MIKIS THEODORAKIS 98 | 29.7.2023
Seine Laufbahn als Komponist begann Mikis Theodorakis Anfang der 40er Jahre in der arkadischen Stadt Tripolis als Hymnenschreiber für die griechisch-orthodoxe Sonntagsliturgie in der Kirche „Agia Triada“. Seine zwei wichtigsten Werke der damaligen Zeit waren die „Hymne an Gott“ sowie die Liturgie „Kassiani“. Genauso wie seine etwa 30 anderen liturgischen Kantaten aus jener Zeit beruhten diese auf Texten griechisch-orthodoxer Kirchenväter bzw. der Priesterin Kassiani.
1943 geht Theodorakis als 18jähriger ans Athener Konservatorium und hat im Gepäck seine „1. Sinfonie“, ein Oratorium, dessen Worte er selbst verfasste. Darin bricht er seine religiös inspirierte Suche nach Gott in eine Dualität auf, was sich darin zeigt, dass er eine gleichberechtigte Ansprache formuliert – auf der einen Seite an das Licht und auf der anderen Seite an das Dunkel.
Seine zwei Hauptwerke auf dem Gebiet der Kirchenkomposition entstanden viel später in den 80er Jahren, als Theodorakis schon beinah 60 war. Es sind die „Totenmesse“ und das „Requiem“, die beide auf Texten zweier Kirchenväter aus dem 4. und 5. Jahrhundert basieren. Für Theodorakis gehören die Verse des „Requiem“, geschrieben von Johannes Damaskinos im 6. Jahrhundert zu den schönsten griechischen Texten überhaupt. Unter anderem vertonte er 1982 folgenden Abschnitt:
„Lasst uns heraus kommen und in den Gräbern wahrnehmen, dass der Mensch nur das ist: Knochen, Fraß für die Würmer und Gestank. Lasst uns erkennen, was Reichtum, Schönheit, Kraft und Anstand wirklich sind.“
In Tripolis hatte Theodorakis als Gymnasiast die Seminare von Evangelos Papanoutsos besucht, des damals bedeutendsten griechischen Philosophen. Und während der Zeit bei ihm wurde für den jungen Theodorakis das zur Passion, was ihn zeitlebens begleitete: seine tiefe Liebe zu den Schriften der antiken Autoren.
Das Altgriechische perfekt beherrschend, verschlang der 15- bis 17-jährige Theodorakis alles, was die Antike an Schriftgut zu bieten hatte. Nicht nur die Tragiker, sondern auch alle Philosophen, Mathematiker und Astronomen. Beim Pythagoräer Philolaos las Theodorakis, dass die Entfernungen zwischen den Planeten gemessen werden können im Verhältnis zum „zentralen Feuer“, also dem Feuerkern des Alls, den Philolaos auch als „Mutter der Götter“ oder auch als „Altar“ und „Ordnung“ der Natur apostrophiert hatte, um den herum sich zyklisch drehten: die Anti-Erde, die Erde, der Mond, die Sonne, die Planeten und schließlich, in der äußeren Sphäre des Alls, die „unsteten Sternenhimmel“. Für den Vorsokratiker Philolaos ist das Feuer der Ursprung des Lichts und die absolute Quelle der Energie des Absoluten. Und laut Philolaos sind Feuer und Musik Geschenke an die Menschen.
Die Musik als Ausdruck des planetarischen Klangs auf Erden bringe einen Widerhall des Universums hervor, und dieser Widerhall versetze den Menschen in einen rein geistigen Zustand, genauso wie andererseits das Feuer auf der materiellen Ebene zu Reinheit in unseren irdischen Sphären führe.
Diese Gedanken inspirierten Theodorakis und bildeten den Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie von der Universellen Harmonie.
Seine Liebe zu den Vorsokratikern und ihrer Musik- und Zahlentheorie hatte ihren Ursprung gehabt in den Nächten unter freiem Himmel, die der fünfjährige Mikis auf der Ägäis-Insel Chios mit seinem Vater verbrachte, der ihm stundenlang – und das über Monate – den Sternenhimmel erklärte. Diese himmlische Ordnung prägte sich dem Kind ein und ließ es den Widerspruch zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, zwischen Harmonie und Chaos schon sehr früh erkennen. Im Kreis der Familie die heile Welt, außerhalb der Familie Gefahr und Leid. Und später dann: Ruhe im Innern, Tod und Folter im Außen.
Theodorakis, der als Komponist seit seiner Kindheit, wie er schrieb, den „Klang“ als Auslöser musikalischer Schöpfung erfuhr, machte in einem Aufsatz vom November 2006 darauf aufmerksam, dass es nur ein kleiner Schritt sei von dem Gedanken der Vorsokratiker bezüglich der Harmonie und der Musik der Sphären bis zu seinem eigenen Gefühl, in sich einen überwältigenden Klang zu hören, bevor dieser die Gestalt der Musik annahm. Diese beiden Dinge seien nur zwei Seiten derselben Medaille – wobei die zweite nur eine Widerspiegelung der ersten bedeuten kann: irdische Musik also als Widerspiegelung des Klangs des Universums.
Viel später, Ende der 90er Jahre, bei seiner Auseinandersetzung mit dem Antigone-Stoff erkannte Theodorakis, dass der Widerspruch zwischen Chaos und Harmonie sich im Zyklus von Theben widerspiegelt: Iokaste als Mutter des Chaos, die das antinomische Paar Eteokles und Polineikes zur Welt bringt, deren Einander-Bekämpfen schließlich zu Iokastes Tod führt, das heißt zum Tod des Chaos. Aus ihm heraus entsteht eine neue Harmonie, die abermals ein neues Chaos hervorbringt: in Gestalt von Kreon. Was einen weiteren Konflikt auslöst und schließlich durch Antigones Tod zu einer neuen Harmonie mit Ödipus in Kolonos führt.
Ödipus, den Sophokles im heiligen Wald von Kolonos verschwinden lässt, als wollte er die Erlösung von Ödipus als eine endgültige festschreiben, also als die schöne Illusion: dass hinsichtlich des menschlichen Schicksals ein harmonisches und endgültiges Finale existieren könnte. Theodorakis weist darauf hin, dass diese finale Harmonie allerdings nur als Wunsch des Dichters Sophokles zum Ausdruck kommt, der einen versöhnlichen Schluss gestalten wollte, angesichts seines bevorstehenden Todes und in Erwartung einer ewigen Ruhe, die nach Theodorakis’ Meinung aber niemals auf Erden zu haben ist.
Und Theodorakis stützt sich bei der Komposition seiner drei Opern auf das dialektische Prinzip von These, Antithese und Synthese, ohne einen Schlusspunkt setzen zu wollen, und er lässt die Begriffspaare Macht und Gewalt, die sich mit dem Chaos verbinden, entgegenstehen dem Begriffspaar der Liebe und der Pflicht, wobei dieser Antagonismus zur Opferung des Lebens und nur dadurch zu einer neuen Harmonie führen kann. In dieser Weise verdeutlicht er in seinen Opern, als Teil seiner philosophischen und politischen Weltanschauung, wie eng die Beziehung zwischen Himmel und Erde, zwischen universellem Chaos und universeller Harmonie und zwischen all diesen und dem Schicksal des Menschen ist.