Rammstein | Gert Hof | Mikis Theodorakis – Ein griechischer Dialog über deutsche Volksmusik
Athen, 9.9.1999 – was für ein Datum! Ich zeigte heute Mikis, angeregt durch Gert Hof, verschiedene Video-Clips von Rammstein und längere Ausschnitte aus dem Wuhlheide-Konzert, aber auch andere Videos von Gert. Mikis, wie immer hoch interessiert, neugierig, offen, wollte die Song-Texte von Rammstein übersetzt haben, saugte alles auf. Ich war gespannt auf seine Reaktion auf diese ganz eigene „musikalische Befindlichkeit“, auf dieses sehr spezifische deutsche Gesamtkunstwerk. Ihm gefiel die Rammstein-Energie, das Existenziell-Theatralische in ihren Videos und Konzerten und seine Antwort auf meine diesbezügliche Frage kam prompt:
Mikis Theodorakis: Rammstein ist sehr beeindruckend, ist in gewisser Weise etwas Neues für mich. In seinen Rammstein-Inszenierungen benutzt Gert Hof Elemente, die eine „Politisierung“ in sich haben. Ich erkenne bei Hof Anflüge einer gewissen Nostalgie, wenn ich das so sagen darf. Er sieht geschichtliche Elemente „nostalgisch“, er steht der Vergangenheit nicht feindlich gegenüber – obwohl er allen Grund dazu hätte. Und ich habe das Gefühl, dass die Menschen in Deutschland, vor allem im ehemaligen Ostdeutschland, eine „Sehnsucht“ in sich tragen. Nach der anfänglichen absoluten Identifizierung mit der Neuen Gesellschaft, nach der großen Liebe zum Westen, kam die Zeit der Desillusion, falsche Hoffnungen gingen zu Bruch.
Asteris Kutulas: Nun ja, Westdeutschland hat es sich leisten können, eine marode Wirtschaft aufzufangen und langsam wieder aufzubauen. Und die DDR-Bürger leben jetzt in einer Demokratie.
Mikis Theodorakis: Das stimmt, aber trotzdem glaube ich, dass die „westliche Welt“ insgesamt als Zukunftsmodell gescheitert ist. Freiheit und Demokratie dienten vor allem der atemberaubenden Entwicklung der großen Konzerne, der corporations. Der gesamte „Fortschritt“ hatte nur einen Zweck: dass einige wenige Leute sehr viel Geld verdienen. So ist der Mensch zur Handelsware degradiert. Das ist für den Einzelnen gar nicht mal so schlecht, weil es Erleichterungen und eine gewisse Freiheit mit sich bringt. Aber wenn es dann soweit ist, dass der Mensch einen bestimmten Lebensstandard erreicht hat, nicht mehr hungert, Bildung hat, ein Auto besitzt etc., ist Schluss. Denn dann stellt man – wenn man sie stellt – die Frage nach dem „Wozu?“ Bei diesem „Wozu?“, bei dem tatsächlich der Humanismus einsetzen würde, bei dem der Mensch „beginnt“, verweigert unsere Gesellschaft die Antwort. Und wenn es den Menschen nicht mehr gibt, kommt das „Tier“ zum Vorschein.
Asteris Kutulas: Irgendwo dort, wo das Tier zum Vorschein kommt, fangen ja auch die Themen von Rammstein an.
Mikis Theodorakis: Das ist das Gute an Rammstein: der konzeptionelle und inhaltliche Ansatz, ihre Ästhetik. Aber ich bin skeptisch, was die musikalische Form betrifft. Rammstein folgen größtenteils noch dem Vorbild, dem Archetyp, der amerikanischen Musik und „Unterhaltung“. Sie tappen in die eigene Falle. Das ist wie im Krieg: wenn ich die Waffen des Feindes benutzen, sie aber nach eigenen Vorstellungen einsetzen will. Ich bin da sehr pessimistisch: Die anderen sind (fast immer) viel stärker. Ich kann sie nicht mit den eigenen Waffen schlagen. Wenn du deutsche Jugendliche fragst, was sie an Rammstein mögen, was sie „bekommen“, dann wirst du merken, dass es im Grunde auf das „Amerikanische“ im Gestus und im Rhythmus der Musik hinausläuft.
Asteris Kutulas: Aber die Rammstein-Texte sind doch so etwas wie die Faust in den Bauch des deutschen Kleinbürgers. Das müsste dir doch sehr entgegenkommen. Und vor allem: Es sind deutsche Texte. Zudem findet das Inhaltliche seine Entsprechung in der musikalischen Form.
