und Gerd Adloff, Eggersdorf 1989

Titelbild: Zeichnung von Johannes Jansen für Bizarre Städte, 1988.

Der bürgerliche Name von Michael Thulin ist Klaus Michael, Autor, Publizist und Mit-Herausgeber der inoffiziellen Zeitschrift „Liane“ (1988-89). Zu diesem Diskurs vergleiche auch:

Bizarre Städte (1987-1989) – Ein Interview

Griechische Literatur in Deutschland – Ein Interview

Der bittere Geschmack der Freiheit

Axel Dielmann im Gespräch mit Asteris Kutulas über die griechische Literatur in Deutschland, Frankfurt/Main 2001

Axel Dielmann: Asteris Kutulas, seit wann übersetzen Sie aus dem Griechischen ins Deutsche?

Asteris Kutulas: Meine ersten Übersetzungsversuche machte ich 1975, allerdings beschäftigte ich mich seit 1979, als ich mein Germanistik-Studium begann, immer intensiver damit. Ich habe damals in der DDR gelebt, wo eine andere »Übersetzungskultur« existiert hat als in der Bundesrepublik Deutschland. Ich will nicht sagen: besser oder schlechter, auf jeden Fall war es eine andere.

Nachdichten in der DDR

Das hatte einige praktische Konsequenzen, zum Beispiel die, dass man in der DDR als Nachdichter und Übersetzer relativ gut bezahlt wurde – was in der Bundesrepublik nur partiell der Fall war und ist –, zu 99 Prozent beruht das Ganze auf Selbstausbeutung. Diese »Arbeit« ist sehr aufwendig und so zeitraubend, dass man im Normalfall selbst bei den großen etablierten Verlagen kaum eine Chance hat, wirklich das an Honorar zu bekommen, was man an Knowhow, Zeit und Gefühl reinsteckt. Vor allem bei klar nicht-kommerziellen Projekten, um die es bei uns zumeist geht. Aber das weiß ja jeder Übersetzer vorher, und wir sprechen hier ohnehin über eine Sache, die sehr viel mit Passion zu tun hat.

Zum anderen gab es einige bedeutende Literaten in der DDR, unter anderem Erich Ahrend, Stephan Hermlin, Franz Fühmann, Sarah Kirsch oder Heinz Czechowski, die sich intensiv mit der literarischen Übersetzung beschäftigten, so dass das Nachdichten zu einer Art Kult in der literarischen Szene wurde. Das hatte natürlich auch mit dem Eingeschlossensein in der DDR zu tun. Alles von »draußen« hatte den Geschmack von Freiheit, zugegeben einen ziemlich bitteren Geschmack. Also hatte das Übersetzen auch einen meta-literarischen, gesellschaftlichen Stellenwert. Dieser Aspekt war damals sehr wichtig für mich.

Dielmann: Wenn Sie diese Zeitspanne seit den siebziger Jahren überblicken: Was hat sich am – gegenseitigen deutsch-griechischen – literarischen Interesse verändert oder getan?

Asteris Kutulas: Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik ist griechische Literatur nach dem 2. Weltkrieg selektiv und mehr zufällig rezipiert worden und hatte immer mit dem persönlichen Einsatz bzw. den Vorlieben und dem Geschmack von drei, vier Übersetzer-Persönlichkeiten zu tun, wie z.B. Isidora Rosenthal-Kamarinea oder Helmut von den Steinen. Ohne diese und zwei, drei andere Leute gäbe es fast gar nichts aus den fünfziger und sechziger Jahren. Sie haben in gewisser Weise Pionierarbeit geleistet.

Übersetzt wurde bis Ende der sechziger Jahre natürlich und vor allem Nikos Kazantzakis – und dann hört es fast schon auf. Eine wichtige Veröffentlichung war 1962 der Gedichtband von Georgios Seferis, sogar ein Jahr, bevor er den Literaturnobelpreis verliehen bekam, was sehr für den Herausgeber Hans Magnus Enzensberger und den Übersetzer Christian Enzensberger spricht. Im selben Jahr kam auch die Kavafis-Übersetzung von Helmut von den Steinen bei Suhrkamp heraus. Daneben erschienen noch Bücher von Pantelis Prevelakis, Stratis Myrivilis, Elias Venesis und ein paar anderen. Ich habe jetzt nicht alles genannt, aber es waren insgesamt etwa 30 Bücher in 25 Jahren. In der DDR erschienen noch weniger griechische Bücher, wobei fast ausschließlich sogenannte »linke« Autoren berücksichtigt wurden, wie Melpo Axioti, Elli Alexiou, Dimitris Chatzis, Menelaos Ludemis und Andreas Frangias.

Nach meiner Einschätzung gibt es seit dem 2. Weltkrieg in der Rezeptionsgeschichte der griechischen Literatur in Deutschland drei Zäsuren.

Erste Zäsur: Junta

Die erste Zäsur setzte die Junta-Zeit. Zwischen 1967 und 1974 – als die Obristen an der Macht waren und Griechenland ohnehin in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit rückte – kulminierte in beiden deutschen Staaten das Interesse an der griechischen Literatur. Das fiel mit der 68er Bewegung hierzulande zusammen. Viele deutschsprachige Künstler, wie Hap Grieshaber, Günter Wallraf, Heinrich Böll, Günter Grass, Margarete Hannsmann, Joseph Beus und andere, solidarisierten sich mit ihren griechischen Kollegen, die in die Gefängnisse und Verbannungslager verschleppt worden waren. Die Musik von Theodorakis war in Griechenland verboten, der Komponist selbst im Gefängnis, und Jannis Ritsos wurde auf die Inseln Jaros und Leros verbannt und später jahrelang unter Hausarrest gestellt – um die zwei prominentesten Beispiele zu nennen.

Jannis Ritsos

Ritsos kam damals mit einigen Übersetzungen auf den deutsch-deutschen Markt, wurde aber leider mehr als »politischer Autor« gesehen, obwohl er seine »Mondscheinsonate« – für mich ein Höhepunkt der griechischen Literatur dieses Jahrhunderts – bereits 1958 veröffentlicht hatte. Ritsos musste sich lange mit dem Image eines »politischen Autors« herumschlagen, bis weit in die 80er Jahre hinein, bis er sowohl aus der Sicht der bundesdeutschen als auch der DDR-Dichtung als nationaler griechischer Dichter neben Seferis, Elytis und Kavafis akzeptiert wurde. Während der Junta-Zeit kamen in Deutschland Bücher u.a. von Vassilis Vassilikos, Kostas Kotzias, Antonis Samarakis, Melina Mercouri und Giorgos Theotokas heraus. Es trat auch eine neue Übersetzer- und Herausgeber-Generation auf den Plan, zu der u.a. Günter Dietz, Danae Coulmas, Gisela von der Trenck, Vangelis Tsakiridis, Hans Eideneier und Argyris Sfountouris gehörten.

Nach dem Sturz der Obristen 1974 wurde es in Deutschland um die griechische Literatur wieder ruhiger. Hervorzuheben ist die systematische Veröffentlichung der Werke von Odysseas Elytis durch den Suhrkamp-Verlag, nachdem Elytis 1979 der Nobelpreis verliehen worden war.

Zweite Zäsur: Romiosini Verlag

Die zweite Zäsur war die Gründung des Kölner Romiosini-Verlages durch Niki Eideneier Anfang der achtziger Jahre, der seitdem über 150 Titel auf den Markt brachte. Ich wage die Hypothese, dass Griechenland wohl kaum 2001 in den Genuss gekommen wäre, Gastland der Frankfurter Buchmesse zu sein, wenn es diesen Verlag nicht gäbe. Ich weiß, dass der Romiosini-Verlag viel Kritik einstecken musste, aber was er an Basis-Arbeit für die Propagierung der griechischen Literatur in Deutschland geleistet hat, überwiegt bei weitem. Zur gleichen Zeit, also in den achtziger Jahren, wirkten in der DDR drei Autoren, die systematisch griechische Lyrik und Prosa übersetzten und herausgaben, Thomas Nicolaou, Georg Aridas und ich. In dem Zusammenhang sind zwei DDR-Verlage zu nennen, der Verlag Volk und Welt und insbesondere der Reclam-Verlag mit Horst Möller als verantwortlichem Lektor für antike, byzantinische und neugriechische Literatur. Bei mir genießt dieser Mann Kultstatus. Es gab aber in der DDR auch den fundamentalen Ritsos-Essay von Günter Kunert kurz vor seiner Übersiedlung nach Westdeutschland und die wegweisenden Kavafis-Nachdichtungen von Adolf Endler. Letztere sind unter Neogräzisten sehr umstritten, aber ich habe viel bei Endler gelernt.

Anfang der neunziger Jahre wurde der dialogos-Verlag gegründet, der zwar nur zwei, drei Jahre durchhielt, aber immerhin über zehn griechische Bücher in deutscher Übersetzung herausbrachte, sowie die Berliner Monats-Zeitschrift »Chronika«, die seitdem eine imposante Reihe von Übersetzungen, Nachdichtungen und Porträts griechischer Autoren veröffentlichte.

Dritte Zäsur: Buchmesse

Die dritte Zäsur schließlich war die Frankfurter Buchmesse 2001 – natürlich eine einmalige Gelegenheit, die griechische Literatur in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in Deutschland zu rücken. Innerhalb eines Jahres wurden so viele griechische Bücher publiziert wie in den gesamten letzten zehn Jahren zusammen, ganz abgesehen vom PR- und Marketing-Effekt. Das von meiner Seite aus ganz kurz zur Geschichte.

Jannis Ritsos von Asteris Kutulas
Essayband von Jannis Ritsos, herausgegeben und übersetzt von Asteris Kutulas, Kiepenheuer Verlag 1989

Dielmann: Was könnte deutsche Bücherwürmer an der griechischen Literatur besonders reizen? Was wäre für hiesige Leser lesenswert? Was macht die griechische Literatur wichtig?

Asteris Kutulas: Griechische Literatur ist – wenn sie gut ist – genauso wichtig und reizvoll wie jede andere Literatur. Das, was sie spezifisch macht, nämlich die griechische Sprache, die seit fast dreitausend Jahren kontinuierlich gesprochen und geschrieben wird, ist ohnehin in einer anderen Sprache nicht vermittelbar. Das andere Charakteristische ist die »Bürde« für viele griechische Schriftsteller, dass bereits vor etwa 3000 bis 2500 Jahren ein Euripides, eine Sappho und ein Homer in derselben Sprache geschrieben haben.

Klischees

Zum anderen gibt ein paar Klischees im Hinblick auf die griechische Literatur, die meiner Meinung nach zum Teil der Realität entsprechen. Das eine Klischee ist, dass die neu-griechische Literatur kaum herausragende Dramatik, kaum herausragende Prosa – ich betone »kaum«! –, aber sehr viel herausragende Lyrik hervorgebracht hat. Ich meine Lyrik von Weltformat, und ich denke, das stimmt einfach. Kavafis, Ritsos, Seferis und einige Gedichtbände von Elytis – denn nicht jede Lyrik ist »adäquat« ins Deutsche übertragbar –, kann ich jedem empfehlen.

Bei der Prosa gibt es natürlich die große Ausnahme des quasi Klassikers Nikos Kazantzakis, der ja der meistübersetzte griechische Autor ist, ich glaube in über 50 Sprachen, und dessen Bücher sich überall auf der Welt sehr gut verkauft haben. Aber wenn man von ihm absieht, bleibt nicht viel übrig. Das heißt, man kann sehr viel entdecken in der griechischen Lyrik und sehr wenig, von einer höheren Warte aus gesehen, in der griechischen Prosa und noch weniger in der neueren Dramatik. In der globalisierten Welt mit einer inzwischen globalisierten Literatur werden natürlich viele Dinge auch quantitativ entschieden. Wenn 500 Millionen Menschen Englisch sprechen und davon 1 Million schreibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Genie darunter ist, weitaus größer, als in einem Land mit 10 Millionen Einwohnern, von denen 20.000 Menschen schreiben. Unter diesem Aspekt stehen wir mit zwei Literaturnobelpreisen – im Übrigen für zwei Lyriker – innerhalb der letzten vierzig Jahre blendend da!

Dielmann: Gibt es denn Zeitgenossen, vielleicht sogar junge Autoren in Griechenland, die Sie uns hier ans Herz legen würden – den Verlegern wie den Lesern?

Asteris Kutulas: Aus dem, was ich bisher gesagt habe, geht bestimmt hervor, dass ich zu den eher konservativen Literatur-Rezipienten gehöre. Außerdem bin ich nicht so bewandert in der jüngsten Prosa. Ich kann mir kein Urteil anmaßen. Es gibt bestimmt 30, 40 interessante Autoren, die einfach gut sind. Aber meiner Meinung nach ist keiner von Weltformat darunter, über dessen Buch man sagt: Dieser Roman ist so genial geschrieben, den muss man einfach gelesen haben! Wie das etwa weltweit mit »Der Gott der kleinen Dinge« von Arundhati Roy passiert ist. Unter den heute lebenden Lyrikern gibt es natürlich Altmeister Manolis Anagnostakis, ein ganz großer europäischer Dichter, sowie eine Reihe anderer bedeutender Autoren, wie Titos Patrikios oder Kiki Dimoula. Schließlich will ich doch zwei Romane empfehlen, allerdings älteren Datums und von zwei ausgesprochenen Lyrikern geschrieben: »Die Kiste« von Aris Alexandrou und »Die Wache« von Nikos Kavadias.

„Griechische“ Buchmesse

Wegen der »griechischen« Frankfurter Buchmesse bestand ein natürlicher »Zwang« zur Übersetzung und Veröffentlichung, und das ist ja auch Sinn der Sache gewesen. Aber die neue – »junge, dynamische, gutaussehende« – Schriftstellergeneration wird sich behaupten müssen. Auf jeden Fall erhielten durch Frankfurt sowohl viele griechische Autoren als auch das deutsche Lesepublikum die hervorragende Gelegenheit, einander kennenzulernen. Im Nachhinein stelle ich fest, dass das Interesse an griechischer Literatur kaum nachhaltig und eher wie ein Strohfeuer war. Es gibt zwar Ausnahmen, aber ich habe den Eindruck, dass wir im Grunde eine Chance verpasst haben.

Dielmann: Gibt es in Griechenland so etwas wie eine literarische Szene? Und falls ja: Ist die eher überaltert oder eher jünger? Im Sinne von literarischen Zirkeln, Stichwort ”Kaffeehaus-Literatur« und so weiter. Also, wenn wir beispielsweise an Engonopoulos und an das Umfeld denken …

Asteris Kutulas: Es gab seit den 30er Jahren eine stark ausgeprägte Künstler-Szene, die bis in die 60er Jahre hinein aktiv war – die Kaffeehäuser »Flokas«, »Zonars«, »Rossiko«, »Dolce«, »Brasil« und ein paar andere in Kolonaki sind dadurch berühmt geworden. In den dreißiger Jahren war es der Kreis um Georgios Katsimbalis, Georgios Seferis, Jannis Zaruchis, Andreas Embirikos, Odysseas Elytis, später kamen Nikos Engonopoulos, Manos Chatzidakis, Nikos Gatsos, der Maler Nikos Chatzikiriakos-Ghikas und die Choreographin Rallou Manou dazu. Diese Symbiose zwischen Komponisten, Malern und Dichtern hat in Griechenland eine äußerst wichtige Rolle gespielt. In den dreißiger Jahren entstand aus dieser Symbiose die berühmte Zeitschrift »Nea Gramata«, in den fünziger Jahren das »Griechische Ballett«. Dieser Künstlerkreis entdeckte Anfang der dreißiger Jahre die naive Malerei um Theophilos, die Volksdichtung und die »Memoiren« des General Makrijiannis sowie in den vierziger Jahren die Rebetiko-Musik. Das betrifft das »bürgerliche Lager« der Intellektuellen.

Die linken Autoren

Auf der anderen Seite hatten die vielen linken Autoren und Intellektuelle kaum die Gelegenheit, »Kaffeehaus-Literatur« zu zelebrieren, da sie seit der Metaxas-Diktatur 1936 zu den Verfolgten gehörten. Bis Anfang der 50er Jahre hatten sie es mit Krieg, Bürgerkrieg und Verbannungslagern zu tun. Jannis Ritsos kam erst 1952 frei, nach über fünf Jahren Haft, und hatte auch lange Publikationsverbot – um 1967 wieder eingesperrt zu werden. Ähnlich erging es Tassos Livaditis, Michalis Katsaros, Manos Katrakis, Aris Alexandrou, Nikiforos Vrettakos, Takis Sinopoulos, Manos Elefteriou und vielen anderen linken Intellektuellen. Daraus resultierte ein anderes Klischee, das ja zum Teil auch der Wirklichkeit entspricht, nämlich, dass der überwiegende Teil der griechischen Autoren links angesiedelt ist – beziehungsweise war; denn inzwischen hat sich das auch alles geändert. Aber wir sprechen in diesem Augenblick noch von den 50er, 60er Jahren, und damals war das sicherlich so. Jedenfalls hatten sie kaum Gelegenheit, sich in literarischen Zirkeln zu treffen.

Griechische Literatur Seferis von Asteris Kutulas
Essayband, herausgegeben und übersetzt von Asteris Kutulas, Reclam Verlag 1988

Dielmann: Womit hat solch ein Phänomen zu tun wie dieses: Dass eine griechische Dichterin wie Kiki Dimoula in Publikums-Zeitschriften – vergleichbar dem Stern oder der Bunten – über sechs, acht, zehn Seiten hinweg porträtiert wird? Das wäre hier kaum denkbar, kommt aber in Israel bei­spielsweise auch nicht selten vor – gibt es auch in Griechenland so etwas, das der Israeli Yehuda Amichai einmal die »mediterrane Dichtungs- und Dichterliebe« genannt hat?

Asteris Kutulas: Ja, das ist richtig. Die großen Zeitungen bringen regelmäßig zum Teil sogar ganze Beilagen über Dichter und Schriftsteller. Das liegt sicher in der griechischen Tradition begründet. Zeitschriften und Zeitungen haben sich seit jeher mit den großen nationalen Dichtern geschmückt. Das hat damit zu tun, dass Griechenland noch ein sehr junger Nationalstaat ist, noch keine 200 Jahre alt, zum Teil – siehe Kreta und Nordgriechenland – keine 100 Jahre. Erst 1830 befreite sich Zentralgriechenland von der osmanischen Herrschaft und konstituierte sich als Nationalstaat. Bis zur Zeit nach dem 1. Weltkrieg kamen dann immer mehr Teilgebiete dazu, bis es zu dem Griechenland, wie es heute existiert, wurde. Wir sprechen also über einen noch sehr jungen Staat, der sich über seine Dichter auch im Nationalbewusstsein definiert. Diesen Faktor darf man nicht unterschätzen.

Dielmann: Wenn du im Vergleich mit Deutschland die Verlags-Landschaft beschreiben solltest: Wie sieht die in Griechenland aus?

Asteris Kutulas: Es gibt in diesem kleinen Land – wenn man es sich genau überlegt, sind es ja nur zwei Städte, nämlich Athen und Thessaloniki – verblüffend viele Verlage, die verblüffend gut aufgemachte Bücher herausbringen. Die Aufmachung, der Druck, Papier-Qualität, zum Teil auch von Kleinverlagen, ist sehr gut. Verblüffend ist auch die Anzahl der Verlage und dass sie offenbar überleben – aber fragen Sie mich nicht, wie sie das machen!

Dielmann: Gut, die Frage muss ich mir dann wohl leider verkneifen. – Spielen Literatur-Zeitschriften eine Rolle?

Asteris Kutulas: Literatur-Zeitschriften spielen in Griechenland eine große Rolle. Vor allem die führenden »Lexi«, »Dendro«, »Endefktirio« und »Diavaso«. Aber es gibt noch viele andere. Sehr beliebt und sehr gut gemacht sind deren thematische Ausgaben, die bestimmten Dichtern oder literarischen Epochen gewidmet sind. Die finden auch den besten Absatz.

Dielmann: Welchen Einfluss haben die griechischen Feuilletons? Ist der ähnlich stark wie hier, so dass da regelrechte Lese-Marschrichtungen festgelegt werden?

Asteris Kutulas: Sie sind wichtig. Aber inwieweit sie nun die Lesergemeinde wirklich beeinflussen, kann ich nicht sagen. Ich habe nicht das Gefühl, dass das Feuilleton eine ähnlich große Rolle spielt wie in Deutschland. In Griechenland ist vielmehr die Mund-zu-Mund-Propaganda von außergewöhnlicher Bedeutung.

Dielmann: Wenn wir die Blickrichtung umdrehen: Welche deutsche Literatur wird in Griechenland gelesen oder wahrgenommen? Und, über Deutschland hinaus, welche europäische oder auch sonstige ausländische Literatur ist präsent?

Asteris Kutulas: Das ist sehr breit und bunt und geht in jede Richtung. Noch einmal: Ich finde es erstaunlich, was alles erscheint und gemacht wird – im Verhältnis zu dem kleinen Markt, um den es da geht. Vor allem in den letzten Jahren gehen die großen Verlage systematischer vor: Sie beobachten genau, was jenseits der Grenzen gut läuft und gut ankommt, um die Rechte an diesen Büchern zu erwerben und sie zu übersetzen. Als ich letztes Mal in Griechenland war habe ich die übersetzte Ausgabe der Memoiren von Reich-Ranicki gesehen.

Dielmann: Wenn wir einmal – wie haben Sie es vorhin genannt? – von dieser Zäsur, von der Buchmesse absehen: Was wären, in Ihren Augen, wünschenswerte Aspekte einer intensiveren und längerfristig auch wirkungsvollen gegenseitigen Kultur- und Literatur-Vermittlung?

Asteris Kutulas: Die großen deutschen Verlage haben sich, was die griechische Literatur angeht, in den letzten Jahrzehnten sehr zurückgehalten. Man kann das nun beklagen oder nicht, ich jedenfalls bin mir sicher, dass inzwischen, wenn irgendwo auf der Welt gute Texte entstehen, diese auch übersetzt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wirklich bedeutende Geschichten aus irgendeinem Land heute unübersetzt bleiben. Insofern wünsche ich mir als Grieche natürlich, dass alle Sachen übersetzt werden. Aber das ist eine mehr platonische Vorstellung. Ich bin Realist genug zu sehen: Es gibt so viele Literaturen, und es wird so viel ins Deutsche übersetzt, dass man schon gute Bücher vorweisen muss, um im internationalen Vergleich bestehen zu können.

Dielmann: Ich nähere mich, ohne ihn gesehen zu haben, Ihrem Schreibtisch. Rein handwerklich gefragt: Viele Ihrer Übersetzungen sind Koproduktionen mit Ihrer Frau Ina. Ich kenne das etwa auch von Paulus und Lydia Böhmer, die gemeinsam aus dem Ifrit / Israelischen übersetzen – wie arbeiten Sie zusammen? Wie geht das vonstatten? Wie stellt man sich die gemeinsame Übersetzens-Arbeit vor?

Übersetzen mit Ina

Asteris Kutulas: Das ist gewachsen. Ich habe ja vor vielen  Jahren alles allein übersetzt, später aber auch mit Steffen Mensching und anderen zusammen Nachdichtungen gemacht. Und obwohl ich nun schon sehr lange in Deutschland lebe und hier auch Germanistik und Philosophie studiert habe, überkam mich oft das Gefühl, dass ich Texte zwar sachlich »richtig«, aber in der Sache »unrichtig« übersetzt hatte. Seit Inas Mitarbeit ist dieses Gefühl allmählich in den Hintergrund getreten, weil sie Lösungen findet, die meiner Ratio zwar »falsch«, meinem poetischen Empfinden aber als »richtig« erscheinen. Und dann lassen wir das so stehen. Dasselbe passierte auch bei der Zusammenarbeit mit anderen Autoren. Ina geht ganz anders als ich an die Texte heran. Sie ist eine deutsche Autorin, eine deutsche Lyrikerin. Sie hat verschiedenes veröffentlicht, u.a. zwei Bücher, einen Lyrik- (Herbstzeitlose) und einen Prosa-Band (Vielleicht Athen – Berlin vielleicht), dazu viel in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien. Ihre Distanz zu meinen Übersetzungen kommt mir also sehr entgegen, obwohl sie andererseits Griechisch spricht und den Klang dieser Sprache vernommen hat. Ihre Variationen lösen sich natürlich oft vom Original oder, besser gesagt, von dem, was ich für das Original halte, aber ich muss gestehen, dass ich mit der Zeit immer mehr ihren Vorschlägen folge. Früher war ich restriktiver und klebte auch mehr an der griechischen Vorlage. Jedenfalls kann man inzwischen unsere Arbeit nicht mehr auseinanderhalten. Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen, will ich am Schluss betonen, dass es uns beiden natürlich immer um den Sinngehalt geht, den der Originaltext beinhaltet. Wir hatten zudem das Glück, mit einigen griechischen Autoren, deren Bücher wir übersetzt haben, gut bekannt bzw. sehr befreundet gewesen zu sein, wie z.B. mit Mikis Theodorakis, Jannis Ritsos oder Odysseas Elytis. Wir haben viele Stunden mit ihnen verbracht, und oft ging es um Poesie und um konkrete Gedichte, die wir gerade übersetzten.

