Archiv der Kategorie: Griechenland

Asteris und Ina Kutulas: Die Horen (Rezension von Niki Eideneier)

Niki Eideneier: Asteris und Ina Kutulas: Die Horen, „Ich suche nicht, ich finde“ – Sogar dann, wenn Griechenland verloren zu sein scheint (fotopedia.de)

Horen, Griechenland, Asteris Kutulas

Jeder, der sich auch nur elementar für die neugriechische Literatur und allgemein für die neugriechische Kultur interessiert, dürfte wissen, wer Ina und Asteris Kutulas sind und was ihr Beitrag zur Verbreitung derselben im deutschsprachigen Raum, im Osten wie im Westen dieses Landes, bedeutet: Übertragungen und Nachdichtungen von zeitgenössischen Klassikern, aber auch von jüngeren, die es noch werden könnten, Essays und Beiträge in renommierten Zeitschriften, Organisierung von Lesungen und Diskussionen mit Musikbegleitung – unvergessen die poetische Nacht des Gedenkens an Jannis Ritsos zu seinem 100. Geburtstag im b-Flat in Berlin – erstklassige Konzerte mit und von Mikis Theodorakis und Maria Farantouri und anderen berühmten Interpreten oder das monumentale Buch: „Mikis Theodorakis, Ein Leben in Bildern“, Filme über Theodorakis und über Jannis Ritsos, und das Filmskript zu „Recycling Medea“, ein Projekt, das 2013 realisiert wurde, und, und, und …

Doch die Zusammenstellung der Texte für die Anthologie mit dem vielsagenden Titel: „Sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt – Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen) Land“ als 249. Band der „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“ die horen (Wallstein Verlag 2013) ist eine Errungenschaft der beiden und ein besonderes Ereignis.

Zeitschrift die horen, Griechenland, Asteris Kutulas

Die Zeitschrift die horen wurden 1795 von Friedrich Schiller gegründet und nach den Töchtern von Zeus und Themis (Göttinnen der Jahreszeiten) genannt: Thalia, Göttin des Blühens, Auxo, Göttin des Wachsens, Karpo, Göttin der Früchte; nach Hesiod: Dike (Gerechtigkeit), Eunomia (Ordnung) und Eirene (Frieden). Die Zeitschrift erschien bis 1798 drei Jahre lang. 1955 wurden die horen von Kurt Morawietz in Hannover neu gegründet.

Bereits dreimal haben sich bis jetzt „die horen“ mit der neugriechischen Literatur und deren Autoren intensiv beschäftigt, sowohl in Krisen- als auch in Hoch-Zeiten Griechenlands. Das erste Mal mit einer Doppel-Edition: Griechenland I+II (Band 86/87 – 1972), also während der Junta Diktatur 1967-1974, ab dann sporadisch mit einzelnen Beiträgen; das zweite Mal mit dem Titel: „Rückkehr und Ankunft – Griechische Literatur aus zwei Jahrhunderten“, ausgewählt von Niki Eideneier und Torsten Israel, zusammengestellt vom Herausgeber Johann P. Tammen im Jahr 2001, als Griechenland Ehrengast der Internationalen Frankfurter Buchmesse gewesen war. Zwei Jahre später, 2003, kam erneut ein zweisprachiger dt./gr. Lyrikband: „Atmen lang von Babel her – Poesie aus Griechenland“, in der Reihe vis-à-vis – Blicke zum Nachbarn, herausgegeben von Gregor Laschen, und übersetzt von deutschen Dichtern nach einer Interlinear- Übersetzung und mit einem Nachwort von Torsten Israel. Und nun, 2013, zu Zeiten der höchsten ökonomischen und moralischen Krise des Landes, dieser Band, – die Zeitschrift befindet sich im 58. Jahrgang – in der Redaktion des jetzigen Herausgebers Jürgen Krätzer.
Der Band kann sich stolz schätzen: „Literatur, Kunst und Kritik“, die Intentionen der Zeitschrift sehen sich hier voll erfüllt. Dreißig – wenn ich richtig zähle – griechische Dichter und Prosaschriftsteller, vom ältesten, Konstantinos Kavafis, geb.1863 in Alexandria/Ägypten, bis zum jüngsten, Jazra Khaleed, geb. 1979 in Grosny/Tschetschenien, und ihre vielen Übersetzer, elf Essayisten und ein Künstler, Ilan Manouach, mit seinen provokant-aktuellen Tuschzeichnungen (geb. 1980 in Athen).

Im Zentrum der globalen Einsamkeit

Der Band ist thematisch in zehn Kapitel gegliedert: 1) Das griechische Gen der Selbstzerstörung; 2) Immer aufs Neue der Untergang; 3) Und frei meine Seele, ohne Scheu … Kavafis zum 150 Geburtstag; 4) Die inwendige Seite – Maria Polydouri und Kostas Karyotakis; 5) Weil die Statuen keine Relikte mehr sind; 6) Hochgemute Nachrichten aus einer fernen Zeit – Verbannungsinsel Makronisos 1948-50; 7) Eine andere Art von Rückkehr – Die Generation der Niederlage; 8) Kaffeehäuser und Kometen nach Mitternacht; 9) Durch transparentes Dunkel; 10) Im Zentrum der globalen Einsamkeit. Verstreut am Anfang oder innerhalb der Kapitel die Zeichnungen von Ilan Manouach, der auch für das Titelblatt zuständig war, wie ein Spiegel der Worte. Dazu kommt eine ausführliche Einleitung von Asteris Kutulas, verfasst zu diesem Band unter dem Titel: „Schießt nicht mit Tränengas auf uns – wir weinen auch so“ (entliehen einem Brief der Freunde von Alexis Grigoropoulos, dem 17jährigen Schüler, der 2008, am Anfang der Jugend-Aufstände in Griechenland, durch eine Polizeikugel getötet und der beim Begräbnis des Getöteten verteilt wurde), und am Schluss Biografisches zu den Autoren, Künstlern und Übersetzern.

Allein die fein ausgewählten Titel der Kapitel fügen sich in die Poetik des gesamten Bandes. Er fängt an mit einem wohl nur bei Insidern bekannten Dichter, Jazra Khaleed, und endet mit der wohl bekanntesten zeitgenössischen Dichterin Griechenlands, Kiki Dimula. Der Essay von Ina Kutulas mit dem erfinderischen Titel: „Dimoularkationslinien“ ist eine Perle nicht nur des Kapitels „Im Zentrum der globalen Einsamkeit“, sondern überhaupt. Nur Dichter können sich so vielfältig und so tief einem anderen Dichter nähern und den Leser in Erstaunen versetzen, wie viel er übersieht, mit was für Blicken anderer Künstler er konfrontiert wird, um das Un-gesehene und Un-gehörte zu entdecken.
Dazwischen die weltberühmten Klassiker: Kavafis, Seferis, Elytis, Ritsos, Engonopoulos, Theodorakis; dazu gesellen sich andere „Klassiker“, etwas verkannt zwar, aber deswegen nicht unwichtig, wie Karyotakis und Poliduri, Ludemis, Livaditis. Dann die Dichter der sogennanten und viel diskutierten „Generation der Niederlage“: Sinopoulos, Kambanellis, Anagnostakis, Rena Chatzidaki, Patrikios. Und Petros Markaris natürlich, der heutige griechische Star auch in der deutschen Literaturlandschaft. Aus dem Kreis der Jüngeren – interessant auch, dass dazu erneut Griechen des Auslands mit aufgenommen wurden, Aris Fioretos z.B. – Dionisis Karatzas, Sakis Serefas, Amanda Michalopoulou, Lefteris Poulios, Michalis Michailidis, Lila Konomara, Christos Chryssopoulos, Agoritsa Bakodimou und Antonis Fostieris. Zu diesen vielen Namen könnte man auch die Essayisten des Bandes und die Übersetzer hinzufügen, aber das hätte wirklich jeden Rahmen gesprengt. Zu bemerken wäre außerdem dass, sofern nicht anders angegeben, alle Texte Erstübertragungen sind bzw. für diese Ausgabe grundlegend revidiert wurden, wie die Herausgeber notieren.

„Schießt nicht mit Tränengas auf uns – wir weinen auch so“

Ich denke, dass die Einleitung eines Sammelwerks, wie des vorliegenden, erst nach der Lektüre des Inhalts gelesen werden sollte, quasi als Nachwort. Sonst ist man recht voreingenommen, der Gliederung des Verfassers aufs Wort zu folgen und die Zeitepochen, die die Historie bestimmen, auf die Werke bzw. deren Autoren so eng zu beziehen, dass man nicht frei bleibt für eigene Erkenntnisse. Denn das Leben und das Schaffen eines jeden Literaten sind von längerer Dauer als die historischen Ereignisse, die oft plötzlichen Wendungen unterliegen. Wie dem auch sei; eine vollkommene Objektivität dabei zu erwarten, wäre nicht möglich und dem Autor würde man Unrecht tun.

Zeitschrift die horen, Griechenland, Asteris Kutulas
Für so eine Anthologie eine Einleitung zu verfassen, ist also eine große Herausforderung. Asteris Kutulas, der diese Aufgabe übernahm, hat eine Verbindung von Geschichte und Literatur gewagt. Er hat dazu eigens zueinander Beziehungen hergestellt, die wiederum auf Aussagen und allgemeinen Ansichten beruhen, hauptsächlich aber seine eigene Meinung zum Ausdruck bringen. Meistens würde man ihm beipflichten, manchmal tauchen aber auch Zweifel auf: Ich glaube z.B. nicht, dass „… das Volk insgesamt für die Regierenden zum Feind wurde, es musste kampfunfähig gemacht werden. Dazu gehörte auch, den Wert seiner kulturellen Traditionen mit Geringschätzigkeit zu bemessen und das Nationalbewusstsein der Griechen zu untergraben und zu zerstören. Also ihre gemeinschaftliche Erinnerung und Kultur auszulöschen. All das bekam das Etikett “Nationalismus“ aufgedrückt“. Aber nicht jeder Fortschritt steht der Tradition feindlich gegenüber.

Asteris Kutulas, Athens

Auch das Zitat von einem Theaterkritiker und Publizisten, Vertreter der älteren Generation, woher diese Aussage Kutulas’ ihren Bezug nimmt, ist bedenklich: „ … Universitätsprofessoren und diverse andere Intellektuelle bezeichneten in öffentlichen Verlautbarungen die Fahnen, die die Menschen auf der Straße getragen hatten, als ‚Lappen’, als ‚nationalistische Symbole’, als ‚Idole der Götzenanbetung’. Dieselben ‚Theoretiker’ wollen uns nun weismachen, dass die Nationen ‚Konstrukte’ seien, die Staaten ‚Gewaltmaschinen’ und die Geschichte unseres Volkes ein Szenarium für eine nachmittägliche Seifenopernserie im Fernsehen. Diese Meinungen werden jetzt tatsächlich in den Vorlesungen vertreten, sie sind in den Schulbüchern zu lesen, und zu großen Teilen wird die Bevölkerung ruhig gestellt mit Kulturgütern aus Staaten, die im Niedergang sind …“. Solche Äußerungen gehen an der Realität vorbei. Richtig dagegen ist, dass die jüngeren Historiker die lang erwünschte und notwendige Aufklärung betreiben und verschiedene „Mythen“ der griechischen Geschichte anhand der neu gelesenen Quellen richtigstellen, indem sie Götzenbilder vom Sockel herunterholen. Die Massendemonstrationen der Jugend sind aus der Ausweglosigkeit ihrer Situation – im Übrigen einem internationalen Phänomen – entstanden und nicht mit einer angeblichen Abkehr von den Traditionen und der „glorreichen“ Vergangenheit zu erklären. Aber das sind Themen, die nicht in einer Buchpräsentation zu behandeln sind.

Zeitschrift die horen, Griechenland, Asteris Kutulas, Süddeutsche Zeitung
Andererseits finde ich eine weitere Aussage Kutulas’ neu und besonders interessant, da sie in der Tat im Zusammenhang mit der neugriechischen Geschichte zu sehen ist: „Der vorliegende Band ist unter anderem das Zeugnis einer permanenten Literatur im Widerstand anzusehen.“ Natürlich könnte man entgegnen, dass jede gute Literatur, von jedem Land, Dichtung wie Prosa, ein wie auch immer begründeter Widerstand ist; den Verhältnissen gegenüber, der Politik, der Gesellschaft, dem Elternhaus, dem „Anderen“, dem eigenen Ich schließlich. Sie möchte wachrütteln, protestieren, mit dem Wort kämpfen, zu verstehen und zu erklären versuchen – was wäre denn sonst die viel gerühmte „Katharsis“! Aber: „Dieser Band offenbart zumindest, dass Griechenland sich seit jeher im „Kriegszustand“ befunden hat und dass bis heute Menschen mit Worten und Taten darauf reagieren und Widerstand leisten. Menschen vor allem, die sich auf ihr „inneres Griechenland“ berufen und Mittler sind zwischen diesem und allen Orten „draußen“, an denen es sich wieder findet.“ Wie wahr, lieber Asteris! Solange es solche Menschen gibt wie dich und Ina, ist Griechenland „kein verlorenes Land“.

Niki Eideneier

»Sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt …«Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land, Zusammengestellt von Asteris und Ina Kutulas
Reihe: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik (Hg. von Jürgen Krätzer); Bd. 249, 58. Jahrgang
240 S., 13 Abb., brosch., 15,5 x 23,5, ISBN: 978-3-8353-1235-7 (2013)

Unstete Sternenhimmel, Chaos & Harmonie

MIKIS THEODORAKIS 98 | 29.7.2023

Seine Laufbahn als Komponist begann Mikis Theodorakis Anfang der 40er Jahre in der arkadischen Stadt Tripolis als Hymnenschreiber für die griechisch-orthodoxe Sonntagsliturgie in der Kirche „Agia Triada“. Seine zwei wichtigsten Werke der damaligen Zeit waren die „Hymne an Gott“ sowie die Liturgie „Kassiani“. Genauso wie seine etwa 30 anderen liturgischen Kantaten aus jener Zeit beruhten diese auf Texten griechisch-orthodoxer Kirchenväter bzw. der Priesterin Kassiani.

Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas, Unstete Sternenhimmel
Der vorliegende Artikel wurde in einer gekürzten Fassung in der Zeitschrift exandas veröffentlicht.

1943 geht Theodorakis als 18jähriger ans Athener Konservatorium und hat im Gepäck seine „1. Sinfonie“, ein Oratorium, dessen Worte er selbst verfasste. Darin bricht er seine religiös inspirierte Suche nach Gott in eine Dualität auf, was sich darin zeigt, dass er eine gleichberechtigte Ansprache formuliert – auf der einen Seite an das Licht und auf der anderen Seite an das Dunkel.

Seine zwei Hauptwerke auf dem Gebiet der Kirchenkomposition entstanden viel später in den 80er Jahren, als Theodorakis schon beinah 60 war. Es sind die „Totenmesse“ und das „Requiem“, die beide auf Texten zweier Kirchenväter aus dem 4. und 5. Jahrhundert basieren. Für Theodorakis gehören die Verse des „Requiem“, geschrieben von Johannes Damaskinos im 6. Jahrhundert zu den schönsten griechischen Texten überhaupt. Unter anderem vertonte er 1982 folgenden Abschnitt:

„Lasst uns heraus kommen und in den Gräbern wahrnehmen, dass der Mensch nur das ist: Knochen, Fraß für die Würmer und Gestank. Lasst uns erkennen, was Reichtum, Schönheit, Kraft und Anstand wirklich sind.“

Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas, Unstete Sternenhimmel
Der vorliegende Artikel wurde in einer gekürzten Fassung in der Zeitschrift exandas veröffentlicht.

In Tripolis hatte Theodorakis als Gymnasiast die Seminare von Evangelos Papanoutsos besucht, des damals bedeutendsten griechischen Philosophen. Und während der Zeit bei ihm wurde für den jungen Theodorakis das zur Passion, was ihn zeitlebens begleitete: seine tiefe Liebe zu den Schriften der antiken Autoren.

Das Altgriechische perfekt beherrschend, verschlang der 15- bis 17-jährige Theodorakis alles, was die Antike an Schriftgut zu bieten hatte. Nicht nur die Tragiker, sondern auch alle Philosophen, Mathematiker und Astronomen. Beim Pythagoräer Philolaos las Theodorakis, dass die Entfernungen zwischen den Planeten gemessen werden können im Verhältnis zum „zentralen Feuer“, also dem Feuerkern des Alls, den Philolaos auch als „Mutter der Götter“ oder auch als „Altar“ und „Ordnung“ der Natur apostrophiert hatte, um den herum sich zyklisch drehten: die Anti-Erde, die Erde, der Mond, die Sonne, die Planeten und schließlich, in der äußeren Sphäre des Alls, die „unsteten Sternenhimmel“. Für den Vorsokratiker Philolaos ist das Feuer der Ursprung des Lichts und die absolute Quelle der Energie des Absoluten. Und laut Philolaos sind Feuer und Musik Geschenke an die Menschen.

Die Musik als Ausdruck des planetarischen Klangs auf Erden bringe einen Widerhall des Universums hervor, und dieser Widerhall versetze den Menschen in einen rein geistigen Zustand, genauso wie andererseits das Feuer auf der materiellen Ebene zu Reinheit in unseren irdischen Sphären führe.

Diese Gedanken inspirierten Theodorakis und bildeten den Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie von der Universellen Harmonie.

Seine Liebe zu den Vorsokratikern und ihrer Musik- und Zahlentheorie hatte ihren Ursprung gehabt in den Nächten unter freiem Himmel, die der fünfjährige Mikis auf der Ägäis-Insel Chios mit seinem Vater verbrachte, der ihm stundenlang – und das über Monate – den Sternenhimmel erklärte. Diese himmlische Ordnung prägte sich dem Kind ein und ließ es den Widerspruch zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, zwischen Harmonie und Chaos schon sehr früh erkennen. Im Kreis der Familie die heile Welt, außerhalb der Familie Gefahr und Leid. Und später dann: Ruhe im Innern, Tod und Folter im Außen.

Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas, Unstete Sternenhimmel
Der vorliegende Artikel wurde in einer gekürzten Fassung in der Zeitschrift exandas veröffentlicht.

Theodorakis, der als Komponist seit seiner Kindheit, wie er schrieb, den „Klang“ als Auslöser musikalischer Schöpfung erfuhr, machte in einem Aufsatz vom November 2006 darauf aufmerksam, dass es nur ein kleiner Schritt sei von dem Gedanken der Vorsokratiker bezüglich der Harmonie und der Musik der Sphären bis zu seinem eigenen Gefühl, in sich einen überwältigenden Klang zu hören, bevor dieser die Gestalt der Musik annahm. Diese beiden Dinge seien nur zwei Seiten derselben Medaille – wobei die zweite nur eine Widerspiegelung der ersten bedeuten kann: irdische Musik also als Widerspiegelung des Klangs des Universums.

Viel später, Ende der 90er Jahre, bei seiner Auseinandersetzung mit dem Antigone-Stoff erkannte Theodorakis, dass der Widerspruch zwischen Chaos und Harmonie sich im Zyklus von Theben widerspiegelt: Iokaste als Mutter des Chaos, die das antinomische Paar Eteokles und Polineikes zur Welt bringt, deren Einander-Bekämpfen schließlich zu Iokastes Tod führt, das heißt zum Tod des Chaos. Aus ihm heraus entsteht eine neue Harmonie, die abermals ein neues Chaos hervorbringt: in Gestalt von Kreon. Was einen weiteren Konflikt auslöst und schließlich durch Antigones Tod zu einer neuen Harmonie mit Ödipus in Kolonos führt.

Ödipus, den Sophokles im heiligen Wald von Kolonos verschwinden lässt, als wollte er die Erlösung von Ödipus als eine endgültige festschreiben, also als die schöne Illusion: dass hinsichtlich des menschlichen Schicksals ein harmonisches und endgültiges Finale existieren könnte. Theodorakis weist darauf hin, dass diese finale Harmonie allerdings nur als Wunsch des Dichters Sophokles zum Ausdruck kommt, der einen versöhnlichen Schluss gestalten wollte, angesichts seines bevorstehenden Todes und in Erwartung einer ewigen Ruhe, die nach Theodorakis’ Meinung aber niemals auf Erden zu haben ist.

