Niki Eideneier: Asteris und Ina Kutulas: Die Horen, „Ich suche nicht, ich finde“ – Sogar dann, wenn Griechenland verloren zu sein scheint (fotopedia.de)
Jeder, der sich auch nur elementar für die neugriechische Literatur und allgemein für die neugriechische Kultur interessiert, dürfte wissen, wer Ina und Asteris Kutulas sind und was ihr Beitrag zur Verbreitung derselben im deutschsprachigen Raum, im Osten wie im Westen dieses Landes, bedeutet: Übertragungen und Nachdichtungen von zeitgenössischen Klassikern, aber auch von jüngeren, die es noch werden könnten, Essays und Beiträge in renommierten Zeitschriften, Organisierung von Lesungen und Diskussionen mit Musikbegleitung – unvergessen die poetische Nacht des Gedenkens an Jannis Ritsos zu seinem 100. Geburtstag im b-Flat in Berlin – erstklassige Konzerte mit und von Mikis Theodorakis und Maria Farantouri und anderen berühmten Interpreten oder das monumentale Buch: „Mikis Theodorakis, Ein Leben in Bildern“, Filme über Theodorakis und über Jannis Ritsos, und das Filmskript zu „Recycling Medea“, ein Projekt, das 2013 realisiert wurde, und, und, und …
Doch die Zusammenstellung der Texte für die Anthologie mit dem vielsagenden Titel: „Sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt – Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen) Land“ als 249. Band der „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“ die horen (Wallstein Verlag 2013) ist eine Errungenschaft der beiden und ein besonderes Ereignis.
Die Zeitschrift die horen wurden 1795 von Friedrich Schiller gegründet und nach den Töchtern von Zeus und Themis (Göttinnen der Jahreszeiten) genannt: Thalia, Göttin des Blühens, Auxo, Göttin des Wachsens, Karpo, Göttin der Früchte; nach Hesiod: Dike (Gerechtigkeit), Eunomia (Ordnung) und Eirene (Frieden). Die Zeitschrift erschien bis 1798 drei Jahre lang. 1955 wurden die horen von Kurt Morawietz in Hannover neu gegründet.
Bereits dreimal haben sich bis jetzt „die horen“ mit der neugriechischen Literatur und deren Autoren intensiv beschäftigt, sowohl in Krisen- als auch in Hoch-Zeiten Griechenlands. Das erste Mal mit einer Doppel-Edition: Griechenland I+II (Band 86/87 – 1972), also während der Junta Diktatur 1967-1974, ab dann sporadisch mit einzelnen Beiträgen; das zweite Mal mit dem Titel: „Rückkehr und Ankunft – Griechische Literatur aus zwei Jahrhunderten“, ausgewählt von Niki Eideneier und Torsten Israel, zusammengestellt vom Herausgeber Johann P. Tammen im Jahr 2001, als Griechenland Ehrengast der Internationalen Frankfurter Buchmesse gewesen war. Zwei Jahre später, 2003, kam erneut ein zweisprachiger dt./gr. Lyrikband: „Atmen lang von Babel her – Poesie aus Griechenland“, in der Reihe vis-à-vis – Blicke zum Nachbarn, herausgegeben von Gregor Laschen, und übersetzt von deutschen Dichtern nach einer Interlinear- Übersetzung und mit einem Nachwort von Torsten Israel. Und nun, 2013, zu Zeiten der höchsten ökonomischen und moralischen Krise des Landes, dieser Band, – die Zeitschrift befindet sich im 58. Jahrgang – in der Redaktion des jetzigen Herausgebers Jürgen Krätzer.
Der Band kann sich stolz schätzen: „Literatur, Kunst und Kritik“, die Intentionen der Zeitschrift sehen sich hier voll erfüllt. Dreißig – wenn ich richtig zähle – griechische Dichter und Prosaschriftsteller, vom ältesten, Konstantinos Kavafis, geb.1863 in Alexandria/Ägypten, bis zum jüngsten, Jazra Khaleed, geb. 1979 in Grosny/Tschetschenien, und ihre vielen Übersetzer, elf Essayisten und ein Künstler, Ilan Manouach, mit seinen provokant-aktuellen Tuschzeichnungen (geb. 1980 in Athen).