Dielmann: Sie sind ja nun in der spannenden Situation, mehrere Berufe neben dem des Literaten und des Übersetzers zu haben. Sie sind unter anderem Musik-Produzent und Veranstaltungs-Organisator. – Was, meinen Sie, könnte man aus diesen Bereichen übertragen in die Literaturwelt, was könnten die dort von den anderen Bereichen lernen?

Asteris Kutulas: Die Verleger können sehr viel lernen von der Lifestyle-Marktsegmentierung, die der Musikbranche zugrunde liegt. Menschen mit unterschiedlichem Lifestyle hören unterschiedliche Musik – es ist doch auch klar, dass sie unterschiedliche Literatur lesen. So kann man davon ausgehen, dass einer, der World-Musik hört, zu einem ganz anderen Bücherregal gehen wird, als ein Britney-Spears-Fan. Natürlich kann man – eingedenk des universalen Anspruchs der Literatur – zu dem Schluss kommen, dass die Literaturwelt lernen soll, dies gerade nicht zu lernen. Wie dem auch sei. Ich denke, man kann etliches, z.B. Lesungen, Präsentationen, Pressekonferenzen, spannender gestalten – Literatur spannender vermitteln. Das „Hehre“, das noch immer über dem Literaturbetrieb schwebt, gehört, hinweggefegt zu werden. Die Zukunft wird anders aussehen.

Dichtung und Musik

Was Griechenland angeht, so sollte man diese unglaubliche Nähe und Verquickung zwischen Musik und Dichtung nutzen, um die Literatur weltweit bekannt zu machen. Zum Teil ist das ja auch passiert. Ich nenne ein Beispiel: Mikis Theodorakis hat »Axion esti« von Odysseas Elytis zwischen 1960 und 1964 vertont. Diese Platte war in Griechenland ein riesiger Erfolg und hat dann auch vor allem während der Junta-Zeit 1967 bis 1974 einen internationalen Durchbruch gehabt. In den verschiedenen Ländern wurden die Textpassagen der vertonten Teile auf den Schallplattenhüllen abgedruckt, so dass diverse Verlage dieses Werk entdeckt und es vollständig übersetzen und in regulären Buchausgaben haben erscheinen lassen. Der schwedische Nachdichter von »Axion esti« hat sogar eine sangbare Nachdichtung geschaffen, so dass das Werk in schwedischer Sprache auf verschiedenen Platten veröffentlicht wurde und einen Riesenerfolg hatte. Daraufhin erschien das gesamte Poem in einer schwedischen Buchausgabe. Das passierte genau drei Jahre, bevor die Schwedische Akademie Odysseas Elytis für diese Gedichtkomposition den Literaturnobelpreis verlieh.

Viele Literaten sind in Griechenland und weltweit einem größeren Publikum durch Lied-Vertonungen vor allem von Theodorakis, aber auch von Manos Chatzidakis, Thanos Mikroutsikos, Jannis Markopoulos etc, bekannt geworden. Und das ist eine Chance, die Griechenland hat, und es ist, glaube ich, das einzige Land, das diese Chance so hat – durch Musik die Literatur bekannt zu machen.

Konstantin Kavafis von Asteris Kutulas
Essay- und Lyrik-Band von Konstantin Kavafis, herausgegeben von Asteris Kutulas

Dielmann: Ich springe noch einmal zurück an Ihren Schreibtisch: Welche Ihrer eigenen zahlreichen Übersetzungen ist Ihnen die liebste?

Asteris Kutulas: Das ist schwer zu beantworten. Eines der fundamentalsten Werke, die ich herauszugeben und zu übersetzen das Glück hatte, war der Band »Deformationen. Eine innere Biografie« (Romiosini Verlag) mit Gedichten, Texten und Interviews (1930-1990) von Jannis Ritsos, der bald in einer überarbeiteten und erweiterten Ausgabe herauskommen wird. An diesem Buch habe ich mehr als zehn Jahre gearbeitet. Ähnlich essentiell sind die Seferis-Essays im Band »Alles voller Götter« (Suhrkamp Verlag).

Eine Entdeckung für mich, und auch – wie ich hoffe – für das deutsche Lesepublikum, ist die wunderbare Poesie von Nikos Engonopoulos (Dielmann Verlag). Außerdem war es ein hartes Stück Arbeit. Über zwei Jahre haben wir für diese paar Gedichte gebraucht. Das Komplizierte bestand darin, diese surrealistische Sprache im Deutschen wiederzugeben und ihr gleichzeitig diese originäre Leichtigkeit zu verleihen.

Sehr wichtig sind mir schließlich der höchst spannende »Kreta-Roman« (Insel Verlag) von Mikis Theodorakis sowie der einzige Roman von Seferis, »Sechs Nächte auf der Akropolis« (Suhrkamp Verlag), der im Athen von 1928 spielt. Jetzt merke ich gerade, dass ich in meiner Aufzählung weitermachen müsste, also höre ich an dieser Stelle auf.

Dielmann: Asteris Kutulas, dann wünschen wir Ihnen und uns und vor allem allen griechischen Autoren viele deutsche Leser. Und wir danken dir herzlich für das Gespräch!

Frankfurt am Main, 2001

Das Interview gab ich Axel Dielmann 2001. Es wurde vollständig veröffentlicht in der Zeitschrift Listen/ Rezensionszeitschrift, Heft 62, Frankfurt 2001 – aus Anlass der Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunkt Griechenland. A.K.

Konstantin Kavafis – Genealogie

Familie Kavafis

Konstantin Kavafis setzte sich über einen sehr langen Zeitraum seines Lebens mit seiner Familiengeschichte (Genealogie) auseinander und verwendete sehr viel Energie und Geduld auf die Studien bezüglich seiner Herkunft und seiner Vorfahren. Er beschäftigte sich mit dieser Thematik mindestens von 1882 bis 1911, ließ dann aber das zusammengetragene Material als unfertiges Dokument liegen, möglicherweise, weil er es zu einem späteren Zeitpunkt vervollständigen und vielleicht veröffentlichen wollte. Gegen letztere Hypothese spricht allerdings, dass Kavafis Informationen über sein Privatleben grundsätzlich nicht einmal an Bekannte und Freunde, geschweige denn an Dritte weitergegeben hätte. Insofern gleichen die gesammelten Notizen über seine Familiengeschichte eher einem Zettelkasten, den er womöglich später, nach 1911, wenn alle gewünschten Informationen beisammen gewesen wären, aus einem inneren Bedürfnis heraus, vervollständigt und geordnet hätte. Dazu kam es nicht. Das unfertige Manuskript der „Genealogie“ erschien 1948 in der Zeitschrift „Nea Hestia“ und 1983, zusammen mit allen anderen Angaben, in dem Buch von Karajannis, das mir als Arbeitsgrundlage diente.

Kavafis’ Notate zu seiner Familiengeschichte offenbaren nicht nur eine in Deutschland bisher unbekannte Seite des Dichters, sondern auch viel von der psychischen Verfassung des Menschen Kavafis. Bezeichnend sind die innige Beziehung zu seiner Mutter, die distanzierte Sicht auf den Vater und die fast beschwörerische und charakteristische Feststellung: „Aber meine Familie stammt aus Byzanz“. Bezeichnend ist außerdem der Satz, er kenne die türkische Bedeutung seines Namens nicht. Einige Kavafologen haben daraus den Schluss gezogen, Kavafis hätte dies in einem Anflug von Eitelkeit behauptet, da Kavafis im Türkischen „Schuhmacher mit nur gering entwickelten Fähigkeiten“ bedeute und im allgemeineren Sprachgebrauch auch Synonym für „unfertiger, niederer Mensch“ sei.

Charakteristisch sind auch die überschwänglichen Worte im Hinblick auf seinen Bruder, den „Erleuchteten“. Von all seinen Verwandten war dieser Bruder John derjenige, mit dem ihn die Liebe zur Literatur verband. John Kavafis veröffentlichte einen eigenen Gedichtband („Early Verses by John C. Cavafy“) und übersetzte viele Gedichte seines Bruders Konstantinos ins Englische. Im Kavafis-Archiv finden sich neun Hefte mit diesen Übersetzungen, sowie ein Briefwechsel der beiden Brüder zur Problematik des Übersetzens. Außerdem unterstützte John seinen Bruder jahrelang finanziell.

© Asteris Kutulas

Konstantin Kavafis Genealogie von Asteris Kutulas
Konstantin Kavafis: Familie Kavafis, Herausgegeben von Asteris Kutulas im Dielmann Verlag

Konstantin Kavafis Genealogie

Ich habe aus dem teilweise ungeordneten Material der Karajannis-Studie eine Auswahl getroffen und sie für eine deutsche Veröffentlichung in eine mir günstig scheinende Reihenfolge gebracht. Mir ging es darum, die Zeugnisse der wunderbaren Passion des Dichters – nach seinen Wurzeln zu suchen – dem Leser zugänglich zu machen:

Konstantin Kavafis, Familie Kavafis, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übertragen von Asteris und Ina Kutulas, Dielmann Verlag, Frankfurt am Main 2002

Hier daraus der Text über seine Mutter:

„Chariklia Fotiadis-Kavafis wurde 1835 in Genikioi geboren und heiratete mit 14 Jahren. Die ersten beiden Jahre ihrer Ehe verbrachte sie in Konstantinopel im Haus ihrer Schwiegermutter. Dieser Aufenthalt dort war für die junge Braut nicht sehr angenehm. 1852 zog sie zusammen mit ihrem Ehemann nach England. Auf dem Weg dorthin blieben sie längere Zeit in Paris, was die junge Frau sehr beeinflusste, die bis dahin nichts von der Welt gekannt hatte außer den Ort Peran. Sie und ihr Mann blieben für einige Monate in London. In Liverpool wohnten sie dann in der Bedford Street. Sie lebten ruhig und zurückgezogen, keinesfalls entsprechend den Bedürfnissen einer 18jährigen. Chariklia schloss nur wenige Bekanntschaften, wovon die engsten die mit Frau Skilitsis und Frau Rallis waren. Petros Ioanis engagierte Lehrer für seine Frau Lehrer, die Französisch, Englisch und Zeichnen lernte. 1854 oder 1855 ging sie mit ihrem Ehemann nach Alexandria, eine Stadt, die sich gerade zu entwickeln begann. Es gab erst wenige Europäer in der Stadt. Die griechische Gemeinde war damals schon die größte, und sie ist es noch heute. Die griechische Gemeinde zählte damals noch nicht mal 3.000 Mitglieder. Jetzt, 1903, hat sie mehr als 30.000. Das Leben der Stadt konzentrierte sich in der Gegend um den Großen Platz herum … In Alexandria ging es recht munter zu, zumal die meisten Neuankömmlinge erfolgreiche Börsianer und Händler waren. Tanzveranstaltungen und Bankette waren an der Tagesordnung. Chariklia Kavafis hatte ihren Einstand auf dem großen Ball von Herrn Pastres … Die Abkömmlinge dieser Familie – jetzt Comtes Pastre – leben in Paris … Die alexandrinische Gesellschaft sah in Chariklia Kavafis die schönste Frau der Stadt. Einige Fotos aus jener Zeit zeigen sie – trotz der damals recht problematischen Art und Weise zu fotografieren – als eine wirklich sehr schöne Frau. 

Als die Familie nach Alexandria kam, war Said Pascha der Vizekönig von Ägypten. Sein Nachfolger wurde Ismail Pascha, der in Kairo einen „europäisierten Hof“ unterhielt, und bei allen Veranstaltungen machte der Vizekönig Chariklia Kavafis den Hof und bot ihr oft auch seinen Arm.

Das Haus, das sie anfangs bewohnte, lag am Großen Platz. Dann zog sie um in ein Haus auf der Serif Pascha Straße, das 14 Zimmer hatte und wo sich die gute Gesellschaft Alexandrias traf. Jedes Jahr unternahm sie mit ihrem Ehemann Reisen nach Europa, und so besuchte sie die meisten Städte Italiens und Frankreichs. Sie besuchte auch Korfu und Malta.“ (Aus: Konstantin Kavafis Genealogie)

© Übersetzt von Asteris und Ina Kutulas

Konstantin Kavafis von Asteris Kutulas
Konstantin Kavafis

Matthias „Baader“ Holst & Peter Wawerzinek über Rockmusik, deutsche Texte und Schlager

Ein Gespräch, das ich mit „Baader“, einem sehr eigenwilligen und höchst talentierten Verrückten, und Peter Wawerzinek, einem anderen eigenwilligen und höchst talentierten Verrückten über die DDR, Rockmusik und Lyrik während der Wende-Zeit geführt hatte. Baader starb wie er gelebt hatte: er wurde einige Wochen nach diesem Gespräch im Morgengrauen eines feuchten Junitages in Pankow von einer Straßenbahn erfasst und erlag wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen.

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Matthias „Baader“ Holst & Peter Wawerzinek & Asteris Kutulas

„Aus dem Nichts heraus kommen, aus dem Nichts heraus was machen“

Gespräch über Rockmusik, Schlager und Lyrik, Frühjahr 1990

Asteris Kutulas: Wir wollen uns zunächst über „Rockmusik“ unterhalten, darum als erstes die Frage nach eurer Beziehung zu diesem Genre.

Matthias „Baader“ Holst: Ich hab in einer Punk-Band mitgemacht, bei „Den letzten Recken“. Und letztes Jahr noch ’ne Leibach-Variante: „Frigitte Hodenhorst Mundschenk“ als Sänger und Texter.

Peter Wawerzinek: Ich hab schon als Sänger, Texter und Schauspieler gearbeitet. Ich interessiere mich für Rockmusik, weil ich mal selber Sänger werden wollte. Und da musste ich erstmal sehen, was die anderen alle machen, damit ich das nicht auch mache. Außerdem habe ich mich nicht nur für Rockmusik, sondern auch für die Texte interessiert, damit ich das singen kann, was ich wirklich meine.

Kutulas: Was mir nach einigen Gesprächen aufgefallen ist: eure sehr eigene „Beziehung“ zur Rockmusik, also eigentlich zur Rockmusik in der DDR. Ihr habt eure Haltung zu dem, was ihr unter Rock versteht, und ihr habt eure Meinung zu dem, was andere darunter verstehen.

Holst: Auslöser unserer Diskussion waren vor über einem Jahr der Film „Flüstern und Schreien“ und die Rock-Texte, die ich von verschiedenen Gruppen gekriegt hab. Da war von vornherein so ein Abstand zu diesen Schallplatten, zu diesem modischen Kram. Der Abstand kommt aus einer natürlichen „Rockhaltung“, und auch, weil man vielleicht irgendwelche Sachen verteidigen will, die inzwischen eben in so ’nem ganzen Modekram untergegangen sind.

Kutulas: Das Wichtige an diesem Film über die Punk-Musik in der DDR war nicht so sehr, was die Musiker machen … klar, das spielt auch ’ne Rolle, dieses Lebensgefühl, sondern dass die Leute, die das hören, das als echtes Lebensgefühl annehmen.

Holst: Das war eben die Gefahr bei dem ganzen Ding. Wir kommen aus einer ganz anderen Generation als diese Siebzehnjährigen und haben den Punk vor zehn Jahren ganz anders erlebt. Da war das noch keine Mode, da war das noch keine Geschichte, da war nicht jeder Dritte Punk. Das ist ja auch in dem Film so, wo der eine sagt: „Ich seh aus wie ein Autonomer, aber ich bin kein Autonomer.“ Und ich seh aus wie ein Punk, aber ich bin kein Punk. Oder wie ’n Skinhead, aber bin kein Skinhead. Das ist so ’n Lebensgefühl. Und da kommen wir eigentlich schon aus ’ner anderen Richtung.

Wawerzinek: Also bei mir ist der „Hass auf die Rockmusik“ eher Neid. Weil: ich neide das den Leuten, dass die einfach mehr Publikum haben als ein normaler Lesender. Und das ist ’ne andere Sache. Da kann man dann wirklich Leute oder die Masse erreichen. Ich bin bloß nicht davon überzeugt, dass das irgendwie einen Sinn hat. Es ist schon ’ne Faszination da, wenn du vierhundert, fünfhundert oder tausend Leute vor dir hast, und du kannst ein, zwei Texte loskriegen. Deswegen stört es mich, dass diese Gelegenheit nicht genutzt wird, wenigstens zwei, drei Texte rüberzukriegen, die zeigen: dieser Meinung sind wir; sondern dass immer wieder Texte gemacht werden, die dem Publikum gefallen sollen. Deswegen glaube ich, wenn man irgendwie was nicht mag, dann sollte man sich richtig damit beschäftigen, dass irgendwas dabei rauskommt. Jemand hat mal gesagt: Du musst den Blues hassen, um guten Blues zu machen.

Holst: Man muss das im Zusammenhang mit den Texten sehn, die damals in der Zeitschrift „Temperamente“ abgedruckt worden sind. Wir kriegten stapelweise Rocktexte von diesen ganzen Bands. Das war echt erschreckend. Ich hatte die Meinung: na die Gruppen sind okay, gute Musik. Oder die Musik machte mich in dem Moment an. Aber die Texte gingen so: „Gorbi, Gorbi“ im Bogo-Rhythmus, „Gorbi, Gorbi ist die Hoffnung“.

Wawerzinek: Ich bin mit diesem Problem auch nicht klargekommen. Ich hatte nämlich die ganze Zeit das Gefühl, dass es bedauerlich ist, dass ich die Texte nicht verstehe, weil die Musik sie immer überschrie, und die kümmerte sich wenig um die Texte. Und ich dachte immer, das müsste zumindest rüberkommen, dass ich das auch verstehe. Dann hatte ich das plötzlich schwarz auf weiß vor mir, und dann saßen wir zu dritt (mit Baader und Mario Persch) zusammen und dann war gar nischt. Wo jeder genau wusste: Also, dazu brauch man gar nichts sagen, das ist so flach und so banal, dass ich jetzt sage: Ein Glück, dass man öfter die Texte nicht versteht!

Kutulas: Ihr sprecht jetzt vor allem über die sogenannten Neuen Bands, wie man sie vor zwei, drei Jahren in der DDR noch nannte. Interessant ist doch, dass jetzt international verstärkt Bands aus den Sechzigern ihr Comeback feiern. Das sind Bands, die eine „Message“ in den 60ern und Anfang der 70er hatten, als die Texte noch ’ne relativ große Rolle spielten, natürlich mit einem ganz anderen sozialen Background. Jetzt treten diese Bands wieder auf. Zum Teil mit neuen Songs, zum Teil auch mit den alten. Das Publikum setzt sich zusammen aus 30- bis 40- jährigen, die sich das leisten können, für 50, 60, 80 Mark ins Konzert zu gehen, aber auch aus vielen jungen Leuten. Seht ihr einen Zusammenhang zwischen den jetzt aktuellen Bands, egal, ob sie Disko, Punk oder Rap machen, und den alten Bands, die wieder im Kommen sind?

Holst: Das hängt mit dem Raum zusammen, in dem man lebt. Ich meine, es ist ja nun mal ein postmoderner Raum, in dem sich die Werte total verschieben und in dem es das gibt und das und das. Es gibt keine eindeutige Tendenz, dass man sagen könnte: in die Richtung gehts. Dass man sagen könnte: die Leute wollen eine Message. Also das ist, glaube ich, die Schwierigkeit, da jetzt ’ne Tendenz hinzukriegen und zu sagen: So ist es oder so. Und ich glaube, dass ein Teil der neuen Bands auch beeinflusst ist durch die 60er zum Beispiel. Dadurch verstärkt sich natürlich auch wieder diese Tendenz zur Message. Daß die Leute eben dastehen und wieder den Messias haben wollen.

Wawerzinek: Ich bin für jede Wiederentdeckung, also auch für jede Rückbesinnung, nur vermisse ich oft, dass dann das, was wirklich mal wichtig gewesen ist und was wirklich mal der gute Ansatz war, auch wiederentdeckt wird. Das bleibt meist bei solchen Dingen, die sich zu Wellen ausweiten, dann bleibt das wieder liegen.

Und mich interessiert am meisten der Zustand, wo sich Dichter oder Lyriker oder Texter mit anderen Musikern oder mit Malern oder mit Filmemachern zusammengesetzt haben und gemerkt haben: alleine nur die Texte rüberbringen, schafft nicht genug Raum, sie rüberzubringen. Und gesagt haben: Na, 20 Minuten, und dann ist die Aufmerksamkeit weg, bei Musik kannst du bis zu 20 Stunden und wenn es immer besser wird, noch länger. Und da gab’s ja verdammt viele gute Sachen in dieser DDR, auch in den 70er Jahren. Da ging es doch los.

1976 begannen Lyriker mit Musikern oder sogar allein zu spielen, nur, um wenigstens diesen Pegel der Aufmerksamkeit etwas anzuheben. Und wenn das in der Rückbesinnung irgendwie mal wiederentdeckt wird, was Tom die Roes, Sascha Anderson oder Papenfuß gemacht haben, dann sähe ich ein ganz kleines bisschen Hoffnung, dass diese leere Insel ausgefüllt wird, und dass man dann wieder mehr Strukturen hat. Bloß, ich vermute, dass das nicht so kommen wird.

Kutulas: Es ist vor allem im Westen viel über diese Aktivitäten in der ehemaligen DDR geschrieben worden. Und nicht zu vergessen sind ja auch die Maler, die sich sehr stark mit Musik, Film und Aktion beschäftigt haben. Ralf Winkler zum Beispiel hat auf vielen Schallplatten als Musiker gespielt. Oder Helge Leiberg, Frank Lanzendörfer, Johannes Jansen und viele andere. Und bei euch selbst ist es ja auch so, dass ihr Lyrik, Aktion und Musik zu verbinden versucht, immer wieder dieser Bezug zur Malerei, zur Fotografie. Warum braucht ihr noch eine andere Dimension? Als Abgrenzung zu den Bands, die auf die Bühne gehen und „Musik“ machen?

Holst: Weil es einfach eine Sache von verschiedenen Medien ist, die auch mit den eigenen Tendenzen zusammenhängen. Dass du eben Lust hast, jetzt mal zu malen oder meinetwegen Musik zu machen oder zu texten oder was anderes eben. Aber deswegen werden wir ja auch angegriffen, denn in dem Moment, wo wir nicht sensibel mit der Rotweinflasche am Herzen sitzen, haben die anderen Leute einfach den Verdacht: einer, der aktiv ist und der was auf der Bühne macht, ja, der muss einfach schlechte Texte machen oder der lenkt von seinem Text ab durch seine Aktion. Aber das ist nur ein Verdacht. Warum kommt keiner drauf, wenn sich ein sensibler Lyriker hinsetzt und seine Strohhalmgedichte irgendwie abstottert? Da sagt jeder: Na ja, gut, der macht das aber wenigstens, und das kann ich hören; der andere aber lenkt ab. Es gibt auch Leute, die einfach texten und zum Beispiel mit Musik irgendwas machen wollen, weil sie merken, dass die Wirkung stärker ist. Vielleicht ist es auch einfach eine Eitelkeit, daß man sagt: man kann damit Leute erreichen. Das sind ja alles Sachen, die dazukommen. Jedenfalls geht es mir so und bestimmt auch anderen: Wenn man in so einem Raum ist, dann fühlt man sich schon in einem Medium irgendwie eingeengt, oder man kann in diesem einen Medium nicht allein leben oder pipapo …

Und, klar, es scheint ein Verfall der Werte zu beginnen. Dadurch, dass der Raum offen ist, bist du erstmal anderen Provokationen ausgesetzt, aber du unterliegst auch anderen Einflüssen und hast damit natürlich ganz andere Möglichkeiten für deine eigenen Sachen.

Wawerzinek: Ich kann sogar für mich formulieren, dass ich es ablehne, für einen puren Literaten gehalten zu werden, für einen puren Sänger oder puren Clown oder Faxenmacher. Ich würde aber gern alles sein: Sänger, Schauspieler, Faxenmacher. Dann muss man mit den Musikern nämlich auch reden, damit man in deren Festlegung reinkommt. Die wollen ja dann Musiker sein, und dann haben die ganz bestimmte Vorstellungen. Wenn du jetzt wieder einen Musiker hast, der nicht nur ein Musiker sein will, dann kommt Zusammenarbeit auf. Dann geht das klar. Dann kann man es probieren, und dann hat es auch am meisten Spaß gemacht für beide oder für drei. Aber die Schwierigkeit, die ich in letzter Zeit gesehen hab und die auch jetzt nichts mit der Wende zu tun hat, war – und das sehe ich auch als Schwierigkeit demnächst noch –, dass man sich jetzt festlegen muss, welche Richtung man einschlägt. Angeblich ist alles möglich jetzt, und komischerweise engt das ein. Man besetzt Märkte, man will Marktlücken entdecken oder weiß der Teufel, was da die Gedanken sind. Und das behindert dann natürlich schon das, was du vorhin gesagt hast, dass nämlich plötzlich nicht jeder mehr seinen Charakter und seine persönliche Stimme nach außen trägt, an den Mikrophonen.