Und Theodorakis stützt sich bei der Komposition seiner drei Opern auf das dialektische Prinzip von These, Antithese und Synthese, ohne einen Schlusspunkt setzen zu wollen, und er lässt die Begriffspaare Macht und Gewalt, die sich mit dem Chaos verbinden, entgegenstehen dem Begriffspaar der Liebe und der Pflicht, wobei dieser Antagonismus zur Opferung des Lebens und nur dadurch zu einer neuen Harmonie führen kann. In dieser Weise verdeutlicht er in seinen Opern, als Teil seiner philosophischen und politischen Weltanschauung, wie eng die Beziehung zwischen Himmel und Erde, zwischen universellem Chaos und universeller Harmonie und zwischen all diesen und dem Schicksal des Menschen ist.

Asteris Kutulas

Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas, Unstete Sternenhimmel
Der vorliegende Artikel wurde in einer gekürzten Fassung in der Zeitschrift exandas veröffentlicht.

Griechenland Aktuell: Der Regisseur Asteris Kutulas im Interview

(Ich danke der Online-Plattform GRIECHENLAND AKTUELL, dem Griechischen Aussenministerium und Thanassis Lambrou für dieses Interview. A.K.)

Thanassis Lambrou von Griechenland Aktuell sprach mit Asteris Kutulas über seine Pläne und die laufenden Projekte.

Griechenland Aktuell: [Als Sohn griechischer politischer Flüchtlinge wurde Asteris Kutulas in Rumänien geboren und zog später mit seiner Familie in die DDR. Er studierte Germanistik und Philosophiegeschichte an der Universität Leipzig, übersetzte zahlreiche Werke bedeutender griechischer Autoren ins Deutsche, so z.B. von Konstantinos Kavafis, Giorgos Seferis, Jannis Ritsos und Odysseas Elytis, sowie die Autobiographie, verschiedene Schriften und Gedichte von Mikis Theodorakis.

1980 begann Asteris Kutulas seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Mikis Theodorakis, für den er weltweit Konzerte organisierte und über 30 Alben produzierte

Als Regisseur war er zunächst im Dokumentarfilmbereich tätig und schlug dann einen ganz eigenständigen Weg ein mit den hybriden Filmen „Recycling Medea“ und „Dance Fight Love Die – With Mikis on the Road“. Asteris Kutulas‘ Filmschaffen hat einen direkten Bezug zu Griechenland und wendet sich an ein internationales Publikum.

2015 initiierte Asteris Kutulas zusammen mit Ina Kutulas das Filmfestival „Hellas Filmbox Berlin“.

Basierend auf einem reichen Erfahrungsschatz aus der Zeit seiner Zusammenarbeit mit dem Lichtarchitekten Gert Hof und aus seiner dramaturgischen Tätigkeit im Entertainment-Bereich entwickelte Asteris Kutulas mit Liquid Staging eine neue Eventform und reagiert so auf die Bedürfnisse und Sehgewohnheiten jüngerer Generationen. Seine Film-Raum-Installationen sind allerdings Erlebnisfelder für ein Mehrgenerationen-Publikum.] – Griechenland Aktuell

Asteris Kutulas, Mikis Theodorakis, Medea 21, Liquid Staging, Maria Kousouni

GR Aktuell: Erzählen Sie uns von Ihren jüngsten Projekten ELECTRA 21 und MEDEA 21.

Asteris Kutulas: Diese beiden Projekte vereinen auf sehr moderne Weise Musik, Tanz, Lyrics, Film und Installation. Stellen Sie sich das so vor: Das Publikum in der Mitte, vier große Leinwände drum herum. Bei anderen Produktionen könnten es mehr oder auch weniger Screens sein. Bei den Hofer Filmtagen habe ich das zusammen mit meinem Team bereits zweimal realisiert. Also: In einem großen Raum vier Leinwände, auf jeder ein Film, alles gleichzeitig, absolut synchron zur Elektra- bzw. zur Medea-Musik von Mikis Theodorakis. Ich wollte mit diesem neuen Show-Format die Geschichten der beiden faszinierenden Frauengestalten neu und anders erzählen, wobei die Zahl 21 für das 21. Jahrhundert steht. 

Wir haben 2011 die Ballettaufführung der „Medea“ und 2018 die der „Electra“ mit der fantastischen Musik von Mikis Theodorakis und der großartigen Choreografie von Renato Zanella im Apollo-Theater auf Syros gefilmt. Maria Kousouni als Medea und Sofia Pintzou als Elektra sind Weltklasse, und sie tanzen „auf Leben und Tod“. Das muss man einfach gesehen haben … auch wie unsere Cinematographer Michalis Geranios die Medea und James Chressanthis (ASC) die Elektra gefilmt haben. 

2021 und 2022 verschmolz ich das „Electra“- und das „Medea“-Filmmaterial mit meinem Liquid-Staging-Konzept, und so entstanden ELECTRA 21 (63 Minuten) und MEDEA 21 (45 Minuten): Da das Publikum bei jedem der beiden Projekte jeweils vier verschiedene Filme gleichzeitig erlebt, sieht jeder Zuschauer einen anderen Film, weil jeder jeden Augenblick entscheidet, wohin er schaut und welchen „Film“ er sieht. Jeder im Publikum macht im Kopf seinen eigenen Filmschnitt. Am Schluss hat kein Zuschauer dasselbe gesehen. Es ist ein neues, ein „polydimensionales Sehen“. Ein immersives Kino-Erlebnis. 

GR Aktuell: Sie gehören zu den Schöpfern des innovativen Kinos und benutzen dabei Themen aus antiken Dramen. Warum sind diese Stoffe für Sie immer noch interessant?

Asteris Kutulas: Für mich sind sie aktuell, relevant, brisant. Die Storyline des Sophokles-Thrillers „Elektra“: Es geht um Macht. Agamemnon, der Vater, opfert seine Tochter Iphigenie, um in den Krieg gegen Troja ziehen zu können. Seine Ehefrau erschlägt ihn darum zehn Jahre später. Ihre beiden Kinder Elektra und Orest töten wiederum viele Jahre danach die Mutter. Ein Kreis des Hasses und der Rache, der zur Vernichtung der Institution der Familie führt. Ein zeitloses Thema.

Bei der „Medea“ von Euripides führt derselbe Teufelskreis zur Vernichtung jeder Hoffnung auf Zukunft. Auch das hochaktuell. Aus Liebe zu Jason verrät Medea ihre Familie, erschlägt ihren Bruder und flieht aus der Heimat. Sie und Jason haben bald zwei Söhne, aber Jason bleibt nicht bei Medea, die in seinem Land eine Fremde ist. Glauke, die Tochter des Königs, ist eine wesentlich bessere Partie. Medea will sich mit Jason nicht arrangieren; sie tötet aus Rache ihre Rivalin Glauke, und dann tötet sie ihre beiden Söhne, um Jason auf ewig leiden zu lassen. Medea, die ihren Status verlor – eine Kindsmörderin. Wäre sie „einfach vernünftig“ geblieben, wäre das alles nicht passiert. Jason, der Ehemann und Vater, ebenfalls in einem Macht- und Dreieckskonflikt gefangen.

Schließlich die Kinder, die von der eigenen Mutter erschlagen werden – die unschuldigen Opfer der ungelösten Erwachsenen-Konflikte. Genauso wie die Elterngeneration von heute ihre Kinder und Enkel nicht in die Klubs zum Feiern, sondern auf das Schlachtfeld zum Sterben schickt.

Wie in vielen Netflix-Serien handeln „Medea 21“ und „Electra 21“ von Hass, Tod, Verlust der Identitäten, von Heimat, Liebe, Familie und Gemeinschaftlichkeit. Das Zerstörerische tritt immer deutlicher zutage. Wir alle erfahren dies heute weltweit in vielen Krisen und Kriegen. Diese Geschichten zeigen wir in „Medea 21“ und „Electra 21“ auf neue Art und Weise. Durch die Liquid-Staging-Ästhetik ist ein viel spannenderes und emotionaleres Storytelling möglich, das zudem dem „neuen Sehen“ der jüngeren Generationen entspricht, desillusioniert und dynamisch. 

Die Zuschauer müssen sich orientieren: Wo läuft welcher Film? Welcher „Film“ läuft insgesamt ab? Mehrere in einem Raum parallel ablaufende visuelle Erzählstränge, die ein neues cineastisches Erlebnis schaffen, fordernd und überwältigend zugleich. Ich empfinde das als der dramatischen Gegenwartssituation mit ihren vielen Umbrüchen angemessen. Ich habe Schwierigkeiten, in einem Sessel zu sitzen und auf einen Bildschirm zu schauen. Ich bin nicht so drauf in diesen Zeiten. Ich will sie anders packen.

Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas

GR Aktuell: Mikis Theodorakis ist vor einem Jahr gestorben. Wann haben Sie ihn kennengelernt? Wie konnte Ihre Freundschaft und Zusammenarbeit so lange dauern?

Asteris Kutulas: Ich habe Mikis 1980 kennengelernt, als ich Germanistik und Geschichte der Philosophie in Leipzig studierte. Ich traf auf einen Mikis Theodorakis – durch und durch Künstler. Wach, genial, belesen, humorvoll, total offen, neugierig. Von ihm ging eine unbändige Energie aus – das hat mich an ihm am meisten fasziniert. Dieses Pulsierende, Lebendige, Anarchische. In seiner Gesellschaft tankte ich ununterbrochen „Poesie“ und atmete das existentielle „Gefühl von Freiheit“. Es traf auf das, was ich studierte und wofür ich mich interessierte. Es war eine Art von Doping.

Unsere langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit beruhten darauf, dass Mikis Theodorakis mich von Anfang an als „Künstlerkollegen“ akzeptierte, obwohl uns 35 Jahre Altersunterschied trennten und ich noch am Anfang stand. Das war eine seiner faszinierenden und beglückenden Grundeigenschaften: Mikis hatte diese Offenheit, dieses starke Interesse. Für ihn war das Leben ein permanenter Workshop. Wir kooperierten künstlerisch und tauschten uns aus über Dichtung, Philosophie, Musik, Politik, bildende Kunst, Film, Tanz. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden viele Bücher, einzigartige Alben, Filme, Interviews, Konzept-Touren, exklusive Musik-Produktionen, Ausstellungen und vieles mehr.

GR Aktuell: Welche Zukunftspläne haben Sie noch im Hinblick auf all das, was Theodorakis‘ als vielfältiges und überreiches Werk hinterlassen hat?

Asteris Kutulas: Ich kannte Mikis Theodorakis als einen sehr authentischen, wirklichkeitsnahen Menschen, sehr „bodenständig“, wie man im Deutschen sagt. Das blieb er bis ins hohe Alter hinein. Er sagte: „Das Alter muss gezeigt werden, filme, fotografiere mich so, wie ich bin.“ Und so stellte er sich auch vor „sein“ Publikum, im Rollstuhl, ohne Angst und Eitelkeit, konzentriert auf die Musik, die ihn in diesen Momenten zusammen sein ließ mit den tausenden Menschen, die da waren. Das war so etwas wie die „Honigpumpe“ von Beuys – ein sehr alter Mann in einem Rollstuhl, aber es geht nicht darum, sondern man ist im Lied, in der Melodie, im Text, in etwas, zu dem man sagt: Ich komme von da. Mikis ist aus der Lyrik gekommen, und dann hat der Klang ihn eingeholt.

Als ich in den Neunzigerjahren Mikis‘ drei „Lyrischen Tragödien“ – wie Mikis seine Opern nannte – „Medea“, „Electra“, „Antigone“ hörte, beschloss ich, eine „Thanatos-Trilogie“ zu machen: Über „Killing the Children“ in Medea, „Killing the Parents“ in Electra und „Killing Democracy“ in Antigone. Zusammen mit meiner Ko-Autorin und Ko-Produzentin Ina Kutulas arbeiten wir seit 2018 an diesem Konzept, das Mikis sehr gefallen und unterstützt hat. Dieses Konzept haben wir „in verschiedene Formate gegossen“. Ein Format ist das Liquid-Staging-Kino-Format. Ein weiteres Format ist eine Live-Bühnen-Version: Zusammen mit Renato Zanella und Ina Kutulas habe ich eine Ballett-Tetralogie entwickelt. Der Titel: „Thanatos Trilogy + Epilogue: Make Love not War“. Das bedeutet: Medea – Electra – Antigone – Lysistrata in einem Tanz-Film-Event. Mikis‘ Musik in diesen vier Werken ist sehr cineastisch, sehr modern. Rhythmisch, dramatisch, lyrisch – und dann diese Theodorakis-Melodien, die einfach einzigartig sind. 

Aktuell arbeiten wir mit Achilleas Gatsopoulos, Michalis Argyrou, Ina Kutulas und weiteren Künstlern am SATELLITE CLIPS PROJECT, das auf innovative und spezifische Weise bildende Kunst und Film miteinander verbindet. Es zeigt, wie man durch einen dramaturgischen Ansatz aus einer Reihe von Video-Clips und grafischen Kunstwerken, die zu Film-Grafiken wurden, ein immersives Show-Format entwickeln kann. Wie bei den anderen hier beschriebenen Projekten ist das ein Schritt hin zum polydimensionalen Sehen, zum Kino 2.0.

Griechenland Aktuell. Veröffentlicht am 14. Dezember 2022.

Mikis Theodorakis und die DDR – Ein Gespräch mit Asteris Kutulas – von Bart Soethaert

Centrum Modernes Griechenland & Freie Universität Berlin präsentieren: CeMoG-Newsletter vom  17.11.2021

CeMoG-Editorial: Im Gespräch mit Bart Soethaert geht Asteris Kutulas als beteiligter Akteur und Zeitzeuge näher ein auf die Produktions-, Wahrnehmungs- und Rezeptionsbedingungen für die Musik von Theodorakis, insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren in der DDR.

Das Gefühl der Freiheit. Mikis Theodorakis und die DDR: eine Annäherung

Mikis Theodorakis Asteris Kutulas
Mikis Theodorakis, 1981 in der DDR (Photo © by Privatier/Asti Music)

Bart Soethaert: In seinem Nachruf auf Theodorakis für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (02.09.2021) schrieb Gerhard R. Koch, dass dessen Erfolg und anhaltende Wirkung einer „quasi Dreizack-Ästhetik von elaborierter Komposition, aktivem gesellschaftlichem Widerstand und überaus erfolgreicher Popularisierung“ zu verdanken ist. Herr Kutulas, Sie haben als Produzent und Freund über viele Jahre sehr eng mit Theodorakis zusammengearbeitet. In welchem Sinn stellt er für Sie einen „Ausnahmekünstler“ dar?

Asteris Kutulas: Zunächst gilt festzuhalten, dass Mikis Theodorakis ein unglaubliches Talent hatte. Die Musik floss aus ihm als brausender Strom heraus – und das bis 2009, als er seine letzte Komposition „Andalusia“ für Alt und Sinfonieorchester fertigstellte.

Zudem war er ein Energiebündel. Sein umfangreiches Werkschaffen ergab sich aus diesem musikalischen Talent und daraus, dass er ständig arbeitete, ständig komponierte, arrangierte, dirigierte, auf der Bühne stand, bei Aufnahmen in Studios war und so weiter und so fort. Theodorakis wirkte auf mich immer wie ein schöpferisch pulsierender Künstler.

Ein weiteres Element, das sein Wesen ausmachte, war – und das mag anfangs vielleicht banal klingen – dass er alle Menschen bedingungslos liebte, sozusagen mit „Haut und Haar“. Diese positive emotionale Grundeinstellung gegenüber anderen Menschen traf bei Theodorakis mit einer ausgesprochen libertären Gesinnung zusammen. Er war ein Freigeist, ein absoluter Anti-Opportunist, der mit keinen Dogmen – politischen, moralischen, religiösen usw. – zurechtkommen konnte.

Den dritten Aspekt hat, so meine ich, der Künstler Joseph Beuys am besten auf den Punkt gebracht, als er über Theodorakis sagte, dieser sei für ihn eine „soziale Plastik“.

Theodorakis wurde zu dem, der er mit seiner Musik und seiner Persönlichkeit für Griechenland und die Welt geworden ist, weil er aus diesen Grundzügen heraus als personifiziertes „Gesamtkunstwerk“ gesellschaftlich agieren und auf die jeweiligen Verhältnisse einwirken konnte.

Mikis Theodorakis Asteris Kutulas

Bart Soethaert: Worin sehen Sie die soziokulturelle Leistung der Musik von Theodorakis in der griechischen Nachkriegsgesellschaft?

Asteris Kutulas: Weil durch den Bürgerkrieg eine „unnatürliche Entzweiung des griechischen Volkes“ – dieser Ausdruck stammt von Theodorakis selbst – erfolgte, sah er als Komponist und Künstlerpersönlichkeit seine Rolle darin, über die Musik eine Verständigung der sich feindlich gegenüberstehenden politischen Lager herbeizuführen. Dieses Anliegen wird bereits in der Widmung seiner Ersten Sinfonie deutlich. Die Komposition begann er während seiner Verbannung und Haft auf Ikaria und Makronisos 1948, mitten im griechischen Bürgerkrieg, und er beendete sie einige Zeit danach. 1955 wurde die Erste Sinfonie in Athen uraufgeführt. Theodorakis hatte das Werk zwei Freunden gewidmet, Makis Karlis und Vassilis Zannos, die im Bürgerkrieg auf der jeweils anderen Seite – „gegeneinander“ – kämpften und 1948 kurz nacheinander umgekommen waren.

Auch seine Liedkompositionen der 1960er Jahre bewirkten in dieser Hinsicht sehr viel. Er vertonte nicht nur Gedichte des Kommunisten Jannis Ritsos, dessen Werke 20 Jahre lang verbotene Lektüre waren, sondern z.B. auch von Giorgos Seferis, zur selben Zeit Diplomat im Staatsdienst. Es fasziniert mich, dass durch Theodorakis‘ Vertonungen nicht nur die hehre Poesie alsbald in aller Munde war und von den Menschen verinnerlicht wurde, sondern dass Theodorakis darüber hinaus seine Liedkompositionen als ein gesellschaftspolitisches Mittel der Verständigung einzusetzen vermochte. Dieses Engagement zur Aussöhnung der Bürgerkriegsparteien hat ihm stets – jahrzehntelang – Kritik von beiden Seiten eingebracht.

Mikis Theodorakis Jannis Ritsos Asteris Kutulas
Mikis Theodorakis, Jannis Ritsos, Asteris Kutulas, Dresden 1984 (Photo by © Privatier/Asti Music)

Bart Soethaert: Ihre Familie siedelte 1968 aus Rumänien in die DDR über. In welchem Kontext entstand Ihr Interesse an Mikis Theodorakis? Wie kamen Sie mit seiner Musik in Berührung?

Asteris Kutulas: Ich war mit den Schallplatten von Theodorakis aufgewachsen; seine Musik gehörte seit den 1960er Jahren zu unserem Familienleben, Werke wie z.B. Axion Esti haben meine Eltern und ich „rauf und runter“ gehört.

Dadurch hat es mich 1980 einfach mitgerissen, als ich als Zwanzigjähriger Theodorakis zum ersten Mal im Berliner Palast der Republik begegnet bin. Die Erstaufführung des Canto General in der DDR, das war für mich ein sehr besonderer Abend: Theodorakis stand da ganz in meiner Nähe als Dirigent. Ich war damals Dolmetscher für die Sängerin Maria Farantouri. 1981 kam er wieder, um die endgültige Fassung des „Großen Gesang“, basierend auf den Texten von Pablo Neruda, aufzuführen, wo ich dann als sein Dolmetscher arbeitete. Wir freundeten uns an und unsere Zusammenarbeit begann.

Immer, wenn man mit ihm zusammen war und an seiner Energie teilhaben konnte, lebte man wie in einer pulsierenden Wolke aus Musik, Poesie, Philosophie, Geschichte, Politik, darstellender Kunst und einem unbändigen Gefühl von Freiheit. Ich wollte aus dieser Energiewolke nicht mehr raus. Dieses künstlerisch-anarchistische Leben wollte ich unbedingt führen.

Sie müssen wissen, ich bin ein Kind der „politischen“ Diaspora, die aufgrund des Bürgerkriegs (1946-49) ab 1950 auch in der DDR entstand. In diesem Kontext hatte Theodorakis für mich „gesellschaftspolitische Relevanz“, und zwar vor allem durch diese Verbindung, ein Linker und zugleich ein Freigeist zu sein, was die Linken sehr oft irritierte.