Mikis Theodorakis: Das, was gut ist, sind das „Gesamtkunstwerk Rammstein“ und die Texte, also die Message, aber das hat etwas mit Logik zu tun. Was die amerikanische Musikindustrie geschafft hat, ist: den Menschen – also ihren „Kunden“, zugleich ihre „Ware“ – zum „Tier“ zu degenerieren, so dass er immer gleichgültiger wird gegenüber jedweder Botschaft. Die Message wird mit der Zeit ohnehin immer unbedeutender. Höhepunkt dieses Prozesses ist für mich die Technomusik, die fast gänzlich auf Worte verzichtet. Das einzige, was interessiert, ist ein gemeinsamer Nenner für Abertausende von jungen Menschen. Und dieser gemeinsame Nenner ist der Rhythmus. Ein sich immer wiederholender Rhythmus, der, je ursprünglicher und lauter er daherkommt, die Massen in einem gemeinsamen Vibrieren eint. Das ist die Rückkehr in den Dschungel. Und da sich der Mensch in unser heutigen Gesellschaft tatsächlich wie in einem Dschungel vorkommt, vermittelt ihm dieser Techno-Beat die Illusion einer Gemeinschaft mit anderen Menschen, was sicherlich auch eine Art von Widerstand darstellen kann. Aber das sind wirklich nur Illusionen. Diese Gemeinschaft existiert nur für den Moment des Konzerts. Oft spielen dabei auch Drogen eine Rolle, was mir zeigt, dass der Mensch in diesen Augenblicken vergessen, sich aber nicht erinnern will. Er will sich vom Menschen befreien und nicht zum Menschen werden.
Asteris Kutulas: Aber du selbst benutzt auch oft in deiner Musik diesen Rhythmus, zwar griechischen Ursprungs, aber immerhin …
Mikis Theodorakis: Ja, auch bei mir spielt der Rhythmus eine große Rolle, aber er unterstützt die Melodie. Die Melodie ist das menschliche Element. So habe ich es erfahren. Und ich weiß, dass das seit der Antike so ist. Die deutsche Musik hat der Welt in den letzten drei Jahrhunderten, besonders während der klassischen und der romantischen Epoche, große Melodien geschenkt. Und da wir hier am Fuße der Akropolis sitzen, bin ich angehalten zu sagen, dass dies das Vorbild des Schönen ist, nach dem wir Menschen der westlichen Kultur gelebt haben. Die Chinesen haben eine andere ästhetische Kategorie des Schönen, die Ägypter wieder eine andere. Für uns entäußerte sich das Schöne in der Musik, in der Melodie. Wenn du die Melodie eliminierst und nur noch der Rhythmus bleibt, ist es so, als würdest du einem sehr kräftigen, muskulösen Menschen das Gehirn amputieren, so dass nur ein Muskelprotz übrig bleibt.
Asteris Kutulas: Könntest du dir eine Zusammenarbeit mit so einer Band wie Rammstein vorstellen?
Mikis Theodorakis: Ich sehe, dass das, was ich selbst musikalisch geschaffen habe, keine Resonanz findet bei einem größeren Publikum. Es gibt natürlich viele Menschen – die trotzdem eine Minderheit darstellen –, mit denen ich kommuniziere. Das große Publikum, das ich einst als Komponist hatte, waren vor allem die Jugendlichen Ende der sechziger Jahre und Anfang der Siebziger, die noch Visionen hatten. Ich glaube nicht, dass die jungen Leute von heute Visionen haben. Ich sehe nicht, dass meine Musik in die heutige Zeit passt. Sie richtet nur „Schaden“ an. Ich erlebe es in Griechenland. Die meisten Leute, die Unterhaltung und das Vergessen suchen, empfinden schon meine Anwesenheit als problematisch. Die Anwesenheit eines Menschen mit meiner Vergangenheit, die Anwesenheit eines durch und durch engagierten Menschen, stört.
Asteris Kutulas: Du weichst der Frage aus.
Mikis Theodorakis: Wenn die Rammsteiner Melodien von mir auf ihre Art und Weise covern, in ihre Farben kleiden würden, in ihre Rhythmen, nach ihrer Auffassung, wäre das eine Ehre für mich. Das würde mich sehr freuen. Und es wäre gut. Aber ich würde ihnen nicht dazu raten, wenn sie kommerziell denken. Sie würden Publikum verlieren. Und zurzeit sind sie ja ganz oben.
Asteris Kutulas: Was du sagst, klingt sehr nach Resignation …
Mikis Theodorakis: Um die Wahrheit zu sagen … ich glaube nicht, dass die Welt letztendlich den „amerikanischen Weg“ gehen wird. Es wird Reaktionen geben. Und ich glaube, dass das, wofür ich und viele andere stehen, sich schließlich durchsetzen wird. Ich weiß nicht, auf welchem Weg. Vielleicht werden es die „Rammsteiner“ sein, die, wie die Russische Armee von 1905, das Winterpalais im Sturm erobern werden. Vielleicht. Auf jeden Fall wird der Mensch doch Mensch bleiben. Denn die jungen Menschen, die heute in die Konzerte oder Clubs gehen, fragen sich danach: Was machen wir jetzt? Wohin gehen wir? Die Gesellschaft hindert sie daran, das Geschenk des Lebens zu genießen. Und das Geschenk des Lebens ist das Schöne: Die Natur, die Farben, die Liebe. Und das Schönste von allem ist das Geschenk der Musik, und Musik ist Melodie. Eine einzige Melodie in immerwährender Veränderung. Und in jeder Epoche klingt sie anders. Wenn man den jungen Leuten die „Melodie“ vorenthält, bringt man sie um. Aber sie wollen nicht umgebracht werden.