Holst: Weil nun wieder der Streit der Medien losgeht. Und da geht das wieder so, dass die Leute, die eben ihre dreitausend Fans haben, natürlich ganz andere Möglichkeiten haben als andere, die nur fünfzig Fans haben. Und das halte ich eben für eine Gefahr, gerade für die sogenannte „Underground“-Kultur; „underground“ ist aber kein guter Begriff … dass in so einem Raum eine Konkurrenz einsetzt, was ich nicht gut finde, weil man sich jetzt zur Zeit, also auch im Osten, gegenüber diesem ganzen Westquatsch absetzen und trotzdem auch mit den Einflüssen umgehen kann, und nicht darum kämpft, die sechste Gruppe von Ute Arne zu werden. Das kann nicht mein Ding sein. Ich kann doch nur versuchen, an meinem eigenen Ort, auf meinem eigenen Terrain, mit meinen eigenen Phantasien, Visionen, wie man das auch immer nennen will, was zu machen, damit umzugehen. Und nicht, dass ich versuche, mich zu integrieren. Das habe ich ja vorher auch nicht gemacht.

Es ist doch ein Unterschied, ob ich mich irgendwo einklinke und sage, das ist hier mein Raum … Denn mit 25 oder mit 30 oder mit 35 habe ich zumindest auch unter diesen Bedingungen in diesem Lebensraum und mit diesen Erfahrungen gelebt. Da kann ich nicht einfach umkippen, weil irgendwo da hinten jetzt ein Markt ist, wo ich irgendwie was machen könnte. Das ist halt falsch, wenn man versucht, das so für sich mitzunehmen und ’ne totale Umkehr macht. Das kann nur schiefgehen, wenn man jetzt dem Druck nachgibt und sich vornimmt: Ich will jetzt international sein, ich will jetzt über die Anklamer Straße hinauskommen. Völliger Blödsinn. Also, entweder ich mache das und es ist für mich ein natürliches Ding und ich lebe mit diesem Riss und diesen Provokationen, diesen Umsetzungen, oder ich lebe eben nicht drin. Aber immer mit diesem Druck leben … Ich halte das nicht für gut.

Kutulas: Schappi, du hast vorhin gesagt, dass es eigentlich darum geht, Text rüberzubringen …

Wawerzinek: Also, ich hab was zu sagen, und ich muss andere Medien nutzen. Ich will keine supergroße Zusammenarbeit anstrengen. Aber wenn es Musiker gibt, die mit mir was zusammen machen wollen, denen es aber piepegal ist, was da rüberkommt von mir und nur ihre Musik dazu machen, dann kann man die Zusammenarbeit auch abbrechen, die nicht stattgefunden hat. Und wenn das nur mit einem Maler ginge, dann muss ich mir eben den Maler suchen, mit dem es mir wirklich Spaß macht, das, was ich soundso zu sagen hab, in dieser Form rüberzubringen.

Kutulas: Könnte man das, was ihr macht, „Pop Art“ nennen, im Sinne von Papenfuß‘ „Pop Art Periode“, als er Konzerte gemacht hat und es ihm auf Kommunikation ankam? Sind eure Auftritte „Pop Konzerte“?

Wawerzinek: Letztendlich so, wie es nachher ankommt, sind sie zu dem geworden. Das kann man so sagen. Aber dieser Begriff … Ich nehm den mal so an, so heikel, wie er ist. Auch weil Bert Papenfuß das in einem Interview so benannt hat, weil es auch wirklich stimmt.

Nur, das andere Problem ist, dass ich Schwierigkeiten habe, meine Texte selber erstmal zu verstehen und dass ich das wirklich dann fast schon als Zumutung empfinde, wenn ich nun noch von anderen verlange, die sollen es auch noch verstehen. Aber jeder Auftritt mit einer Gruppe oder mit einem Musiker zusammen ist ein Versuch, mich selbst mehr zu verstehen, oder er wird zu einem Dilemma: dass ich zum Schluss gar nichts mehr verstehe. Und das andere: dass man dabei auch auf Entdeckung geht zu sich selber. Ich hätte mir zum Beispiel nie im Leben vorgenommen, Phonetik zu machen, aber vor tausend Leuten ist mir das plötzlich dann aufgefallen, dass man jetzt auch mal was Unverständliches sagen müsste, damit man endlich mal verstanden wird. Und dann habe ich irgendwelche „uet uet uet“ gemacht, also irgendwelche Geräusche, und plötzlich war das das, woran sich die Leute erinnerten. Da kam dann plötzlich irgendjemand zu mir und hat gesagt: Hier ist ein Mikrophon. Und dann noch jemand vom Rundfunk, und der hat dann gesagt: Wir machen Phonetik, und du bist uns empfohlen worden als der Phonetiker. „Lautgedichte“ hab ich da plötzlich gemacht. So ist das entstanden. Und da hat es auch seine Wirkung gehabt. Ich würde mich aber jetzt nie hinsetzen bei Kerzenschein und Rotwein, dann geht ein Lichtchen an, man wird vorgestellt und dann trägt man sein Gedichtchen vor. Denn für mich ist ja wichtig, dass man, wenn man sowas macht, nicht bloß sagt, was man sowieso zu sagen hat, sondern auch etwas, was man vorher gar nicht vermutet hat, dass es auch noch sagbar ist oder dass es aus einem rauskommt. Mario Persch von „Expander des Fortschritts“ hat das so gefasst, was ich gut finde: „Aus dem dem Nichts heraus kommen, aus dem Nichts heraus was machen“, das finde ich eine schöne Dopplung. Kannst du gleich als Überschrift nehmen, als Forderung und als Arbeitsmonogramm …

Holst: Das ist eigentlich die Möglichkeit, um noch mal zurückzukommen auf Konversation und das, was Papenfuß sagte, das ist schon die Chance, dass man, desto offener die Räume sind und je mehr Mut man hat, diese Räume zu betreten und auch auszuprobieren, man auch merkt, dass der Kreis diesen kommunikativen Charakter verstärkt.

Kutulas: Wir sind uns im klaren, dass es nun nicht um Kommunikation mit einer „Masse“ geht, sondern um eine mehr oder minder substantielle Kommunikation, die danach strebt, weg von drei Leuten hin zu fünfzig zu kommen … Ich wollte noch mal die Ebene klar benennen.

Wawerzinek: Also weg von drei?

Kutulas: Weg von „drei“, hin zu „fünfzig“ …

Wawerzinek: Nicht mehr als fünfzig …

Holst: Also, der Wahnsinn dieser Medien ist, dass es soundsoviel Medien gibt, die nur diese Kreise erreichen – das ist völlig klar. Es gibt eben nicht DAS Medium. Es ist klar, dass du mit Lyrik nicht mehr als fünfzig Leute erreichst. Das hängt auch mit dem Raum zusammen, in dem wir leben.

Wawerzinek: Wichtig ist auch irgendwie für mich, dem Vorwurf „Das kann ja jeder!“ durch Machen zu entkommen. Wenn das stimmt, dann muss man es machen, dann muss man alles machen. Aber das ist nicht das Ziel. Es ist viel produktiver, wenn einer zu dir kommt, und sagt, dass kann ja jeder, und du gehst dann los, und sagst: Na, werd ich mal sehen, ob ich’s kann, ob ich’s nicht auch machen kann. Farbe ranschmeißen an die Leinwand kann eigentlich jeder. Bloß, es macht nicht jeder. Am wenigstens die, die es dauernd den Leuten vorwerfen, dass es jeder machen kann. Die tun am wenigsten.

Kutulas: Wie ist eure Beziehung zum Schlager? Im Gegensatz zur Rockmusik, der sich mehr an eine „Gruppe“ wendet, richtet sich der Schlager (und die Disco-Musik als dessen Ableger für die Teenager) mehr an den „Einzelnen“. Wenn Adamo singt „Ich liebe Dich“, fühlt sich jede einzelne Frau persönlich angesprochen. Andererseits ist es nicht zufällig, dass im Rockkonzert versucht wird, ein gemeinschaftliches Hochgefühl beim zumeist jungen Publikum zu bewirken. Das will ich nicht bewerten. Es ist für mich nicht ’ne Frage von Bewertung, sondern von Funktionalität. Das ist etwas völlig anderes. Darum sprach ich von Adamo, der nicht fünfzig, sechzig oder hunderttausend meint. Der spricht jede Zuhörerin persönlich an.

Wawerzinek: In Wirklichkeit meint er vielleicht nur sich selber …

Kutulas: Das Gefühl habe ich eher bei euren Auftritten. Wenn ich an Konzerte von „Expander des Fortschritts“ oder von „Schappi und Baader“ denke, dann werde ich den Eindruck nicht los, ihr wendet euch weder an den Einzelnen, noch an eine Gruppe, Menge. Es ist eine seltsame Geschichte. Eigentlich wendet ihr euch nur an euch selbst.

Wawerzinek: Da sollte es hingehen. Ich fänd es wunderbar, wenn ich sagen könnte auf der Bühne: Seht mich an, ich liebe mich! – und es würde ein wahnsinniger Tanz nach dem Motto „Er liebt sich, er liebt sich“ oder „Er hasst sich, er hasst sich“ losgehen. Sie können ja auch abhauen. Aber wenn dann die Frage beim Zuschauer entsteht, wie ist das denn mit mir, liebe ich mich auch oder hasse ich mich auch, wenigstens wie der auf der Bühne, oder liebe ich mich anders, oder hasse ich mich anders. Dann hat was stattgefunden. Aber es findet nichts statt, wenn du sagst, du bist schön, ich liebe dich und jeder hört sich das an, dann wirds eben zu diesem komischen Phänomen.

Kutulas: Es ist tatsächlich ein seltsamer Widerspruch zwischen „Einfühlung und Abstraktion“, eine seltsame Ausgewogenheit, die durch den Umstand des „Produzierens“ hergestellt wird. Es ist, wenn ich an „Schappi und Baader“ denke, eigentlich ein schizophrener Zustand. Und wer setzt sich gern einem solchen aus – auch wenn er einem hilft, „sich selbst besser kennenzulernen“?

Holst: Das ist aber auch ’ne Frage der Identität. Ich meine den Vorwurf, den ich nicht als solchen verstehe, dass man in diesem Widerspruch eigentlich auch lebt, dass man weder den Einzelnen noch die Gruppe in irgendeiner Weise vertritt und wo natürlich die Frage der Identität ungeklärt bleibt. Also ich weiß nicht, wie Peter Alexander oder Adamo oder Bernd Klüwer dazu stehen, ob das nicht so ihr Ding ist, wenn sie sagen: „Ich liebe mich“ oder „Ich liebe dich“. Diese Pseudo-Einfühlung, die da passiert, hat natürlich ’ne ganz andere Richtung. Dadurch kriegt das Ganze einen kollektiven Wahn und kommt als pseudoindividualistisches Ding daher. Aber das ist so ’ne Sache, wo mehr die Plattenfirma oder der Raum was damit zu tun hat als Bernd Klüwer persönlich. Ich weiß nicht, ob Peter Alexander und die alle so starke Individualisten sind …

Wawerzinek: Das Verrückte an der ganzen Sache ist, dass die Leute meistens denken, es ist ein Glückszustand, wenn man eine Bühne und ein Medium hat, um irgendwas an die Massen zu bringen. Das ist nämlich eigentlich das Dilemma, ’ne Bühne zu haben und ein Medium und ein Mikrophon, und diese Schizophrenie können wir nicht auflösen, weil das alles schon da ist. Du wirst aber gewertet, wenn du auf einer Bühne stehst, nämlich, dass du es geschafft hast, auf der Bühne zu stehen. Aber anders kommst du an die Menschen nicht ran. Du kannst doch nicht ewig in ’ner Kneipe rumsitzen.

Kutulas: Für mich war eine wichtige Erfahrung, als ich Thomas Anders, den früheren Sänger von „Modern Talking“, auf einer Tournee durch die Noch-DDR als Tour-Manager begleitet habe. Die Jugendlichen, vor allem die Mädchen, haben geschrieen vor Begeisterung. Es schien, als wäre für viele dieses Konzert eine Art Höhepunkt in ihrem Leben – und das war sicher nicht nur den spezifischen DDR-Bedingungen geschuldet. Bei Peter Alexander oder bei Adamo tritt das sicher nicht so auf, aber gerade in der Disco und Popmusik, wo bewusst für Teenager produziert wird, erreicht die Identifikation ein wahnsinniges Ausmaß. Sie wollten Thomas berühren, wollten Sachen von ihm haben, kannten die Songs auswendig – für sie ist das ’n Lebensinhalt.

Wawerzinek: Bei uns tritt das in der Masse nicht auf. Bloß die Leute, die nach der Lesung kommen und sagen, es war toll, und die sogar stehen bleiben, bis du endlich aufgehört hast zu plappern und dann zu dir kommen, das sind dieselben Anfasser. Bloß, wenn so ’ne Masse auftritt, denkt man, das muss gut sein, das muss wahnsinnig gut sein, was auf der Bühne geboten wird.

Kutulas: Es gibt natürlich einen gewaltigen Unterschied.

Wawerzinek: Die Macher sollen den Nerv treffen, den vorbereiteten Nerv treffen. Es muss wieder Einer kommen, und dann kommt Er und dann ist Er da.

Holst: Es funktioniert wie das Aufbauen eines Politikers. Man soll sich doch nicht wundern, wo Millionen drinnen stehen, es ist völlig klar, da kann ich alles machen, weil ich ja auch die Inhalte verschieben kann, weil es in diesem Raum immer irgendwelche Leute gibt, die mit diesen Inhalten oder Nicht-Inhalten auch einfach spielen können. Du kannst immer jemanden aufbauen, und dann brauchst du ihn den Leuten nur jeden Tag reindonnern fünfmal am Tag, so, und dann sind die Höschen feucht – das ist auch okay, und dann kommt Thomas Anders, bringt 30 Hemden mit, und das Ding ist gelaufen, und dann sagen alle: Das is ’n wunderbarer Typ, der sagt, was ich denke – was ja unter Nichtdenkenden kein Problem ist. Der braucht die Folgen nicht zu tragen. Das ist ja auch ’n Unterschied, der kommt ja nicht als Individuum. Und das ist auch das Problem dieser ganzen Identität. Identität fängt nur dort an, wenn es etwas Namenloses ist.

Wawerzinek: Du siehst das ja bei Michael Jackson … Wie viel der sich umoperieren lassen muss, das ist doch nicht nur sein Interesse, bloß, weil er schön aussehen will, sondern weil er zu dieser Plastikpuppe werden musste, weil das Individuum nicht mehr interessiert … Bei Michael Jackson ist das für mich sogar erschreckend, was der jetzt noch so alles macht. Ich glaube, wenn ihm jetzt die Hintermänner sagen: Du musst jetzt langsam trauriger werden, du musst langsam Brüste kriegen, dann ist das zwar nicht sein Problem, aber er wird sich Brüste anschaffen, und er wird mit ihnen auf der Bühne wackeln, und alle werden kreischen … Nur, wenn das alles wirklich sein Problem wäre, dann hätte er noch wenigstens Glück gehabt in diesem ganzen Geschäft.

Holst: Dann hätte er natürlich keine Chance, weil nur mit Namenlosigkeit können Millionenauflagen erreicht werden. Du stehst oder sitzt auf der Bühne und bringst deine Traurigkeit rüber, dann ist es völlig klar, es würde dich keiner anhören – gut, fünf sind vielleicht betroffen. Ich meine: Wenn du dein namenloses Leid in die Gegend wirfst oder dein namenloses Glück – zum Beispiel „Herzen haben keine Fenster“ – kann jeder Idiot sagen, na wunderbar, das ist auch mein Lebensgefühl irgendwie.

Im Gegensatz dazu merkst du schon, wenn du dich im Underground bewegst – das ist schon irgendwo ein Rahmen, wo ’ne ganze Menge an Reibung und Tötung und Öffnung läuft, dass das schon nicht stimmt, also auch von der Direktheit her. Weil man sich schon täglich damit auseinandersetzt, seine täglichen Erfahrungen macht. Ich glaube, dass da ’ne Menge ablief. Eine Liebe ist es schon deswegen, weil es – ich will das nicht verallgemeinern – unter Druck entstand und viel direkter war. Ich weiß nur nicht, ob es wirklich auch das ist, was in der Vergangenheit war.

Wawerzinek: Ich komme nie ins Schwärmen beim Thema Underground. Ich glaube, es gab nie was, was sich jetzt beweisen müsste, dass es doch sowas gab. Das ist ja die aktuelle Forderung dieser Zeit: wirklich mir klarzumachen, es hat doch sowas gegeben. Es muss was gegeben haben, was Sascha Anderson heißt. Es muss was gegeben haben, was Papenfuß, Lorek usw. heißt. Was das überhaupt war. Ganz wissenschaftlich muss man das jetzt irgendwie machen. Ich hoffe, wenn sozial etwas mehr Schärfe reinkommt, dann wird die soziale Orientierung des Publikums stärker auf einen Dialog hinauslaufen.

Kutulas: Wobei der „Dialog“ durch den verstärkten Einzug der englischen Sprache sehr eingeengt wird. Die deutsche DDR-Rockmusik wird verschwinden. Nur wenige werden es sich leisten können, qualitativ gute deutsche Texte zu machen. Diese Ausnahmen gibt es natürlich. Aber die Bundesrepublik ist heutzutage das einzige europäische Land, in dem man das Radio einschaltet und nicht erkennt, dass man in Deutschland ist, da zu 95% nur englischsprachige Titel laufen. In allen anderen Ländern Europas ist das anders, von Griechenland, über Italien, Spanien, bis nach Frankreich und Schweden, wo zum Teil klare Quotenregelungen bestehen. Ich hoffe sehr, dass sich das auch in Deutschland ändert.

Wawerzinek: Weißt du, wie wichtig das dann wird, wenn mal einer deutsch singt. Ich würde das sogar positiv bewerten, wenn 95% nur Englisch machen, dann wird’s bei den restlichen 5% hier passieren müssen. Deshalb ist es wichtig, wenn mal wieder jemand auf deutsch singt, dass er dann aber auch weiß, dass ihm nur 5% gehören, und dann kann er sich so einen Schwachsinn nicht erlauben.

Kutulas: Oder es passiert das Gegenteil: Die deutschen Texte werden noch schlechter – wenn das möglich ist –, um zu bestehen, und die englischen werden das neue authentische Lebensgefühl wiedergeben …

Wawerzinek: Wenn du dich in England das erste Mal verliebt hast oder dich ein Mädchen aus England eingefangen hat, so dass es zu dir gehört, wenn du dich mit Mutter/Vater auf Englisch gestritten hast, dann werde ich es dir nicht übelnehmen, wenn du darüber auf Englisch singst. Aber wenn du damit nicht gelebt hast, dann ist das ja Anschiss. Dann stinke ich ab bei der Flachheit, die übernommen wird aus dem Sumpf der Klischees. Wenn man also keinen Anteil hat an dieser Sprache, dann empfinde ich das als Betrug.

Berlin, Frühjahr 1990

© Asteris Kutulas

Foto von Peter Wawerzinek © Asteris Kutulas 

Zeitschrift Sondeur (1990-91) – Bibliographie & Editorials

Das Inhaltsverzeichnis aller 12 Ausgaben (April 1990 bis März 1991) der Zeitschrift „Sondeur – Monatsboulevard für Kultur und Politik“:

SONDEUR Nr.1

Matthias Biskupek – Mürrische Rede. Unlust. Schnauze voll
Yury Winterberg – Wer hat Angst vor Markus Wolf?
Elisabeth Wesuls – Ärzte zum Schwangerschaftsabbruch 1990
Claudia Gehrke – Plädoyer für scharfe Schamlippen
Ulrike Zimmermann – Frauen und Pornografie
Adolf Endler – Bubi Blazezak und der Berliner Fernsehturm
Fritz Rudolf Fries – Wiederbelebung
Kathrin Schmidt – Der eben um die Ecke …
Heinz Czechowski – Dresden, 13. Februar 1990
Niemandsland DDR – Asteris Kutulas im Interview mit Rainer Fetting und Trak Wendisch
Steffen Mensching – Notate im November 1989
Fritz Rudolf Fries – Braucht die neue Republik neue Autoren?
Heinz Czechowski – Zur Situation von Literatur in der DDR
Lothar Trolle – Gerede eines alten Mannes
Peter Wawerzinek – Mudular Hans Müller
Matthias Holst – Ist es einfach, punk zu sein?
Elmar Jansen – Stadt-Bilder, Traum-Bilder
Uwe Kolbe – Über das Gelegenheitsgedicht
Mulack – Gitarre für Anfänger
K.-P. Schwarz – Die „NVA“, Böll & ich
Asteris Kutulas – Nachgestelltes Geleitwort

SONDEUR Nr.2

Freymuth Legler – President debilee
Claudia Gehrke – Pornografie/ Hinsehen oder Wegsehen?
Ulrike Zimmermann – Frauenschaulust und Gewaltpornos
Elfriede Jelinek – Schamgrenzen?
Barbara Frischmuth – Dünger für mein Augenfeld
Yury Winterberg – Denk ich an Keuschland in der Nacht
Matthias Biskupek – Wie ein DDRler jetzt sprechen lernen sollen müßte
Robert Rauschenberg – Wenn das keine Kunst ist, mag ich es (Interview)
Jurij Koch – Die Schmerzen der endenden Art
Ziemer-Jackisch – Akropolis Nr.13 (Reportage)
Fritz Rudolf Fries – Die Westmark fällt weiter. Eine Utopie?
Holger Jackisch – Über das Leipziger Literaturinstitut
Matthias Holst – chingachgook/ein ghetto voller petersilie
Peter Wawerzinek – In der Schwein Welt

SONDEUR Nr.3

Ulrike Zimmermann – Pornos und andere Filme von Frauen
Yury Winterberg – Verfolgte Randgruppen/Heute: Der Fleischer …
Thomas Rosenlöcher – Kreischbild mit Bundeskanzler
Horst Hussel/Lothar Trolle – Stoßgebet der Frau Pastorin
Matthias Biskupek – Wirklicher und Geheimer Rat in Tartu
Mikis Theodorakis – Für einen vierstündigen Arbeitstag
John Cage – Stille als Klangform des Dunkels (Interview)
Odysseas Elytis – Zur Collagen-Technik
Annemirl Bauer – Feminismus, Frankreich, Fandarole (Interview)
Matthias Flügge – Inseln, die nur eines tragen
Gert Neumann – Toccata
Kerstin Hensel – Welsch
Hans-Eckardt Wenzel – Die Entstehung des Marsches …

Asteris Kutulas, Sondeur
Redaktionssitzung der Zeitschrift SONDEUR: Ina Kutulas, Marina Bertrand, Tilo Köhler und Asteris Kutulas 1990 in Charlottenburg

SONDEUR Nr.4

Yury Winterberg – Sündimentale Reise in den Wilden Osten
Thomas Böhme – Leipzig-Abtnaundorf
Freymuth Legler – Reise in den Zwischenraum
Fritz Rudolf Fries – Shop kaputt
Lothar Trolle – Erinnerung an eine HO Gemüseverkaufsstelle
Hans-Eckardt Wenzel – Die vergessenen Dörfer Vorpommerns
Matthias Baader Holst – Wieder Berlin
Gerd Adloff – Café Wolff
Gregor Kunz – Bunte Republik (Äußere) Neustadt Dresden
Barbara Köhler – Dresden der klassische Blick
Thomas Haufe – zurück&kein zurück
Michael Wüstefeld – Meißen 1988
Matthias Biskupek – Mitten in der Rinde
Horst Hussel – Der Ort
Uwe Hübner – Länder oder Über die ewige Völkerwanderung
Thomas Rosenlöcher – Schaum
Annett Gröschner – Niederndodeleben
Till Sitter – Bin ich ein Schlüpfer-Fetischist?
Balduin Baas – Der grüne Penis
Sabine Kebir – … geschlechterfrieden?
Gudula Ziemer – Die Probe
Charlotte Oberwasser – Unter Blitzlicht
Doris Ziegler – Das Private, das Politische und die Malerei
Jan Skacel – Trennung
Heinz Czechowski – Dem Gedenken Jan Skacels
Andreas Hüneke – DAfDADAt? DAtDADAtDAf!
Johannes Baader – Brief an Johannes Schlaf (Erstveröffentl.)
Rainer Schedlinski – Das Sägen am eigenen Ast
Peter Wawerzinek – Hirn einschalten beim Schweigen