Bahnbrechend war für mich darüber hinaus, dass Mikis als „ernster Komponist“ Lieder geschrieben hat, deren Melodien sich mit der höchsten Dichtung der literarischen Moderne Griechenlands verbanden, wobei sich die Popularität dieser Lyrik in Griechenland und auch die internationale Bekanntheit bis heute erhalten haben. Die Trias seiner Ästhetik – Musik, Poesie und Freiheitsanspruch – ist so wirksam, weil sie eine Synthese darstellt.

Mikis Theodorakis
Mikis Theodorakis Werkverzeichnis/Catalogue of Works by Asteris Kutulas, Livanis Edition 1997

Bart Soethaert: Die Aufführung des Canto General 1980 in Berlin-Ost markierte einen Neubeginn für Theodorakis in der DDR, nachdem seine Musik zehn Jahre (1970-1980) nicht mehr im Rundfunk gespielt werden durfte und die in den Lagerbeständen noch vorhandenen Theodorakis-Schallplatten auf Befehl der DDR-Führung zerstört worden waren. Wie kam es dann dazu, dass die DDR in den Achtzigerjahren weder Zeit noch Mühe scheute, Theodorakis eine Bühne zu geben? Er ist einige Jahre lang immer wieder zu Arbeitsaufenthalten in die DDR eingeladen worden, konnte mit den besten Chören, Orchestern und Dirigenten arbeiten und seine Werke aufführen.

Asteris Kutulas: Dass Theodorakis ab 1980 in der DDR wieder präsent war, dass wieder Werke von ihm auf Schallplatte veröffentlicht wurden, dass es zu den ersten Theodorakis-Konzerten überhaupt in der DDR kam, das alles war der Hartnäckigkeit und dem Engagement von Peter Zacher zu verdanken, einem angesehenen Musikkritiker aus Dresden, der stark in die Singe- und Folklorebewegung der DDR involviert war. Peter hatte sich seit 1975 unermüdlich um eine Aufführung des Oratoriums „Canto General“ in der DDR bemüht. Das wurde erst 1980 möglich, als Theodorakis als Parteiloser wieder mit der Kommunistischen Partei Griechenlands kooperierte. Da hob man in einigen sozialistischen Ländern, wie z.B. in der DDR, das Verdikt gegen ihn auf. Peter Zacher konnte dann 1980 die Aufführung des „Canto General“ im Palast der Republik bewirken und später durch seine Vernetzung mit der Musikwelt der DDR u.a. mit Persönlichkeiten wie Herbert Kegel, Kurt Masur, Udo Zimmermann sowie mit Institutionen wie den Dresdner Musikfestspielen, der Halleschen Philharmonie und dem Dresdner Kreuzchor weitere Aufführungen von Theodorakis-Werken initiieren. Auf Vermittlung von Peter Zacher kam es zu den Uraufführungen u.a. der Liturgie Nr. 2, der Frühlingssinfonie, der Sadduzäer-Passion und der 3. Sinfonie. Wenn Peter Zacher nicht gewesen wäre, hätte es das alles nicht gegeben. 1986 haben Peter Zacher und ich auch den Band mit Schriften, Essays und Interviews von Theodorakis gemeinsam übersetzt und bei Reclam herausgegeben. [Mikis Theodorakis, Meine Stellung in der Musikszene, erschienen 1986 in Reclams Universal-Bibliothek]

Jannis Ritsos Asteris Kutulas
Peter Zacher & Jannis Ritsos, Dresden 1984 (Photo © by Asteris Kutulas)

Kennengelernt hatte ich Peter Zacher 1976, als ich an der Dresdner Kreuzschule – heute heisst sie Kreuzgymnasium – Schüler war, weil zu dieser Schule seit dem 15. Jahrhundert auch der weltberühmte Kreuzchor gehörte, und Peter Zacher hat mit dem Kreuzchor zusammengearbeitet. Mit der Musik von Theodorakis war er Mitte der sechziger Jahre in Berührung gekommen, weil im nahen Radebeul seit dem Ende des griechischen Bürgerkriegs 1949 eine griechische Gemeinde existierte. Ab 1966 und bis in die 1970er Jahre betreute Peter Zacher an der TU Dresden (TUD) ein Ensemble junger Musiker, die zu den griechischen Emigranten gehörten, und diese hatten auch viele Theodorakis-Lieder im Repertoire.

In der Zeit, als Theodorakis in der DDR von offizieller Seite totgeschwiegen wurde, brachte 1975 ein junger Dresdner Grieche, Nikos Kasakis, das Theodorakis-Doppelalbum „Canto General“ aus Griechenland mit und lieh es Peter Zacher. Der war schon länger ein Bewunderer von Maria Farantouri, und als er dann den „Canto General“ hörte, verliebte er sich sofort auch in dieses Werk und wollte es unbedingt in die DDR holen. Von da an hat er das wieder und wieder versucht, bis dann schließlich 1980 Theodorakis zum ersten Mal nach Berlin-Ost kommen konnte und mit dem „Canto General“ im Palast der Republik sein erstes Konzert in der DDR gab. Bis dahin hatte es schon hunderte Theodorakis-Konzerte in der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Jetzt begann sich auch in der DDR eine Fangemeinde zu bilden.

Bart Soethaert: Maria Farantouri, Heiner Vogt und der Rundfunkchor Berlin interpretierten an dem Abend im Rahmen des 10. Festivals des politischen Liedes die sieben bis dahin vorliegenden Sätze des Canto General. Bei dieser Gelegenheit lernten Sie, wie vorhin schon erwähnt, Mikis Theodorakis persönlich kennen. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an diesen Abend zurückdenken, nach dem Theodorakis in der DDR dann wieder in aller Munde war? Was vermittelte der „Canto General“ im vollen Saal im Palast der Republik?

Asteris Kutulas: Der „Canto General“ offenbart einen unikalen melodischen Fingerabdruck; er zeugt von kompositorischer Größe und ist eines der schönsten Chorwerke des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt diese spanischsprachige, meisterhafte Poesie Nerudas! Kurz gesagt: An diesem Abend, im geteilten Berlin, in der DDR, in der es keine Reisefreiheit gab, aus der die meisten Bürger also nie rauskamen, atmete die Aufführung das, was hinter der Grenze lag: „Welt“. Dass Theodorakis‘ und Nerudas Werk – die Werke zweier utopischer Kommunisten – so im Palast der Republik zusammenkamen, das war für viele junge Menschen und Intellektuelle in der DDR ein Glücksfall sowie ein Zeichen der Hoffnung im Hinblick darauf, dass das Ideal eines humanistischen Kommunismus‘, also eines Ideals von Freiheit, Würde und Naturverbundenheit, zumindest gedacht und geträumt werden konnte.

Bart Soethaert: Es ist eine ironische Wendung der Rezeptionsgeschichte, dass Theodorakis erst 1980, am selben Abend im Palast der Republik, die Urkunde der Ehrenmitgliedschaft der Akademie der Künste der DDR – eine Ehrenmitgliedschaft, die ihm bereits 1968 zugesagt worden war – feierlich überreicht worden ist. Wie war es dazu gekommen, dass Theodorakis 1967-1970 in der DDR außerordentlich große Bekanntheit erlangt hatte?

Asteris Kutulas: Als sich im April 1967 in Griechenland das brutale Militärregime an die Macht putschte, musste Theodorakis in die Illegalität gehen; er wurde im August desselben Jahres verhaftet. Am 1. Juni 1967 trat ein Armeebefehl in Kraft, der das Hören, die Wiedergabe oder das Spielen von Theodorakis‘ Liedern und sogar den Besitz von Tonträgern mit Theodorakis-Liedern verbot.

International bekannte Persönlichkeiten wie z.B. Arthur Miller, Harry Belafonte und Dmitri Schostakowitsch gründeten ein Komitee und forderten seine Freilassung.

In der DDR hat sich Mitte November 1967 der Schriftsteller Hermann Kant mit einem Aufruf in der Zeitung Neues Deutschland an alle Kinder der Republik gewandt, Theodorakis auf Postkarten gemalte bunte Blumen zu schicken. Angela Merkel berichtete in einem Interview, dass auch sie damals eine Blume mit dem Aufruf „Freiheit für Theodorakis“ an das Gefängnis Averof in Athen geschickt hatte.

Der Druck der gewaltigen internationale Solidaritätswelle führte dazu, dass Theodorakis aus der Haft entlassen wurde und im April 1970 nach Paris ausreisen konnte.

Mikis Theodorakis Asteris Kutulas
Mikis Theodorakis, Athens 2010 (Photo by © Asteris Kutulas)

Bart Soethaert: Aus dem Dezember 1967 stammt auch das Sonderheft Mikis Theodorakis mit einer Auswahl von Gedichten von Giannis Ritsos in der deutschen Nachdichtung von Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer und mit Liedtexten, inklusive Noten, von Theodorakis. Das Sonderheft erschien in einer Auflage von 50.000 Exemplaren in der ebenfalls 1967 gegründeten und sehr populären Lyrikreihe Poesiealbum beim Berliner Verlag Neues Leben, dem Verlag der DDR-Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ). Im Verlagsgutachten, das zusammen mit dem Manuskript zur Erlangung einer Druckgenehmigung bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im DDR-Ministerium für Kultur eingereicht wurde, begründete der Lektor Klaus-Dieter Sommer u.a., dass diese Sonderausgabe nicht nur „unsere Solidarität mit den griechischen Patrioten bekundet“, sondern insbesondere auch „Jugendlichen, vor allem den Singeklubs, ein gutes Material in die Hände gibt“, denn Theodorakis hat mit seinen „außerordentlich einprägsamen, leicht sangbaren Vertonungen“ und „volkstümlichen Kompositionen ein Beispiel dafür geschaffen, wie man mit Liedern, mit politischen Liedern, breite Schichten erreichen kann“. Was sagt aus Ihrer Sicht die Argumentation über den Versuch aus, den Komponisten zu vereinnahmen?

Asteris Kutulas: Es wird hier deutlich, dass Theodorakis’ Musik das Publikum der DDR in mehreren Wellen erreichte und dass die erste Popularitätswelle in der DDR (1967-1970) qualitativ differenzierter zu betrachten ist als die Situation ab 1980. Das Verlagsgutachten macht m.E. klar, wie in der ersten Welle die Aussage der Texte und der Freiheitsanspruch an zweiter Stelle standen und an erster Stelle die etwas unbeholfen als „volkstümliche Kompositionen“ bezeichneten Melodien. Diese – politisch bedingte – „einseitige“ Theodorakis-Rezeption war bereits der Vorbote dessen, dass die DDR-Staatsführung den Komponisten und seine Musik bereits zwei Jahre später schon wieder verboten hat.

Während Theodorakis‘ Lieder im Westen immer wieder zu Hits wurden und die Charts stürmten, wurde in sehr vielen sozialistischen Ländern seine Musik überhaupt nicht gespielt.

Wie vorhin ausgeführt, änderte sich das 1980. Die DDR-Politiker haben in den 80er Jahren zwar nicht direkt etwas für Theodorakis‘ Werk getan, aber sie haben es zumindest nicht mehr blockiert, denn die ideologische Haltung war etwas lockerer geworden. Außerdem haben sie stets versucht, Theodorakis’ Präsenz in der DDR propagandistisch für sich zu nutzen. Theodorakis war allerdings nur schwer zu vereinnahmen – das wussten die DDR-Oberen, und sie waren ihm gegenüber auch stets vorsichtig. Sie misstrauten ihm bis zum Schluss.

Hermann Axen war Mitglied des Politbüros der SED, galt als sehr gebildet, er sprach Französisch, war von den Nazis verfolgt worden, nach Paris geflohen, da hatte er mit Theodorakis einen Berührungspunkt, Paris als Exil; er lud im Januar 1989 Theodorakis zu einem Essen ein. Kaum hatte Mikis eine DDR-kritische Frage zur Inhaftierung von jugendlichen Demonstranten gestellt, fing Herr Axen über alles mögliche zu reden und hörte nicht mehr auf, bis das Treffen beendet war. Zu einem weiteren Treffen kam es nie mehr.

Es gab immer mehr Fans in der DDR, die Theodorakis sprechen wollten, die ihn im Konzert erleben wollten oder denen es teilweise Spaß machte, ihm eine Zigarre zu besorgen oder ihm Fotos zu schenken, Bilder, Grafiken, Texte etc. Das waren die Leute, für die Theodorakis in die DDR kam, diese jungen Leute, die sich dachten: „Die Gedanken sind frei …“ Und dann waren da noch die Leute, die sich aus kompositorisch-musikalischer Sicht für seine Werke begeisterten wie z.B. Günter Mayer, Udo Zimmermann und etliche andere. Dazu gehörte auch Konrad Wolf, der damals den Plan hatte, einen großen Film über die REVOLUTION zu machen auf der Grundlage des Soundtracks von „Canto General“. Es gab mehrere diesbezügliche Gespräche zwischen Theodorakis und Wolf, bei denen ich dolmetschte. Konrad Wolf ist früh gestorben. Das hätte ein interessanter Film werden können. Konrad Wolf war völlig klar, dass Mikis nichts mehr beweisen muss und dass diese Musik, diese Poesie, dieser Freigeist für viele vor allem Inspiration bedeutete, Hoffnung, Energie, und darauf kam es an.

Bart Soethaert: Während in Paris andere prominente Exilanten wie Melina Mercouri, Maria Farantouri und Costa-Gavras auf Theodorakis warteten, um mit ihm vereint den Kampf für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit fortzuführen und es zwischen 1970 und 1974 allein schon in West-Europa hunderte von anti-diktatorischen Konzerten gab, wurde es in der DDR 1970 still um Theodorakis. Was war passiert?

Asteris Kutulas: 1970 war erstmal Schluss, weil Theodorakis sich öffentlich gegen den Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei aussprach und sich zum Euro-Kommunismus bekannte, der sich vom Moskauer Führungsanspruch lossagte und für die Kommunistischen Parteien in mehreren westeuropäischen Ländern politische und ideologische Selbstständigkeit beanspruchte.

1972 wurde Theodorakis in die Sowjetunion nach Jalta eingeladen, und dort hat Leonid Breschnew ihm angeboten – so erzählte mir Theodorakis –, der nächste Generalsekretär der Kommunistischen Partei Griechenlands zu werden. Theodorakis lehnte ab, weil er die Entscheidung darüber, wer die Führungsperson der griechischen KP sein wird, nicht in der Zuständigkeit des Moskauer Politbüros sah. Außerdem ist Theodorakis zu dieser Zeit nicht Mitglied der KP gewesen; er war aus der Partei ausgetreten. Innerhalb von Stunden musste Theodorakis in Jalta das Hotel wechseln und am Tag darauf die Sowjetunion verlassen.

Drei Jahre, nachdem in der DDR Paul Dessau den vorhin erwähnten Armeebefehl Nr. 13, der „die Wiedergabe oder das Spielen der Musik des Komponisten Mikis Theodorakis“ verbot, zu Ehren von Theodorakis für Sprecher, gemischten Chor und neun Instrumente musikalisch umgesetzt hatte, um in der Deutschen Demokratischen Republik diese Maßnahme des Militärregimes zu verdeutlichen, die u.a. das Ende der Freiheit der Musik bedeutete, wurde Theodorakis auch in der DDR zur persona non grata.

Das Interview mit Asteris Kutulas führte Bart Soethaert.

Weitere Quellen

Asteris Kutulas ist Autor, Filmemacher, Übersetzer, Musik- und Eventproduzent. Sein neuestes Werk Electra 21 feierte bei den 55. Internationalen Hofer Filmtagen am 30. Oktober 2021 Weltpremiere.

Bart Soethaert ist Neogräzist und Postdoc am Exzellenzcluster 2020 „Temporal Communities“ der Freien Universität Berlin. Derzeit erforscht er die Rezeption der Romane von Nikos Kazantzakis in globaler Perspektive (1946–1988).

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Nachtrag: Mikis Theodorakis zu Peter Zacher

„In Ost-Berlin lernte ich 1980 Peter Zacher aus Dresden kennen, der sich während der ganzen Zeit, als ich in der DDR verboten war, für mich und mein Werk und vor allem für den „Canto General“ eingesetzt hatte. Schließlich wurde der „Canto General“ 1980 in Berlin im „Palast der Republik“ aufgeführt. Das Konzert war so ein Riesenerfolg, dass ich danach gleich einen Auftrag für ein sinfonisches Werk bekam. So kehrte ich nach Paris zurück und legte los. Die „2. Sinfonie“ entstand. Sie basierte auf dem Material aus der Pariser Zeit der 50er Jahre. Ich brauchte nicht immer noch mehr und mehr zu schreiben, denn ich hatte bereits einen ganzen Koffer voll fertiger Sachen, so dass ich gar nicht wusste, was ich damit zuerst machen sollte; und so verarbeitete ich dieses Material u.a. in der „2. Sinfonie“. Sogar aus den 40er Jahren, als ich in den Verbannungslagern gewesen war, gab es noch genügend Material.“ (Mikis Theodorakis)

taz Interview mit Asteris Kutulas

taz Interview mit Asteris Kutulas

„Es war ein Akt des Widerstands“ – taz Interview mit Asteris Kutulas, befragt von Marina Mai

taz: „Begriffe ohne Anschauung sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, Asteris, was sagt Dir dieses Zitat heute?

Asteris Kutulas: Darüber könnte ich eine ganze Vorlesung halten. Aber als erstes denke ich da an die „Frage“, die der Roman „Zorbas“ von Nikos Kazantzakis stellt: Was ist wichtiger im Leben: Das Buch oder der Tanz?

taz: Der Satz stammt aus der Erkenntnistheorie des Philosophen Immanuel Kant. Wir haben in den 1980er Jahren gemeinsam in Leipzig Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie gehört. Weil wir uns in Studienzeiten kennengelernt haben, möchte ich dich im taz-Interview duzen. Du hast, so finde ich, damals die Symbiose von begrifflichem und anschaulichem Denken, die Kant für die Philosophie vollzogen hat, gelebt: In Lehrveranstaltungen bist Du gern über Metaebenen geklettert. Nebenher hast Du Künstler von Weltruhm aus dem Griechischen übersetzt, beispielsweise die Lyriker Jannis Ritsos, Giorgos Seferis und Odysseas Elytis, aber auch Texte des griechischen Komponisten Mikis Theodorakis. Du hast Dich dann später beruflich für das Anschauliche entschieden, Du bist Künstler und Produzent geworden. Hast Du auch einmal mit einer wissenschaftlichen Laufbahn geliebäugelt?

Asteris Kutulas: Das wäre für mich sicherlich spannend gewesen. Aber ich bin schon als Student in den Sog der Lyrik und Musik geraten. Persönlichkeiten wie Jannis Ritsos, Mikis Theodorakis und später der Lichtkünstler Gert Hof haben mich 40 Jahre lang geprägt. Ich habe in einer Welt gelebt, die voll von Literatur, Musik, Kunst, Film, Politik, Geschichte und Philosophie war. Diese Welt wollte ich niemals verlassen. Das war und ist mein Leben.   

Ich habe aber gerade angefangen, eine Dissertation zu schreiben. Darin geht es um meine „Liquid Staging“ Ästhetik, die sich mit der „Verräumlichung des Films“ als Basis für neue Show-Formate im 21. Jahrhundert auseinandersetzt.

taz Interview Asteris Kutulas Liquid Staging Theodorakis Gert Hof

taz: Was ich als Studentin nicht wusste: Du wurdest in Rumänien geboren. Wie hat es Deine Eltern dorthin verschlagen?

Asteris Kutulas: In Griechenland tobte nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1945 und 1949 ein schrecklicher und blutiger Bürgerkrieg. Die „linken Partisanen“ verloren diesen Krieg, und etwa 60.000 von ihnen, darunter auch mein Vater und die Familie meiner Mutter, flohen über die albanische, die jugoslawische und bulgarische Grenze in die sozialistischen Staaten. Ihr Schicksal wurde besiegelt durch Entscheidungen, die fernab ihrer Heimat getroffen wurden – von Menschen, die sie nur dem Namen nach kannten: Churchill, Stalin, Truman, Tito. So landeten unsere Eltern in der „kommunistischen Diaspora“, irgendwo in Osteuropa, in fernen, ihnen unbekannten Dörfern oder Städten mit für sie exotischen Namen: Radebeul, Bratislava, Taschkent, Zgorzelec. Meine Eltern trafen sich in der rumänischen Stadt Oradea, nahe der ungarischen Grenze. Dort kam ich 1960 in einem Flüchtlingslager zur Welt. Ein paar Jahre später zog meine Familie nach Bukarest, als mein Vater Redakteur bei Neos Kosmos wurde, der theoretischen Zeitschrift der Kommunistischen Partei Griechenlands.

taz: Und unter welchen Umständen kam Deine Familie dann 1968 in die DDR?