*** *** *** *** ***
So endete unser Gespräch über die transzendentale Obdachlosigkeit des zeitgenössischen Menschen und über das Gesamtkunstwerk „Rammstein“ an einem heißen, lichtüberfluteten griechischen Septembertag.
Der Tag neigte sich dem Abend zu, der Parthenon blickte durch die Fenster und das laute Grillenzirpen vom Philopappus-Hügel erinnerte mich an Sokrates, denn hier musste er den Schierling trinken, um zu sterben. Und da entsann ich mich seiner Apologie: angeklagt, die Jugend zu verführen und vom wahren Glauben abzulenken. However, das obige Gespräch, in einer überarbeiteten Fassung, diente Gert Hof – in Absprache mit Rammstein – als Nachwort-Text für das erste Rammstein-Buch, das er als Herausgeber publizierte: Rammstein, Die Gestalten Verlag, Berlin 2001
(Das Gespräch führte ich auf Anregung und im Beisein von Gert Hof, der sich intensiv daran beteiligte.)
*** *** *** *** ***
Nachtrag, 29.7.2022
Durch meinen damals neuen Arbeits-Partner, den Regisseur Gert Hof, lernte ich im Sommer 1999 die Band Rammstein kennen, deren Bühnen- und Lichtdesigner er war. Mich begeisterte diese Band vom ersten Augenblick an. Gert Hof liebte und verehrte Theodorakis und wollte unbedingt, dass wir ihm die Musik und die Videos von Rammstein vorstellen, zumal die Bandmitglieder Mikis natürlich kannten. Gert und ich bereiteten damals die Millennium-Events auf der Akropolis in Athen und an der Siegessäule in Berlin vor. Als wir im September 1999 Mikis in Athen besuchten, brachte Gert Aufnahmen von mehreren Rammstein-Videoclips sowie Ausschnitte aus dem legendären Rammstein-Konzert in der Wuhlheide mit.
Bei unserem zweiten Besuch schlug ich Mikis vor, sich diese Videos anzuschauen. Ich erinnere mich, wie er mich ansah und fragte: „Eine deutsche Band? Und sie singen auf deutsch? Und sie machen, wie du mir gerade erklärt hast, Industrial Rock?“ Mikis fand diesen Begriff toll: Industrial Rock. Den kannte er bis dahin noch nicht. Er kannte Punk-, Metal und vor allem Techno-Musik, aber der Begriff „Industrial“ war neu für ihn. Mikis fragte weiter: „Und du willst unbedingt, dass ich mir das anhöre und anschaue?“ Ich nickte und schob die erste VHS-Kassette in die Anlage, drehte die Lautstärke voll auf, es lief der Clip „Du hast“.
Nachdem Mikis das gesehen hatte, fragte er: „Gibt’s noch mehr?“ Es folgten: „Du riechst so gut“, „Engel“ und zum Abschluss Ausschnitte aus dem Wuhlheide-Konzert. Während die Videos liefen, wollte Mikis, dass ich ihm die Texte übersetzte, was ich gern tat.
Gert fragte immer wieder: „Und? Was sagt er? Wie findet er das?“ Es folgte ein Gespräch, das ich auf Kassette aufnahm und das später von Gert in Absprache mit den Rammsteinern als Nachwort zu ihrem Buch „Rammstein“ beim Gestalten-Verlag 2001 veröffentlicht wurde. So schaffte es Gert, zwei seiner großen Leidenschaften, Mikis und Rammstein, zusammenzubringen.
Dieses denkwürdige Gespräch mit Mikis über Rammstein – vom 9.9.1999 – veröffentlichte ich später in einer überarbeiteten Fassung hier in diesem Blog-Eintrag. Einiges, was Mikis in diesem Interview sagte, finde ich immer noch äußerst spannend. In gewisser Weise könnte man Rammsteins Opus magnum „Deutschland“ und den großartigen Wurf „Zeit“ als eine „Antwort“ auf einige Gedanken von Mikis verstehen, die er in diesem Gespräch äußert.
Vorhin dachte ich, dass die Essenz von „Deutschland“ und „Zeit“ möglicherweise der von Mikis Theodorakis‘ Oratorium „Axion Esti“ Mitte der Sechzigerjahre entspricht, als dieses Werk zum künstlerischen Ausdruck eines ganzen Landes wurde. Tolle lyrische Texte. Existenzielle Themen von großer gesellschaftspolitischer Relevanz. Eine komplexere musikalische Struktur. So eine geniale filmische Umsetzung wie jetzt die von „Deutschland“ und „Zeit“ war natürlich 1963 noch gar nicht möglich – aber immerhin bekam der Dichter Odysseas Elytis 1979 für „Axion Esti“ den Nobelpreis.
Anlässlich des heutigen 97. Geburtstags von Mikis und der laufenden Rammstein-Tour habe ich diese Geschichte festgehalten, damit sie nicht unerzählt bleibt.