SONDEUR Nr.5

Bernd Nitzschke – Die Wut gegen Pornographie
Mircea Dinescu – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Wolfgang Kröber – Jämmerliche Kultur des Jammerns
Rainer Schedlinski – Was ist das Linke am Sozialismus?
Rabea Graf – Aus Postkarten meiner reiselustigen Freunde
Peter Wawerzinek – Abschied ist ein dunster Ort
Andreas Klich – Über Camburg
Barbara Köhler – Wieder Chemnitz
Angela Hampel – Vom Geheimnis im Bild (Interview mit Asteris Kutulas)
Eine Vergewaltigungsgeschichte oder Die Aggressionen der Kritiker
   Annett Gröschner – Maria im Schnee
   Freymuth Legler – Wer viel und laut übers Bumsen redet …
   Kerstin Hensel – Vor der Schlafzimmertür
   Tilo Köhler – Der Schrei um Hilfe
   Klaus Laabs – „Im Kopf eine verwüstete Landschaft“
   Elisabeth Wesuls – Neunmalklug ist auch wieder dumm
   Annett Gröschner – Anekdoten
Frank Lanzendörfer – techtels & mechtels
Peter Böthig – Subverstanden (Über F.L.)
Ina Kutulas – In einem dunklen dunklen Wald. Zu Lanzendörfer

Asteris Kutulas und Tilo Köhler
Die beiden Redakteure der Zeitschrift SONDEUR Tilo Köhler (rechts) und Asteris Kutulas bei einer Sondeur-Veranstaltung in Berlin Ende 1990

SONDEUR Nr.6

Stefan Heym – Rette sich wer kann
Gudula Ziemer – Was ich in Rom sah oder hörte
Mitch Cohen – I Tell Ya
Ursula Ziermann – Männer als Maschinen
Claudia Gehrke – „Das Sichtbare ist das Geheimnis“ (Interview mit Asteris Kutulas)
Charlotte Oberwasser – Die erogene Zone
Fritz Rudolf Fries – Cuba Libre mit viel Liebe in New York
Matthias Biskupek – Mitleid für die abgefederten Sieger
Stefan Heym – Ausstellungseröffnung
Peter Schönhoff – Georg Baselitz‘ Arschlöcher
Angela Hampel – Ich hört ein Sichlein rauschen … (Interview mit Asteris Kutulas)
Ines Eck – Wenn ich tot bin, warst Du es
Eva Bartsch – Die Chance, grenzenlos verkannt zu werden
Thomas Bischoff – Thesen zum (Theater-)Naturalismus in der DDR
Fritz Rudolf Fries – Miles Davis/ Die Autobiographie
Matthias Baader Holst – Old Shatterhand oder Die Wohnungsfrage

SONDEUR Nr.7

Tilo Köhler – Der Untergang des Abendlandbrotes
Klaus Rahn – Das Glas Marmelade
Detlev Opitz – Eva-Mania
Claudia Gehrke – Die inszenierte Lust der Frauen (Interview mit Asteris Kutulas)
Peter Wawerzinek – 14 Pornotizen
Yury Winterberg – Schreiben als Perversion
Stephan Ost – Die Rivalin im Teppich
Fritz Rudolf Fries – Die hohe Kunst der Korruption
Adolf Endler – Neues von Bubi Blazezak
Elke Erb – Ein Jahrzehnt mit Endler
Gert Neumann – Brief in die DDR

SONDEUR Nr.8

Robert Gernhardt – Triste Überdosis
Alban Nicolai Herbst – Börsenbrief (Literatur)
Milan Kundera – Das spannende Auge Gottes
Jannis Ritsos – Camera obscura
Eberhardt Häfner – Die Verelfung der Zwölf
Claudia Gehrke – Der verpönte Blick (Interview mit Asteris Kutulas)
Gala Breton – Die Ostmuschis kommen
Peter Brasch – Die Entgleisung
Branko Cegec – Melancholische Annalen
Yury Winterberg – Der Hauptmann im Triebkrieg/ A. Stramm
Wolfgang Opitz – Ralf Winkler und die Sechziger in Dresden (Interview mit Asteris Kutulas)
Jan Faktor – Ein Satz zu Adolf Endlers Schichtenflotz
Horst Hussel – 6 Briefe an Herrn S.
Mitch Cohen – Papierflieger
Heinz Czechowski – Früher/ Drei Texte
Gert Neumann – Eröffnungstext

Sondeur, Asteris Kutulas
Sonder-Lesung mit Peter Böthig, Fritz Rudolf Fries, Gala Breton und Asteris Kutulas, 1990 in Berlin

SONDEUR Nr.9

Lothar Trolle – Frau Minister mit besonderen Aufgaben
Jose Ortega y Gasset – Das zweigeteilte Deutschland
Rainer Schedlinski – Der dogmatische Schlaf der Vernunft
Friedrich Kröhnke – Eine letzte Satire
Hermann Nitsch – Ich bin kein Instinkttäter
Jannis Ritsos – Nach dem Ende / 3 Texte
Jörg-Michael Koerbl – Jugenddivision „Onanierende Zukunft“
Reinhard Jirgl – Tantalos an der Götter Tafel
Yury Winterberg – Vom Inzest mit Gehirntieren (Schmidt)
Autonome Huren – Besuch aus dem hohen Norden
Alban Nicolai Herbst – Deutsche Literaturbörse: Dezemberbrief
Cornelia Sachse – before LISA in america
Alain Jadot – Nicht übertragbar
Elke Erb – Brief aus der DDR
Die Redaktion – Danksagung

SONDEUR Nr.10

Peter Wawerzinek – Her mit dem nächsten Krawall
Christoph D. Brumme – Liquidationen
Alban Nicolai Herbst – Literatur-Börse: Gutes für Vergehendes
Volkmar J. Zühlsdorff – Partei fürs geliebte Deutschland
Tilo Köhler – Mit dem Rücken zur Wand, die es nicht mehr gibt
Domenico Zindato – Pastone und Broda
Zdravko Kecman – Nächtliche Lieben der Spinnenfrau
Koeppen/Wawerzinek – Akt-Kalendarium 1991
Peter Böthig – Ein Wanderer und sein Licht-Schatten
Matthias Baader Holst & Peter Wawerzinek & Asteris Kutulas – Die zappelnden Versfüße Michael Jacksons (Gespräch)

SONDEUR Nr.11

Berthold Dirnfellner – Geld
Stefanie Menzinger – Geldgeld
Gala Breton – Happy Week-End
Alban Nicolai Herbst – Börsenbrief Februar 1991
Yury Winterberg – Motz-Art lebt
Axel Dielmann u.a. – Franco Fantis Verzweigungen
Nenad Popovic – Freund Watson
Werner Heiduczek – Bitterfelder Wegelagerer
Fritz Rudolf Fries & Uwe Grüning – Streitgespräch
Ralf Winkler – Manifest 1971
Harald Gallasch – Das Unvorstellbare
Wolfgang Opitz – Die Dresdener „Lücke“ (Interview mit Asteris Kutulas)
Mitch Cohen – Ohne Eine

SONDEUR Nr.12

Konstantinos Kavafis – Notate
Heinz Czechowski – Das Zwingende
Gabriele Gabriel – Schießstandrecht
Michael Wüstefeld – Abbau einer Losung
Adolf Endler – Wiedererweckung
Peter Wawerzinek – Moppel Schappik
Horst Hussel – Damengespräch
Thomas Rindsfüsser – Depression
Ulrich Preuss – Ein Tag im Leben der Mama
Jannis Ritsos – Erwachen
Elke Erb – Russische Symbolisten
Sinaida Gippius – Dem Dichter
Annenski – Nerven
Alban Nicolai Herbst – Börsenbrief/Hundstod
Gert Neumann – Produktionsgewässer
Peter Brasch – Hämorrhoide im Kopf
Asteris Kutulas/Thilo Köhler – Editorial

SONDEUR. Monatszeitschrift für Kultur und Politik
Herausgegeben und produziert von Asteris Kutulas
Redaktion: Tilo Köhler, Ina Kutulas, Marina Bertrand, Andre Kahane (Artwork), Jannis Zotos, Asteris Kutulas (Chefredakteur)

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NACHGESTELLTES GELEITWORT
der ersten Ausgabe (1990)

Zahllose Gründe sprechen gegen das Projekt. Galt noch bis vor kurzem das LESEN in diesem Teil Deutschlands – zumindest bei den wachgebliebenen seiner Bewohner als TUGEND –, so dürfte heut kaum mehr damit gerechnet werden: das Schauen, das Hören, das Streiten, das Reisen, das Debattieren, das Demonstrieren …! Wenn schon gelesen wird, dann Kurzgebratenes: schnell zur persönlichen Tagesordnung übergehen, denn die fordert gebieterisch den ganzen Mann. Die ganze Frau. Ganze Kinder gar: Auf alle, alle! und jeden zielen die Strategien der Neu- und Altverleger: West-östliche Diwane en gros, ganz andere Andere Zeitungen, reformierte Freie & Junge Welten, neue Neue Deutschlands, Wir in Leipzig und Uns in Mecklenburg, von all dem nicht zu reden, was noch kommen wird, Popos aus Jamaica und Rezepte vom Vater Rhein, Strickereien von Burda und Krenz ganz im BILDe, alles zielend auf IHN: den LESER. Wer aber ist der? Steckt in wessen Anzug und denkt in wessen Kopf? Irgendwo zwischen Neugersdorf und Jerichow II soll es ihn geben. Aber: er will gar nicht, der gute. Mag nicht mehr lesen. Warum auch. Vierzig Jahr gelesen und nichts gewesen. Für DIE Spesen – lieber am Tresen. Solange es dort noch wohlfeil zugeht. Apropos und überhaupt: vier Mark so’n Blatt! Woll’n wohl durchhalten. Woll’n wohl ihren Autoren gute Honorare zahlen. Autoren scheinen ihnen überhaupt wichtig zu sein, stehn sogar vorne drauf. Im übrigen irgendwie fremdländisch das Ganze, nicht wundern, wenn Onassis Aktien bei TANTALUS, na denn …

Ein angeschlagenes Schiff driftet längs der drohenden Brandung, die arg geschrumpfte Besatzung schwankt zwischen Lethargie und Renitenz, der Erste Offizier hat sich erschossen, der Smutje nurmehr Salzfleisch und Zwieback im Angebot, Bootsmann und Steward schmieden Ränke, der Zweite Offizier mit dem Beiboot getürmt, der übernächtigte Kapitän weiß, dass seine Tage gezählt sind, träumt von blühenden Geranientöpfen und hört kaum mehr im Halbschlaf die Rufe dessen, der weit über den Bugspriet gelehnt, das Lot wirft, der Mann heißt: SONDEUR.

Asteris Kutulas

Sondeur von Asteris Kutulas

EDITORIAL
der letzten (zwölften) Ausgabe (1991)

Mit dem tatsächlichen Erscheinen der Nummer 12 unseres Monatsboulevards haben wir nunmehr einen Status erreicht, den selbst Zuversichtlichere als wir nur schwerlich für ertrotzbar hielten: wir sind wieder ein Jahr älter geworden.

Zugleich kann hiermit der erste vollständige Jahrgang unseres galanten Almanachs durch jedermann besichtigt werden; Anlass auch für eine gelassene Rundschau unsererseits, deren Heiterkeit dem Unernst der Stunde angemessen bleiben soll. Denn SONDEUR stellt mit diesem Heft 12 sein regelmäßiges Erscheinen als Monatszeitschrift ein. Getreu unserer ersten Selbstdefinition als Literatur der k & k (Kutulas & Köhler) waren unsere Intentionen von Beginn an nicht auf expansive, sondern eher untergehende Phänomene gerichtet, denen wir mit „Sondeur“ ein gewiß nicht ungefälliges hinzugesellt zu haben hoffen.

Solcherart ist „Sondeur“ ein Kind des Übergangs, vielleicht sein schönstes gewesen. Kein Kind der Aufklärung mithin, wohl aber eines mit dem unverwüstlich provinzialischen Charme deutscher Spät- und Postromantik. Und da es bekanntlich für diese kein unschuldigeres Motiv gibt als den sanften Hingang eines schönen Kindes, übereignen wir „Sondeur“ hiermit dem unerschöpflichen Fundus der Literaturgeschichte, in der um zwei Jahrhunderte zu früh aufgetaucht zu sein in der Natur ernst zu nehmender Abschiede seit ebenso langer Zeit gründen mag.

Asteris Kutulas & Tilo Köhler

Sondeur von Asteris Kutulas

Bizarre Städte: Unabhängige Zeitschriftenpublikation in der DDR (1987-1989), herausgegeben und produziert von Asteris Kutulas / Redaktion: Ina Kutulas, Johannes Jansen, Gerd Adloff, Gregor Kunz, Thomas Haufe, Asteris Kutulas (Chefredakteur)

Sondeur: Monatszeitschrift für Kultur und Politik in der Nachwendezeit (1990-1991), herausgegeben und produziert von Asteris Kutulas / Redaktion: Tilo Köhler, Ina Kutulas, Marina Bertrand, Andre Kahane (Artwork), Jannis Zotos, Asteris Kutulas (Chefredakteur)

Mikis Theodorakis Werkverzeichnis / Catalogue of Works

[Einleitung zum Theodorakis-Werkverzeichnis auf Deutsch: siehe unten.]

Asteris Kutulas | Αστέρης Κούτουλας
MIKIS THEODORAKIS: CATALOGUE OF WORKS |  WERKVERZEICHNIS | ΕΡΓΟΓΡΑΦΙΑ ΜΙΚΗ ΘΕΟΔΩΡΑΚΗ