Asteris Kutulas: Sitz der Parteiführung der seit 1946 in Griechenland verbotenen Kommunistischen Partei war Bukarest. 1968 gab es eine Spaltung der KPG. Mein Vater gehörte zu der moskautreuen Fraktion, und die wurde von Rumäniens Staatschef Nicolae Ceausescu ausgewiesen – das war eine völlig bizarre und surreale Situation. Die „moskautreuen“ sozialistischen Länder beschlossen daraufhin, den Sitz der Zeitschrift-Redaktion, bei der mein Vater arbeitete, nach Dresden zu verlegen. So zog meine Familie im Sommer 1968 ins „Tal der Ahnungslosen“, wie Dresden damals genannt wurde, weil es die einzige Stadt in der DDR war, in der Westfernsehen nicht empfangen werden konnte.

taz: Als Du in Dresden eingeschult wurdest, warst Du vermutlich der einzige Schüler mit Migrationsgeschichte …

Nein, es gab seit 1950 in Dresden, vor allem in Radebeul, eine große Gemeinde von ca. 600 griechischen Bürgerkriegs-ExilantInnen. Es gab griechischen Sprachunterricht an einzelnen Schulen. Wir haben griechische Feste gefeiert. Richtig ist, dass es darüber hinaus damals noch keine weiteren Zuwanderer und Zuwanderinnen gab. Die ChilenInnen und die VertragsarbeiterInnen kamen später. 

taz: Hast Du Rassismus erlebt?

Asteris Kutulas: Überhaupt nicht.

taz: Du hast in der DDR mit einer griechischen Staatsbürgerschaft gelebt …

Asteris Kutulas: Die habe ich erst 1978 erhalten, vier Jahre nach dem Sturz der Militärdiktatur. Vorher hatte ich nur einen Fremdenpass, war staatenlos. Ab 1975 durfte ich einmal pro Jahr meine Heimat besuchen …

taz: Du sprichst von Griechenland als Deiner Heimat? Du warst doch vor 1975 niemals dort …

Asteris Kutulas: Bei uns zu Hause wurde nur Griechisch gesprochen, griechische Musik gehört – vor allem Theodorakis –, es wurden griechische Bücher gelesen. „Heimat“ bedeutete für mich wie für viele andere Diaspora-Griechen zwei Dinge: die griechische Sprache und die griechische Kultur. In den sechziger Jahren stießen wir zu Silvester stets mit dem Spruch an: „Und nächstes Jahr in der Heimat!“

Bis zum Sturz der Junta 1974 durften wir ja nicht in Griechenland einreisen. Ich habe bis heute nur einen griechischen Pass, obwohl ich seit den siebziger Jahren in diesem Dualismus lebe – zwischen meinem deutschen Geist und meiner griechischen Seele.

taz: Warum bist Du eigentlich nie nach Griechenland gezogen?

Asteris Kutulas: Das stimmt so nicht. Wir haben von 1992 bis 1996 in Athen gelebt, immerhin vier Jahre. Dann zogen wir wieder zurück nach Berlin.

Aber es war eigentlich der Plan, nach meinem Studium 1985 nach Griechenland zu ziehen. Aber 1983 lernte ich Ina kennen, die Liebe meines Lebens. So blieb ich bei ihr in der DDR. Wir fuhren allerdings jeden Sommer für vier Wochen nach Griechenland. Tatsächlich haben wir uns seit Ende 1988 aus politischen Gründen mit dem Gedanken befasst, nach Athen umzuziehen. Die Wende kam dazwischen.

taz: Welche Vor- und Nachteile hatte es in der DDR, mit der griechischen Staatsangehörigkeit zu leben?

Asteris Kutulas: Die Möglichkeit, nach Griechenland zu reisen, war schon ein fundamentaler Vorteil. Später durfte ich auch auf Einladung hin auf Lesereise gehen, um meine Bücher, die in Luxemburg oder in der BRD erschienen, im Westen vorzustellen. Ich muss aber sagen, dass die West-Reisen in meinem Umfeld nicht so ins Gewicht fielen: Meine Gymnasialzeit zwischen 1975 und 1979 verbrachte ich an der Dresdner Kreuzschule. Die Hälfte der Jungen in meiner Klasse sang im Kreuzchor und war auf Konzertreisen im Westen unterwegs. In den achtziger Jahren durften dann auch immer mehr DDR-Künstlerkollegen in den Westen, um bei den Eröffnungsveranstaltungen der Ausstellungen mit ihren Werken und bei den Premieren ihrer Theaterstücke dabei zu sein oder eben Lesungen zu machen.

Und Nachteile als Grieche in Dresden? Mir fällt kein Nachteil ein. Es war eine für mich inspirierende und sehr spannende Zeit.

taz: Ein Vorteil war sicher auch, dass Dir als Grieche der Militärdienst in der NVA erspart blieb …

Asteris Kutulas: Da ich nie die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, tangierte mich dieses Thema zu keiner Zeit. Allerdings tat ich alles, um einer Einberufung in die damals sehr faschistisch geprägte griechische Armee zu entgehen. 

taz Interview Asteris Kutulas Liquid Staging Theodorakis Gert Hof

taz: Kulturell hast Du Dich schon damals als Vermittler zwischen beiden Kulturen engagiert. Dafür stehen nicht nur Deine Nachdichtungen bedeutender griechischer Autoren. Ich erinnere mich auch an Deine Veranstaltungen zum „Canto General“ von Pablo Neruda und Theodorakis im Leipziger Studentenclub Moritzbastei. Warum war es Dir wichtig, griechische Kultur in der DDR bekannt zu machen?

Asteris Kutulas: Der Zufall wollte es, dass ich 1980 drei Persönlichkeiten kennenlernte, die mit ihrer zutiefst humanistischen Haltung mein Leben prägten: durch sein Poem „Canto General“ den bereits verstorbenen chilenischen Dichter Pablo Neruda sowie Mikis Theodorakis und Jannis Ritsos, denen ich 1980 erstmals auch real begegnete. Ihnen gemeinsam war, dass sie einen utopischen Kommunismus vertraten, dessen Mittelpunkt die absolute Freiheit des Einzelnen in einer basisdemokratischen Gesellschaft war. Das deckte sich damals mit meinem Ideal und stand damit im Gegensatz zur sozialistischen Staatsdoktrin der DDR, die ein diktatorisches und kleinbürgerliches System aufgebaut hatte. Auch das hat mich veranlasst, ihre Kunst in der DDR bekanntzumachen. Das mag heute etwas schräg klingen, war aber damals für mich so etwas wie ein Akt des Widerstands.

taz: Gab es eigentlich politische Grenzen, die Dir in der DDR gesteckt wurden, Grenzen, die Du nicht überschreiten konntest?

Asteris Kutulas: (überlegt) Als ich als Schüler 1976 von einer Griechenlandreise in die DDR zurückfuhr, wurde mir bei einer Grenzkontrolle aus meinem Reisegepäck das Buch „Der Archipel Gulag“ des sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn abgenommen. Ich habe nicht eingesehen, warum diese DDR-Polizeibeamten das Recht hatten, zu entscheiden, was ich lesen durfte und was nicht.

Ab 1987 habe ich gemeinsam mit meiner Frau Ina Kutulas die Buchreihe „Bizarre Städte“ im Selbstverlag herausgegeben. Wir durften nach DDR-Recht maximal 100 Exemplare pro Buch drucken. Immerhin schafften wir uns dadurch eine eigene kleine Öffentlichkeit, da es keine große gab. Aber selbst diese kleinen „Öffentlichkeiten“, derer es in der DDR einige gab, versuchte die Stasi zu kontrollieren und in ihrem Sinn zu beeinflussen. Ein beliebtes Mittel war es, über jeden das Gerücht zu streuen, er sei Mitarbeiter der Stasi. Wir haben schließlich beschlossen, uns davon nicht beeinflussen zu lassen.

Die Situation war allerdings 1987 schon „liberaler“ als Jahre zuvor. Es gab Zugeständnisse der Staatsmacht an Intellektuelle – auch wegen Gorbatschows Perestroika-Politik und weil bereits sehr viele aus der DDR ausgereist waren.

taz: Kommen wir zurück auf Mikis Theodorakis. Du warst ihm in mehrfacher Hinsicht ein Begleiter: als sein Dolmetscher, sein Manager, Produzent, sein Freund, Du hast sein Werkverzeichnis herausgegeben. Wann bist Du ihm zum ersten Mal persönlich begegnet?

Asteris Kutulas: 1980 in Berlin. Im Palast der Republik wurde sein „Canto General“ aufgeführt. Es war sein erster Besuch in der DDR, und ich war Dolmetscher von Maria Farantouri, der Interpretin des Werkes. Ein Jahr später wurde ich sein Dolmetscher und ab da war ich auch in allen organisatorischen und künstlerischen Belangen dutzender Konzerte und Tourneen involviert. Ab 1987 habe ich zusammen mit Mikis viele künstlerische Konzepte entwickelt und umgesetzt. Ab 2010 haben wir dann als „Künstler-Kollegen“ zusammengearbeitet, was für mich der Höhepunkt dieser Beziehung darstellte. Ich begann als Regisseur und Autor (zusammen mit Ina) meine Film-Tetralogie zu produzieren und parallel dazu mit dem Choreographen Renato Zanella – auf der Grundlage der gleichnamigen Opern-Musik von Mikis – an den Ballett-Filmen „Medea“ (2011), „Electra“ (2018) und „Antigone“ (2022) zu arbeiten.

taz: Wäre es übertrieben zu sagen, dass Mikis Theodorakis DIE prägende Erfahrung Deines Lebens wurde?

Asteris Kutulas: So ist es. Hättest Du mir die Frage in den 1980ern gestellt, hätte ich wahrscheinlich Jannis Ritsos genannt, der für mich ein Seelenverwandter war. Aber Mikis Theodorakis hat mich 40 Jahre lang mit seinem anarchischen Geist und seinem kompromisslosen Künstlertum inspiriert und tief geprägt. Ich fühle mich gesegnet, mit ihm bei so vielen Projekten zusammengearbeitet zu haben. In den letzten 15 Jahren sind wir uns als Künstler begegnet, wir haben gemeinsam Ballette, Filme und Installationsprojekte entwickelt und vieles davon umgesetzt.

ELECTRA 21

Noch im Juli, also sechs Wochen vor seinem Tod, habe ich mit Mikis an „Electra 21“ gearbeitet, einem neuen „Liquid Staging“ Show-Format für das 21. Jahrhundert, in dem vier Filme, die auf derselben Musik synchronisiert wurden, parallel laufen und so ein polydimensionales Sehen ermöglichen. Weltpremiere von „Electra 21“ wird am 30.10.2021 bei den 55. Internationalen Hofer Filmtagen sein. Mikis hatte im Juli vorausgesagt, dass er die Uraufführung nicht mehr erleben würde und hatte sich mit den Worten von mir verabschiedet: „Ich werde den besten Platz haben und Euch von oben zusehen.“

taz: In der DDR war Mikis Theodorakis in den 1970er Jahren verboten. In den 1980er Jahren fanden dort hingegen mehrere Welturaufführungen seiner Werke statt. Einige wurden auch auf Tonträger produziert und international vertrieben. Welches Verhältnis hatte er zur DDR?

Asteris Kutulas: Seine „Karriere“ in der DDR hat Mikis dem Engagement des Musikkritikers Peter Zacher zu verdanken. Dieser hatte seit 1975 versucht, den Canto General in der DDR aufführen zu lassen und hatte 1980 endlich damit Erfolg. Durch sein Netzwerk innerhalb der Musikszene zu Institutionen wie die Dresdner Philharmoniker, die Hallesche Philharmonie, das Orchester der Komischen Oper Berlin sowie zu Dirigenten wie Kurt Masur und Herbert Kegel kamen in der DDR die Uraufführungen der 2., 3. und 7. Sinfonie, der Sadduzäer-Passion oder die Liturgie Nr. 2 für den Dresdner Kreuzchor zustande.

Mikis Theodorakis hatte ein ambivalentes Verhältnis zur DDR. Als wir 1981 im Café des Gewandhauses in Leipzig saßen, fragte er mich auf den Kopf zu: „Asteris, wie kannst Du in diesem Land leben?“ Ich war völlig überrascht, und er sagte: „Ich wäre hier entweder im Gefängnis oder tot.“

Auf der anderen Seite liebte Mikis das großartige Publikum in der DDR. Und er schätzte es sehr, mit den fantastischen Orchestern, Solisten und Dirigenten in der DDR zusammenzuarbeiten.

taz Interview Asteris Kutulas, Gert Hof, Mikis Theodorakis, Liquid Staging

taz: Ein ganz anders Thema: Du hast 2003 für den späteren US-Präsidenten Donald Trump ein Lichtkunstevent in Atlantic City produziert. Wie kam es dazu?

Das Licht, Albert Speer und Donald Trump

Asteris Kutulas: Ich habe ab 1999 mit dem Licht-Architekten Gert Hof ein heute etabliertes, aber damals völlig neues Show-Format erfunden, die Outdoor-Lichtshow. Entertainment durch Lichtarchitektur am Himmel oder „Art in Heaven“ wie wir es nannten. Gert Hof war der Künstler, ich der Produzent. Die erste Show machten wir zur Millenniumsfeier an der Berliner Siegessäule mit Mike Oldfield und der Staatskapelle St. Petersburg auf der Bühne.

taz: Ich erinnere mich. Es gab damals Kritik wegen Ähnlichkeiten zu Albert Speer.

Asteris Kutulas: Aber nur im Vorfeld! Nach unserem Event hat das überhaupt keine Rolle gespielt. Das zeigt auch, wie dumm diese „Sorge“ war.

taz: So abwegig ist der Vergleich nicht: Eine Massenveranstaltung mit Licht ausgerechnet an der Siegessäule. Auch wenn ich Dir nicht unterstelle, ein Anhänger von Albert Speer zu sein, der Vergleich liegt nahe.

Asteris Kutulas: Weil Herr Speer etwas benutzt hat, darf man es die nächsten tausend Jahre nicht mehr benutzen? Warum sollen wir den Nazis die Kunst-Form LICHT schenken?

Die deutschen Lyriker sind auch nicht der „Aufforderung“ von Theodor W. Adorno gefolgt „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, sondern haben gesagt, „wir glauben, dass Gedichte überhaupt erst jetzt wieder möglich sind …“. Hinzu kommt, dass Gert seine Idee von der Licht-Architektur am Himmel von den Bauhaus-Pionieren übernommen hatte – er war ein absoluter Bauhaus-Fan und hatte sich u.a. vom Metropolis-Film zu seiner Lichtarchitektur inspirieren lassen.

Wir haben mit unseren Events das Medium LICHT den Nazis weggenommen und es der Kunst und der Menschheit wieder geschenkt. Wie erfolgreich wir darin waren, siehst Du daran, dass inzwischen die „Strahlen-Ästhetik“ von Gert Hof in jeder Fernsehsendung und in jedem Pop/Rock-Konzert zu sehen ist.

Asteris Kutulas, Gert Hof
Berlin Millennium Event 1999/2000 (photo © by Sabine Wenzel)

taz: Aber wie kam es zu dem Auftritt bei Donald Trump?

Asteris Kutulas: Wir hatten durch unser neues Show-Format eine neue Art von Entertainment für Hunderttausende von Menschen geschaffen. Die PR-Verantwortliche der Trump Organization hatte von unseren Lichtshows in Berlin, Athen, Peking und an vielen anderen Orten gehört und fragten uns an. Wir haben in Atlantic City eine ganze Woche jeden Abend eine Mega-Lichtshow für die ganze Stadt auf Bruce Springsteen Musik gemacht und damit mehrere Trump-Ressorts miteinander verbunden. Die Amis sind total darauf abgefahren.

taz: Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Trump?

Asteris Kutulas: Die gab es mit ihm persönlich gar nicht. Er kam mit seinem Hubschrauber aus New York geflogen, war ziemlich beeindruckt von dem Ganzen und hat sich sehr amüsiert. Damals war Trump auch mehr ein Entertainer und politisch noch nicht in Erscheinung getreten. Und er mischte sich überhaupt nicht künstlerisch ein – er akzeptierte Gert als jemanden, der wusste, was er tat. Ich hatte das Gefühl, dass er das gut fand. Die Zusammenarbeit mit seinem Büro lief professionell ab, obwohl sie mit sehr harten Bandagen verhandelt haben. Das war diesbezüglich eine meiner schwierigsten Produktionen.

Asteris Kutulas Gert Hof Atlantic City
Atlantic City Trump Taj Mahal Event, directed by Gert Hof & produced by Asteris Kutulas, 2003 (photo © by Sabine Wenzel)

taz: Als Wahlberliner bringst Du regelmäßig griechische Kultur nach Berlin, beispielsweise bei dem alljährlichen Filmfestival „Hellas Filmbox Berlin“ im Babylon. Wo ist Deine Kunst demnächst zu sehen?

Dance Fight Love Die, Liquid Staging & andere Projekte

Asteris Kutulas: Im Januar kommt mein Film „Recycling Medea“ in die Kinos. Ich habe Regie geführt und zusammen mit meiner Frau das Drehbuch geschrieben. In der ARTE-Mediathek kann man noch bis Dezember unseren Film „Mikis Theodorakis – Komponist“ sehen. Unser Film „Dance Fight Love Die“ ist auf Amazon und vielen anderen Streaming-Plattformen zu sehen. Dieser Film entstand, weil ich Mikis seit 1987 mit meiner Kamera begleitet habe und ziemlich viel aufgenommen habe, in ganz Europa, den USA, Chile, Israel, Türkei, Südafrika, Australien usw. Ich habe das eher für mich getan, um die künstlerische Energie festzuhalten, die mich umgab. Meine Frau Ina hat mich später davon überzeugt, aus diesem Material einen Film zu machen.

Ansonsten arbeite ich mit Ina seit drei Jahren an für uns atemberaubenden Projekten: an einer Family-Entertainment-Show namens „Spheros“ und an einem „Meta-Musical“, in dem Marlene Dietrich im Mittelpunkt steht. Zusammen mit unserem Künstler-Kollegen Achilleas Gatsopoulos entwickeln wir eine revolutionäre Liquid-Staging-Show. In einem halben Jahr werden wir das Flexodrom dem Markt anbieten – das ist ein modularer und mobiler Theaterbau, den ich zusammen mit Alexander Strizhak aus Riga entwickelt habe.

Außerdem schreibe ich zusammen mit Ina einen autobiografisch angelegten Roman über das Leben eines griechischen Studenten in der DDR zwischen 1979 und 1989.

taz: Du erwähntest Deine Kamera. Ich habe den Eindruck, sie ist sehr wichtig für Dich?

Asteris Kutulas: Ja. Ich habe sie 1989 gekauft. Sie hat mein Denken visualisiert. Ursprünglich habe ich Tagebuch und Gedichte geschrieben, Übersetzungen gefertigt. Durch die Kamera habe ich ganz anders Sehen gelernt, habe zum Film und zur Konzeptkunst gefunden. Und sie hat mich schließlich zu dieser neuen Theorie des „Liquid Staging“ geführt, die ich im November 2021 im pma-Magazin veröffentlichen werde.

taz: Ich komme zum Schluss noch einmal auf die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie zurück, die wir gemeinsam gehört haben. Philosophie gilt gemeinhin als brotlos. Hast Du Dein Philosophie-Wissen in Deiner beruflichen Tätigkeit produktiv machen können?

Asteris KutulasJa, sehr. Ich habe 40 Bücher herausgegeben und übersetzt, darunter viele Essaybände. Wenn ich beispielsweise an den 1989 in der DDR und 1990 in der Bundesrepublik herausgegebenen Essay-Band des Literaturnobelpreisträgers Giorgos Seferis „Alles voller Götter“ denke – ohne vorher die Vorlesungen zur antiken griechischen Philosophie bei Helmut Seidel erlebt und mich damit auseinandergesetzt zu haben, hätte ich mich da wohl nie herangetraut.