Im Zentrum der globalen Einsamkeit
Der Band ist thematisch in zehn Kapitel gegliedert: 1) Das griechische Gen der Selbstzerstörung; 2) Immer aufs Neue der Untergang; 3) Und frei meine Seele, ohne Scheu … Kavafis zum 150 Geburtstag; 4) Die inwendige Seite – Maria Polydouri und Kostas Karyotakis; 5) Weil die Statuen keine Relikte mehr sind; 6) Hochgemute Nachrichten aus einer fernen Zeit – Verbannungsinsel Makronisos 1948-50; 7) Eine andere Art von Rückkehr – Die Generation der Niederlage; 8) Kaffeehäuser und Kometen nach Mitternacht; 9) Durch transparentes Dunkel; 10) Im Zentrum der globalen Einsamkeit. Verstreut am Anfang oder innerhalb der Kapitel die Zeichnungen von Ilan Manouach, der auch für das Titelblatt zuständig war, wie ein Spiegel der Worte. Dazu kommt eine ausführliche Einleitung von Asteris Kutulas, verfasst zu diesem Band unter dem Titel: „Schießt nicht mit Tränengas auf uns – wir weinen auch so“ (entliehen einem Brief der Freunde von Alexis Grigoropoulos, dem 17jährigen Schüler, der 2008, am Anfang der Jugend-Aufstände in Griechenland, durch eine Polizeikugel getötet und der beim Begräbnis des Getöteten verteilt wurde), und am Schluss Biografisches zu den Autoren, Künstlern und Übersetzern.
Allein die fein ausgewählten Titel der Kapitel fügen sich in die Poetik des gesamten Bandes. Er fängt an mit einem wohl nur bei Insidern bekannten Dichter, Jazra Khaleed, und endet mit der wohl bekanntesten zeitgenössischen Dichterin Griechenlands, Kiki Dimula. Der Essay von Ina Kutulas mit dem erfinderischen Titel: „Dimoularkationslinien“ ist eine Perle nicht nur des Kapitels „Im Zentrum der globalen Einsamkeit“, sondern überhaupt. Nur Dichter können sich so vielfältig und so tief einem anderen Dichter nähern und den Leser in Erstaunen versetzen, wie viel er übersieht, mit was für Blicken anderer Künstler er konfrontiert wird, um das Un-gesehene und Un-gehörte zu entdecken.
Dazwischen die weltberühmten Klassiker: Kavafis, Seferis, Elytis, Ritsos, Engonopoulos, Theodorakis; dazu gesellen sich andere „Klassiker“, etwas verkannt zwar, aber deswegen nicht unwichtig, wie Karyotakis und Poliduri, Ludemis, Livaditis. Dann die Dichter der sogennanten und viel diskutierten „Generation der Niederlage“: Sinopoulos, Kambanellis, Anagnostakis, Rena Chatzidaki, Patrikios. Und Petros Markaris natürlich, der heutige griechische Star auch in der deutschen Literaturlandschaft. Aus dem Kreis der Jüngeren – interessant auch, dass dazu erneut Griechen des Auslands mit aufgenommen wurden, Aris Fioretos z.B. – Dionisis Karatzas, Sakis Serefas, Amanda Michalopoulou, Lefteris Poulios, Michalis Michailidis, Lila Konomara, Christos Chryssopoulos, Agoritsa Bakodimou und Antonis Fostieris. Zu diesen vielen Namen könnte man auch die Essayisten des Bandes und die Übersetzer hinzufügen, aber das hätte wirklich jeden Rahmen gesprengt. Zu bemerken wäre außerdem dass, sofern nicht anders angegeben, alle Texte Erstübertragungen sind bzw. für diese Ausgabe grundlegend revidiert wurden, wie die Herausgeber notieren.
„Schießt nicht mit Tränengas auf uns – wir weinen auch so“
Ich denke, dass die Einleitung eines Sammelwerks, wie des vorliegenden, erst nach der Lektüre des Inhalts gelesen werden sollte, quasi als Nachwort. Sonst ist man recht voreingenommen, der Gliederung des Verfassers aufs Wort zu folgen und die Zeitepochen, die die Historie bestimmen, auf die Werke bzw. deren Autoren so eng zu beziehen, dass man nicht frei bleibt für eigene Erkenntnisse. Denn das Leben und das Schaffen eines jeden Literaten sind von längerer Dauer als die historischen Ereignisse, die oft plötzlichen Wendungen unterliegen. Wie dem auch sei; eine vollkommene Objektivität dabei zu erwarten, wäre nicht möglich und dem Autor würde man Unrecht tun.