English version prepared by © Gail Holst-Warhaft
*AST numbers refer to the original catalogue of Theodorakis’s works (1937-2010) compiled in Greek by © Asteris Kutulas
*** *** ***
AST 1
[FIRST MUSICAL NOTEBOOK]
„Collection of songs composed by Mich. G. Theodorakis“
Songs
2 Romances for harmonica
Patras, 1937
AST 2
[SECOND MUSICAL NOTEBOOK]
Songs
„In two parts: Four songs about religion and homeland. Eight songs concerned with nature and life.“
Poems by Michalis Stassinopoulos, Georgios Drossinis, Martzounis, Kostis Palamas, A. Valaoritis, Sp. Damiratos
12 songs
Patras, 1937-38
First performance (selections): Athens, 1993
Opus 1
AST 3
[SONGS FOR YOUNG AND OLDER CHILDREN] (TRAGOUDIA GIA PAIDAKIA KE PAIDIA)
Songs
Poems by Kostis Palamas (5), Michalis Stassinopoulos (2), Georgia Deliyannis, Georgios Drosinis, Odysseas Elytis, Aristotelis Valaoritis, Dionysios Solomos (2), Metastasio (Solomos), Charis Sakellarios, Angelos Vlachos, Grigoris Konstantinopoulos (2), Lorentzos Mavilis, Kostas Hatzopoulos, Aristotelis Valaoritis, Fotis Angoules, P. Granitis, Vassilis Rotas (3), Alekos Fotiadis, Nikos Maragoudiakis (3), Antigone Metaxas & Mikis Theodorakis
35 songs
Patras and elsewhere, 1937-52
First performance (selections): Athens, 1994
First recording: POLYGRAM, 1994
AST 4
[THIRD MUSICAL NOTEBOOK]
Songs
„Musical compositions by M.G. Theodorakis – 3rd form high school student“
Poems by Aristotelis Valaoritis (3), Georgios Drosinis (3), Georgia Deliyannis, T. Trofonopoulou, Kostis Palamas, Ap. Kalogira & Mikis Theodorakis (2)
21 songs
Pyrgos, Patras, Tripolis, 1939-40
First performance (selections): Athens, 1993
First recording: POLYGRAM, 1994
AST 5
[SMALL PIECES FOR VIOLIN] (including sketches)
Violin
19 pieces
Pyrgos and Tripolis, 1939-43
AST 6
[DISPERSED SONGS, 1939-1958] (SKORPIA TRAGOUDIA)
[Anthology no. 1]
Songs
Poems by Kostis Palamas (3), Dionysos Solomos (7), Yorgos Kouloukis (2), Kostas Hatzopoulos (2), Aristotelis Valaoritis, Heinrich Heine, Ioannis Gryparis (2), Labros Porfyras, Angelos Vlachos, A. Klias, Fotis Angoules, Sofia Mavroidis-Papadakis, Kostas Kalatzis, William Shakespeare, Nikos Maragoudiakis (2), Michalis Katsaros, Antigone Metaxas (2) & Mikis Theodorakis (12)
Voice and piano
85 songs
Pyrgos, Troplis, Athens, Ikaria, Makronissos, 1939-58
First recording (selections): Athens, 1993
Opus 2
AST 7
SONGS OF EXILE 1 (TIS EXORIAS A’)
Song Cycle
Poems by Panos Lampsidis & Mikis Theodorakis (2)
3 songs
Pyrgos, Ikaria, 1939-1948
First recording: MINOS, 1976
AST 8
ECCLESIASTICAL CANTATAS (including sketches)
Choral – Ecclesiastical
23 pieces
Tripolis, 1940-43
First performance: 1942-43 Church of St. Barbara, Tripolis (selections)
First recording: MINOS, 1978 (selections)
AST 9
[SMALL PIECES FOR PIANO] (including sketches)
Piano solo
23 pieces
Tripolis and Athens, 1940-43
AST 10
HYMN TO GOD [unfinished]
Choral
[Also exists with the titles: THE LORD and GOD]
For four-part chorus, harmonic accompaniment
First performance: Tripolis, 1942
AST 11
SONATINA FOR PIANO
Piano solo
„Dedicated to Dora Apostolakou“
3 movements
Tripolis, 1942 – Athens, 1943
First performance: Tripolis, 1942
AST 12
RECOLLECTIONS (ANAMNISIS)
Piano solo
„Work for piano dedicated to my poet friend George Kouloukis“
5 pieces
Tripolis, 1942
AST 13
SORROWFUL NATURE (THLIMMENI PHYSI)
Song Cycle
Poem by Mikis Theodorakis
For voice and piano
Tripolis, circa 1942
 (lost)
AST 14
CHORAL PIECES (CHORODIAKA)
Choral
Poems by Angelos Vlachos, Dionysos Solomos, Ioannis Gryparis & Mikis Theodorakis
For mixed and all-male choir
5 pieces
Tripolis, Athens, 1942-46
[arrangement for mixed choir (1976) = AST 229]
Opus 3
AST 15
TROPARION KASSIANIS
Choral, Ecclesiastical
For four-part male choir
[arrangement for mixed choir (1983) = AST 257]
Tripolis, 1943
First performance: Church of St. Barbara, Tripolis, 1943
First recording: MINOS, 1978
AST 16
SYMPHONY NO. 1
Symphonic
Poem by Mikis Theodorakis
For narrator, double string orchestra and four-part mixed choir
9 parts
Tripolis, Athens, 1943-45
AST 17
FANTASY (FANTASIA)
Piano Solo
„In the style of Beethoven On a theme from the 5th Symphony“
Athens, 1943-44
AST 18
HYMN [incomplete]
Choral
For string orchestra and four-part mixed choir
3 parts
Athens, 1944
AST 19
FIVE SAILORS (PENTE NAFTES)
Song Cycle
Poems by Photis Angoules & Mikis Theodorakis (2)
For Voice and Piano
3 songs
Athens, 1944-45
[New arrangement (1957) = AST 107]
First performance: Athens, 1945
AST 20
LITTLE SYMPHONY (MIKRI SYMPHONIA)
(Inspired by Prometheus Bound)
Symphonic
For string orchestra
3 movements
Athens, 1945
Opus 4
AST 21
EXERCISE (ASKISI)
(Study for Two Violins)
Chamber Music
„On a free development of a theme for two violins“
7 movements
Athens, 1945
First performance: Athens, 1945
AST 22
ANDANTE [sketch]
Chamber Music
For cello and piano
Athens, 1945
AST 23
ELEGY I
Chamber Music
For cello and piano
Athens, 1945
AST 24
ELEGY II
„On the Death of the Freedom-Fighter“
Chamber Music
Athens, 1945
For violin and piano
3 movements
First performance: Athens, 1945
AST 25
THE CEMETERY (TO KIMITIRIO)
Symphonic
Poem by Dionysios Solomos
For choir and string orchestra
Athens, 1945
[Arrangement for string quartet (1946) = AST 30]
[Arrangement for small orchestra and choir (1949-50, incomplete) = AST 60]
First performance: Athens, 1945
AST 26
THEATRICAL SONGS [incomplete]
Music for Theatre
Poem by Vassilis Rotas
For chorus, oboe or cor anglais, flute, two cellos and percussion
7 parts
Athens, 1945
AST 27
FOUR PIECES FOR DECEMBER
Chamber Music
Poem by Mikis Theodorakis
Athens, 1945
[Arrangement for string orchestra (1946) = AST 34]
First performance: 1946
AST 28
STRING QUARTET
Chamber Music
4 movements
Athens, 1946
AST 29
DUET [sketch]
Chamber Music
For two violins
Athens, 1946
AST 30
THE CEMETERY
„To Argyris Kounadis“
Chamber Music
5 movements
Athens, 1946
Arrangement for string quartet [see AST 25 & AST 60]
First performance: Athens, 1946
AST 31
LOVE AND DEATH
„Four songs for Myrto“
Song Cycle
Poem by Mikis Theodorakis (2) & Lorentzos Mavilis (2)
For voice and piano
4 songs
Athens, 1946-48
[Arranged for voice and string orchestra (1955) = AST 94]
[Arranged for choir (nos 1 & 2, 1983) = AST 261]
[Arranged for 8-voice choir (no. 3, 1983) = AST 262]
First performance: Athens, 1952
AST 32
PROMETHEUS BOUND
Symphonic
Athens, 1946
First performance: Athens, 1952
Opus 5
AST 33
MARGARITA
Symphonic
„Symphonic poem“
Poem by Nikoforos Vrettakos
For symphony orchestra, choir and recitation
4 movements
Athens, 1946
[Transcription for piano = AST 39]
First performance: Athens, 1977
AST 34
FOUR PIECES FOR DECEMBER
Symphonic
Arrangement for string orchestra
Athens, 1946
[see AST 27]
AST 35
THE FEAST OF ASI-GONIA
„Cretan Piece“
Symphonic
For string orchestra
3 movements
Athens, 1946
[„Symphonic Scherzo“ – arrangement for large orchestra (1947) = AST 38]
[Transcription for piano four hands (sketch) = AST 48]
AST 36
[SYMPHONIC WORK]
Symphonic
For large orchestra
Athens, 1946-7
AST 37
PASSACAGLIA (Adagio)
Chamber Music
For violin and piano
Athens, 1946 (?)
AST 38
THE FEAST OF ASI-GONIA [Sketch]
Chamber Music
Transcription for piano four-hands
1946 (?)
[See AST 35 and AST 48]
AST 39
MARGARITA
Piano Solo
Arrangement for piano
1946 (?)
AST 40
CHILDISH DREAM (PAIDIKO ONIRO)
Piano Solo
For piano
Athens, 1947
Opus 6
AST 41
TRIO
Chamber Music
For violin, cello and piano
„Dedicated to Tatsi Apostolidi“
4 movements
Athens, 1947
[Transcription for wind orchestra = AST 45 and AST 46]
First performance: Athens, 1952
First recording: MOTIVO, 1986
Opus 7
AST 42
SEXTET
Chamber Music
For piano, flute and string quartet
[Title in original sketches: „SYMPHONY“]
3 movements
Ikaria and Athens, 1947
First performance: Athens, 1952
As „SYMPHONIETTA“: Melbourne (Australia), 1995
AST 43
THEMES AND CYCLES (THEMATA KE KYKLI)
Symphonic
For large orchestra
Athens, Makronissos, Athens Military Hospital, 1947-9
Opus 8
AST 44
PRELUDES (PRELUDIA)
Piano Solo
For Piano
11 Preludes
Athens, 1947
First performance: Athens, 1952
First recording: PHILIPS 1985
AST 45
SUITE FOR WINDS AND PIANO
(Allegro Vivace)
Sketch
Ikaria, Summer 1947
Opus 9
AST 46
SUITE FOR PIANO, WINDS AND PERCUSSION
Ikaria, 1947
Opus 10
AST 47
(GREEK) CARNIVAL (ELLINIKI APOKRIA)
Ballet suite for orchestra
August, 1947 – 12.5.1953
First performance: Athens 15.11.53, KOA, Conducted by Andreas Paridis
First Ballet performance: 14.3.54, State Opera Rome, Greek Chorodrama
Choreography: Rallou Manou
[See „Le Feu aux Poudres“ = AST 117]
[See „Zorba il Greco“ = AST 281]
First recording: EDA, 1964
Edinburgh Symphony Orchestra
Opus 11
AST 48
THE FEAST OF ASI-GONIA
Symphonic
„SCHERZO SYMPHONICO“ –
Arranged for large orchestra
Athens, 1947
[See AST 35 and AST 38]
First performance: Athens, 1950
Opus 12
AST 49
SYMPHONY IN THREE MOVEMENTS
Symphonic
„For Philoctetes Economides. My revered and beloved teacher“
Athens and Ikaria, 1947-48
First performance: Athens, 1952
AST 50
OEDIPUS TYRANNUS
Symphonic
Ode for string orchestra – First version
Athens, 1948
[„Final version“ 1956-58 = AST 103]
AST 51
SPRING (ANIXI)
Chamber Music
For string orchestra
Athens, 1948
AST 52
„INTRODUCTION“ („ISAGOGI“)
Symphonic
For symphony orchestra
Ikaria, 1948
Opus 13
AST 53
ELEGY AND THRINOS FOR VASSILIS ZANNOS
Symphonic
For large symphony orchestra
Ikaria, Makronissos, Alexandroupolis and Chania, 1948-51
First performance: Makronissos (Adaptation for mandolin and guitars)
Athens, 1952 (Orchestral version)
Opus 14
AST 54
FIRST SYMPHONY
Symphonic
For large orchestra
Ikaria, Makronisson, Chania, Athens, 1948-53
3 movements
First performance: Athens, 1955
First recording: DELTA, 1972
Second Recording: INTUITION/WERGO/WERGO, 1996 (Conducted by Mikis Theodorakis)
AST 55
STUDY FOR VIOLIN AND CELLO
Chamber Music
Ikaria, 1948
AST 56
MAYPOLE (GAÏTANAKI) [sketch]
(poco allegro)
Piano Solo
Small suite for piano
Ikaria, 1948
AST 57
PRELUDE – STRUMMING – DANCE (PRELUDIO – PENIA – CHOROS)
Symphonic
For string orchestra, celeste, triangle and two tympanum
Ikaria, 1948-9
[Arrangement for piano four hands (1950) = AST 63]
First performance: 1950 (?), Athens
AST 58
STUDY FOR STRINGS
Chamber Music
For two violiins and ‘cello
Ikaria, 1949
AST 59
TENT E 5 – YARD D (SKINI E 5 – KLOVOS D) [sketch]
(Andante espressivo – in two slow movements)
Symphonic
For symphony orchestra
Makronissos, 1949
AST 60
THE CEMETERY [unfinished]
Symphonic
Poem by Dionysios Solomos
Arrangement for small orchestra and chorus
3 movements
Ikaria and Thessaloniki, 1950
[See AST 25 and AST 30]
Opus 15
AST 61
SUITE No. 1
Symphonic
For piano and orchestra
5 movements
Crete and Paris, 1949-55
First performance: Athens, 1957
First recording: COLUMBIA, 1963
AST 62
FIVE SOLDIERS (PENTE STRATIOTES)
Symphonic
„Symphonic Poem“
For voice and orchestra
Poem by Mikis Theodorakis
Athens, 1950
[Arrangement for voice and piano (1957) = AST 106]
[Arrangement for baritone, male choir and orchestra as SUITE No. 4 (1958) = AST 115]
AST 63
PRELUDE – STRUMMING – DANCE
Piano Solo
Arrangement for piano four hands
Athens (?), 1950 (?)
[See AST 57]
AST 64
THE EAGLE (O AETOS) [unfinished]
Symphonic
Crete, 1951 (?)
AST 65
FOLK THEMES (DIMOTIKA THEMATA) [sketches]
Songs
4 Folk songs
Athens and Chania (?), 1950 (?)
AST 66
FIVE CRETAN SONGS
Symphonic
Lyrics: Folksongs
For solo violin, choir and string orchestra
Chania, 1951
First performance: Crete, 1951
AST 67
SYRTOS DANCE FROM CHANIA (SYRTOS CHANIOTIKOS)
(Allegro Vivace)
Symphonic
For piano and orchestra
[Arrangement for piano and percussion (1952) = AST 70]
Chania, 1952
First performance: Crete, 1951
AST 68
LAMBROS [melodic sketches for opera]
Songs
Lyrics by Dionysios Solomos
4 songs
Athens, 1951
AST 69
CONCERTO FOR PIANO AND ORCHESTRA („Helicon“) [fragment]
Symphonic
Athens, 1952
Opus 16
AST 70
SYRTOS DANCE FROM CHANIA (Allegro Vivace)
Chamber Music
„For Michailis Katsaros“
Athens, 1952
Arrangement for piano and percussion
[Arrangement for piano and orchestra (1952) = AST 67]
First performance: Athens, 1952
AST 71
[MANOS KATRAKIS’S POETIC EVENINGS]
Musical Accompaniments
For viola, clarino, santouri and percussion
4 movements
Athens, 1952
First performance: Athens, 1952
AST 72
ORPHEUS AND EURYDICE
Ballet Music
Lyrics by Notis Pergyalis
For string orchestra and chorus
9 parts
Athens, Chana, 1952
[Arrangement for piano (sketch, 1952) = AST 73]
[As a variation entitled LOVE AND DEATH (1956) = AST 102]
First performance (music only) : Athens, 1952
As a ballet: Mycene, 1952
Choreography: Rallou Manou
AST 73
ORPHEUS AND EURYDICE [sketch]
Piano Solo
Arrangement for piano
Athens, 1952
[See AST 72 and AST 102]
Opus 17
AST 74
DESERTERS (LIPOTAKTES)
Songs
4 Poems by Yannis Theodorakis
Chania, 1952 (?)
[Reworked as a song cycle (1960-61) = AST 138]
Paris, 1957
[Orchestral arrangement for popular and symphonic instruments (1979) = AST 242]
[Arrangement for choir (1983) = AST 259]
Opus 18
AST 75
SONATINA NO. 1
Chamber Music
For violin and piano
3 movements
Athens, 1952
[Arrangment for piano (unfinished, 1952-53) = AST 77]
[New arrangement as SONATINA FOR PIANO (1955) = AST 99]
First performance: Athens, 1953
First recording: FIDELITY, 1960
AST 76
THE MAGIC FLUTE (I MAGIKI FLOGERA)
Musical Accompaniment
Sketch for radio broadcast, Athens, 1952
Sketch by Rita Boumi-Papa
First performance: Athens, 1952
AST 77
SONATINA No. 1
Piano Solo
Arrangement for piano, Athens, 1952-3 (?)
[See AST 75 and AST 99]
AST 78
THEME AND VARIATIONS ON POEMS BY CAVAFIS [sketch]
Chamber Music
Recitation accompanied by orchestra (viola, oboe, clarinet in C, bassoon)
4 parts
Athens, 1952-53 (?)
AST 79
INCANTATION [sketch]
Piano Solo
For piano
Athens, 1952-53 (?)
AST 80
EVA
Film Score
Film Music for Small Symphonic Ensemble
Athens, 1952-53
First performance: Athens, 1953
Directed by Maria Plyta-Hatzinakou
AST 81
THE BAREFOOT BATTALION (TO XYPOLITO TAGMA)
Film Score
Film music for symphony orchestra
Athens, 1953
First performance: USA, 1953
Directed by Gregg C. Tallas
AST 82
CARMEN
Background Music
Music for radio sketch
Sketch by Iakovos Kambanellis after the novel by Prosper Mérimée
Athens, 1953
First performance: Athens, 1953
AST 83
THE CALVARY OF AN ORPHAN GIRL (O GOLGOTHAS MIA ORPHANIS)
Film Score
Film music for symphony orchestra
5 movements
Athens, 1953
First performance: Athens, 1953
Directed by Spiros Nikolaïdis
AST 84
THE CARNIVAL DANCERS OF THRACE (I KOUKOUGERI TIS THRAKIS)
Background Music
Radio sketch
Sketch by Iakovos Kambanellis
Athens, 1953
First performance: Athens, 1953
AST 85
THE BELL AND THE SWALLOW (I KAMBANA KE TO CHELIDONI)
Background Music
Radio sketch
Sketch by Iakovos Kambanellis
Athens, 1953
First performance: Athens, 1953
AST 86
SIX RHYTHMS (ECHI RYTHMI)
Ballet Music
For piano
Athens (?), ca. 1953
AST 87
EAST SUNDAY (I IMERA TIS LABRIS)
Symphonic
Cantata for choir and orchestra
Based on poem by Dionysos Solomos
Athens, 1954
AST 88
AGIOUPA (BED OF GRASS) [sketches]
Film score
Film music [sketches]
Athens, 1954
Directed by Gregg C. Tallas
AST 89
ASTROPOYIANNOS
Background Music
Radio sketch
Sketch by Notis Pergialis
For two violins, viola, cello and oboe
3 movements
Athens, 1954
First performance: Athens, 1954
Opus 19
AST 90
SMALL SUITE FOR PIANO (MIKKRI SOUITA GIA PIANO)
Piano Solo
4 movements
Paris, 1954
First performance: London, 1958
First recording: PHILIPS, 1982
AST 91
THE BRIDGE OF ARTA
Background Music
Radio sketch
Sketch by Giorgos Theotokas & Nikos Gatsos
For viola, flute, oboe, clarinet, two horn, tympanum and percussion
Athens, 1954
First performance: Athens, 1954
AST 92
LAMBROS AND MARIA
Background Music
Radio sketch
Sketch by Manolis Skouloudis & Notis Pergialis
For violin, cello, clarinet, cor anglais, horn and tympanum
Athens, 1954
First performance: Athens, 1954
AST 93
I GENIA TOU KREMASMENOU (THE GENERATION OF THE HANGED MEN) 
Background Music
Radio sketch
Sketch by Vassilis Andreopoulos
Athens, 1954
First performance: Athens, 1954
Opus 20
AST 94
LOVE AND DEATH (EROS KE THANATOS)
Symphonic
„Four Songs for Myrto“
Poems by Mikis Theodorakis (2) & Lorentzos Mavilis (2)
Arranged for voice and string orchestra
Paris, 1955
[See AST 31, AST 261 and AST 262]
First performance: Athens, 1958
First recording: HMV, 1957
AST 95
THEOFANO
Background Music
Radio sketch
Sketch by Angelos Tertzakis
For strings, two trumpets, horn, drums and tympanum
Athens, 1955
First performance: Athens, 1955
Opus 21
AST 96
PASSACAGLIAS
Chamber Music
For two pianos
Paris, 1955
[Arrangement for orchestra as ballet suite EROFILI (1956) = AST 113]
AST 97
A TEAR IN THE SEA (ENA DAKRI STI THALASSA)
Background Music
Radio sketch
Sketch by K. Myrat after H.C. Andersen
For voice, cor anglais and guitar
Athens, 1955
First performance: Athens, 1955
AST 98
THE SONG OF NALA
Background Music
Radio sketch
Sketch by Michalis Katzaros (after Mahabarata)
For oboe, bass flute, trumpet, clarinet and two horns
Athens, 1955
First performance: Athens, 1955
Opus 22
AST 99
SONATINA FOR PIANO
Piano Solo
„For my dear friend Manos Hatzidakis“
Paris, 1955
[See AST 75 and AST 77]
First performance: Paris, 1956
First recording: PHILIPS, 1985
Opus 23
AST 100
SUITE NO. 2
Symphonic
First arangement: For orchestra
Paris, 1955-56
Second arrangement: For orchestra and three-part women’s choir
Poem by Kostas Varnalis
First performance: Athens, 1958
Opus 24
AST 101
SUITE NO. 3: „THE MOTHER“ (I MANA)
Symphonic
„To my mother…“
Poem by Dionysos Solomos
For orchestra, mixed choir and mezzo-soprano
Paris, 1956
First recording: Greek Radio and Television (not released), 1980
AST 102
LOVE AND DEATH (AGAPI KE THANATOS)
Ballet Music
Version of the Ballet „ORPHEUS AND EURYDICE“
Paris, 1956-58
[See AST 72 and AST 73]
First performance: Athens, 1956
Choreography: Rallou Manou
Opus 25
AST 103
OEDIPUS TYRANNUS
Symphonic
Ode for string orchestra – Final form
Paris, 1956
First performance: Athens, 1958
First recording: Columbia, 1960
AST 104
ILL MET BY MOONLIGHT
Film Score
Film music for symphony orchestra
London, 1956-57
First performance: Rome, 1958
Directed by Michael Powell and Emeric Pressburger
First recording: DECCA, 1957
Opus 26
AST 105
THE CIRCLE (O KYKLOS)
Song Cycle
„Pour Arda Madikian“
7 folk songs for mezzo-soprano and piano
Paris, 1957
First performance: Rome, 1958
First recording: HMV, 1957
AST 106
FIVE SOLDIERS (PENTE STRATIOTES)
Song
Poem by Mikis Theodorakis
Arrangement for voice and piano
Paris, 1957
[See AST 62 and AST 115]
AST 107
FIVE SAILORS (PENTE NAFTES)
Song Cycle
„Pour Louis-Jacques Rondeleux“
Poems by Fotis Angoules & Mikis Theodorakis
3 Songs
Paris, 1957
For voice and piano
[See AST 19]
Opus 27
AST 108
PIANO CONCERTO
Symphonic
For piano and orchestra
Paris, 1957-58
(final coda, 1996)
First performance: Piraeus, 1966
In final form, London, 1998.
First recording: BALKANTON, 1988
AST 109
QUARTET FOR STRINGS [incomplete ?]
Chamber Music
Paris, 1958
Opus 28
AST 110
LES QUATRE ELUARD
Song Cycle
„pour Jeanne Bathori“
Poems by Paul Eluard
4 Songs
Paris, 1958
For voice and piano
First performance: Paris, 1958
Opus 29
AST 111
LES SIX ELUARD
Song Cycle
„pour Jeanne Bathori“
Poems by Paul Eluard
6 Songs
Paris, 1958
For voice and piano
[Arrangement for choir (1983) = AST 263]
First performance: Paris, 1958
Opus 30
AST 112
EPITAPHIOS (EPITAPH)
Song Cycle
„To my friendship with Vyronas Samios“
Poetry of Yannis Ritsos
8 Songs
Paris, 1958
First performance: Eleusis, 1960
First recording: COLUMBIA, 1960 (arranged by Mikis Theodorakis, sung by Grigoris Bithikotsis) & FIDELITY, 1960 (arranged by Manos Hatzidakis, sung by Nana Mouskouri)
AST 113
EROFILI
Ballet Music
For orchestra
Paris, 1958
[Based on Pasacaglias for Piano = See AST 96]
First performance: Athens, 1958
Choreography: Rallou Manou & Dora Tsatsou
Opus 31
AST 114
SONATINA No. 2
Chamber Music
For violin and piano
Paris, 1958
First performance: Volos, 1959
First recording: COLUMBIA, 1960 & FIDELITY, 1960
AST 115
SUITE No. 4: „FIVE SOLDIERS“ [Unfinished]
Symphonic
Poem by Mikis Theodorakis
Arrangement for baritone, male chorus and orchestra
[See AST 62 and AST 106]
Paris, 1958
AST 116
HONEYMOON
Film Score
„Verson B [Powell] d’après le film HONEYMOON „
Film music for symphony orchestra
[includes the music from the ballet „LES AMANTS DE TERUEL“ and the song „If You Remember My Dream“]
Lyrics: Nikos Gatsos
Paris, 1958
First performance: London, 1958
Choreography: Leonide Massine
Directed by Michael Powell
First recording: DURIUM, 1958
AST 117
LE FEU AUX POUDRES
Ballet Music
For orchestra
[New arrangement of GREEK CARNIVAL]
Athens, 1958
First performance: Paris, 1959
Choreography: Paul Goubé
Opus 32
AST 118
LES AMANTS DE TERUEL
Ballet Music
[On the score also: „Titre à l’origine: Isa / Suite Nr. 4“]
For symphony orchestra
20 parts
Paris, 1958
[Arranged for the film LES AMANTS DE TERUEL (1961-62) = AST 146]
First performance: Paris, 1959
Choreography: Milko Sparembleck
Directed by Raymond Rouleau
First recording: PHILIPS, 1959
Opus 33
AST 119
ANTIGONE
Ballet Music
Based on the tragedy by Sophocles
For symphony orchestra
10 parts
Paris, 1958-59
[Arrangement for two pianos (1959) = AST 61]
[Some themes taken from Suite No. 1 = AST 61]
First performance: Royal Opera House London, 1959
Choreography: John Cranko
AST 120
THE SUFFERING OF THE VIRGIN MARY [sketch]
Choral
Based on a poem by Kostas Varnalis
For mixed choir
Paris, 1958 (?)
AST 121
ANTIGONE – BALLET
Chamber Music
Arrangement for two pianos
Paris, 1959
[See AST 119]
Opus 34
AST 122
THE PHOENICIAN WOMEN (PHINISSES)
Music for Theatre
Tragedy by Euripides
For mezzo-soprano, choir, 2 cellos, double bass, 2 flutes, 2 horns, 2 trombones, 2 trumpets, Bb clarinet, piano and percussion.
Paris,1959-60
[Arranged for symphony orchestra as the second movement of the Symphony No. 4(1986-87) = AST 275]
First performance: Epidaurus Theatre, 1960
Opus 35
AST 123
ARCHIPELAGOS
Song Cycle
Poems by Nikos Gatsos (4), Odysseas Elytis, Panos Kokkinopoulos, Dimitris Christodoulou (2), Yannis Theodorakis & Mikis Theodorakis (4)
13 Songs
Paris, Athens, London, 1959-61 (No. 13, 1957)
First performances: Athens, 1960-61
First recording: COLUMBIA, 1960-61 (minus No. 13) FIDELITY, 1960 (complete)
Opus 36
AST 124
DISPERSED SONGS, 1959-69 (SKORPIA TRAGOUDIA)
[Anthology no. 2]
Songs
Poems by J. Plante, Kostas Virvos, Nikos Gatsos, G. Papakyriakis, Enricos Thalassinos (3), Michalis Katsaros (3), Christos Kolokotronis (3), Dimitris Christodoulou (2), Klitos Kyrou & Mikis Theodorakis (4)
15 + 6 Songs
Athens, Paris, 1959-65
First performances:1961-3
First recording: No. 21: MINOS, 1975 (on record ENEMY OF THE PEOPLE ) and MINOS, 1976 (on record OF EXILE )
Complete collection of songs: EMI, 1988
AST 125
ANTIGONE
Piano Solo
For piano
Paris, ca. 1959
AST 126
SUITE No. 5 [sketch]
Symphonic
For orchestra
Paris, 1959-60
Opus 37
AST 127
AXION ESTI (IT IS WORTHY)
Meta-symphonic
Poetry of O. Elytis
For baritone, popular singer, small choir, santouri, popular and classical orchestra
Paris & Athens, 1960-63
[Second arrangement: Elaboration of choral part and additional instruments added 1993 = AST 292]
First performance: Cyprus, 1964
As ballet: Perth. Australia, 1991
First recording: COLUMBIA,1964; Swedish version: FOLKSANG, 1980; German version: ETERNA, 1983
Opus 38
AST 128
THE SONG OF THE DEAD BROTHER
Song Cycle
Lyrics by Mikis Theodorakis and Kostas Virvos
Song cycle from the musical tragedy of the same name.