Asteris Kutulas taz Seferis
Giorgos Segeris, Alles voller Götter, Herausgegeben und übersetzt von Asteris Kutulas

Zum andern hat mir dieses Studium geholfen, nicht nur Literatur, sondern auch meinen Künstler- und Produzenten-Alltag ohne „ideologische“ Brille zu betrachten und Strukturen zu durchschauen. Dadurch vermag ich auch als Konzept-Künstler, „leere Begriffe“ und „blinde Anschauungen“ zu vermeiden.

taz Interview mit Asteris Kutulas, befragt von Marina Mai, veröffentlicht in der Wochenendausgabe der taz vom 6./7.11.2021 sowie auf der Internet-Seite der taz am 9.11.2021 (Fotos in den taz-Ausgaben: Doro Zinn)

(Danke taz, Marina Mai, Doro Zinn und Ina Kutulas.)

Mein griechisches Niemandsland DDR (Eine Rede)

Politische Diaspora – Ein Leben zwischen Systemen, Ideologien, Sprachen, Kulturen, Mauern

[„Asteris Kutulas ist bekannt als Autor, Übersetzer, Filmemacher sowie als Event– und Musikproduzent. Als Sohn griechischer Emigranten in Rumänien kam er 1968 mit seiner Familie in die DDR. In seinem Essay »Mein griechisches Niemandsland DDR. Ein Leben zwischen Systemen, Ideologien, Sprachen, Kulturen, Ländern und Mauern« nimmt er die persönliche Lebensgeschichte zum Anlass, um über die Wechselbeziehungen zwischen den Verheißungen der kommunistischen Utopie und den Gegebenheiten des real existierenden Sozialismus, doppelter Fremde und doppelter Heimat, politischer Unfreiheit und geistiger Freiheit nachzudenken.“ Marco Hillemann & Miltos Pechlivanos (Aus dem Vorwort zum Buch „Deutsch-Griechische Beziehungen im ostdeutschen Staatssozialismus (1949-1989)“, Freie Universität Berlin 2017)]
 
Asteris Kutulas Familie, family
Familienfoto mit Vater, Mutter und Großmutter in Bukarest, 1965

I Unsere Eltern … (Gesellschaftssysteme und Ideologien)

Unsere Eltern – fast alle kamen sie vom Dorf – kämpften zuerst gegen die deutschen Besatzer, dann (ab Dezember 1944) gegen die „Briten“. Diese hatten die griechischen Kollaborateure der Nazis als neue Verbündete übernommen und sie mit neuen Waffen und englischem Knowhow ausgestattet. Diese bis-eben-noch-Nazi-Kollaborateure bekamen zudem Regierungsgewalt.

Die britische Kolonialmacht führte in dieser Zeit am Mittelmeer zwei Kriege: einen gegen die jüdischen – vorwiegend zionistischen – Partisanen in Palästina; den verloren sie, so dass der jüdische Staat Israel am 14.8.1948 entstehen konnte, und den anderen Krieg führten sie gegen die linken griechischen Partisanen, den sie mit Hilfe der USA 1949 letztendlich für sich entscheiden konnten. Daraufhin wurde Griechenland bis 1974 von einem quasi monarchofaschistischen Staatsgebilde beherrscht.

Theo Angelopoulos schuf mit seinem großartigen Streifen „Die Jäger“ das zutiefst melancholische Zeugnis von einem Land, in dem von 1936 bis 1977 (als sein Film entstand) dieselben faschistoiden Personen, dieselben parastaatlichen Strukturen den Machtapparat bildeten und mit der siebenjährigen Diktatur zwischen 1967 und 1974  ihrer Herrschaft schließlich die Krone aufsetzten. Einer der Höhepunkte dieser staatlich gelenkten Gewalt gegen Andersdenkende war 1963 die Ermordung des unabhängigen Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis, deren Umstände in dem Oscar-prämierten Film „Z“ von Costa-Gavras verewigt wurden.

Unsere Eltern,

die in den Bergen als Partisanen zuerst gegen die deutsche Wehrmacht und die SS und gleich anschließend bis 1949 gegen die „Briten“ und „Amerikaner“ gekämpft hatten …, unsere Eltern fanden sich wieder in Verbannungslagern, in Gefängnissen und viele von ihnen in den sozialistischen Ländern hinter einem eisernen Vorhang. Sie wurden mit Kalkül von einem übergeordneten Schicksal, das den Namen Hitler oder Churchill oder Stalin oder Tito trug, hin- und hergeschoben, bis sie irgendwo in Osteuropa eine Bleibe fanden, in kleinen Orten und Dörfern oder in fernen Großstädten mit für sie exotischen Namen: Bratislava, Oradea, Radebeul, Taschkent, Zgorzelec etc. etc.

Unsere Eltern, hatten hier keinerlei Besitz, das Geld war stets am Ende des Monats alle, aber sie empfanden Dankbarkeit dafür, dass man ihnen Wohnung und Arbeit gab. Sie waren in Textilbetrieben tätig, im Bau- und Handelsgewerbe, viele studierten und wurden Ärzte und Ingenieure, aber sie blieben doch Entrissene und im Innern immer „heimatlos“.

Heimatlos,

weil Griechenland sie als „Vaterlandsverräter“ stigmatisierte, sie dauerhaft aussperrte und häufig im Fall der Rückkehr mit dem Tod bedrohte – und weil die neuen Gefilde auf sie zunächst wie „Transit-Hotel-Leben“ wirken mussten, gastfreundlich und fremd zugleich.

Sie hatten persönlich nichts davon – ihr halbes Leben verbrachten sie wegen einer Chimäre in kalten Landschaften und lebten von der Hand in den Mund. Sie wurden in der Weltgeschichte herumgereicht, von Mächten, auf die sie keinen Einfluss hatten und deren Kalkül und Pläne nicht zu durchschauen waren … Sie kommen mir heute vor wie aufgewirbelte Staubkörner der Weltgeschichte. Aber sie machten das Beste daraus, sie kämpften, sie bildeten sich weiter. Sie waren stark. Trotzdem: Unsere Eltern waren keine Akteure, sie waren Getriebene. Diese Eltern, ich betrachte sie und kann sie nicht in den Himmel heben. Immer fiel aus diesem Himmel das Wasser von oben nach unten, machte ihre Flügel schwer und verwies sie zurück auf den Boden der Tatsachen.

Asteris Kutulas in Rumänien
Asteris Kutulas (rechts) mit zwei Schulkameraden in der Griechischen Schule von Bukarest, 1967 (Photo © Asteris Kutulas)

Glaube & Utopie

Wofür das alles? Und: Warum? Einerseits, weil unsere Eltern keine Wahl hatten, andererseits wegen ihrer Ideologie – ich würde es so sagen: um ihres „Glaubens“ willen. Sie hatten die „Utopie des Kommunismus“ verinnerlicht. Und das Leben im Griechenland der 30er und Anfang der 40er Jahre hatte sie gelehrt, dass man sich wehren kann und muss gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit, und die einzige Ideologie, die diesen Widerstandskampf damals in Griechenland unterstützte, war die kommunistische.

Der Glaube meiner Eltern hatte zweifellos religiöse Züge. Aber diese „kommunistische Religion“ gründete sich nicht auf die Vorstellung vom Mysterium einer höheren, fernen Macht, sondern bezog sich auf ein real existierendes Gesellschaftsmodell, in dem sie ab 1949 dann tatsächlich lebten. Das heißt, immerhin: die Richtigkeit ihres utopistischen Glaubens konnte am Alltag gemessen und geprüft werden.

Und das war zugleich das „Große Dilemma“, weil zum einen diese Wirklichkeit eben nicht das Ziel der Verheißung, sondern weil diese Wirklichkeit voller Widersprüche war. Zum anderen bedeutete diese Realität vor allem die ständige Auseinandersetzung mit einer humanistischen Utopie – die den Menschen im Mittelpunkt hatte – und der Frage, ob der Mensch hier bereits im Mittelpunkt stand. Bei dieser Auseinandersetzung ging es immer – ich zitiere den Heilsbringer dieser Religion, Karl Marx – um die Freiheit des Menschen in einer von Ausbeutung befreiten Gesellschaft.

Mein griechisches Niemandsland DDR

Von den zwei konkurrierenden Gesellschaftssystemen verhieß das eine – der Sozialismus – Freiheit in einer menschlich gewordenen Gesellschaft und das andere – der Kapitalismus – Wohlstand, verknüpft mit einer absolut individuellen Freiheitsauffassung.

Letzteres Gesellschaftssystem konnte seine Versprechen zwischen 1950 und 1989 in gewisser Weise einlösen, es war überzeugender; das andere, das „sozialistische“, Gesellschaftssystem, in dem auch wir lebten, scheiterte, seine Verheißungen erfüllten sich nicht.

In diesem Dilemma lebten unsere Eltern und wir, ihre Kinder. Mit dem Unterschied, dass unsere Eltern bereits gelitten hatten für ihren Glauben und wir nicht, wir mussten nicht leiden. Ich allerdings – denn ich war etwas merkwürdig drauf – litt unter einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“, um einen sehr stimmigen Begriff des Philosophen Georg Lukács zu gebrauchen, den er geprägt hatte, als er jung war.

In der DDR stellte sich dieses Dilemma des Festhängens in einem Leben zwischen Utopie und Wirklichkeit graduell anders dar als in den anderen sozialistischen Ländern, denn in die DDR waren vor allem griechische KINDER gekommen. Diese hatten selbst keine „heroische Epoche“ durchgemacht, sondern wuchsen in einem behütenden sozialistischen Brutkasten auf, mit der „erzählten Erinnerung“ von einer Heimat, die sie nicht kannten und die ihnen bis auf weiteres versagt war, und einer neuen Heimat, die eine vorübergehende sei, in der man viel lernen sollte, um irgendwann als kommunistischer Missionar in die alte, eigentliche, zurückkehren zu können.

Griechenland DDR Asteris Kutulas
Auf einem Bukarester Weihnachtsmarkt mit meiner Mutter um 1963 (Photo © Asteris Kutulas)

II Zäsuren … (Heimat- und Vaterländer)

Drei Jahreszahlen – 1967, 1974, 1981 – und die damit verbundenen Ereignisse waren für uns Griechen im sozialistischen Exil von besonderer Bedeutung:

In der DDR waren wir lange Zeit „heimatlose Menschen“. Das Jahr 1974 hat aus uns „Menschen mit zwei Heimaten“ gemacht.

Wir waren bzw. galten in der DDR als „politisch Verfolgte“. Das Jahr 1981 hat aus uns „politische Gastarbeiter“ gemacht.

1974

Fast 30 Jahre lang, bis 1974, konnten viele „politische Emigranten“ (wie wir – Eltern und Kinder – genannt wurden) nicht nach Griechenland zurückkehren. Dann stürzte die Junta. Konstantin Karamanlis brachte Griechenland die Demokratie. Er ließ durch eine Volksabstimmung die Monarchie abwählen, legalisierte die seit 1947 verbotene Kommunistische Partei und ermöglichte den politischen Emigranten die Rückkehr in ihre alte, inzwischen unbekannte Heimat. Bis dahin hatten wir nur einen Fremdenpass und waren „Fremde“, doppelt Fremde, sowohl in der DDR als auch in Griechenland. 1974 erhielten wir unsere Identität zurück, zum ersten Mal bekamen wir einen „echten“ griechischen Pass. Damit hatten wir auf einmal zwei Heimatländer. Wir konnten uns entscheiden, wo wir leben wollten; vor allem konnten wir nach Griechenland reisen und somit endlich aus unserer Zwangssituation, die fast 30 Jahre gewährt hatte, aussteigen – mental und emotional. Plötzlich hattest du die Wahl, und für einige von uns Griechen der „politischen Diaspora“ im Osten entpuppte sich eben dieser Osten als die eigentliche neue „neue Heimat“.

1981

Dann kam das Jahr 1981 und brachte Griechenland Andreas Papandreou und mit ihm die in der Geschichte Griechenlands erste linke Regierung an die Macht. Durch die längst überfällige Anerkennung des antifaschistischen Widerstandskampfes und durch das Repatriierungsgesetz, das endlich auch die Rentenansprüche Zehntausender ehemaliger politischer Emigranten klärte, war man nicht mehr in der Situation, „politisch“ Verfolgter zu sein. So wurde aus uns allen „politische Gastarbeiter“ im sozialistischen Ausland. Einige zogen die Konsequenzen, reisten aus nach Westberlin und Westdeutschland und tilgten das Adjektiv „politisch“, so dass sie von da an einfach nur „Gastarbeiter“ waren.

Für die in der DDR Gebliebenen galt dasselbe: das Politische wurde abgestreift, es gab keinen „Widerstandskampf“ mehr, ein Rückzug ins Private konnte stattfinden. Durch den Sieg von Andreas Papandreou und durch das Repatriierungsgesetz war der „kommunistischen Basis“ der Boden entzogen – ein Prozess, der 1968 begonnen hatte, der aber dann 1981 manifest wurde. Die Machtübernahme durch die PASOK-Partei 1981 bedeutete für die Kommunistische Partei Griechenlands dasselbe wie für die SED 1989 die Öffnung der Mauer – der Anfang vom Ende.

Das hatte aber auch damit zu tun, dass im Lebens-Alltag der DDR seit Ende der 70er Jahre der Sozialismus als UTOPIE keine Rolle mehr spielte und das Ideologische als erstarrt Floskelhaftes immer mehr zur Karikatur verkommen war.

Die Konsumideologie der westlichen Welt wurde in der DDR immer beherrschender, zumal die „SED“ und ebenso – wenn auch ganz anders – die „KP“ in Griechenland ihre Rolle als jeweilige utopistische Instanz längst eingebüßt hatten. Die Bürokratisierung sorgte für verkalkte Strukturen, die SED war zu einem Macht-Apparat geworden, der sich auf starren Herrschaftspositionen eingerichtet hatte, als wären sie aus dem gleichen Zement gewesen wie die Berliner Mauer. Er hielt noch einige Jahre, dann begann er zu bröckeln. Im Grunde wussten es alle seit Ende der siebziger Jahre: Es war vorbei mit dem sozialistischen Experiment. Dieses war an seiner kleinbürgerlichen (anti-kommunistischen) Führung und seiner stalinistischen Machtstruktur gescheitert.

1968

Für uns Griechen im Ostblock war das Jahr 1968 von entscheidender Bedeutung. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte man als Linker, zumal als Kommunist, in einer „fortwährenden Hoffnung“. Ich werde niemals den Silversterspruch meiner Eltern Anfang der sechziger Jahre in Rumänien vergessen: Kai tou chronou stin patrida! „Und nächstes Jahr in der Heimat!“ Aber am 21.4.1967 kam der Putsch der Obristen, und in den folgenden Jahren klang dieser Spruch nicht so optimistisch wie einst.

Das fatalste Ereignis jedoch war die Spaltung der Kommunistischen Partei, die sich im Februar 1968 während des 12.Plenums des Zentralkomitees in Bukarest vollzog. Durch diese Spaltung hatte man plötzlich so etwas wie einen Inneren Feind, man war einem doppelten „Bruderzwist“ ausgesetzt: zu der „unnatürlichen Entzweiung“ zwischen links und rechts seit dem Bürgerkrieg (1946-49) kam nun die noch schmerzhaftere „innere Entzweiung“ zwischen links und links, zwischen „Stalinisten“ und „Revisionisten“. Diese Spaltung führte dazu, dass mein Vater vom Ceausescu-Regime wegen seiner „Moskautreue“ ausgewiesen wurde und zusammen mit seiner Familie ein neues, ein zweites politisches Asyl in der DDR bekam.

Griechisches Niemandsland: Mikis Theodorakis, Jannis Ritsos, Asteris Kutulas
Mikis Theodorakis, Jannis Ritsos, Asteris Kutulas – Kulturpalast Dresden, 1984 (Photo © by Privatier/Asti Music)

III Kulturen & Mauern

Die DDR war ein idealer Lebensort für geistige Anarchisten. Ein Grund war, dass man kaum Geld zum Leben brauchte, oder andersherum gesagt: Geld war nichts wert. Der Lebensunterhalt konnte relativ leicht durch alternative, zum Beispiel künstlerische Tätigkeiten bestritten werden. Vielen Leuten, zu denen ich auch gehörte, ging es darum, einen hohen Grad an geistiger Freiheit zu erringen. So lässt sich der enorme Bücherkonsum erklären, das zum Teil massenhafte Besuchen von Lesungen und Theatervorstellungen, die Bereitschaft sich zu treffen und zuzuhören, der Dialog zwischen einem Großteil der Schriftsteller und einem großen Publikum, die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen – das alles diente nur einem Zweck: seine geistige Unabhängigkeit zu postulieren.

Ich war damals 20, Student in Leipzig, lebte in einer tiefen Melancholie und war von Pessimismus durchdrungen. So entdeckte ich für mich die sogenannte „Dichtung der Niederlage“ aus den fünfzigern, deren meist linke Vertreter, wie Manolis Anagnostakis, Takis Sinopulos, Aris Alexandrou und Michalis Katsaros, sich als eine betrogene Generation, als eine „lost generation“, ohne Perspektive fühlten – genauso wie ich 1981 in der DDR. So konnte ich in der mich damals umgebenden Trostlosigkeit Katsaros‘ Ausruf von 1952 in seinem berühmten Poem „Nach Sadduzäer-Art“ sehr gut nachempfinden: „Toten Wald der Wörter durchschreite ich stumm / entzünde die Laternen die falblichtig lähmen die leeren Straßen / such die zu erheben / die mit ihren Namen aufs Herz mir sind gesunken / in geheimen Konferenzen / die gelynchten Namen die lebenden – weitab gestellt im Vormarsch / Rosa Luxemburg Lenin ihr Lyriker / Thälmann und Tanev / eisklirrend splittern sie hin auf das Teppichrot„.

Jannis Ritsos

Und ich entdeckte für mich und für meine anarchistische DDR Jannis Ritsos und übersetzte die „Monochorde“, viele seiner existentialistischen Gedichte sowie das „Ungeheure Meisterwerk“, wo die Verse stehen:

und auch wir mußten endlich zu einem Schluß kommen zu einem großen roten Vogel zu einem großen Hammer-und-Sichel
und andere waren müde und niedergeschlagen
und andere hüpften wie lahme Spatzen über die Pfützen das Wasser im schlammigen Vorort
und andere hatten Mercedesse erworben und doppelte Dachgartenwohnungen und schauten von oben herab auf Busse Fußgänger auf die zerfetzten Fahnen
und andere schliefen in Kleidern und Schuhen immer zur Illegalität bereit
und andere erkannten in all dem eindeutige Zeichen eines endgültigen Scheiterns
und andere Zeichen der Vitalität der Bewegung
und andere in Kaffeehäusern oder Luxussalons beschäftigte immerfort die ewige Schuldfrage
und andere dreißig und mehr Jahre zurückgeblieben entlausten ständig ihre Jacken glaubend die Geschichte zu korrigieren und die Zukunft aufzubauen
und andere kommentierten unbeteiligt rauchend die Ideen wie Zigaretten
und viele Zigaretten waren auf den Fußboden gefallen
und jene zerdrückten sie mit schön polierten Schuhen
und andere hatten nicht eine Zigarette um ihrer Bitterkeit den Mund zu stopfen
und die Soziologie war zu einem Problem der Nuancen geworden
und die Philosophie zu einem Problem der grauen Flügel
… ich sah die grüne Ader im gelben Blatt
ich wollte gehn
der Nackte ist der Einsamste der Entschlossenste

Jannis Ritsos Asteris Kutulas
Jannis Ritsos, Achim Tschirner, Asteris Kutulas – 1983 in Athen (photo © by Rainer Schulz)

Sehnsucht

Etwas später traf ich bei der Arbeit an einem Band mit Gedichten von Georgios Seferis den Hallenser Künstler Fotis Zaprassis, der Grafiken für dieses Buch anfertigen sollte. Zaprassis gehörte zu denen, die aus der Situation heraus, nicht nach Griechenland zu können oder später dort kein Zuhause wiederfinden zu können, sein ganzes Leben sich mit dem Griechenland beschäftigte, das ihm zugänglich war. Er kreierte es in seinen Grafiken und wurde während dieses Prozesses, gerade wegen seiner inneren Zerrissenheit, einer, der anderen den Zugang zu Griechenland ermöglichte. Derjenige, der einige Jahre lang, wenn er in Griechenland war, mit seiner Frau zusammen in einem Boot zwischen Festland und Insel hin und her fuhr, wo ihm auf beiden Seiten eigentlich nichts gehörte, er war eine Brücke, ein Vermittler, einer, der teilte, indem er sich mitteilte. Er fühlte sich einsam, befand sich aber in Gemeinschaft derjenigen, die sich als solche erfuhren, die allein waren.