Für so eine Anthologie eine Einleitung zu verfassen, ist also eine große Herausforderung. Asteris Kutulas, der diese Aufgabe übernahm, hat eine Verbindung von Geschichte und Literatur gewagt. Er hat dazu eigens zueinander Beziehungen hergestellt, die wiederum auf Aussagen und allgemeinen Ansichten beruhen, hauptsächlich aber seine eigene Meinung zum Ausdruck bringen. Meistens würde man ihm beipflichten, manchmal tauchen aber auch Zweifel auf: Ich glaube z.B. nicht, dass „… das Volk insgesamt für die Regierenden zum Feind wurde, es musste kampfunfähig gemacht werden. Dazu gehörte auch, den Wert seiner kulturellen Traditionen mit Geringschätzigkeit zu bemessen und das Nationalbewusstsein der Griechen zu untergraben und zu zerstören. Also ihre gemeinschaftliche Erinnerung und Kultur auszulöschen. All das bekam das Etikett “Nationalismus“ aufgedrückt“. Aber nicht jeder Fortschritt steht der Tradition feindlich gegenüber.
Auch das Zitat von einem Theaterkritiker und Publizisten, Vertreter der älteren Generation, woher diese Aussage Kutulas’ ihren Bezug nimmt, ist bedenklich: „ … Universitätsprofessoren und diverse andere Intellektuelle bezeichneten in öffentlichen Verlautbarungen die Fahnen, die die Menschen auf der Straße getragen hatten, als ‚Lappen’, als ‚nationalistische Symbole’, als ‚Idole der Götzenanbetung’. Dieselben ‚Theoretiker’ wollen uns nun weismachen, dass die Nationen ‚Konstrukte’ seien, die Staaten ‚Gewaltmaschinen’ und die Geschichte unseres Volkes ein Szenarium für eine nachmittägliche Seifenopernserie im Fernsehen. Diese Meinungen werden jetzt tatsächlich in den Vorlesungen vertreten, sie sind in den Schulbüchern zu lesen, und zu großen Teilen wird die Bevölkerung ruhig gestellt mit Kulturgütern aus Staaten, die im Niedergang sind …“. Solche Äußerungen gehen an der Realität vorbei. Richtig dagegen ist, dass die jüngeren Historiker die lang erwünschte und notwendige Aufklärung betreiben und verschiedene „Mythen“ der griechischen Geschichte anhand der neu gelesenen Quellen richtigstellen, indem sie Götzenbilder vom Sockel herunterholen. Die Massendemonstrationen der Jugend sind aus der Ausweglosigkeit ihrer Situation – im Übrigen einem internationalen Phänomen – entstanden und nicht mit einer angeblichen Abkehr von den Traditionen und der „glorreichen“ Vergangenheit zu erklären. Aber das sind Themen, die nicht in einer Buchpräsentation zu behandeln sind.
Andererseits finde ich eine weitere Aussage Kutulas’ neu und besonders interessant, da sie in der Tat im Zusammenhang mit der neugriechischen Geschichte zu sehen ist: „Der vorliegende Band ist unter anderem das Zeugnis einer permanenten Literatur im Widerstand anzusehen.“ Natürlich könnte man entgegnen, dass jede gute Literatur, von jedem Land, Dichtung wie Prosa, ein wie auch immer begründeter Widerstand ist; den Verhältnissen gegenüber, der Politik, der Gesellschaft, dem Elternhaus, dem „Anderen“, dem eigenen Ich schließlich. Sie möchte wachrütteln, protestieren, mit dem Wort kämpfen, zu verstehen und zu erklären versuchen – was wäre denn sonst die viel gerühmte „Katharsis“! Aber: „Dieser Band offenbart zumindest, dass Griechenland sich seit jeher im „Kriegszustand“ befunden hat und dass bis heute Menschen mit Worten und Taten darauf reagieren und Widerstand leisten. Menschen vor allem, die sich auf ihr „inneres Griechenland“ berufen und Mittler sind zwischen diesem und allen Orten „draußen“, an denen es sich wieder findet.“ Wie wahr, lieber Asteris! Solange es solche Menschen gibt wie dich und Ina, ist Griechenland „kein verlorenes Land“.
Niki Eideneier
»Sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt …« – Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land, Zusammengestellt von Asteris und Ina Kutulas
Reihe: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik (Hg. von Jürgen Krätzer); Bd. 249, 58. Jahrgang
240 S., 13 Abb., brosch., 15,5 x 23,5, ISBN: 978-3-8353-1235-7 (2013)