Paris and Athens, 1960-63
[New musical arrangment and addition of songs nos. 10 -12 (1979-80) = AST 244]
First performance: Athens, 1962
First recording: HMV, 1962
Opus 39
AST 129
ISLAND OF THE AZORES AND BARREL-ORGAN (NISOS TON AZOROS & ROMVIA)
Songs
Texts by Bost
Athens, 1960
First recording: COLUMBIA, 1960
AST 130
MICHALIS OF SKIATHOS
Film Score
Film music for flute, clarinet, bassoon, horn, guitar, mandolin, bouble bass, 6 violins and 4 cellos
Athens, 1960
First performance: 1961
Directed by John Ingram
Opus 40
AST 131
CITY (POLITIA)
Song Cycle
Poems by Dimitris Christodoulou (4), Tassos Livaditis (5), Kostas Virvos
10 songs
Paris & Athens, 1960-61
(songs no. 9 & 10 from the film DREAM DISTRICT )
First performance: Athens, 1960-61
First recording: COLUMBIA, 1960-61
AST 132
THE BACCHAE [sketch]
Music for Theatre
Tragedy by Euripides
For choir, winds and percussion
Paris, 1960
AST 133
FACES IN THE DARK
Film Score
Film music for ondes Martenot and percussion
London, 1960
First performance: U.K. 1961
Directed by David Eady
Opus 41
AST 134
AJAX
Music for Theatre
Tragedy by Sophocles
For choir, flute, Bb clarinet, bassoon, trumpet, horn, piano, guitar and percussion
Paris, 1960-61
First performance: Epidaurus, 1961
AST 135
MYRTLE (MYRTIA)
Film Score
Film music for voice and popular orchestra
Athens, 1960-61
First performance: Greece, 1961
Directed by Kostas Karagiannis
AST 136
DREAM DISTRICT (SYNIKIA TO ONEIRO)
Film Score
Film music for voice and popular orchestra
Lyrics: Tassos Livaditis & Kostas Virvos
Athens 1960-61
First performance: Athens, 1961
First recording (songs): COLUMBIA, 1960
Directed by Alekos Alexandrakis
Opus 42
AST 137
EPIPHANY (EPIPHANIA)
Song Cycle
Poetry of George Seferis
4 Songs
Paris, 1960-61
[Arrangement for small instrumental ensemble with popular and classical instruments (1979)]
[Arrangement for mixed choir (1983) =AST 260]
[New and extended version of 3 (Epiphany 1937) as EPIPHANIA AVEROF (1968-69) = AST 181]
First performance: Athens, 1961
First recording: COLUMBIA, 1961 & LYRA, 1979
(Opus 17)
AST 138
THE DESERTERS (LIPOTAKTES)
Song Cycle
Poems by Yannis Theodorakis
Arrangement for harpsichord, classical guitar, 12-string guitar, flute, piano, violin and percussion
Athens, 1960-61
[See AST 74, AST 242 and AST 259]
First recording: COLUMBIA, 1961
AST 139
THE SHADOW OF THE CAT
Film Score
Film music for symphony orchestra
London & Paris, 1961
First performance, London, 1961
Directed by John Gilling
AST 140
A MEETING ONE NIGHT (SYNANTISI MIAS NICHTAS)
Film Score
Film music for voice and popular orchestra
Athens, 1961
First performance: Athens, 1961
Directed by Enrikos Thalassinos
AST 141`
BEAUTIFUL CITY
Music for Theatre – Song Cycle
Musical review
Lyrics by Bost (2), Dimitris Christodoulou (3), Enrikos Thalassinos (6), Akos Daskalopoulos
13 parts
Athens & Paris, 1961-62
First performance: Athens, 1962
First recording: Columbia, 1962
AST 142
PHAEDRA
Film Score
Film music for voice, clarinet, 2 guitars, 2 violins, viola, cello and double bass
13 parts
Paris, 1961
First performance: Paris, 1962
Directed by Jules Dassin
First recording: UAS, 1962
AST 143
BETRAYED LOVE (PRODOMENI AGAPI)
Film Score
Film music for two voices and popular orchestra
Lyrics: Enrikos Thalassinos
Athens, 1961-2
First performance: Athens, 1962
Directed by Enrikos Thalassinos
First recording: COLUMBIA, 1962
AST 144
ELECTRA
Film Score
Film music for voice, piccolo, clarinet, santouri, double bass and percussion
Suites I-XIV
Paris, 1961-2
First performance: Greece, 1962
Directed by Michalis Cacoyannis
First recording: PHILIPS, 1962
(re-recorded without songs: BMG, 1988)
AST 145
MANOLIS
Film Score
Film music for two bouzoukis and symphony orchestra
London, 1961-2
First performace: London, 1962
Directed by Paul Crosfield
AST 146
LES AMANTS DE TERUEL
Film Score
Film music for symphony orchestra
Paris, 1961-2
[See AST 118]
First performance: Paris, 1962
Directed by Raymond Rouleau
First recording: COLUMBIA, 1962 (Edith Piaf)
Opus 43
AST 147 & AST 148
THE HOSTAGE (ENAS OMIROS)
Song Cycle
Play by Brendan Behan
Suite for voice, 2 bouzoukis, guitar, cello, bass, flute, oboe, piano, harpsichord and percussion
16 parts
Paris, 1962
[See AST 147]
First recording: LYRA, 1962
AST 149
LINNEAR MUSIC (GRAMMIKI MOUSIKI)
Symphonic
For orchestra
5 movements
Paris & London, 1962
[Incorporated in the film score for FIVE MILES TO MIDNIGHT – See AST 150]
AST 150
LA TROISIEME DIMENSION (FIVE MILES TO MIDNIGHT)
Film Score
Film music for solo violin, ondes Martenott, 6 first violins, 6 second violins, cellos, bass, trombone, bass trombone, piano and percussion
Paris, 1962
[See AST 149]
First performance: Paris, 1962
Directed by Anatole Litvak
AST 151
LONGHEADS AND ROUNDHEADS [sketches]
Music for Theatre
Play by Bertolt Brecht
2 Songs
Athens, 1962-3
First recording: COLUMBIA, 1963
Opus 44
AST 152
PROPHETIC (PROPHITIKA)
Songs
„On the murder of Grigoris Lambrakis“
Lyrics by Mikis Theodorakis
2 Songs
Athens, 1963
First recording: COLUMBIA, 1963
AST 153
MAGICAL CITY (MAGIKI POLI)
Music for Theatre
Musical review by Theodorakis-Hadjidakis
With music of Manos Loïzos & Christos Leontis
Lyrics by Mikis Theodorakis (2), Notis Pergyalis & Iakovos Kambanellis
4 Songs
Athens, 1963
First performance: Athens, 1963
First recording, COLUMBIA, 1963
Opus 45
AST 154
THE ANGELS’ QUARTER (I GITONIA TON ANGELON)
Music for Theatre
Musical Drama
Lyrics by Iakovos Kambanellis
10 parts
Athens, 1963
First performance: Athens, 1963
First recording: COLUMBIA, 1963
AST 155
GREAT WALL OF CHINA [sketches]
Music for Theatre
Play by Max Frisch
Athens, 1963
AST 156
LIOUTSA [melodies]
Music for Theatre
Play by Dimitris Liberopoulos
Athens, 1963
First performance: Athens, 1963
Opus 46
AST 157
LITTLE CYCLADES (MIKRES KYKLADES)
Song Cycle
Poems by Odysseus Elytis
7 songs
[See AST 311]
Athens, 1963
First performance: Athens, 1963
First recordings: EMIAL, 1964 & LYRA, 1964
Opus 47
AST 158
CITY 2 (POLITIA B‘)
Song Cycle
Poems by Kostas Varnalis (2), Dimitris Christodoulou (2), Nikos Gatsos, Panos Kokkinopoulos
6 songs
Paris, Athens, 1964
First recording: COLUMBIA, 1964
AST 159
ZORBA THE GREEK
Film Score
Film music for two bouzoukis, flute, oboe, cello, percussion, bass, piano, strings and popular orchestra
Based on the novel ALEXIS ZORBAS by Nikos Kazantzakis
Athens, 1964
[some themes reappear in the ballet of the same name of 1987-88. See AST 281]
First performance: New York, 1964
Directed by Michalis Cacoyannis
First recording: 20th CENTURY FOX, 1964
Opus 48
AST 160
GOLDEN-GREEN LEAF (CHRYSSOPRASSINO PHYLLO)
Film Score
Songs for the film THE ISLAND OF APHRODITE
Lyrics by Leonidas Malenis, Nikos Gatsos, Antis Pernaris & Mikis Theodorakis
Athens, 1964
First performance: Athens, 1965
Directed by Charilaos Papadopoulos
First recording: COLUMBIA, 1965
AST 161
A MONTH IN THE COUNTRY (ENAS MINAS STIN EXOCHI)
Music for Theatre
Play by Ivan Turgenev
For cello and other classical instruments
Athens, 1964
AST 162
UNE BALLE AU COEUR
Film Score
Film music for voice and popular orchestra
Athens, 1964-5
First performance: France, 1965
Directed by Jean Daniel Pollet
First recording: BARCLAY, 1966
AST 163
THE TROJAN WOMEN (TROADES)
Music for Theatre
Tragedy by Euripides
For alto, choir, santouri, 2 flutes, Bb clarinet and percussion
Athens, 1965
First performance: Epidaurus, 1965
AST 164
SOTIRIS PETROULAS
Choral
Poem by Mikis Theodorakis
For mixed choir and baritone solo
Athens, 1965
Opus 49
AST 165
FARANTOURI CYCLE (SIX SONGS)
Song Cycle
Lyrics by Nikos Gatsos, Dimitris Christodoulou, Tassos Livaditis, Gerasimos Stavrou
6 songs
[See AST 313]
Athens, 1965
First recording: COLUMBIA, 1965
AST 166
THE ROADBLOCK (TO BLOKO)
Film Score
Film music for voice and popular orchestra
Athens, 1965
First performance: Athens, 1965
Directed by Adonis Kourou
AST 167
THE PENDULUM (TO EKREMES)
Music for Theatre
Play by Aldo Nicolai (Dimitris Myrat) & Nikos Gatsos
Athens, 1965
For voice and popular orchestra. (includes some of the FARANTOURI CYCLE)
First performance: Athens, 1965
Opus 50
AST 168
MAUTHAUSEN
Song Cycle
Poems by Iakovos Kambanellis
4 songs
[Arrangement for choir (1983 ) = AST 258]
Athens, 1965
First performance: Athens, 1966
First recording: COLUMBIA, 1966
Opus 51
AST 169
GREEKNESS (ROMIOSSINI)
Song Cycle
Poems by Yannis Ritsos
9 songs
Athens, 1966
First performance: Athens, 1966
First recording: COLUMBIA, 1966
Opus 52
AST 170
LETTERS FROM GERMANY (GRAMMATA AP‘ TI GERMANIA)
Song Cycle
„The Minor Odyssey“
Poems by Fontas Ladis
13 Songs
Athens, 1966
First performance: Athens, 1966
First recording: LYRA, 1975
AST 171
LYSISTRATA
Music for Theatre
Comedy by Aristophanes
For choir, flute, trombone, mandoline, guitar, cello, santouri, double bass and percussion
Athens, 1967
First performance: Athens, 1967
AST 172
THE DAY THE FISH CAME OUT
Film Score
Film music for voices, synthesizer, santouri, bouzoukis, clarinet, flute, electric guitar, electric bass, drums and percussion
16 parts
Athens, 1966
First performance: U.S., 1967
Directed by Michalis Cacoyannis
First recording: 20th CENTURY FOX, 1967
AST 173
THE AGE OF MY NEIGHBORHOOD (I ILIKIA TIS GITONIA MOU)
Song Cycle
Poems of Michalis Papanikolaou
6 songs
Athens, 1966
First performance: Athens, 1966
Opus 53
AST 174
SEA MOONS (THALASSINA FENGARIA)
Song Cycle
Poems of Nikos Gatsos
6 songs
Athens, 1966
First performance: Athens, 1966
First recording: COLUMBIA, 1967
AST 175
THE GOOD SOLDIER SVEJK [sketches]
Music for Theatre
Story by Jaroslaw Hasek
Athens, 1967
Opus 54
AST 176
ROMANCERO GITAN
Song Cycle
Poems of Federico Garcia Lorca (Odysseas Elytis)
7 songs
Athens, 1967
[Arranged for mezzo, guitar, choir and orchestra as Guitar Concerto (1982) = AST 256]
[Arrangement for voice and piano = AST 307]
First performance: Rome, 1970
First recording: POLYDOR, 1970
With guitarist John Williams & Maria Farantouri: CBS, 1971
Opus 55
AST 177
POPULAR SONGS (TA LAÏKA)
Song Cycle
Poems by Manos Eleftheriou
Athens, Vrachati, 1967-8
First performance: Rome, 1970
First recording: POLYDOR, 1971
AST 178
PATRIOTIC FRONT (PATRIOTIKO METOPO)
Songs
Poems by Mikis Theodorakis
4 Songs
Athens, 1967
First recording: MGM, 1970 (song no. 2)
Opus 56
AST 179
SONGS OF STRUGGLE (TRAGOUDIA TOU AGONA)
Song Cycle
Poems by G. Deliyannsi-Anastassiadis (2), Notis Pergialis, Ch. Spyros (2), N. Botsaris, Alekos Panagoulis (3), Manos Elefteriou (4) and Mikis Theodorakis (6)
20 songs
Athens, Vrachati, Zatouna, Oropos Prison, London, 1967-71
First performance: London, 1971
First recording: POLYDOR, 1971 (incomplete)
Opus 57
AST 180
SUN AND TIME (I ILIOS KE O CHRONOS)
Song Cycle
Poems by Mikis Theodorakis
Score marked „Melody & chords & bass & rhythm“
Athens, Security H. Q. Bouboulinas Prison, solitary confinement & cell no. 1
32 poems, 15 songs
First performance: Athens, 1967 (Security Prison)
First recordings: POLYDOR, 1971 & CNR, 1971
Opus 58
AST 181
EPIPHANY AVEROF
Meta-symphonic – Flow-Song
„Dedicated to Yiannis Ritsos, Vaso Katraki and all those in prison and exile“
Poetry by George Seferis
Cantata for voice (alto or baritone), six-voiced mixed choir and piano (= popular orchestra)
Athens, Averof Prison, Zatouna, 1968-9
First performance: Averof Prison, Athens, 1968
First public performance: Paris, 1970
First recording: POLYDOR, 1971
Opus 59
AST 182
MYTHICAL STORY (MITHISTORIMA)
Song Cycle
Poems by George Seferis
4 songs
Athens, Averof Prison, 1968
[Arrangement for small instrumental ensemble with popular and classical instruments (1979)]
[Arrangement for mezzo, choir and orchestra (1993) = AST 295]
First performance: Averof Prison, 1968
First public performance: Italian tour, 1971
First recording: LYRA, 1979
Opus 60
AST 183
STATE OF SIEGE (KATASTASI POLIORKIAS)
Meta-symphonic
Poem by „Marina“ (Rena Hatzidaki)
Athens, Vrahati, 1968
[Arrangement of the Finale for symphony orchestra (1995) = AST 303]
First performance: London, 1968
First recording: POLYGRAM/POLYDOR, 1968
Re-recorded: INTUITION/WERGO, Conducted by Mikis Theodorakis1998
Opus 61
AST 184
SONGS FOR ANDREAS
Song Cycle
Poems by Mikis Theodorakis
Vrahati, 1968
First performance: Athens, 1976
First recording: PAREDON, 1974
Opus 62
AST 185
OUR SISTER ATHENA (I ADELFI MAS ATHINA)
Flow-Song
Poem by Yorgos Kouloukis (Pseudonym: Yorgos Fotinos)
Vrahati, 1968
First performance: Athens, 1976
First recording: PAREDON, 1974
Opus 63
AST 186
NIGHT OF DEATH (NICHTA THANATOU)
Song Cycle
Poems by Manos Eleftheriou
Vrahati, 1968
First recording: POLYDOR, 1974
Opus 64
AST 187
ARCADIA I
Song Cycle
Poems by Mikis Theodorakis
Zatouna, 1968
First recording: EMI, 1972
Opus 65
AST 188
ARCADIA II
Song Cycle
Poems by Manos Eleftheriou
Zatouna, 1969
First performance: U.K. (BBC). 1969
First recording: PAREDON, 1974
Opus 66
AST 189
ARCADIA III
Song Cycle
Poems by Manos Eleftheriou
Zatouna, 1969
First recording: PAREDON, 1974
Opus 67
AST 190
ARCADIA V
MARCH OF THE SPIRIT (PNEVMATIKO EMVATIRIO)
Meta-symphonic – Song Cycle
Poem by Angelos Sikelianos
For voice and piano
8 songs
Zatouna, 1969
First performance: London (Albert Hall), 1970
First recording: POLYDOR, 1970
Opus 68
AST 191
ARCADIA IV
ODES
Song Cycle
Poems of Andreas Kalvos
3 songs
Zatouna, 1969
First performance: London, BBC, 1970
First recording: POLYDOR, 1971
Opus 69
AST 192
ARCADIA VI
WAR SONG – TO THE UNKNOWN POET (THOURION – STON AGNOSTO PIITI)
Flow-Song
Poems by Mikis Theodorakis
2 songs
Zatouna, 1969
First performance: U.K. (BBC), 1971
First recording: EMI, 1972
Opus 70
AST 193
ARCADIA VII
THE SURVIVOR (O EPIZON)
Flow Song
Poem by Takis Sinopoulos
Zatouna, 1969
First performance: London, 1971
First recoding: EMI, 1972
Opus 71
AST 194
ARCADIA VIII
I SPEAK (MILO) – CHARIS 1944
Song Cycle
Poems by Manolis Anagnostakis
2 songs
Zatouna, 1969
First performance: Paris, 1973
First recording: EMI, 1972
Opus 72
AST 195
ARCADIA IX
THE MOTHER OF THE EXILED MAN (I MITERA TOU EXORISTOU)
(Andante)
Flow-Song
Poem by Kostas Kalandzis
Zatouna, 1969
First performance: Moscow (State Radio), 1970
AST 196
ARCADIA X
Song Cycle
MY NAME IS KOSTAS STERGIOU (OOMAZOMI KOSTAS STERGIOU) –
I HAD THREE LIVES (ICHA TRIS ZOES)
Texts by Mikis Theodorakis
„While the search of Myrto and the children continues…“
Zatouna, 1969
First performance: Menidi, Greece, 1975
AST 197
ARCADIA XI
Song Cycle
COME OUT, MY SUN (ILIE MOU, VGES)
Poems by Notis Perialis
Zatouna, 1969
AST 198
RAVEN
Flow-Song
Poem by George Seferis, based on E.A.Poe
„Dedicated to Yiannis Christou“
Oropos prison, 1970
[Arrangment for mezzo-soprano, flute, harp and string orchestra (1993-94) = AST 296]
First performance: Dresden, 1990
Opus 73
AST 199
THREE NEGRO SONGS (TRIA NEGRIKA TRAGOUDIA)
Song Cycle
Poems by Léopold S. Senghor
„To Myrto“
3 songs
Oropos Prison, 1970
First recording: PEREGRINA, 1998 (CD Title: ASMATA / SONGS)
AST 200
PARTISAN
ANA: L’ANNÉE QUARANTE-ET-UN
Film Score
Paris, 1970
First performance: 1974
Directed by Stole Jancovic
AST 201
UNCLASSIFIED SONGS, 1970-1979 (SKORPIA TRAGOUDIA)
[Anthology no. 3]
Songs
Poems by Marie-Boëlle Verbeque, Georges Giannaris, Notis Pergialis, Karn Vassalo, Manos Elefteriou, Manolis Anagnostakis, Dimitis Christodoulou
18 songs
Cairo, Paris, Dubrovnik, Athens, Vrachati, 1970-79
First performances: Athens, Paris, Malta, 1974-1979
First recordings: 1964, MINOS, 1975, UNITELDIS, 1977
AST 202
THE TROJAN WOMEN (TROADES)
Film Score
Film music for santouri, sitar, electric guitar and bass violin
London, 1970-71
First performance: 1971
Directed by Michalis Cacoyannis
AST 203
BIRIBI
Film Score
Film music for voice, guitar and small orchestra Paris, 1971
First performance: Paris, 1971
Directed by Daniel Moosman
First recording: TUBA, 1971
AST 204
ANTIGONE 2 (ANTIGONE IN PRISON / ANTIGONE STI PHILAKI)
Ballet Music
Ballet based on new arrangements of existing songs and other musical motifs.
For popular orchestra
Paris, 1971
First performance: Paris, 1973
Choreography: Micha van Hoecke
First recording; EMI, 1973
AST 205
STATE OF SIEGE
Film Score
Film music
9 parts
Paris, 1972
First performance: Paris, 1972
Directed by Costa-Gavras
First recording: CBS, 1973
Opus 74
AST 206
18 LITTLE SONGS FOR THE BITTER HOMELAND (TA 18 LIANOTRAGOUDA TIS PIKRES PATRIDAS)
Song Cycle
„Dedicated to the first demonstration of Greek youth in the streets of Athens“
Poems by Yannis Ritsos
Paris, 1972
First performance: London, 1973
First recording: EMI, 1973
AST 207
CANTO GENERAL
Meta-Symphonic
For voice and popular orchestra
4 sections
Northern France, Paris, 1972
[Arrangement for soloist, choir and orchestra (1973-80) = AST 217]
6 sections – 7 sections  – 13 sections
First performance: Buenos Aires, 1972
AST 208
THE STORY OF JACOB AND JOSEPH
Film Score
(television film)
2 parts: JACOB AND ESAU – JOSEPH AND HIS BROTHERS
Paris, London, 1972-73
First performance: London, 1974
Directed by Michalis Cacoyannis
First recording: SAKKARIS, 1996
AST 209
SUTJESKA – THE FIFTH OFFENSIVE (TITO)
Film Score
Film music for symphony orchestra
Suites I-XI
London, 1973
First performance: London, 1973
Directed by Stipe Delic
First recording: DELTA, 1976
AST 210
LERNAIAN HYDRA
Song Cycle
Poems by Manolis Anagnostakis
6 songs
Dubrovnik, 1973
[All songs except „Dumb Shades“ are included in the work BALLADS]
First recording: MINOS, 1975 (Title: BALLADS)
Opus 75
AST 211
BALLADS
Song Cycle
Poems by Manolis Anagnostakis
For two voices, bouzouki, flute, oboe, double bass and trumpet
9 songs
Dubrovnik, Paris, 1973-4
[Songs 1-5 from the cycle LERNAIAN HYDRA = see AST 210]
First performance: Menidi, Greece, 1976
First recording: MINOS, 1975
AST 212
OPERA POUR LES FUTURS DICTATEURS [sketches]
Opera (Song)
„Didactic opera for small children and prospective dictators“
Poems from the French by Antonis Doriadis
17 parts
Paris, Buenos Aires, 1973
Later renamed: PORNOGRAPHIE [sketches]
AST 213
SERPICO
Film Score
Film music [melodies]
10 parts
Paris, 1973
First performance: U.S., 1973
Directed by Sidney Lumet
First recording: PARAMOUNT: 1973
AST 214
TRADITIONS (TA PATROPARADOTA)
Song Cycle
Poems by Michalis Cacoyannis
9 songs
Paris, 1973
[The songs „The Wide-Open Windows“ and „Traditions“, are included in IN THE EAST = see AST 215]
First recording: MINOS, 1974 (on CD: IN THE EAST)
Opus 76
AST 215
IN THE EAST (STIN ANATOLI)
Song Cycle
Poems by Michalis Cacoyannis (4), Kostas Styliatis & Mikis Theodorakis (6)
11 songs
Canada, Mexico City, US. tour, 1973
[See AST 214]
First recording: MINOS, 1974
Opus 77
AST 216
OF EXILE 2 (TIS EXORIAS B‘)
Song Cycle
Poems by Manolis Anagnostakis  (4), Giannis Negrepontis (2), Tassos Livaditis (2)
8 songs
Paris, Athens, 1973-5
First recording: MINOS, 1976
Opus 78
AST 217
CANTO GENERAL
Meta-Symphonic
Poetry of Pablo Neruda & Mikis Theodorakis („NERUDA REQUIEM AETERNAM“)
For mezzo soprano, baritone, choir and orchestra (3 bouzoukis and/or 3 flutes, electric guitar, acoustic guitar, 12- string guitar, electric bass, duo pianos and percussion (6 players)
Paris, Athens, 1973-5
[See AST 207]
4 sections
First performance: Paris, 1974 (In Chile, 1993)
6 sections – 7 sections – 13 sections
As ballet: Berlin, 1989
Choreography: Harald Wandtke
First recording: MUTUALITÉ, 1975 (sections 3-6); MINOS, 1975 (sections 1-7); MINOS, 1981 (sections 1-13, live recording, Munich)
INTUITION/WERGO, 1993 (first recording for lyric singers, first studio recording, Berlin)
AST 218
CANTO [sketches]
Choral
Poem by George Ryga
Paris, 1974
AST 219
THIS TREE WASN’T CALLED PATIENCE (AFTO TO DENTRO TO LEGANE IPOMONI)
Music for Theatre
Play (Song Cycle)
Poems by Notis Pergialis
For voice and popular orchestra
7 songs
Athens, 1974
First performance: Athens, 1974
First recording: MINOS, 1977
Opus 79
AST 220
BETRAYED PEOPLE (PRODOMENOS LAOS)
Music for Theatre
Song cycle from the play MANTO MAVROGENOUS by G. Roussos
For voices, choir and popular orchestra
12 parts
Paris, 1974
First performance: Athens, 1974
First recording: MINOS, 1974
Opus 80
AST 221
ENEMY PEOPLE (ECHTHROS LAOS)
Music for Theatre
Play by Iakovos Kambanellis
For two voices, santouri, guitar, piano, and small symphony orchestra
10 parts
Vrachati, Athens, 1975
First performance: Athens, 1975
First recording: MINOS, 1975
AST 222
DER GEHEIMSNISTRÄGER
Film Score
Film music for symphony orchestra Athens, 1975
First performance: Germany, 1975
Directed by Franz Josef Gottlieb
AST 223
CHRISTOPHER COLUMBUS
Music for Theatre
Play by Nikos Kazantzakis
For voice and small symphonic ensemble
7 parts
Athens, 1975
First performance: Athens, 1975
Opus 81
AST 224
SAUSPIEL
Music for Theater
(Song Cycle)
Play by Martin Walser
24 parts
[16 songs of SAUSPIEL transcribed for voice and small orchestra as LYRIC SONGS (1976) = AST 231]
Paris, 1975
First performance: Hamburg, 1975
AST 225
ACTAS DE MARUSIA
Film Score
Suites for guitar and symphony orchestra
Suites I – IV
Athens, Mexico, 1975
First performance: 1976
Directed by Miguel Littin
First recording: GALATA (LE CHANT DU MONDE), 1978
Opus 82
AST 226
CITY 3 (1) OCTOBER ‘78 (POLITIA G‘ (1) OKTOBRIS ’78)
Song Cycle
Poems by Tassos Livaditis, Dimitris Christodoulos, Lefteris Papadopoulos, Yannis Theodorakis (2), Enrikos Thalassinos
6 songs
Athens, 1976-8
First recording: EMI, 1978
Opus 83
AST 227
FOR PANAGOULIS (GIA TON PANAGOULI)
Songs
Poems by Mikis Theodorakis
2 songs
Athens, 1976
First recording: MINOS, 1976
Opus 84
AST 228
JOURNEY THROUGH THE NIGHT (TAXIDI MESA STIN NICHTA)
Song Cycle
Poems by Yannis Theodorakis (4), N. Botsaris, Dimitris Kesisoulos (2) & Mikis Theodorakis
8 songs
[See AST 312]
Athens, Oropos, Tripolis, 1942-78
[The 1942 song (No.6) has new verses here. The song „They called you East“ is a rearrangement of „Gallant Little Bird“ from East.. „Don’t Cry“ is a rearrangement of „For a Dead Woman“ = AST 6]
First recording: LYRA, 1978
AST 229
CHORAL (CHORODIAKA)
Choral
Poems by Angelos Vlachos, Dionysios Solomos, Ioannis Gryparis
6 songs
Arrangement for mixed choir Athens, 1976
[See AST 14]
Opus 85
AST 230
CAPODISTRIAS
Music for Theatre
Play by Nikos Kazantzakis
For choir and small symphonic ensemble
5 parts
Athens, 1976
First performance: Athens, 1976
(Opus 81)
AST 231
LYRIC SONGS (TA LYRIKA)
Song Cycle
Poems by Tassos Livaditis
[Transcription of 16 songs from SAUSPIEL for voice cello, classical guitar, piano, double bass and percussion. See AST 224 and AST 254]
18 songs
Athens, 1976
First performance: Athens, 1976
First recording: (songs 1-16) GALATA (LE CHANT DU MONDE), 1977
AST 232
THE OTHER ALEXANDER (O ALLOS ALEXANDROS)
Music for Theatre
Play by Margarita Lyberakis
Athens, 1977
First performance: Athens, 1977
AST 233
IPHIGENIA (IN AULIS)
Film Score
Film music for symphony orchestra
Includes the choral piece „SWIFT-SAILING SHIPS“ and the song „APHRODITE“
Suites I – XI
Athens, 1976
First performance: Greece, 1977
First recording: BMG, 1988 (without song), LYRA, 1978 (song included on ROMANCERO GITAN)
Opus 86
AST 234
THE SUPPLIANTS (IKETIDES)
Music for Theatre
Tragedy by Aeschylus
For women’s choir, flute, C clarinet, trombone, piano, double bass and percussion
6 parts
Vrahati and Athens, 1977
First performance: Epidaurus, 1977
AST 235
CALIGULA
Music for Theatre
Play by Albert Camus
Athens, 1977
First performance: Bordeaux, 1978
Opus 87
AST 236
SALUTATIONS (CHERETISMI)
Song Cycle
Poems by Angeliki Elefteriou (4), Yannis Theodorakis (5) & Mikis Theodorakis