Die Sehnsucht wurde von Fotis Zaprassis immer wieder thematisiert und damit das Motiv der Reise nach Ithaka, das man nie erreichte. In jedem flüchtigen Augenblick war man zuhaus.

Das traf auf die DDR-Griechen zweifach zu. DDR-Bürger, die eigentlich mehr zuhause waren, als ihnen lieb war, die sich an ihr Zuhause gefesselt fühlten und daran zugrunde zu gehen drohten, waren mit Fotis Zaprassis zumindest in Gedanken unterwegs.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Unterwegs-Sein im Geiste, die Möglichkeit des Denkens in der griechischen, aber auch in einer weiteren Sprache, Heimat ist. Im ständigen Befragen der Heimat, die uns nicht selbstverständlich gegeben war, erschufen wir sie jeden Tag.

Heimat

„Heimat“ war für viele Exilgriechen im Osten die griechische Sprache und die griechische Kultur – und diese Feststellung erinnert mich an AXION ESTI, eine schwere Doppelschallplatte, zwei schwarze Scheiben, die uns ein Freund meines Vaters 1965, als wir noch in Rumänien lebten, aus Athen mitbrachte. Ich war fünf Jahre alt. Heute ist mir, als wäre mir „Griechenland“ durch Theodorakis’ Vertonung und Elytis’ Text wie mit der Muttermilch eingeflößt worden und mir in Fleisch und Blut übergegangen, als hätte ich diese Musik und diese Verse schon 1965 mindestens tausendmal gehört.

Griechisches Niemandsland, Odysseas Elytis, Mikis Theodorakis and Asteris Kutulas
Schallplattencover von Jannis Zaruchis, 1965

Als würde es jetzt passieren, hier: Die Worte legen sich auf meine Zunge, auf meine Haut, steigen mir in die Nase, hallen in meinen Ohren – sie waren das, was nach Griechenland schmeckte, roch, sie waren eine Antwort während der Suche nach der Heimat, die uns genommen war, sie ersetzten das Rauschen des Meeres, die mir unbekannten Inseln, Berge, Menschen.

Alles das auf zwei zerbrechlichen Schallplatten, über die mein Vater sanft mit der Hand strich. Dann legte er die eine auf den Plattenspieler, der eingelassen war in das große Radiogerät aus der Sowjetunion. Ich bekam die Plattenhülle gereicht. Eine barbrüstige Frau in der Mitte, das Schwert in der Hand, vier geflügelte Jünglinge mit Blumen um sie herum, vier schön exaltierte Engel. Viel später erfuhr ich, dass das ein Bild von Jannis Tsarouchis war, das geheimnisvolle Bild mit den vier Jünglingen, den Musen des homosexuellen Malers. Märchenfiguren aus einer für mich damals total mysteriösen und doch tagtäglich erklingenden Welt.

Axion Esti

„Axion Esti“ ist das poetische und musikalische Zeugnis eines Volks, so eine Art Tempelbau, ein Torso, der Artefakt, von dem auf das Ganze geschlossen werden kann – und ich setze hinzu, da es mich persönlich betrifft: eines Volks der Diaspora, mitten hinein gestürzt in dieses verfluchte 20. Jahrhundert, dem Elytis den Kampf angesagt hatte. Mit seinen überschwänglichen, hymnischen, melancholischen und durch und durch lyrischen Bildern, mit dem Glauben, durch die Kraft des Geistes die Wirklichkeit formen zu können, mit seiner mir unerklärlichen Gewissheit, dass durch die Veränderung des Bewusstseins eines jeden Einzelnen, die Menschheit zu retten wäre.

Seltsam, wie Literatur zu so etwas wie ein Rettungsanker werden kann. Seltsam, wie sich mir, als wär sie ein Schal, die Trauer um Hals und Schultern legte und mit meinem Körper verwuchs, damals Anfang der achtziger Jahre in Leipzig. Und ich lese in meinem Tagebuch von damals folgende Frage, auf die ich immer noch keine Antwort gefunden habe: „Wo ist der Ort, an dem beides zusammenkommt: meine griechische Seele und mein deutscher Geist?“

© Asteris Kutulas 
(„Mein Griechisches Niemandsland DDR“ – Rede in der Sächsischen Landesvertretung Berlin am 23.4.2015 | Abgedruckt im Buch Deutsch-Griechische Beziehungen im ostdeutschen Staatssozialismus (1949-1989), Freie Universität Berlin 2017)

taz Interview mit Asteris Kutulas

Odysseas Elytis Begegnungen

Odysseas Elytis Begegnungen – Aus meinem Tagebuch

20.10. 1984, Athen

Heute Vormittag Frühstück am Syndagma-Platz, zusammen mit Hans Marquardt, dem Leipziger Reclam-Verleger. Fast schon Ende Oktober, und noch immer sehr warm. Konnten draußen sitzen. Dunkelgrüne, weiche große Nadelwolken der Kiefernbäume. Neben uns an den kleinen viereckigen Tischen einige ältere Herren, alle im Anzug und mit Krawatte, die über die politische Situation stritten. Hans war neugierig zu erfahren, was das für ein Spektakel ist. Fand es fast sensationell, wie es hier zugeht. 

Gegen 12 gingen wir zum Ikaros-Verlag, wo Elytis’ Gesamtwerk erscheint. Wir wollten den Verleger Nikos Karydis bitten, für uns ein Treffen mit Elytis zu arrangieren. Trafen Nikos Karydis in dem kleinen Ikaros-Buchladen in der Voulis-Straße hinterm Syndagma-Platz. Ein hagerer, älterer, sympathischer Herr, mit einer etwas aristokratischen Attitüde. Ich sagte zu Hans: „Ist nicht verwunderlich, wenn man der Verleger von Kavafis, Seferis, Engonopoulos und Elytis ist.“

Nikos Karydis erzählte uns gleich als erstes, dass er Leute aus aller Welt abweist, die versuchen, über ihn an Elytis heranzukommen. Als Höhepunkt seines Berichts folgende Geschichte:

„Während der Obristendiktatur bekam ich 1970 einen Anruf vom damaligen Kulturminister. Er wollte mit mir ein Treffen vereinbaren. Darauf hatte ich absolut keine Lust, weil ich mit der Junta-Regierung nichts zu tun haben wollte. Doch ich konnte mich nicht weigern. Ehrlich gesagt, ich hatte auch Angst. Der Kulturminister kam also am nächsten Tag in den Verlag und sagte zu mir: „Herr Karydis, Sie sind der Einzige, der Elytis davon überzeugen kann, den diesjährigen Griechischen Literaturpreis anzunehmen. Sie müssen mir unbedingt helfen, denn ich habe den Regierungschef, Herrn Papadopoulos, bereits informiert, dass Elytis dieses Jahr den Preis verliehen bekommen und dass dieser ihn annehmen wird.“ Darauf sagte ich sofort, dass es grundsätzlich ein Fehler ist, ohne vorher mit einem Autor gesprochen zu haben, solch eine Aussage zu treffen, und das gelte nun besonders für Elytis, der sowieso Vorbehalte habe, was Preisverleihungen angeht. „Nicht aus politischen Gründen“, sagte ich, „sondern prinzipiell. Ich werde Elytis informieren, daß er dieses Jahr den Preis bekommen soll, aber machen Sie sich bitte keine allzu großen Hoffnungen. Sonst sind Sie nachher enttäuscht.“ Als ich Elytis am nächsten Tag zu 1 Million Drachmen – damals sehr viel Geld – gratulierte, wurde ihm ganz schlecht, und einige Tage später verließ er Griechenland und ging nach Frankreich. Er blieb dort drei Jahre, nur um diesen Preis nicht annehmen zu müssen …“ 

Hans Marquard erzählte Nikos Karydis daraufhin ein paar Episoden aus der DDR-Verlagslandschaft. Ich übersetzte. Wahrscheinlich kamen wir ihm irgendwie verrückt und exotisch genug vor, sodass er grinsen musste und dann sagte: „Ich ruf mal Elytis an.“ Karydis‘ beide Töchter, die in einem winzigen Büro saßen, kamen herunter und fragten uns, ob wir Wasser und Kaffee haben wollten – wir konnten wählen zwischen griechischem Kaffee oder Nescafe.

Nikos Karydis kam nach fünf Minuten mit strahlendem Gesicht zurück und verkündete: „Herr Elytis erwartet Sie morgen Abend, Punkt 20 Uhr.“ Beim Abschied schenkte Karydis mir einen Band mit seinen eigenen neuesten Gedichten – Titel: „Bis zum Eingang“.

Odysseas Elytis, Asteris Kutulas
Köder für Niemand. Bibliophile Ausgabe. Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas

21.10.1984, Athen

Gestern bei Odysseas Elytis gewesen. Hans Marquardt war aufgeregt wie noch nie. Er ähnelte in einigen Augenblicken einem Schüler – das machte ihn mir sympathisch. Dann wieder der bekannte Weltmann mit versierten Manieren. Odysseas Elytis empfing uns sehr herzlich und sprach mit uns ruhig und ausgelassen. Wir hatten zuvor etwa 5 Minuten betreten vor seiner Tür gestanden, weil es noch nicht um 20.00 Uhr war. Wie zwei kleine Kinder, die sich nicht trauen, ans Lehrerzimmer anzuklopfen und einzutreten. Dann war alles sehr schön. Elytis erzählte: „Man sagt über mich, ich sei sehr schwierig im Umgang. Sehen Sie, das stimmt nicht, ich bin nur sehr vorsichtig. Merke ich, dass ich es mit Menschen zu tun habe, die ihre Arbeit ordentlich machen, dann kann man mit mir alles tun.“ Und diese Erlaubnis gab er uns de facto. Besprachen mit ihm einen Lyrik-Querschnitt im Taschenbuch und eine bibliophile Ausgabe seiner Collagen.

Seine Wohnung einfach, überhaupt nicht luxuriös. Ein Videogerät auf einem Tisch. Was mich beeindruckte: dieses in-sich-Ruhende seines Wesens. Glaube, er versuchte, unsere Reserviertheit abzubauen. Seine Bescheidenheit verblüffte mich. Überhaupt hatte ich etwas anderes erwartet. Ein wunderschöner Besuch. Elytis meinte, dass er nicht geahnt habe, wie interessant unsere Begegnung sein würde und er sich sonst bessser darauf vorbereitet hätte.

Elytis hat uns für die bibliophile Ausgabe einen unveröffentlichten Essay über die Collagen-Technik gegeben. Dann erzählte er über das Sappho-Buch, das im November herauskommen soll. Als wir mit ihm, über seine Lizenzen sprechen wollten, winkte er ab und sagte, dass ihm, nachdem er unserer Arbeit als solid und ernst einschätzen könne, die finanzielle Seite nur sekundär interessiere.

Er sagte aber auch etwas sehr bezeichnendes: „Es ist ein reiner Zufall, aber Sie kommen zu einem Zeitpunkt zu mir, da mich zwei Dinge sehr interessieren: einerseits die große Verbreitung meines lyrischen Werks unter vielen Menschen, mein Werk für das Volk also, andererseits genau diese Verschmelzung von Dichtung und bildender Kunst, beispielsweise in bibliophilen Ausgaben. Sie kommen nun zu mir und bieten mir genau das an. Ich kann ihnen sagen, dass ich jahrelang nach so einem Verlag mit solch einem Grundkonzept suchte und ihn nicht fand. Und jetzt kommen Sie.“

Odysseas Elytis Grafik Asteris Kutulas
Grafik von Odysseas Elytis

17.4.1985, Athen

Habe heute Jannis Ritsos besucht, der gut gelaunt war und mir unter anderem folgendes sagte: „Elytis hat leuchtende, starke Bilder in seinen Gedichten. Sie verlieren bei jeder Übersetzung und müssen verlieren, weil sie nur auf Griechisch „funktionieren“. Als man sie ins Englische, glaube ich, übersetzte, waren Kritiker der Meinung, er würde bereits „vergangene“ Schreibweisen wiederbeleben wollen. Aber das macht er bestimmt nicht. Es gibt sehr viele Elytis-Gedichte, die mir sehr gefallen.“ Ritsos erwähnte, als ich von meinem Gespräch mit Elytis erzählte, dass dieser gesagt hätte, wie sehr ihm die Ritsos-Gedichte auf Französisch gefallen haben. Dass sie sich zur Übersetzung anböten.

4.4.1986, Athen

Gestern Abend für eine Stunde bei Elytis gewesen. Im Gegensatz zu Ritsos ist er fast überhaupt nicht egozentrisch. So wird man selbst auf eine angenehme Weise gefördert. Gefördert/gefordert wird man auch bei Ritsos, doch irgendwie totaler, verkrampfter, absoluter.

Elytis trinkt jeden Abend gegen 20.00 Uhr einen Whisky. Wir sprachen, weil mir das einfiel, kurz über Bunuel. Er sagte: „Mir gefällt Bunuel, ich habe all seine Filme gesehen. Wir gleichen uns auch in einem Punkt: Er hat sich für seine Filme nicht mehr interessiert, nachdem sie fertig waren. Ich bin auch so. Ich will, wenn ich ein Buch fertig habe, das dann auch nicht mehr sehen.“

Asteris Kutulas
Athener Straße, nachts

28.8.1986, Athen

Gestern mit Ina von 20.00 bis 21.00 Uhr bei Elytis. Er war nervös, überspannt, müde. Wie wenn ihn windiges Wetter nicht hätte zur Ruhe kommen lassen. Zum ersten mal in seinem Leben warte er auf den Winter. Gestern gerade von einer Reise zurückgekehrt, sein Bruder krank, zum erstenmal seit dem Krieg war Elytis nicht schwimmen. Während wir uns unterhielten, gewann er langsam seine Ruhe zurück. Dann, einen Abglanz von Frohsinn in den Augen: „Jeden Sommer male ich, so auch jetzt, in Varkiza.“

Ich sagte, dass die Gedichte aus seinem „Tagebuch“ zu einigen seiner Collagen sehr gut passen, da sie selbst collagiert, beides also aus einer Hand ist. „Ja, das kann gut möglich sein. Oft arbeite ich auch so, dass ich Verse aus verschiedenen Texten zu einem neuen Text verschmelze. Mir wurde klar, dass das eine andere Art des Schreibens ist. Ich kann nicht immer dasselbe machen, ich ändere meinen Stil ständig. Das „Tagebuch“ stellt sowieso einen großen Unterschied zu den anderen Gedichtbänden dar. Dieser ist etwas „dunkel“, würde ich sagen.“

Mittwoch, 1

IMMERZU KAUEN DIE PFERDE schlohweiße Laken, immerzu drängen sie triumphierend ins Drohende.
Die Äste von Eichen, von Buchen hörte ich schleifen übers Verdeck der alten Kutsche, in die ich mich geflüchtet hatte – irgendwie wegkommen. Spielte wieder in einem Streifen, einst heimlich gedreht und dann vergilbt, von keinem je gesehen.
Schnell. Bevor die Bilder verblassen. Oder plötzlich stehenbleiben – und der Film, der abgenutzte, reißt.

Mir fiel auf, dass die Gestalt der Mutter und dass Kindheitserinnerungen eine große Rolle spielen. Elytis: „Ja, für mich war das eine Auseinandersetzung mit dem Alter, die zu den vorgeburtlichen Erinnerungen führt.“

9.9.1986, Berlin

Elytis erzählte über eine Zeit in Paris, da er mit einer Textilgestalterin in einer 1-Raum-Wohung lebte. „Als ich mit ihr in dieses kleine Zimmer zog, dachte ich: Hier schaffst du gar nichts! Wir hatten zwei Schreibtische, jeder einen. Sie breitete immer ihre Entwürfe aus und begann zu zeichnen und ich ihr gegenüber – konnte arbeiten! Ich habe seltsamerweise so viel wie noch nie arbeiten können. Dort entstanden z.B. „Maria Nepheli“ und „Monogramm“.

Odysseas Elytis and Asteris Kutulas
Collage von Odysseas Elytis

29.8.1991

Ich las den 1984 den Gedichtband „Tagebuch eines nichtgesehenen April“ von Odysseas Elytis, auf dessen Umschlag eine verblichene Wandmalerei von Pompeji abgebildet ist, gleich nach seiner Veröffentlichung. Ich kannte den Elytis, der „Axion esti“ und das wunderbare Poem „Maria Nepheli“ geschrieben hatte. Aber erst diese Texte berührten mich sofort und anders (so daß ich spontan beschloß, sie zu übersetzen). Sie offenbarten mir apokalyptische Momentaufnahmen einer ganz persönlichen „Geschichte des Todes der Geschichte oder besser einer Geschichte der Geschichte des Todes (und das ist kein Wortspiel)“, wie es im Gedicht vom 16. April heisst.

Die formale Gestaltung der Texte, die Tagebuchform, die Sprache, die poetischen Bilder und die Methode des Abfilmens und Schneidens dieser Bilder, der „monatliche“ Hintergrund – das alles dient dazu, den mysteriösen Raum der Seele eines Menschen abzutasten, der sich damit gleichsam vor seinem Leser entblößt. Dass dieser Mensch nicht nur in der Ich-Form spricht, sondern tatsächlich der Dichter selbst ist, faszinierte mich. Denn wer gibt schon freiwillig sein Innerstes preis? Viele Kritiker befanden angesichts dieser Offenbarung des Elytis, das „Tagebuch“ stelle etwas Neues, „Dunkles“ im Schaffen des Dichters dar. Und damit meinten sie vielleicht nur die formale Seite: die für andere Elytis-Gedichte nicht typische Kargheit der poetischen Bilder, den apokalyptischen Ton der lyrischen Sprache und die Nähe dieser Texte zu seiner Prosa.

Mittwoch, 1b

DORT SAH ICH gegen Mitternacht die ersten Feuer über dem Flughafen.
Weiter hierher schwarze Leere.
Dann erschien flora mirabilis, aufrecht stehend in ihrem Wagen, und streute Blumen aus dem riesigen Füllhorn.
Die Opfer krümmten sich zusammen, nahmen wieder die Haltung ein, als wären sie noch im Mutterleib und mit diesem eins.
Am Stengel der Nacht erzitterte Selene.

*** *** *** *** ***

Ich übersetzte das „Tagebuch“ 1987/88, aber zunächst verhinderten technische, später die uns allen bekannten gesellschaftlichen Veränderungen 1989 die bei Reclam Leipzig geplante bibliophile Veröffentlichung. Dem Interesse und Engagement von Niki Eideneier vom Romiosini Verlag in Köln ist das Erscheinen dieses Buches anläßlich des 80.Geburtstages von Odysseas Elytis 1991 zu danken.
Im übrigen folgte ich bei meiner Übersetzung dem Rat des Dichters, daß „eine freie Übertragung besser ist, als eine treue Übersetzung“, den er mir nicht nur mehrmals mündlich gab, sondern ihn auch für die eigenen Nachdichtungen beherzigte. Was für mich bedeutete, dass ich um so genauer den Geist und den Ton des „Tagebuches“ im Deutschen zu treffen hatte.

© Asteris Kutulas

Odysseas Elytis, Asteris Kutulas
Der Duft des Mittagsmahls. Bibliophile Ausgabe. Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas


Odysseas Elytis Begegnungen – Postscriptum

Elytis war der „schwierigste“ griechische Autor für mich als Übersetzer und Nachdichter. Seine teilweise rauschhafte hymnische Sprache ist fast unübersetzbar, denn er stützt sich vielmehr als andere Dichter auf das griechische Element im Klangbild und in der Semantik. Ich habe trotzdem drei Bücher von ihm übersetzt und herausgegeben (allerdings nach langwierigen und „qualvollen“ Übersetzungsversuchen):

Odysseas Elytis. Tagebuch eines nichtgesehenen April. Mit fünf Collagen des Autors, Übertragen und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas; Romiosini Verlag, Köln 1991
Odysseas Elytis. Der Duft des Mittagsmahls, Übertragen von Asteris Kutulas, Mit Illustrationen von Fränz Dasbourg; editions phi, Luxembourg 1993
Odysseas Elytis, Köder für Niemand, Mit Original-Illustrationen von Gottfried Bräunling und Fränz Dasbourg, Übertragen von Asteris und Ina Kutulas; editions phi, Echternach 1996

Mikis Theodorakis, reloading Films

Mikis Theodorakis und der Film

Rede in München, Gasteig, 2015

1 | Dance Fight Love Die

Mikis Theodorakis bin ich erstmals 1980 in Ostberlin persönlich begegnet. Nachdem er etwa zehn Jahre in der DDR verboten gewesen war, kam er dorthin, um sein allererstes Konzert in Ostberlin zu geben, im Palast der Republik. Mikis dirigierte den „Canto General“. Es sangen Maria Farantouri und Heiner Vogt. Es folgten Hunderte von Projekten, die wir zusammen seitdem realisierten. Ab 1987 hatte ich immer eine Kamera bei mir, und jedes Mal, wenn ich Zeit hatte, filmte ich, in allen möglichen Situationen.

2013 beschlossen Ina Kutulas und ich, aus diesem vielfältigen und sehr umfangreichen Material einen Film zu machen. Das lag bis dahin im Schrank und wurde dadurch nicht besser. Zwei Kassetten waren bereits hinüber. Also höchste Zeit, diese Dokumente zu retten, aber auch, sie aus ihrem Museumsschachtel-Dasein zu erlösen. Es begann die Arbeit an Dance Fight Love Die – With Mikis on the Road.

DANCE FIGHT LOVE DIE, Music by Mikis Theodorakis
Plakat zur Weltpremiere von DANCE FIGHT LOVE DIE – WITH MIKIS ON THE ROAD 2017

Um die schlechte Bild- und Tonqualität zu konterkarieren und um dem Zuschauer nicht ausschließlich die Resultate meiner oftmals miserablen und eigenwilligen Kameraführung zuzumuten, beschloss ich – inspiriert von einer Geschichte aus Theodorakis’ Autobiographie –, eine zweite Film-Ebene einzuführen. Diese fiktionale, narrative, der Einfachheit halber so genannte „Spielfilm-Ebene“ sollte dem gestressten Auge immer wieder ein zeitweiliges Ausruhen und cineastische Eindrücke ermöglichen. Und andererseits gab mir diese Ebene die Möglichkeit, die schönsten Arien aus diversen Theodorakis-Opern als Filmmusik zu implementieren. Anders als mittels dieser schräg-episodenhaften Film-Szenen-Form wäre das gar nicht möglich gewesen.

Der Film entstand, nachdem ich für das Material ein für mich selbst schlüssiges Ordnungsprinzip entdeckte. Und das passierte während meiner Beschäftigung mit Nikos Kazantzakis, der ab 1907 in Paris promovierte und Friedrich Nietzsches Hauptwerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ins Griechische übersetzte. Nach Beendigung dieser Übersetzung begann er, seinen später weltberühmt gewordenen „Zorbas“-Roman zu schreiben, in dem er das dionysische Prinzip (also Zorbas) gegen das apollinische Prinzip (den Engländer) stellte – ein Konflikt, aus dem sich in seinem Buch und später im Film die Frage ergab: Was ist wichtiger im Leben – das Buch oder der Tanz? Die Beschäftigung mit diesem Stoff führte mich zur Lösung für mein ästhetisches Film-Problem. Ich musste also die „Geburt eines FILMS aus dem Geiste der Musik“ zuwege bringen. Das entsprach dem Werk von Theodorakis, dem Leben von Theodorakis und dem Charakter meines Film-Materials, das ich fast 30 Jahre lang produziert hatte.

So gab es auf der einen Ebene den Komponisten pur: „Mikis on the Road“, dirigierend, probend, diskutierend, reisend, schlafend, witzelnd, singend, und ich hatte – auf einer zweiten fiktionalen Ebene – seinen poetischen Kosmos, seine Philosophie, seine Märchen- und Mythenwelt, seine Anbetung des Schönen, des Weiblichen. Und dann merkten wir sehr schnell, dass noch eine dritte Ebene dazu gehörte – nämlich die vom Komponisten losgelöste, die von anderen Musikern oder Künstlern geschaffene, die (obwohl sie oftmals Theodorakis nicht mal kannten) seine Musik in unterschiedliche Sprachen, Stile, Länder, Musikrichtungen weitertrugen.

Wir fanden Musiker, viel jünger als Theodorakis, überall auf der Welt, die Musik von ihm auf ihre eigene Weise interpretierten (die Alternativband Deerhoof aus San Francisco, der junge Komponist neuer Musik Sebastian Schwab aus München, die israelische Ethno-Reggae-Band Anna RF, die Sing-and-Song-Writerin Eves Karydas aus Australien, der Electrohouse-DJ Francesco Diaz aus Barcelona, die Homeopathic-Punk-Band Air Cushion Finish aus Berlin, die Rockmusikerin Maria Papageorgiou aus Athen und viele andere). Das wurde die dritte Ebene des Films.

All das zusammen – Mikis selbst, Mikis’ Fiktion, Mikis’ Adaption – ergibt einen universalen musikalischen Kosmos, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenbringt. Ohne dass Mikis die Musik zu unserem Film Dance Fight Love Die komponiert hatte, so komponierte er doch durch seine Musik den eigenen Film zu seiner Musik. Musikfilmkomponist des eigenen Lebensfilms. Fast ohne Kommentar. Zehntausende Bilder zu etwa sechzig Musiken.

Recycling Medea, Music by Mikis Theodorakis
RECYCLING MEDEA beim EPOS-Filmfestival in Tel Aviv 2015

2 | Recycling Medea

Wie musikalische Emotion und bestimmte Bilder, verknüpft mit einer modernen Film-Ästhetik, sich jungen Leuten vermitteln, konnten wir bei Recycling Medea (2014), unserem ersten Musikfilm feststellen. Die Resonanz bei den unter 25jährigen auf die Aspekte Partnerschafts- und Generationenkonflikt, gesellschaftliche Perspektive bzw. Perspektivlosigkeit, politische Gewalt und verdrängte Schönheit in diesem „kein Ballett-Opern-Film“ war für uns sehr beeindruckend. Sowohl in Griechenland als auch in Deutschland, in den USA und Israel hatten die Jugendlichen überhaupt kein Problem, die doch relativ komplexe, anspruchsvolle, fordernde Theodorakis-„Medea“-Opernmusik in Verbindung mit den Bildern anzunehmen – als etwas, das sie angeht und ihr Ureigenstes ausdrückt. Es ist interessant zu sehen, wie der Recycling-Medea-Film an unterschiedlichen Gymnasien und Universitäten in Deutschland, Holland, Griechenland und den USA als etwas Neues und Wahrhaftiges rezipiert wird.

3 | Canto General Film

Anfang der 80er Jahre war ich in der DDR unter anderem auch der Dolmetscher von Theodorakis. Neben sehr vielen öden Begegnungen, bei denen ich übersetzte, gab es durchaus einige äußerst interessante. Zu den spannendsten gehörte die von Theodorakis und Konrad Wolf, dem damaligen Präsidenten der Akademie der Künste in Ost-Berlin. Wolf war ein ganz außerordentlicher Intellektueller. Als einer der wenigen DDR-Regisseure international anerkannt. Mit „Solo Sunny“ hatte er 1979 einen der wichtigsten DDR-Filme gemacht. Ich war zwischen 1980 und 1982 bei drei Begegnungen von Theodorakis und Wolf anwesend, bei denen es darum ging, dass Wolf (der damals an einem Ernst-Busch-Film arbeitete) mit Theodorakis über ein Film-Großprojekt oder „eine Art Lebenswerk“, wie er es nannte, sprach. Er wollte zu Theodorakis’ „Canto General“-Musik (die auf dem mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Poem von Pablo Neruda beruht) einen Film über DIE Revolution machen, ohne Kommentar, ohne Worte, einfach vertrauend auf die aus Dichtung, Musik und Bild resultierende emotionale Kraft.

Es war ein atemberaubendes Projekt, das einen sofort begeisterte. In der Tradition der russischen Avantgarde – Liebe, Kampf, Passion, Aufstand, Opfer, Natur, Tod vereinigend. Konrad Wolf verstarb, bevor er die Arbeit am Drehbuch abschließen konnte, und ich nehme an, dass der 21jährige, der ich damals war, diese ungeheure Inspiration mitnahm und nach 30 Jahren einfließen ließ in DANCE FIGHT LOVE DIE.

Seitdem begleitet mich auch der „Canto General“, dessen Musik übrigens 1973 im Film „Der unsichtbare Aufstand“ (State of Siege) von Costa Gavras zum ersten Mal erklang. Damals gespielt von Los Calchakis. Ein zu seiner Zeit legendärer Film mit einer legendären Musik.

4 | Theodorakis-Werkverzeichnis

Zwischen 1991 und 1997 arbeitete ich in den Archiven von Mikis Theodorakis, um sein Werkverzeichnis zu schreiben, das dann 1998 auch tatsächlich beim Livanis-Verlag in Athen veröffentlicht wurde. Ein 400-seitiges Konvolut. Es brachte einen vollkommen unbekannten Theodorakis ans Licht. Dieser Vorgang war aus mehreren Gründen interessant.

Der interessanteste: Ich war kein Musikwissenschaftler, sondern Germanist, und das Letzte, wovon ich meinte, dass ich imstande gewesen wäre, es zu tun, war: ein Musikwerkverzeichnis herauszugeben. Aber in dieser, unserer seltsamen Heimat Griechenland gab es damals weder das Interesse von Musikwissenschaftlern, sich mit dem Werk von Theodorakis zu beschäftigen, noch gab es den Willen, geschweige denn die Motivation bei etlichen Vertretern der Intelligenz (vor allem so genannten linken), ihre Vorurteile im Hinblick auf einen außerordentlichen und unikalen Komponisten mal beiseite zu lassen und sich objektiv mit dessen Schaffen auseinanderzusetzen, z.B. indem man ein Werkverzeichnis herausgibt, bei dem es darum geht, das Gesamt-Werk eines Komponisten wissenschaftlich für die Forschung und die Musikpraxis aufzuarbeiten. Als das Werkverzeichnis dann herauskam, änderte sich fast alles, würde ich sagen, in Bezug zum Komponisten Theodorakis.

Warum ich hier von Theodorakis’ Werkverzeichnis erzähle, hat folgenden Grund: Ich hatte damals 313 Werk-Einheiten zusammengetragen, die Theodorakis zwischen 1937 und 1997 komponierte, und Mikis gebeten, seinen Werken Opus-Zahlen zu geben. An die 313 gelisteten Werk-Einheiten vergab er nur 135 Opus-Zahlen. Das heißt, dass er selbst nur ein Drittel seiner Kompositionen als seinen Kriterien genügende Werke ansah – eine sehr interessante Feststellung. Bemerkenswert dabei ist, dass er keiner seiner 33 Film-Musiken eine Opus-Zahl gab, nicht mal der Musik zum „Zorbas“-Film.

2010, ein paar Monate vor dem Tod von Michalis Cacojannis (dem Regisseur des Zorbas-Films) hatte ich die Möglichkeit, ein gemeinsames Interview mit Cacojannis und Theodorakis filmisch festzuhalten. Während dieses Gesprächs definierte Theodorakis die Aufgabe des Film-Komponisten so, dass dieser vor allem den Wünschen des Regisseurs bis ins Detail zu folgen und den Bildern des Films zu dienen habe. Das ist offensichtlich der Grund dafür, dass Mikis – obwohl er zum Teil sehr gern für Filme komponiert hat – diese Arbeit nicht als eigenständige Kompositionsform akzeptieren konnte. Jedenfalls nicht für sich selbst.

Mikis Theodorakis Filmkomponist Asteris Kutulas
Asteris Kutulas during his speech on Mikis Theodorakis, Gasteig Munich, 2015

5 | Theodorakis als Filmkomponist

Theodorakis’ Inhaftierung während der Junta 1967 erregte weltweit Aufsehen, denn mit ihm hatte man jemanden in eine Zelle gesteckt, der als Komponist bereits ein Star war, der längst einen Namen hatte und international Millionen Fans. Zehn Jahre vorher war Theodorakis u.a. als neuer Strawinsky gefeiert worden. Dieser „neue Strawinsky“ saß jetzt in einem elenden Knast, in einer elenden Zelle. 

Die Tatsache, dass Theodorakis inhaftiert wurde und später ins Exil gehen musste, verbunden mit der Tatsache, dass er ein anarchischer Freigeist war, führte zu einer weltweiten Sympathie, jenseits von Parteigrenzen. (Später wurde ihm allerdings diese Freigeistigkeit innerhalb des dogmatisch-bipolaren Systems in Griechenland zum Verhängnis.)

Heute ist Theodorakis als PERSON international kaum noch bekannt. Natürlich kennt ihn „fast“ jeder Grieche, und natürlich gibt es Millionen weltweit, die ihn noch kennen und viel mehr, die seine Musik hören. Aber er bleibt der bekannteste unbekannteste Komponist des 20. Jahrhunderts. Theodorakis ist zugleich vielleicht der einzige Komponist „ernster Musik“ des 20. Jahrhunderts, dessen Lieder von Jüngeren weltweit und stetig gecovert werden – und das, obwohl sie nicht aus dem englischen Sprachraum stammen.

Und so kommen wir wieder zu unserem Thema: die meisten dieser gecoverten Lieder oder Musiken sind tatsächlich durch Filme bekannt geworden. Angefangen hat dieser Erfolgsweg Theodorakisscher Filmkomposition in Hollywood, im Jahr 1958, mit Honeymoon, einem Ballett-Film des damals wohl berühmtesten Regisseurs, Michael Powell; Choreograph war Leonide Massine. Der „Honeymoon“-Song wurde in den Jahren 1959/60 ein Welthit, den selbst die Beatles drei Jahre später, 1967, im BBC-Studio von London aufnahmen.

Der nächste große Erfolg für Theodorakis war die Musik zum Jules-Dassin-Film Phädra (1962), mit Melina Mercouri und Anthony Perkins in den Hauptrollen. Im selben Jahr sang Edith Piaf zwei Theodorakis-Songs im Film Les amants de Teruel, für den Theodorakis die Filmmusik schrieb. Regie führte Raymond Rouleau.

Vor seinem endgültigen internationalen Durchbruch mit der Filmmusik zu Zorba the Greek schrieb Theodorakis für den Film – bei dem er erstmals mit Michalis Cacojannis zusammenarbeitete – seine wahrscheinlich interessanteste und beste Filmmusik: Elektra. Überhaupt ist die Antiken-Trilogie von Cacojannis (Elektra (1963), Troerinnen (1971) und Iphigenie (1978) – alle mit Theodorakis-Musik) ein Meilenstein, nicht nur in der Antike-Rezeption des griechischen Kinos, sondern auch in der Auseinandersetzung eines Filmkomponisten mit antiken Mythen im Film.

Theodorakis ist ein Komponist, der Sinfonien und Opern geschrieben hat, dessen Chor- und kammermusikalische Werke überall auf der Welt immer wieder aufgeführt werden, und dessen Lieder und Melodien auch zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahre nach ihrer Entstehung immer wieder gecovert werden von jungen Musikern überall auf der Welt, die oft nicht mal wissen, wer überhaupt der Komponist ist. Diese Tatsache – so scheint mir – macht aus Theodorakis einen einzigartigen Fall unter allen Komponisten des 20. Jahrhunderts.

© Asteris Kutulas
Rede in München, Gasteig, Griechische Filmwoche 2015

Photos © by Asteris Kutulas

Recycling Medea – Film-Rezensionen & Kritiken

Dance Fight Love Die – Reviews & Statements

Königin Friederike von Griechenland & Marion Gräfin Dönhoff

An Frau Dr. Marion Gräfin Dönhoff / Redaktion DIE ZEIT – bezüglich des Artikels aus der ZEIT vom 12.9.1991: „Vor vierzig Jahren: Aus der ZEIT vom 13. September 1951“

Sehr geehrte Frau Dr. Marion Gräfin Dönhoff,

ich las gestern Ihren Beitrag „Friederike, Friederike“ in der ZEIT vom 12. September 1991, in dem sich Königin Friederike von Griechenland brüsten darf, humanistische Umerziehungslager für Kommunisten Ende der vierziger Jahre geschaffen zu haben. Gestatten Sie mir bitte – da die Aussagen der Königin nicht nur kommentarlos bleiben, sondern durch den Eindruck Ihres ganzen Beitrags erhärtet werden –, Sie darauf hinzuweisen, daß auf den Verbannungsinseln während des Bürgerkriegs (1946-1949) bis zu 150.000 Linke bzw. Sympathisanten bzw. ehemalige Mitglieder der antifaschistischen Widerstandsbewegung EAM deportiert waren. Inzwischen gibt es genug Zeugnisse (auch auf Deutsch), wie es in diesen Lagern zuging.

Kommunistische Umerziehungslager

Die Behauptung der Königin Friederike von Griechenland, es handelte sich um junge Kommunisten, die gezwungen worden seien, ihr bisheriges Leben mit Rauben und Morden zuzubringen, die nicht lachten und noch nie in ihrem Leben gesungen hatten – ist wahrlich ein Hohn gegenüber fast der gesamten linken Intelligenz Griechenlands, die auf den Verbannungsinseln deportiert worden war. Einer ihrer wichtigsten Vertreter, der Dichter Jannis Ritsos, wurde in diesen „Umerziehungslagern“ fünf Jahre (1948-1952) festgehalten und hat diese Schreckenszeit in seinem Band „Tagebuch des Exils“ (Deutsch: Schwiftingen Verlag, 1979) festgehalten.

Mikis Theodorakis & Makronisos

Ein anderer jahrelang auf Ikaria und Makronisos – der „Hölle“ – Festgehaltener, der Komponist Mikis Theodorakis, hat in seiner Biografie ausführlich das Lagerleben beschrieben. Darin kommt er auch an einigen Stellen auf Königin Friederike zu sprechen. Ich habe mir gestattet, Ihnen zwei entsprechende Auszüge aus dem 3. Band seiner Autobiographie DIE WEGE DES ERZENGELS (1987), die im Dezember dieses Jahres beim Luxemburger Verlag editions phi erscheinen wird, zu notieren:

Bürgerkrieg

„… Alle Griechen waren nach dem Bürgerkrieg gebeugt. Nur der Thron, die Fremden, die Oligarchie und die ihnen dienenden politischen und militärischen Eliten sowie die Polizei: sie triumphierten. Für wen wohl hatte Odysseas Elytis geschrieben: „Und sie werden mit Blüten schmücken den Sieger, der leben wird im Gestank der Leichen“? Für Papagos? Oder für Königin Friederike? …

Abfärbe-Technik

… Die sogenannte Abfärbe-Technik wurde eingeführt. Sie bestand in individuellen und Massenfolterungen, Zwangsarbeit, Durststrafen, moralischen und psychischen Erpressungen. Wenn jemand „zerbrach“, musste er, um die „Echtheit“ seiner Reue zu beweisen, seinerseits zum Folterer werden. So kam es zu einer erstaunlichen Situation, in der die meisten der „Prügler“, wie sie genannt wurden, ehemalige Häftlinge waren. Man erzählte sich, daß in der Ersten Abteilung nur zwei Offiziere Nationalisten waren. Alle anderen seien ehemalige Linke, hieß es. Das „Abfärben“ wurde systematisch betrieben: Verleugnung der Kommunistischen Partei; Bekehrungs-Briefe an die Bewohner der Heimatgemeinde: Briefe an Unbekannte, deren Adressen dem Telefonbuch entnommen wurden; Reden während der „Stunde zur nationalen Erziehung“ um 11 Uhr vormittags vor der ganzen Abteilung; Teilnahme an Pogromen gegen die hartnäckigen und uneinsichtigen Gefangenen; Teilnahme an Prügelaktionen und Folterungen. Für all diese Aktivitäten gab es ein Heft, in das der Verantwortliche die genaue Anzahl der Briefe, der Reden, Folterungen usw. eintrug. Der Kommandant der Abteilung gab persönlich die Einwilligung zum ersten Athen-Urlaub, die höchste „Anerkennung für einen Gefangenen“. Der Kommandant sah ihn von oben bis unten an, kontrollierte bedächtig dessen Heft und sagte: „Nur dreimal geprügelt, und du willst schon nach Athen? Mach fünfmal draus und komm wieder.“ Er musste also noch zweimal prügeln, der beaufsichtigende Gendarm trug das kommentierend in sein Heft ein, und dann bekam der Gefangene den ersehnten Athen-Urlaub. Dieser „Abfärbe-Prozess“ dauerte Monate.

Einsamkeit

… So breitet sich das Gefühl der absoluten Einsamkeit aus. Du bist allein, ausgeliefert der Gnade der entfesselten Elemente der Natur und des Menschen. Keiner kann dir helfen. Auf Makronisos starben Mythen und Götter. Es starb auch das Wesen, das du Mensch genannt hattest. Du warst zu einem Wurm und die anderen über dir zu Ungeheuern verkommen.