For mezzo soprano, choir and orchestra (strings, cor anglais, trumpet, oboe, flute, piano, guitars, mandolin, drums and percussion)
10 songs
Athens, Vrahati, Paris, 1978
First performance: Volksbühne Berlin, 1983
First recording: MINOS, 1982
Opus 88
AST 237
THE NEIGHBORHOODS OF THE WORLD (GITONIES TOU KOSMOU)
Song Cycle
Poems by Yannis Ritsos
For two voices, recitation, choir, clarinet, santouri, flute and popular orchestra
12 parts
Athens and Omsk (Siberia), 1978
First performance: Athens, 1978
First recording: MINOS, 1979
AST 238
SECOND CLASS CITIZENS (POLITES B‘ KATIGORIAS)
Music for Theatre
Play by Brian Friel
Athens, 1978
First performance: Athens, 1978
Opus 89
AST 239
THE KNIGHTS (IPPEIS)
Music for Theatre
Comedy by Aristophanes
„For Yiannis Smyrnaios“
20 popular choruses for flute, oboe, euphonium cello, double bass, 2 guitars, piano, accordion and percussion
Athens, 1979
First performance: Epidaurus, 1979
First recording: PANIVAR, 1980
Opus 90
AST 240
ELECTRA
Ballet Music
Collage from the film scores for ELECTRA and IPHIGENIA and music for Aeschylus’ SUPPLIANTS
For symphony orchestra
Athens, 1979
First performance: Athens, 1979
Choreography: Serge Kenten
First recording: LYRA, 1979
AST 241
PAPAFLESSAS
Music for Theatre
Play by Spiros Melas
For B clarinet, guitar and santouri
Athens, 1979
First performance: Athens, 1979
AST 242
THE DESERTERS (orchestral)
Song Cycle
Lyrics by Yannis Theodorakis
Arrangement for popular orchestra and classical instruments Athens, 1979 [See AST 74, AST 138 and AST 259]
4 songs
First recording: LYRA, 1980 (on the record THE MAN WITH THE CARNATION)
AST 243
PERICLES
Theatre Music
Play by William Shakespeare
5 parts
Athens, 1979-80
First performance: Athens, 1980
AST 244
THE SONG OF THE DEAD BROTHER
Song Cycle
Poems by Mikis Theodorakis, Kostas Virvos, Tassos Livaditis, Yannis Theodorakis
New musical elaboration and addition of 3 new songs (10-12)
12 songs
Athens, 1979-80
First performance: Athens, 1980
AST 245
UNCLASSIFIED SONGS, 1980 ff. (SKORPIA TRAGOUDIA)
[Anthology no. 4]
Songs
Poems by Yannis Theodorakis (2), Yannis Ritsos (2), Notis Pergialis, Federico Garcia Lorca, K.Ch.Myris, Nazim Hikmet (2), Iakovos Kambanellis, Manos Elefteriou, Lina Nikolakopoulos (4), Lefteris Papadopoulos, Dionysos Karatzas (4)
22 songs
Athens, Vrachati, 1980-1997
Opus 91
AST 246
PHAEDRA
Song Cycle
Poems by Angeliki Eleftheriou
For mezzo soprano, bass, oboe, flute, acoustic guitar classical guitar, electric guitar, baglama, 2 cellos, electric bass, percussion for 2 percussionists and 2 bouzoukis
12 songs
Athens, 1980
First performance: Athens, 1985
First recording: SIRIOS, 1985
AST 247
THE MAN WITH THE CARNATION (O ANTHROPOS ME TO GARIPHALO)
Film Score
Lyrics by Yannis Theodorakis
Film music for voice, choir, harmonica and orchestra
Parts I – X
Athens, 1980
First performance: Greece, 1980
Directed by Nikos Tzimas
First recording: LYRA, 1980
Opus 92
AST 248
SYMPHONY NO. 2: THE SONG OF THE EARTH
Symphonic
For children’s choir, solo piano and orchestra
Poem by Mikis Theodorakis
4 movements
Paris, 1980-81
[Embodies the SUITE No. 1 and music from ANTIGONE = See AST 61 and 119]
First performance: Halle, 1982
Opus 93
AST 249
PASSENGER (EPIVATIS)
Song Cycle
Poems by Kostas Tripolitis
For voice, piano, electric guitar, double bass and percussion
12 songs
Athens, Paris, 1980-81
First recording: MINOS, 1981
AST 250
SYMPHONY No. 3 (First Form)
Symphonic
Lyrics by Dionysios Solomos & Kostas Cavafy
For mezzo-soprano, choir and orchestra
4 movements
Paris, 1980-81
[See „Second Form“ (1992) = AST 291]
First performance: Berlin, 1982
First recording: ETERNA, 1984
Opus 94
AST 251
PASSION OF THE SADDUCEES
Symphonic
Poems by Michalis Katsaros
„To the memory of Dimitris Despotidis“
Cantata in seven parts for tenor, baritone, bass, narrator, choir and orchestra
Damascus, Vrachati, Paris, Athens, 1981-2
First performance: Berlin, 1983
First recording: MINOS, 198
Opus 95
AST 252
RADAR
Song Cycle
Lyrics by Kostas Tripolitis
12 songs
Paris, 1981
First recording: MINOS, 1981
Opus 96
AST 253
SYMPHONY No. 7 (SPRING / EARINI) (First form)
Symphonic/Choral
Lyrics by Yannis Ritsos & Yorgos Kouloukis
„Dedicated to Jean Jaurès and Konrad Wolf“
For soprano, alto, tenor, bass, double mixed choir and symphony orchestra
4 movements
Vrachati, Athens, 1982
[See „Second form (rejected)“ (1993) = AST 294]
First performance: Dresden, 1984
First recording: LE CHANT DU MONDE, 1984
Opus 97
AST 254
LITURGY No. 2
Choral
Lyrics by Tassos Livaditis (11) & Mikis Theodorakis (3)
„For the children killed in the war“
[Transcription for choir of the LYRIC SONGS and other songs = See AST 224 and 231]
14 parts
Vrahati, 1982
First performance: Dresden, 1983
First recording: ETERNA, 1985 (in German); IOULIANOS, 1987 (in Greek)
Opus 98
AST 255
HOLY LITURGY (MISSA GRECA)
Choral – Ecclesiastical
Verses by Ioannis Chrysostomos
For mixed choir
19 parts
Athens, 1982-3
First performance: Tripolis, 1983
First recording: MINOS, 1984
Opus 99
AST 256
CONCERTO FOR GUITAR (LORCA)
Symphonic
Arrangement of „ROMANCERO GITAN“
Lyrics by F. G. Lorca (Greek by Odysseas Elytis)
6 parts
First arrangement: For contralto, solo guitar small mixed choir and symphony orchestra
Paris, Vrachati, 1982-3
Second arrangement: For contralto, solo guitar, and symphony orchestra
Third arrangement: For solo guitar and symphony orchestra
2nd and 3rd arrangements: Vrachati, 1995
First performance: Berlin, 1983
AST 257
TROPARION OF KASSIANI
Choral – Ecclesiastical
Arrangement for four-voiced mixed choir
2 parts
Vrahati, 1983
[See AST 15]
First performance: Athens, 1983
AST 258
MAUTHAUSEN
Choral
Poems by Iakovos Kambanellis
Arrangement for choir
4 parts
Athens, 1983
[See AST 168]
First performance: Thessaloniki, 1983
AST 259
DESERTERS (LIPOTAKTES)
Choral
Poems by Yannis Theodorakis
Arrangement for choir
4 parts
Vrachati, Athens, 1983
[See AST 74, AST 138 and AST 242]
First performance: Thessaloniki, 1983
AST 260
EPIPHANIA (EPIPHANY)
Choral
Poems by George Seferis
Arrangement for mixed choir
4 parts
Athens, Vrachati, 1983
[See AST 137]
First performance: Thessaloniki, 1983
AST 261
LOVE AND DEATH (EROS KE THANATOS)
Choral
Poems by Mikis Theodorakis
Arrangement for four-voiced choir
2 parts
Athens, 1983
[See AST 31 and AST 94]
AST 262
OF LOVE (TIS AGAPIS) [sketches]
Choral
Poem by Mikis Theodorakis
For 8-voiced mixed choir
Athens, 1983
[from the cycle LOVE AND DEATH, see AST 31 and AST 92]
AST 263
SIX ELUARD
Choral
Poem by Paul Eluard
Arrangement for choir
3 parts
Athens, 1983
[See AST 111]
100
AST 264
BITTER SATURDAYS (PIKROSAVVATA)
Song Cycle
Poems by Lefteris Papadopoulos
12 songs
Athens, 1983
First recording: PHILIPS, 1984
101
AST 265
THE MEETING (I SYNANTISI)
Song Cycle
Poems by Lefteris Papadopoulos
5 songs
Athens, 1983
First recording: MINOS, 1985
102
AST 266
REQUIEM (AKOLOUTHIA EIS KEKIMIMENOUS)
Choral-Ecclesiastical
„Dedicated to the memory of those killed in the war-time slaughter of the inhabitants of Kalavryta“
For soprano, contralto, tenor, bass, mixed choir and children’s choir
[Arrangement with the addition of symphony orchestra by Nikos Platyrarcho, 1993]
[New orchestration of No. 73: Paris, 1995]
8 parts – 73 numbers
Athens, 1983-4
First performance: Athens, 1985
First recording: IOULIANOS, 1989
103
AST 267
POEM (KARYOTAKIS)
Song Cycle
Poems by Kostas Karyotakis
For voice, 2 bouzoukis, flute, oboe, electric guitar acoustic guitar, classical guitar, 2 cellos, double bass and percussion
12 songs
[See AST 310]
Athens, 1983
First recording: MINOS, 1984
Opus 104
AST 268
[LEFTERIS PAPADOPOULOS I]
Songs
Poems by Lefteris Papadopoulos
39 songs
Athens, 1983-4
(Song no. 3 appears in the opera KOSTAS KARYIOTAKIS with other words. Some songs with new texts by Michailis Ganas appear on the CD GALLANT LITTLE BIRD)
First recording: MINOS-EMI, 1998 (some songs on the CD SERENADES)
Opus 105
AST 269
THE GALLANT SONGS (TA ASIKIKA)
Songs
Poems by Lefteris Papadopoulos & Mikis Theodorakis
A selection of songs arranged for piano, electric guitar acoustic guitar, flute, cello, bass and drums
„The ‘Gallant’ is a dance-rhythm of my own imagination. I gave it a strict form, though, based on the rhythmic permutations and development of 3 + 2 and 8 + 16. So we have the first section with 8 or 16 bars of 3/8, a second section, where the 3/6 alternate with 2/8, and a third (climactic section) where meters of 3/16 are interspersed between 3/8 and 2/8, a device that gives a sudden jolt to the rhythm, which is the reason I called it Asikiko, i.e. dance for Gallant Lads. This rhythm, combined with the modes I have used, takes us straight to the coast of Asia Minor, where Greek civilization once flourished in lovely Ionia, my mother’s birthplace.“
22 songs
Athens & Vrachati, 1984
First performance: Selected songs used for a performance of Büchner’s WOYZECK, Larnaca, 1987
Songs from the record GALLANT LITTLE BIRD (ASIKIKO POULAKI), Athens, 1996
First recording: SIRIOS, 1985 (6 songs with verses by Theodorakis)
SONY, 1996 (Selected songs to verses by Michalis Ganas on the record GALLANT LITTLE BIRD (ASIKIKO POULAKI)
Opus 106
AST 270
DIONYSOS
Songs
Religious musical drama
Lyrics by Mikis Theodorakis
For baritone, electric guitar, classical guitar, 12-string guitar, electric bass, flute, oboe, 2 cellos, percussion for 2 players and 2 bouzoukis
Parts I – IX
[See AST 308]
Athens, 1984
First performance: Athens, 1985
First recording: SIRIOS, 1985
Opus 107
AST 271
KOSTAS KARYIOTAKIS (THE METAMORPHOSES OF DIONYSOS)
Opera („Lyric Tragedy“)
Opera in two acts
Lyrics by Mikis Theodorakis, based on Kostas Karyotakis & Kostas Varnalis
For bass, contralto, 2 baritones, 4 tenors, 2 sopranos & chorus
21 scenes
Athens and Vrachati, 1985-86
First performance: Athens, 1987
First recording: SIRIOS/MBI (selections), 1991
Opus 108
AST 272
ARE WE LIVING IN ANOTHER COUNTRY? (MIPOS ZOUME S’ALLI CHORA)
Song Cycle
Poems by Manos Eleftheriou
12 songs
Athens, 1985
First performance: Goksoy (Turkey), 1986
First recording: SIRIOS, 1991
Opus 109
AST 273
ORESTEIA (Trilogy)
Music for Theatre
I AGAMEMNON
For chorus, classical instruments and percussion
II LIBATION BEARERS
For women’s chorus, bassoon, tuba, Bb clarinet, oboe, trumpet, horn and percussion
III EUMENIDES
For women’s chorus, 3 flutes and 3 cellos
Paris, Athens, Berlin, Moscow, 1986-1988
First performances: I, 1988 – II, 1987 – III, 1986
Complete trilogy: Epidaurus Theatre, 1990
Opus 110
AST 274
THE FACES OF THE SUN (TA PROSOPA TOU ILIOU)
Song Cycle
Poems by Dionysis Karatzas
17 songs
Athens, Vrachati, 1986
First performance: Piraeus, 1987
First recording: IOULIANOS, 1987
Opus 111
AST 275
SYMPHONY No. 4 (Choral)
Symphonic
Based on Aeschylus (I) and Euripides (II)
„Dedicated to the 150th anniversary of the founding of the Kapodistrian University of Athens“
For soprano, mezzo, mixed choir and symphony orchestra without violins
2 parts
[See AST 122]
Athens, Vrachati, Israel, and Paris, 1960, 1986-87
First performance: Athens, 1987
First recording: IOULIANOS, 1987
AST 276
THE FEROCITY OF THE BULL (TO TERIOU TOU TAUROU)
Music for Theatre
Social comedy
Play by Aziz Nessin
Athens, 1986
First performance: Athens, 1986
Opus 112
AST 277
BEATRICE ON ZERO STREET (I BEATRIKI STIN ODO MIDEN)
Song Cycle
Poems by Dionysis Karatzas (10) & Mikis Theodorakis (2)
„Melodies in the void“
For voice and piano
12 songs
Athens, 1987
[Arrangement for voice, large symphony orchestra and choir (sketches, 1987) – see AST 283]
First performance: Patras, 1988
First recording: MINOS / EMI (nos. 1-12), 1994
Opus 113
AST 278
MEMORY OF A STONE (MNIMI TIS PETRAS)
Song Cycle
Poems by Michalis Bourboulis
12 songs
Athens, 1987
First performance: Piraeus, 1987
First recording: IOULIANOS (1-11), 1987
Opus 114
AST 279
AS AN ANCIENT WIND (OS ARCHAIOS ANEMOS)
Song Cycle
Poems by Dionysis Karatzas
Rhapsody for 2 voices and quintet (oboe, cor anglais, cello, guitar, piano) and double bass
12 songs
Vrachati, Athens, 1987
First performance: Piraeus, 1987
First recording: IOULIANOS, 1987
Opus 115
AST 280
HECUBA (EKAVI)
Music for Theatre
Tragedy by Euripides
For mezzo-soprano, choir, 2 flutes, trombone, double bass and percussion
7 parts
Paris, 1987
First performance: Epidaurus, 1987
Opus 116
AST 281
ZORBA THE GREEK
Ballet Music
Based on the novel by Nikos Kazantzakis
Poems by Michalis Cacoyannis, Odysseas Elytis, Nikos Gatsos, Iakovos Kambanellis, Yannis Ritsos, Enrikos Thalassinos & Mikis Theodorakis
Ballet for mezzo soprano, bouzouki/ clarinet, choir and symphony orchestra
[Includes musical material from the Greek Carnival of 1953 and some themes from the 1964 film of the same name, see AST 47 and AST 159]
2 acts – 21 scenes
Athens, Vrachati, Paris, 1988
First performance: Verona (Arena di Verona), 1988 (Choreography by Lorca Massine)
First recording: BMG, 1989, also INTUITION/WERGO, 1996
Opus 117
AST 282
SPRING WIND / A SEA FULL OF MUSIC (EARINOS ANEMOS / MIA THALASSA GEMATI MOUSIKI)
Song Cycle
Poems by Dimitra Manda
21 songs
Athens, Paris, 1987
First performance: Patras, 1988
First recording: AUVIDIS, 1994
AST 283
BEATRICE IN ZERO STREET [incomplete]
Symphonic
Poems by Dionysis Karatzas (3) & Mikis Theodorakis
For voice, first and second violins, cellos, basses, oboe, cor anglais, guitar and piano (also in part for voice, large symphony orchestra and choir)
4 parts
Athens, 1987
[See AST 277]
Opus 118
AST 284
MEDEA
Lyric tragedy in five acts
Opera
„Hommage à Giuseppe Verdi“
Tragedy of Euripides. Libretto & translation by Mikis Theodorakis
Soprano, two mezzos, two tenors, baritone, two basses, women’s chorus, men’s chorus, children
2 acts
Athens and Paris, 1988-90
First performance: Bilbao, 1991
Opus 119
AST 285
CHOROS ASIKIKOS (GALLANT DANCES)
Chamber Music
„12 Dances and Songs based on Byzantine Games“
„Dedicated to Yo Yo Ma“
For solo cello
Athens, 1989
Opus 120
AST 286
ANTIGONE
Music for Theatre
Tragedy of Sophokles
For mezzo soprano, chorus, guitar and double bass
7 parts
Athens, Vrachati, 1990
First performance: Epidaurus, 1990
Opus 121
AST 287
CANTO OLYMPICO
Symphonic
„Commissioned by the President of the International Olympic Federation, Mr. Samaranch for the Olympic Games of 1992 in Barcelona.“
Lyrics by Dimitra Manda & Mikis Theodorakis
In seven parts: for tenor, bass, mixed choir and symphony orchestra
Athens, 1990-91
First performance: Barcelona, 1992
First recording: LYRA & INTUITION/WERGO, 1992
Opus 122
AST 288
GREEKNESS
Symphonic
Poem by Yannis Ritsos (from ROMIOSSINI)
For mezzo-soprano, choir and orchestra
3 movements
Vrachati, 1991
First performance: Olympic Games, Barcelona, 1992
Opus 123
AST 289
ELECTRA (ILEKTRA)
Lyric Tragedy in 2 acts
Opera
„Hommage à Giacomo Puccini“
Based on Sophokles. Libretto by Spiros Evangelatos
Athens, Vrachati, 1992-3
First performance: Luxembourg, 1995
124
AST 290
PROMETHEUS BOUND (PROMITHEUS DESMOTIS)
Music for Theatre
Tragedy by Aeschylus
4 parts
Athens, Vrachati, 1992
First performance: Epidaurus, 1992
Opus 125
AST 291
SYMPHONY No. 3 (Second Form)
Symphonic
Lyrics by Dionysios Solomos & Constantin Cavafys
For mezzo-soprano, choir and orchestra
4 movements
Athens, 1992
[See AST 250]
First performance: Athens, 1993
AST 292
AXION ESTI (Second arrangement)
Meta-symphonic
Lyrics by Odysseas Elytis
For baritone, popular singer, narrator, mixed chorus, santouri, popular and classical orchestras
3 parts
[See AST 127]
First performance: USA and Canadian tour, 1994
AST 293
ADAGIO
Symphonic
„For the victims of the Bosnian War“
First arrangement: For solo trumpet, string orchestra and percussion
Second arrangement: For solo clarinet, string orchestra and percussion
Third arrangement: For solo flute, string orchestra and percussion
[The melody taken from BEATRICE ON ZERO STREET, see AST 277]
Athens, 1993
First recording: BMG, 1993 (First arrangement)
INTUITION/WERGO, 1996 (First, second and third arrangements)
AST 294
SYMPHONY No. 7 (SPRING / EARINI) 
(Second arrangement, rejected)
Symphonic
Lyrics by Yannis Ritsos & Yorgos Kouloukis
For soprano, alto, tenor, bass, mixed choir and symphony orchestra
4 movements
Athens, 1993
[See AST 253]
First performance: Athens, 1994
AST 295
MYTHISTOREMA (MYTHOLOGY)
Symphonic
Poem by George Seferis
Arrangement for mezzo-soprano, choir and orchestra
[See AST 182]
4 songs
Athens, 1993
First performance: Athens, 1994
Opus 126
AST 296
RAVEN
Meta-symphonic
Arrangement for mezzo-soprano, flute, harp and string orchestra
Poem by George Seferis, based on E.A.Poe
„To Yiannis Christou“
Athens, Vrachati, 1993-94
First performance: Athens 1994
First recording: MINOS/EMI, 1998
Opus 127
AST 297
[LEFTERIS PAPADOPOULOS II]
Song Cycle
Poems by Lefteris Papadopoulos
10 songs
Vrachati, 1994
First recording: MINOS / EMI, 1998
Opus 128
AST 298
ANTIGONE
Lyric tragedy in five acts
Opera
„Hommage à Bellini“
Based on Sophocles. Libretto: Mikis Theodorakis
5 scenes
Paris, Athens, The Hague, Luxembourg, 1996
Opus 129
AST 299
CITY 3 (2) / (POLITIA G‘)
Song Cycle
Poems by Manos Elefteriou (5), Dimitris Kesisoulos (2), Lina Nikolaikopoulou (3)
[Songs no. 3 and 4 from ARCADIA III, see AST 189]
10 songs
Athens, 1994
First performance: Athens, 1994
First recording: POLYGRAM, 1994
Opus 130
AST 300
CITY 4 (POLITIA D)
Song Cycle
Poems by Manos Eleftheriou and Spiros Toupoyiannis
„… here is the sweet CITY 4. The CITIES, one after the other, mark the stages of my musical development. In particular the internal, spiritual stages.“
10 songs
Vrachati, Athens, 1994-95
First performance: Athens, 1996
First recording: POLYGRAM, 1996
Opus 131
AST 301
MORE LYRICAL SONGS (TA LYRIKOTERA)
Song Cycle
Poems by Dionysis Karatzas
10 songs
Athens, Vrachati, 1994-5
First performance: Athens, 1996
First recording: PEREGRINA, 1996 (CD-Title: POETICA)
Opus 132
AST 302
MACBETH
Music for Theatre
Play by William Shakespeare
For flute, 2 horns, tuba, trombone, cello, double bass, piano, tympanum and percussion
2 acts – 18 „musics“
Athens, 1994
First performance: Athens, 1994
First recording: ASTI MUSIC, 1995
AST 303
STATE OF SIEGE (FINALE)
Symphonic
Poem by Rena Hadzidaki
For symphony orchestra
[See AST 183]
Melbourne, 1995
First performance: Melbourne, 1995
133
AST 304
MOST LYRICAL SONGS (TA LYRIKOTATA)
Song Cycle
Poems by Yannis Theodorakis
4 songs
Athens, 1996
First performance: Athens, 1996
First recording: PEREGRINA, 1998
Opus 134
AST 305
OEDIPUS TYRANNOS
Music for Theatre
Tragedy by Sophocles
For choir and synthesiser
Athens, 1996
First performance: Epidaurus, 1996
Opus 135
AST 306
RHAPSODY FOR CELLO AND SYMPHONY ORCHESTRA
Symphonic
[most of the melodies taken from the MORE LYRICAL SONGS, see AST 301]
6 parts
Athens, 1996
First performance: Munich, 1998
AST 307
ROMANCERO GITAN
Song Cycle
Poems of Federico Garcia Lorca (Greek by Odysseas Elytis)
Arrangement for voice and piano
7 songs
[See AST 176 and AST 256]
Athens, 1998
AST 308
DIONYSOS
Songs
Lyrics by Mikis Theodorakis
Arrangement for voice and piano
Parts I – IX
[See AST 270]
Athens, 1998
AST 309
PHAEDRA
Song Cycle
Poems by Angeliki Eleftheriou
Arrangement for voice and piano
12 songs
[See AST 246]
Athens, 1998
AST 310
POEM (KARYOTAKIS)
Song Cycle
Poems by Kostas Karyotakis
Arrangement for voice and piano
17 songs
[See AST 267]
Athens, 1983
AST 311
LITTLE CYCLADES (MIKRES KYKLADES)
Song Cycle
Poems by Odysseus Elytis
Arrangement for voice and piano
7 songs
[See AST 157]
Athens, 1998
AST 312
JOURNEY THROUGH THE NIGHT (TAXIDI MESA STIN NICHTA)
Song Cycle
Poems by Yannis Theodorakis (4), N. Botsaris, Dimitris Kesisoulos (2) & Mikis Theodorakis
Arrangement for voice and piano
8 songs
[See AST 228]
Athens, 1998
AST 313
FARANTOURI CYCLE (SIX SONGS)
Song Cycle
Arrangement for voice and piano
Lyrics by Nikos Gatsos, Dimitris Christodoulou, Tassos Livaditis, Gerasimos Stavrou
6 songs
[See AST 165]
Athens, 1998
AST 314
OCTOBER‘ 78
Song cycle
Arrangement for voice and piano
Lyrics by Tassos Livaditis, Dimitris Christodoulos, Lefteris Papadopoulos, Yannis Theodorakis (2), Enrikos Thalassinos
6 songs
[See AST 226]
Athens, 1998
AST 315
SEA MOONS (THALASSINA FENGARIA)
Song Cycle
Arrangement for voice and piano
Poems of Nikos Gatsos
6 songs
[See AST 174]
Athens, 1998
AST 316
MEDEA
Music for Theatre
Athens, 2000?
First performance: Epidaurus Theatre, 2001
AST 317
MAUTHAUSEN
Song Cycle
Arrangement for voice and piano
Poems by Iakovos Kambanellis
4 songs
[See AST 168]
Athens, 1999
AST 318
SONGS FOR ANDREAS
Song Cycle
Arrangement for voice and piano
Poems by Mikis Theodorakis
[See AST 184]
Athens, 1999
AST 319
SONGS OF STRUGGLE (TRAGOUDIA TOU AGONA)
Song Cycle
Arrangement for voice and piano
Poems by G. Deliyannsi-Anastassiadis (2), Notis Pergialis, Ch. Spyros (2), N. Botsaris, Alekos Panagoulis (3), Manos Elefteriou (4) and Mikis Theodorakis (6)
20 songs
[See AST 179]
Athens, 1999-2000
AST 320
IN THE EAST (STIN ANATOLI)
Song Cycle
Arrangement for voice and piano
Poems by Michalis Cacoyannis (3), Kostas Styliatis & Mikis Theodorakis (5)
9 songs
[See AST 215]
Athens, 2000
Opus 136
AST 321
LYSISTRATA
Opera in two acts based on the homonymous comedy of Aristophanes
Libretto & translation by Mikis Theodorakis
Athens, 2000
First performance: Athens, 2002 Athens
Coming:
AST 322
AST 323
Opus 137
AST 324
SERENADES
Song Cycle
AST 325
WILDERNESS (ERIMIA)
Song Cycle
Opus 138
AST 326
ODYSSEY (ODYSSEIA)
Song Cycle
Poems by Kostas Kartelias
AST 327
MORE LYRICAL SONGS (TA LYRIKOTERA)
Song Cycle
New Arrangment
Poems by Dionysis Karatzas
10 songs
Athens, ?
[See AST 301]
AST 328
MOST LYRICAL SONGS (TA LYRIKOTATA)
Song Cycle
New Arrangment
Poems by Yannis Theodorakis
4 songs
Athens, ?
[See AST 304]
AST 329
BEATRICE ON ZERO STREET (I BEATRIKI STIN ODO MIDEN)
Song Cycle
New Arrangment
Poems by Dionysis Karatzas (10) & Mikis Theodorakis (2)
12 songs
Athens, ?
[See AST 277]
Coming:
AST 330
Opus 139
AST 331
CONCERTO FOR PIANO AND ORCHESTRA NO. 2
Symphonic
(New Arrangment)
Athens, 2007-08
First performance: Athens, 2012
AST 332
CONCERTO FOR PIANO AND STRINGS
Symphonic
(New Arrangment)
[See AST 331]
Athens, 2007-08
Opus 140
AST 333
LITTLE SUITE FOR STRING QUARTET (Petite suite pour quartet a cordes)
1952-53
Coming:
AST 334
AST 335
AST 336
AST 337
AST 338
AST 339
AST 340
ANDALUCIA
Symphonic
New Arrangment
Seven songs for alto (or bass/baritone) and symphony orchestra
Poems by Federico Garcia Lorca
Athens, 2009
First performance: Athens, 2010
Opus 141
AST 341
RHAPSODY FOR STRING ORCHESTRA AND MEZZO-SOPRANO (OR BARITONE AD LIB.)
Symphonic
Poems by Dionisis Karatzas
Athens, 2010
First performance: Athens, 2013
© Asteris Kutulas & ©  Gail Holst for the English adaptation
*** *** ***
EDITORS
Boosey and Hawkes London:
1. Suite No. 2 (AST 98)
2. Oedipus Tyrannos (AST 101)
3. Antigone Ballet / Images d’Antigone (AST 117)
Breitkopf und Härtel:
1. First Symphony (AST 54)
2. Sonatine No. 1 for violin and piano (AST 75)
3. Eros and Thanatos (AST 94)
4. Sonatina for piano (AST 99)
5. Piano Concerto (AST 108)
6. Sonatina No. 2 for violin and piano (AST 114)
7. Axion Esti – German version only (AST 127)
8. Second Symphony (AST 248)
9. Third Symphony (AST 250 & AST 291)
10. Seventh Symphony (AST 253 & AST 294)
11. Liturgy No. 2 (AST 254)
All other scores:
Schott Music will be in charge, without any territorial limitation, of almost the complete works by Mikis Theodorakis, including his world-famous music for the ballet, Zorba the Greek.
*** *** ***

Mikis Theodorakis Werkverzeichnis
von Asteris Kutulas (Einleitung)

Zwischen 1991 und 1997 beschäftigte ich mich systematisch mit der Niederschrift des Werkverzeichnisses von Mikis Theodorakis und fasste die Ergebnisse in einem 400seitigen „Handbuch“ zusammen (erschienen 1998 beim Livanis-Verlag in Athen), das einen ersten umfassenden Überblick über das kompositorische Schaffen des griechischen Komponisten gab. Ich wollte ein praktisches und informatives Nachschlagewerk all jenen zur Verfügung stellen, die sich für den Werdegang eines Künstlers interessieren, der zweifellos „nationales Kapital“ für Griechenland darstellt: Zum einen wurde eine ganze Generation, ja in gewisser Weise die gesamte griechische Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre von der Musik und dem Wirken dieses Komponisten tief geprägt; zum andern strahlt dieses Werk seit den 1950er Jahren in die internationale Musikkultur, mal stärker, mal schwächer.

Mit dem Begriff „Handbuch“ wollte ich auch von vornherein klarstellen, dass es sich hierbei nicht um ein „klassisches“ Werkverzeichnis handelt, das ich als Philologe zudem gar nicht hätte verfassen können. Ich wagte trotzdem diese Grenzüberschreitung, weil ich seit 1980 Theodorakis bei zahlreichen und unterschiedlichen Produktionen begleitet und dabei festgestellt habe, dass ein solches Handbuch unerlässlich ist. Und auch weil ich durch diese langjährige Zusammenarbeit wiederholt die Möglichkeit hatte, bis 1997 im Theodorakis-Archiv in Vrachati zu arbeiten.

Zum andern wollte ich mit diesem Werkverzeichnis dazu beitragen, den KOMPONISTEN Theodorakis deutlicher kenntlich zu machen bzw. neu entdecken zu helfen, geläutert von der alles überdeckenden und nivellierenden politischen Alltagspraxis in Griechenland.

Ich teile absolut den Standpunkt, dass „Theodorakis“ unteilbar beides ist: Bürger und Musiker, Künstler und Zoon Politikon, oder anders und präziser ausgedrückt: „Komponist und die Frage, für wen komponiere ich“. Diese Frage zeitigt tatsächlich grundsätzliche Folgen für die musikalische Formensprache und die „Ästhetik“ des Komponierens. Ich habe mich natürlich und aus verständlichen Gründen in meinem Buch allein mit dem musikalischen Aspekt, also dem kompositorischen Schaffen von Theodorakis auseinandergesetzt.

Ausgangspunkt meiner Arbeit war 1991 eine von Mikis und Myrto Theodorakis aufgestellte Liste mit den Werken des Komponisten („Theodorakis-Liste“). Diese Liste beinhaltete 120 Werkeinheiten. Von diesen habe ich etwa 15 nicht berücksichtigt, weil sie zwar auf Theodorakis-Musik beruhten, aber der Komponist selbst keinen Anteil an deren konkreten Ausarbeitung hatte (z.B. die Filmmusik „Z“ oder das Maurice Bejart Ballett „Mare Nostrum“). Sie sind in die Liste mit der verwendeten Theodorakis-Musik eingegangen. Weitere 14 Werkeinheiten waren einzelne Lieder und Hymnen, die in dem von mir erstellten Werkverzeichnis unter den Liedsammlungen [Verstreute Lieder I – V] (Unclassified Songs) zusammengefasst werden.

Bei der Arbeit stellte ich außerdem fest, dass etwa 40% der Werke auf der Theodorakis-Liste falsche Entstehungsangaben verzeichneten, da diese vom Komponisten aus dem Gedächtnis aufgeschrieben worden waren. Im Theodorakis-Archiv in Vrachati habe ich die über 60 Dossiers mit Theodorakis-Manuskripten gesichtet und alle Werke, die ich finden konnte, registriert. Ich entdeckte auf diese Weise eine Vielzahl von teils abgeschlossenen, teils angefangenen Werken, die Theodorakis darum nicht in seine Liste aufgenommen hatte, weil sie ihm nicht wichtig waren oder weil er sich an diese gar nicht erinnern konnte. So umfasste das von mir 1997 beim Livanis Verlag Athen publizierte Werkverzeichnis 312 Werkeinheiten, wobei in einigen Fällen mehrere Werkeinheiten dasselbe Werk betreffen, wenn unterschiedliche Fassungen existieren; zum anderen habe ich vor allem in den Frühwerken viele z.T. umfangreiche Kompositionen für Violine, Klavier und religiöse Gesänge unter zusammenfassenden Werkeinheiten subsumiert, sonst hätte das Werkverzeichnis leicht zu über 450 Werkeinheiten „ausufern“ können.

Ich musste auch feststellen, dass sich eine Vielzahl von Theodorakis-Werken im Archiv gar nicht mehr finden lassen. Oft hat nämlich Theodorakis seine Manuskripte für die jeweilige Produktion weggeben und sie nachher nicht wiederbekommen, oder er gab sie Musikern, die sie spielten oder auch nicht, jedenfalls gingen sie verloren oder sind jetzt nur schwer oder gar nicht mehr auffindbar.

Werk und Biographie

Ein Aspekt, der beim Studium des Werkverzeichnisses auffällt, und der sowohl in der „Thematik“ als auch in Widmungen einiger Werke zum Ausdruck kommt, ist die große Rolle, die die eigene Biographie, die erlebte und zum großen Teil durchlittene Geschichte, in vielen Kompositionen spielt. Einige von ihnen sind den „lebenden Toten“ gewidmet, wie sich Theodorakis ausdrückt, also seinen in Krieg und Bürgerkrieg gefallenen Freunden. Dieser Thematik sind Werke wie die „Erste Sinfonie“, die „3. Suite“ und die „3. Sinfonie“ verpflichtet.

Werk und „Einheit des Volkes“

Ein übergreifendes „Thema“ für Theodorakis ist auch die griechische Geschichte und da vor allem die offenkundige Sehnsucht des Komponisten nach einer „Einheit des Volkes“. Das kommt zum Ausdruck in „Axion esti“, in den Zyklen „Epitaph“, „Das Lied des toten Bruders“, sowie in den Oratorien „Canto Olympico“, „Requiem“ usw. usf. Aber auch die innere Enttäuschung über den – oftmals archetypisch verfremdeten – Verrat unter der Linken verarbeitet Theodorakis in extraordinärer Weise in Werken wie „Andreas Lieder“, „Im Belagerungszustand“, „Sonne und Zeit“, „Balladen“, „Sadduzäerpassion“.

Werk und Lyrik

Und dass sich die Textsammlung der Autoren, deren Arbeiten Theodorakis vertonte, wie eine Anthologie der besten griechischen Lyrik dieses Jahrhunderts liest, ist wohl allen bewusst, aber es lohnt, nicht nur darauf noch mal hinzuweisen, sondern auch festzuhalten, dass Theodorakis der erste ist, der die griechische Poesie programmatisch und sehr bewusst als Mittel der geistigen Emanzipation benutzt und darüber hinaus weltweit bekannt gemacht hat.

Liest man sich die diversen Musik-Kritiken zu seinen Kompositionen seit 1950 durch, fällt auf, dass es zwischen 1950 und 1963 eine „natürliche“ und ununterbrochene Beziehung zwischen dem (sinfonischen) Theodorakis-Werk und den griechischen/europäischen Musik-Kritikern existierte, die dann 1962-63 plötzlich abbricht und das, weil Theodorakis eigentlich nur bis zu diesem Zeitpunkt vorrangig als KOMPONIST wahrgenommen und als solcher rezensiert wurde.

Seine aktive Teilnahme in der Politik ab 1963 (Parlament, Lambrakis-Jugendbewegung), das Verbot seiner Musik 1967 durch die Junta, seine Verhaftung und sein Engagement innerhalb der europäischen Linken führten zu einer Verschiebung der Rezeption und zu einer in gewisser Weise „Auslöschung“ des Komponisten Theodorakis im Bewusstsein der Musikwelt. Dazu trugen auch die Jahre nach 1974 bei, in denen Theodorakis vor allem als politische Persönlichkeit in Erscheinung trat, so dass er tatsächlich fast 17 Jahre lang – zwischen der Veröffentlichung von „Axion esti“ 1964 und der Vorstellung der integralen Fassung von „Canto General“ 1981 – nicht mehr in der internationalen Musikwelt mit größeren neuen Werken in Erscheinung getreten war (von wenigen Ausnahmen abgesehen). Aber auch Theodorakis selbst ignorierte seine Sinfonik von vor 1960 und konzentrierte sich auf sein Liedschaffen und die von ihm als „Metasinfonik“ apostrophierten Werke.

Erst seit 1980 gab es eine Rückbesinnung des Komponisten auf die sinfonische Form, einen Rückgriff auf das musikalische Material der fünfziger Jahre, die in die Beschäftigung des Komponisten mit der Oper mündete, die er allerdings „lyrische Tragödie“ nannte. 2001 beendete er seine Operntetralogie „Medea“ – „Elektra“ – „Antigone“ – „Lysistrate“.

© Asteris Kutulas, 1998/2010

[auf griech.:] Asteris Koutoulas, Der Komponist Mikis Theodorakis. Texte – Werkverzeichnis – Kritiken (1937-1996), Livanis Verlag, Athen 1998

[auf griech.:] Asteris Koutoulas, Der Komponist Mikis Theodorakis. CD-ROM, Livanis Verlag, Athen 1999

Mikis Theodorakis Werkverzeichnis Asteris Kutulas Catalogie of Works
Die Musik-Galaxie des Mikis Theodorakis (gezeichnet von ihm selbst für die erste Auflage des Werkverzeichnisses 1997)

Erläuterungen zum Werkverzeichnis

Die wichtigste Arbeit an diesem Werkverzeichnis bestand in der richtigen Datierung und damit auch Nummerierung der Theodorakis-Werke. Da die Nummerierung auf ganz bestimmten – und zum Teil subjektiven – Kriterien beruht, möchte ich diese im folgenden kurz erläutern. Die Subjektivität meiner Kriterien bedeutet aber auch, daß die von mir vorgeschlagene Nummerierung eine von vielen möglichen ist, weshalb ich sie der Ordnung halber als AST-Nummerierung bezeichne. Hier nun meine Kriterien, die ich als Grundlage für das vorliegende Werkverzeichnis verwendet habe:

1. Datierung: Grundlegendes Ordnungsprinzip dieses Werkverzeichnisses ist die Chronologie. Im Hauptteil des Buches sind die Werke von Theodorakis in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt. Dabei erscheinen Kompositionen, deren Entstehungszeit belegt ist, vor solchen, deren Datierung nicht gesichert ist (19…?), und diese wiederum vor den Werken, für die eine Datierung nur ungefähr angegeben werden kann (um 19…). Bei gleicher Datierung sind die einzelnen Werke nach Gattungen geordnet (Orchesterwerke, Oratorien, Kammermusik, Theatermusik, Ballette, Filmmusik, Mehrstimmige Gesänge, Kirchenmusik, Lieder), es sei denn der Komponist konnte sich der Reihenfolge ihrer Entstehung genau erinnern (wie im Falle des Jahres 1955). Ausschlaggebend bei Kompositionen, deren Entstehung sich über mehrere Jahre hinzog, ist deren Beginn. Davon ausgenommen sind Liedzyklen, bei denen von Ausschlag ist, wann der Komponist sie als solche zusammenfügte, auch wenn das eine oder andere früher oder später entstandene Lied letztendlich in den Zyklus Eingang fand. Wenn als einzige Datierung eines Werks nur das Datum seiner Fertigstellung am Schluß einer Komposition vorliegt, dann wird diese als alleiniges Datierungsmerkmal übernommen.

Etwa 80 Werkeinheiten sind entweder nicht datiert oder existieren überhaupt nicht im Archiv, was ein riesiges Problem für die Datierung und damit Nummerierung bedeutete. In diesen Fällen mußte ich eigenständig und in gewisser Weise „willkürlich“ entscheiden. Ich mußte andere Anhaltspunkte für die Datierung finden, wobei ich um ihre Fragwürdigkeit weiß und darum versucht habe, sie mit anderen – im folgenden kurz skizzierten – Informationen zu kreuzen:

  • Aussagen von Theodorakis (historische Interviews in diversen Zeitungen und Zeitschriften, Anhaltspunkte aus seiner Autobiographie, dem Chreos und alle anderen Büchern mit entsprechenden Informationen, Zeitungsartikel, eigene Tonbandinterviews, die ich mit ihm zu konkreten Werken führte)
  • Das Datum der jeweiligen Uraufführung eines Werks gab mir insofern einen Ansatzpunkt, als daß, wenn das Werk im selben Jahr wie die Uraufführung entstanden war, ich eine monatliche Eingrenzung hatte.
  • Zeitungsartikel über Theodorakis sowie über Aufführungen seiner Werke, die oftmals Informationen über in Arbeit befindlichen Theodorakis-Kompositionen beinhalteten.
  • Texte auf Plattencovern und auf CD-Booklets, die manchmal Aussagen zur Entstehungsgeschichte des jeweiligen Werks enthielten.

2. Nummerierung: Meine Nummerierung (AST) folgt streng der durch die Datierung festgelegten chronologischen Reihenfolge. Verschiedene Fassungen einer Komposition erhalten, wenn sie sich in der Besetzung unterscheiden, verschiedene Nummern entsprechend ihrer chronologischen Entstehung. Für dieses Buch habe ich Mikis Theodorakis gebeten, Opuszahlen für seine Werke festzulegen, die hier zum ersten Mal mit verbindlicher Nummerierung veröffentlicht werden. Damit wird deutlich, welche seiner Kompositionen Theodorakis selbst als WERKE ansieht und welche er „verwirft“, also den eigenen musikalischen Kriterien nicht standhalten. (So ist charakteristisch, daß kein einziger Film eine Opuszahl erhält.)

Ein Problem für die Nummerierung stellten die vielen verstreuten Einzellieder dar. Ich faßte sie unter fünf Zyklen [Verstreute Lieder I – V] zusammen, was die Möglichkeit eröffnet, alle von mir eventuell noch nicht entdeckten Lieder darunter zu subsumieren. Nicht zu verwechseln sind diese [Verstreuten Lieder I – V] von der autorisierten Liedsammlung „Verstreute Lieder“, die von Theodorakis sogar mit einer Opuszahl versehen worden sind.

3. Fragmente mehrsätziger Werke erhalten den beabsichtigten Gesamttitel. Als Fragment wird ein Komposition dann bezeichnet, wenn sie von Theodorakis nicht vollständig ausgeführt ist. Sind hingegen nur einzelne Stimmen entworfen oder nur der Beginn der Komposition skizziert, dann gilt sie als Skizze.

4. Erste Aufführung: in der Regel die erste öffentliche Aufführung eines Werkes. So gilt beispielsweise für fast sämtliche Frühwerke bis 1944 (Lieder, Stücke für Mundharmonika, Violine und Klavier), dass sie im Familien- und Freundeskreis aufgeführt bzw. gesungen wurden, was ich im Werkverzeichnis selbst nicht berücksichtigen konnte. Ebenso gilt grundsätzlich für alle Liederzyklen, auch wenn kein genaues Datum angegeben wurde, dass sie – meist im Entstehungsjahr – aufgeführt wurden.

5. First Recording: Ich gebe nur die jeweils erste erfolgte Platten- bzw. CD-Veröffentlichung an. In einigen Fällen gebe ich mehrere Versionen an, wenn es sich um unterschiedliche Fassungen oder um sehr unterschiedliche Interpretationsmuster handelt.

6. OPUS-Zahlen (anerkannte Werke): Ich habe Mikis Theodorakis gebeten, den 341 Werk-Einheiten Opus-Zahlen zuzuweisen. An diese 341 gelisteten Werk-Einheiten vergab er nur 141 Opus-Zahlen. Das heißt, dass er selbst nur ein Drittel seiner Kompositionen als seinen Kriterien genügende Werke ansieht – eine sehr interessante Feststellung. Bemerkenswert dabei ist, dass er z.B. keiner seiner 33 Film-Musiken eine Opus-Zahl gab, nicht mal der Musik zum „Zorbas“-Film! 2010, ein paar Monate vor dem Tod von Michalis Cacojannis (dem Regisseur des „Zorbas“-Films) hatte ich die Möglichkeit, ein gemeinsames Interview mit Cacojannis und Theodorakis filmisch festzuhalten. Während dieses Gesprächs definierte Theodorakis die Aufgabe des Film-Komponisten so, dass dieser vor allem den Wünschen des Regisseurs bis ins Detail zu folgen und den Bildern des Films zu dienen habe. Das ist offensichtlich der Grund dafür, dass Mikis – obwohl er zum Teil sehr gern für Filme komponiert hat – diese Arbeit nicht als eigenständige Kompositionsform akzeptieren konnte. Jedenfalls nicht für sich selbst.

© Asteris Kutulas, 1998/2021

Mikis Theodorakis Werkverzeichnis Asteris Kutulas Catalogie of Works
Mikis dirigierend (Photo by © Asti Music)

Die hier publizierte englische Übersetzung von Gail Holst enthält nur Basisinformationen der in Buchform veröffentlichten vollständigen Fassung des Werkverzeichnisses. Darin werden noch zusätzlich u.a. auch 1. die Dauer der Werke, 2. die Sätze bzw. Teile bzw. Lieder der einzelnen Werkeinheiten mit zugeordnetem Entstehungsdatum und evt. Textautor sowie 3. die Interpreten der Uraufführungen als auch der ersten Aufnahmen u.v.a.m. angegeben.

(Ausserdem möchte ich festhalten, dass dies ein work in progress ist … so dass eventuelle Fehler ständig berichtigt und Zusätze ständig eingefügt werden.)

A.K., Januar 2020

*** *** ***

Danksagung

Ich begann die Arbeit an dem Werkverzeichnis 1991, als ich mit meiner Familie aus Berlin nach Athen zog, und beendete eine erste Fassung, die 1998 als Buch in Griechenland erschien, im Sommer 1997 – zwei Jahre nach unserer Rückkehr nach Deutschland. In diesen sechs Jahren habe ich unzählige Stunden im Theodorakis-Archiv in Vrachati sowie in der Athener Wohnung des Komponisten gearbeitet. Mein Dank gilt also in allererster Linie Mikis und Myrto Theodorakis für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Ihnen sei auch gedankt für jene erste Niederschrift der Theodorakis-Werke, die mir als Ausgangspunkt für meine Recherche diente, Myrto Theodorakis auch für die anderen in minutiöser Kleinarbeit zusammengetragenen Details, die sie mir zur Verfügung stellte und die mir außerordentlich hilfreich waren. Zu danken habe ich insbesondere Rena Parmenidou für ihren kritischen Beistand und ihre geduldige praktische Hilfe während des gesamten Entstehungsprozesses dieses Buches, ebenso wie Ilias Malandris für wichtige Hinweise bezüglich der Theaterwerke von Theodorakis sowie Dimitris Kutulas für seinen langjährigen und unermüdlichen kritischen Beistand und Rafaela Wilde für ihren fortwährenden Support und ihre großartige Hilfe. Mein Dank geht auch – und vor allem – an Peter Hanser-Strecker und den Schott Verlag für die phantastische Zusammenarbeit in jeder Hinsicht. Für seine Geduld danke ich Mikis Theodorakis, der in den letzten Jahren alle meine das Werkverzeichnis betreffende Fragen ausgehalten und beantwortet hat – und es waren derer nicht wenige. Schließlich danke ich Ina Kutulas, ohne die dieses Opus Magnum nicht hätte entstehen können und Gail Holst aus New York für die englische Übersetzung des Werkverzeichnisses und ihren freundschaftlichen Beistand.

Asteris Kutulas