Makronisos-Tick

Hinzu kommt das ganze Theater, das die Regierung auf Kosten der Gefangenen inszenierte. Und dieses Theater, das „Becken von Siloah“, wie es von den Offiziellen genannt wurde, hatte jeden Tag eine Fortsetzung mit den verschiedenen Verlautbarungen und Besuchen der Königin Friederike und verschiedener Minister bis hin zu ausländischen Journalisten und einheimischen „Persönlichkeiten“. Die Straßen und das Sanatorium wurden weiß getüncht, ins letztere legten sich Gendarmen und spielten die Kranken. Die Zelte mussten gesäubert werden, die Vorderansicht des Lagers wurde hergerichtet. Und hinter dieser Fassade: Dreck und Hunger, Gefolterte, Verkrüppelte und Tote. Du hast keine Chance, dass dein Martyrium bekannt wird. Du bist isoliert, verurteilt, für immer verloren. Du bist allein, der Gnade deiner erbarmungslosen Folterer ausgeliefert. Da drehst du durch. Irgendeine Schraube in deinem Gehirn oder Nervensystem lockert sich, ein Riemen reißt, und dein Kopf oder deine Hand geraten dir aus der Kontrolle. Der Verrückte von Makronisos ist gewöhnlich ein willenloses Geschöpf mit einem Tick. Ein Geschöpf, das sich in Momenten der Erleuchtung seiner Lage bewusst wird, was anschließend den spastischen Mechanismus nur intensiver auslöst. Noch heute gibt es Menschen, die Tabletten nehmen, um nicht wieder vom Makronisos-Syndrom überwältigt zu werden …“ (Mikis Theodorakis)

Entschuldigen Sie die langen Zitate, die sich weiterführen ließen – aber sie stehen doch in solch einem frappierenden Widerspruch zu den Aussagen der Königin Friederike von Griechenland, dass ich nicht umhin konnte, sie Ihnen mitzuteilen.

Übrigens haben französische Intellektuelle um Aragon und Picasso bereits Ende der vierziger Jahre die Praktiken in den griechischen „Umerziehungslagern“ angeprangert und das königliche Ehepaar deswegen angegriffen, aber auch Bertold Brecht und Stephan Hermlin forderten – wenn ich mich nicht irre – die Auflösung dieser Lager in Griechenland.

Hochachtungsvoll

Asteris Kutulas, 16.9.1991

*** *** *** *** ***

Die Antwort von Dr. Marion Gräfin Dönhoff

Sehr geehrter Herr Kutulas,

ich habe erst Ihren Brief und dann jenen Artikel von vor vierzig Jahren gelesen und dabei ist mir dann wirklich ganz bange geworden.

Ich bin überzeugt, dass Ihre Darstellung und die Zitate zutreffend sind und mein Bericht über die königliche Darstellung sich als abwegig erweist. Aber damals konnte man noch nicht reisen und musste das, was Leute einem erzählten, für bare Münze nehmen.

Da man einen Artikel von vor 40 Jahren heute nicht berichtigen kann, ist Ihr Brief als Leserbrief leider nicht geeignet, aber für mich persönlich ist er eine gute Lehre, und dafür danke ich Ihnen sehr.

Mit bestem Gruß

Dr. Marion Gräfin Dönhoff, Sept. 1991

Marion Gräfin von Dönhoff, Asteris Kutulas, Königin Friederike

Es ging um folgenden Abschnitt aus dem am 12. September 1991 wieder abgedruckten Artikel vom 13. September 1951:

Rubrik VOR VIERZIG JAHREN (aus der ZEIT vom 13. September 1951)

… „Sie müssen bedenken“, sagte die Königin, „dass die Kinder in Griechenland seit zehn Jahren überhaupt keinen Unterricht mehr gehabt haben. Fast alle Schulen waren zerstört, und die wenigen, die übriggeblieben sind, wurden für andere Zwecke gebraucht. Und Griechenland ist arm; es dauert sehr lange, das Land wieder aufzubauen. Mein Mann aber ist der Meinung, dass die Erziehung der Kinder und die Ausbildung der Jugend wichtiger ist als alles andere, und so ist es uns im vorigen Jahr gelungen, 360 Schulen neu herzustellen. Ah, das ist ein Anblick, wenn man jetzt durch das Land fährt und sieht diese neuen Gebäude in den Dörfern und kleinen Städten! Es sind keine Paläste, aber eigentlich sind es doch die schönsten Häuser überall.“ Und die junge Königin strahlte, so wie wohl nur die Augen ihrer preußischen Vorfahren aufleuchteten, wenn sie an ihre Garnisonen und Regimenter dachten.

„Wie steht es mit der sogenannten Umschulung der Kommunisten?“ fragte ich, auf das Problem lenkend, von dem ich wusste, dass es ausschließlich auf Grund der Initiative des Königspaars in Angriff genommen war. „Wir haben damit schon vor der endgültigen Niederwerfung der Kommunisten begonnen“, antwortete die Königin. „Wenn Sie das einmal gesehen hätten, diese Gefangenenlager, in denen junge Kommunisten von 15 bis 19 Jahren hinter Stacheldraht eingepfercht waren. Kinder, die gezwungen worden sind, ihr bisheriges Leben mit Morden und Rauben zuzubringen, die nie lachten, keine Spiele mehr kannten, noch nie in ihrem Leben gesungen hatten und deren Ausdruck mehr dem böser Tiere als dem eines Menschen glich – wenn man das gesehen hat, dann sagte man sich, was ihnen fehlt, ist menschliche Nähe und Wärme.“

„Und da haben wir auf der Insel Leros“, so fuhr die Königin fort, „ganz einfach Siedlungen und Lehrstätten eingerichtet, wo Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr, die sich freiwillig in den Gefangenenlagern meldeten, in völliger Freiheit leben können.“ – „Das Schöne ist“, fiel König Paul ein, „dass die Bewohner der Insel alle mit Feuereifer und ohne jedes Entgelt mitwirken. Auch sie empfinden, dass man bei diesen Menschen nicht eine Doktrin mit einer neuen Doktrin austreiben kann …“

… – Fast könnte man diese Griechen beneiden um ihr Königspaar, das so schlicht und selbstverständlich zupackt und den Mut hat, es anders zu machen als bisher, das Wagnis eingeht, in einem neuen Geist wiederaufzubauen …“

Marion Gräfin Dönhoff, 1951

Friederike von Hannover, Königin von Griechenland von 1947 bis 1974
Friederike von Hannover, Königin von Griechenland von 1947 bis 1974

Sag: Himmel. Auch wenn keiner ist (Über Jannis Ritsos)

„Eine gute Maske für schwierige Zeiten: der Mythos“ – Über Jannis Ritsos

Als Vorwort zum Jannis Ritsos Film

Der griechische Dichter Jannis Ritsos, der 1909 geboren wurde und 1991 starb, notierte in einem seiner Gedichte: „Mein Beruf: Worte und Worte. Lumpensammler nannte man mich …“ Ritsos war tatsächlich zuallererst Lyriker, allerdings nicht einfach nur „Lyriker“, sondern er lebte wie kaum ein anderer ein „poetisches Dasein“, Tag um Tag, Gedicht um Gedicht, Zeile um Zeile. Er berief sich immer wieder auf die Hunderten von Dramen, die Aischylos oder Euripides geschrieben hatten, und verteidigte sich gegen den (leisen) Vorwurf, ein „Vielschreiber“ zu sein, mit dem Postulat, sich als „Arbeiter des Worts“ zu verstehen. Er war tatsächlich ein homerischer Dichter, der aus allem Poesie machte, der eine unerschöpfliche Phantasie hatte und den eine scheinbar automatische Schreibweise ständig drängte, immer neue irre Bilder, tiefgründige Metaphern und glasklare Verse zu erschaffen.

Mit zwölf verlor Ritsos seinen Bruder und seine Mutter, die innerhalb von drei Monaten starben, mit 17 erkrankte er an Tuberkulose, die ihn zu insgesamt sieben Jahren Sanatoriumsaufenthalt in Tbc-Asylen (zwischen 1927 und 1936) zwang. Nachdem er den gesellschaftlichen Ruin seiner einst adligen Familie aus Lakonien miterlebt hatte, schloss er sich Anfang der dreißiger Jahre der kommunistischen Bewegung Griechenlands an. Und trotzdem blieb er Zeit seines Lebens – ähnlich Pier Paolo Pasolini, dem er mehrere Gedichte widmete – der Bohemien der dreißiger Jahre, der noch während der Verbannung auf den Gefängnisinseln Jaros und Leros Ende der sechziger Jahre in einem Pelzmantel herumlief – sehr zum Befremden vor allem seiner Genossen, und Jahrzehnte schon, bevor die Rapper-Generation dieses Outfit popularisierte. Diese Abgrenzung war notwendig, denn Ritsos hatte zwar das riesengroße Glück, durch die Theodorakis-Vertonungen seiner Gedichtzyklen „Epitaph“ und „Griechentum“ weltbekannt zu werden, aber er hatte auch das riesengroße Pech, in den Augen vieler zur Literatur-Ikone der kommunistischen Linken zu erstarren. Und kein anderer hat darüber so offen, desillusioniert, aber auch humorvoll geschrieben, wie er selbst.

Würde man die innere Zwiesprache, die Ritsos über sechzig Jahre mittels seiner Dichtung geführt hat, nachvollziehen, würde sich die unsichtbare Biografie des Dichters durchaus rekonstruieren lassen: die sehnsuchtsvolle Melancholie der dreißiger Jahre; die ironisch-verzweifelte Sicht auf Krieg und Bürgerkrieg, die „Reinheit“ als Überlebensstrategie in den Vierzigern; die existenzialistische Nachdenklichkeit der fünfziger Jahre; die Flucht in den Mythos, in die als notwendig empfundene Maskierung der sechziger Jahre; Fragmentarismus und die Auseinandersetzung mit dem Tod als soziales Phänomen Anfang der siebziger Jahre; die Entdeckung der neuen Einfachheit und der Dialog mit dem Tod als individuelles Phänomen in den Achtzigern.

Diese – hier grob und schematisch skizzierte – innere Zerrissenheit und außerordentliche geistige Flexibilität blieben bei Ritsos zeitlebens hinter einem in der Öffentlichkeit konsequent vertretenen dialektisch-marxistischen Standpunkt verborgen. Für den Dichter keineswegs ein Widerspruch, denn möglicherweise war diese Fixierung, „ein Dichter des Volkes“ zu sein, wie er populistisch (aber auch voller Sympathie) genannt wurde, für Ritsos die Voraussetzung, seine geistigen Experimente und poetischen Phantasien – gleichsam vor aller Augen im Verborgenen – auszuleben: „Eine gute Maske für schwierige Zeiten: der Mythos“.

© Asteris Kutulas

Cover-Photo © by Asteris Kutulas
Jannis Ritsos Film Poster-Foto © by Privatier/Asti Music

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Ich habe meine Begegnungen mit Jannis Ritsos zwischen 1982 und 1989 in meinen Tagebüchern dokumentiert. Asteris Kutulas 

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Jannis Yannis Ritsos "Sag Himmel: Auch wenn keiner ist"
Plakatentwurf für den Film „Sag Himmel: Auch wenn keiner ist“ (Photo by Privatier/Asti Music)

Sag: Himmel. Auch wenn keiner ist – Begegnungen mit Jannis Ritsos

Directed by Joachim Tschirner
Written by Asteris Kutulas & Joachim Tschirner
Music by Mikis Theodorakis

Cinematography by Rainer Schulz | Editing by Karin Schöning | Dramaturgy by Beate Schönfeldt | Production Management by Hans-Christian Johannsen | Sound Mix by Peter Dienst | Graphics by Margot Hoppe | Motion Graphics by Moser&Rosié
Historic footage from the movie „The Document“ by Tassos Lertas
Many thanks to Pantelis Giatzizoglou and Vaso Kostula (Athens)
Produced by DEFA-Studio für Dokumentarfilme (East Berlin)

57 minutes | 35mm | 1984
Premiere: 10.10.1985, 34th International Film Week Mannheim
Original German title: „Sag: Himmel. Auch wenn keiner ist – Begegnungen mit Jannis Ritsos“ 

Jannis Ritsos Film Erstausstrahlung im DDR-Fernsehen (1.Programm): 12. Mai 1985

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Film-Rezensionen

Mannheimer Morgen, 11.10.1985
Bericht über die Internationale Mannheimer Filmwoche
„… Dem Regisseur Joachim Tschirner (DDR) gelingt es ohne falsches Pathos, ohne eine erzwungene ideologische Botschaft, einen Künstler zu porträtieren, der sich zeit seines Lebens dem einfachen Volk der Fischer und Bauern verbunden fühlte und die Leiden der Armen und Erniedrigten in seinen Versen und Zeichnungen umsetzte. Mit Hilfe von alten Photos und historischem Filmmaterial werden die Stationen im Leben von Ritsos aufgezeichnet, dessen Leidensweg in die Verbannung gleichzeitig für die Geschichte des ganzen griechischen Volkes steht … Beeindruckend sind besonders die Gespräche mit dem Künstler in seiner Athener Wohnung, der ohne viel große Worte zu machen eine beseelte Ausstrahlung besitzt. Ein Künstler, der noch mit 75 Jahren seinen Kampf führt, ‚gegen die Verzweiflung und für das Leben'“. 



Rhein-Neckar-Zeitung, 11.10.1985
… Jannis Ritsos ist bei allem engagierten Widerstand und lautstarkem Protest in seinen Werken und seinem Leben ein ruhiger, nach Harmonie strebender Mensch. Der Film über sein Leben trägt diesem Aspekt Rechnung. Tschirner vermeidet Hektik und Unruhe in seinem Porträt. Bei der Zusammenstellung von Interview-Szenen, Dokumentarmaterial und Landschaftsbetrachtung geht er behutsam vor. Für den Menschen Ritsos, dessen Leben sich in der Umgebung und Historie widerspiegelt, nimmt er sich mit langen Einstellungen viel Zeit. Dafür braucht man Mut. So erkennt Tschirner auch, daß der Dichter Ritsos und die Geschichte Griechenlands nicht voneinander zu trennen sind. Die Biografie des Künstlers ist gleichzeitig ein sensibel umgesetztes Porträt seines Heimatlandes.“

Begegnungen mit Jannis Ritsos (Tagebücher 1982-1989)

 

Hellas Filmbox Berlin – Ein Statement

[Ich muss zunächst vorausschicken, dass ich weder Ahnung habe vom griechischen Film noch jemals daran interessiert war, Festivaldirektor zu werden – darum blieb ich es nur für ein Jahr (2015/16), dann übergab ich die Festival-Direktion an Sandra von Ruffin, die eine Mit-Begründerin von Hellas Filmbox Berlin und im ersten Jahr Vize-Festivaldirektorin war. Ich blieb weiterhin als Berater von Hellas Filmbox tätig und war von 2016 bis 2019 auch Creative Director des Festivals. A.K.] 

Hellas Filmbox Berlin Statement von Asteris Kutulas
Plakat Hellas Filmbox 2017 mit Stathis Papadopoulos, fotografiert von DomQuichotte, Creative Director Asteris Kutulas, Art Director Achilleas Gatsopoulos

Hellas Filmbox Idee

Als Ina Kutulas und ich Anfang 2014 den Gedanken hatten, ein griechisches Filmfestival zu gründen, geschah das aus dem Impuls heraus, zu reagieren auf eine für uns unerträgliche, hysterische Situation in Deutschland. Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg wurde sowohl von einem Großteil der deutschen Medien als auch von deutschen Politikern und Regierungsmitgliedern nicht die Politik eines anderen Landes, wurden nicht bestimmte politische Entscheidungen oder Parteien eines anderen Landes kritisiert, sondern ein Volk insgesamt stigmatisiert. Dieser Zustand der Herabsetzung und Verteufelung „der Griechen“ dauerte von 2010 bis 2015. Wenn man sich die Verlautbarungen der deutschen Medien und der deutschen Politik aus diesen fünf Jahren ansieht, wird man erschlagen vom Tonfall, aber auch von der Denkungsart, die sich mit diesem „Griechen“-Bashing offenbart.

Wir wollten 2014 mit unseren Mitteln als Künstler darauf reagieren und dem etwas entgegensetzen. Wir beschlossen, das Bild eines „realen“ Griechenland – gesehen durch die Augen griechischer Filmemacher – in der deutschen Hauptstadt zu präsentieren. Ein Jahr später, Anfang 2015, war es soweit: Gemeinsam mit einigen Partnern, Kollegen und Freunden gründeten wir zusammen die Deutsch-Griechische Kulturassoziation e.V. – und Ina Kutulas fand den Namen für das Festival: HELLAS FILMBOX BERLIN. Dann, im Januar 2016, die erste Edition von Hellas Filmbox Berlin. Auf dem Höhepunkt des Griechenland-Bashings machten wir eine klare Aussage: „Die Griechen kommen!“ Und noch ein Slogan, der es in sich hatte: „71 Filme in 4 Tagen – Soviel Griechenland hast du noch nie gesehen“! 

Ich schreibe das, um kenntlich zu machen, warum die Voraussetzungen dieses Festivals im Vergleich zu denen der meisten anderen Festivals so unikal sind und weil das erklärt, warum unser Festival so geworden ist, wie es ist.

Hellas Filmbox Marketing

Um unser Ziel zu erreichen, mussten wir unseren Fokus erstens auf die deutsche Presse und zweitens auf das deutsche Publikum richten. Es würde zu weit führen, hier die Kampagne zu umschreiben, die uns zum Ziel führte, ausserdem habe ich das bereits im Artworking Hellas Filmbox-Text umrissen.

Und die andere wichtige Komponente war, dass wir von vornherein unser Festival als „Event“ und eben nicht als ein „traditionelles Filmfestival“ vermarktet haben. Diese Herangehensweise hatte mehrere Konsequenzen:

Punkt 1: Um das deutsche Publikum und die deutsche Presse überhaupt zu erreichen, mussten wir die Filme deutsch untertiteln. So bekamen von den 132 Filmen, die wir bei den ersten beiden Festivals gezeigt haben, 65 Filme deutsche Untertitel. Wer etwas Einblick hat in den Prozess des Übersetzens und des Untertitelns, ahnt, was das für eine Mammutarbeit und was das für eine kulturelle Leistung war (auch für die deutsch-griechischen Beziehungen).

Punkt 2: Wir mussten Ideen für Home-Stories, Bilder und Slogans entwickeln, die eine Chance hatten, von der deutschen Presse als Text und Bild überhaupt wahrgenommen und veröffentlicht zu werden. Auf diesem Feld waren wir so sehr erfolgreich, dass wir schon durch die ca. 250 Presse-Veröffentlichungen bei jedem Festival der ersten drei Jahre zum größten kulturellen Ereignis außerhalb Griechenlands geworden sind. Zusätzlich haben wir tatsächlich erreicht, das negative Image Griechenlands auszugleichen dadurch, dass wir das positive und kreative Griechenland wieder erfahrbar machen konnten, weil wir diesem Griechenland eine starke Präsenz in Deutschland verschaffen konnten. Wir schafften es – vor allem mit Hilfe von Sandra von Ruffin –, dass in der „Bild“, der damals mit 10 Millionen Lesern auflagenstärksten Zeitung Europas, in der Neujahrsausgabe 2015/16 über HELLAS FILMBOX BERLIN geschrieben wurde. Das war die erste positive Berichterstattung über Griechenland in der „Bild“ seit 2010.

Sandra von Ruffing wurde zum „Gesicht“ des Festivals, seine Botschafterin. Es folgten Veröffentlichungen in „Stern“, „Focus“, „Süddeutsche Zeitung“, „Tagesspiegel“, „TAZ“ und anderen Printmedien sowie in vielen Fernseh- und Radio-Sender, bis hin zu einer ganzen Seite in der „Zeit“ unter der Überschrift „Die kleine griechische Berlinale“. Wer von Werbung eine Ahnung hat, weiß, dass wir hier einen Werbe-Effekt für Griechenland und auch für dessen Filmkunst erzielen konnten, der einem mehreren Millionen-Wert entspricht.

Hellas Filmbox Berlin Statement von Asteris Kutulas
Plakatentwurf von Achilleas Gatsopoulos für das erste Hellas Filmbox Berlin im Januar 2016

Punkt 3: Voraussetzung dafür, dass wir unser Ziel erreichen konnten, viele Menschen ins Kino zu holen und den griechischen Film für ein deutsches Publikum attraktiv zu machen, war es, HELLAS FILMBOX BERLIN nicht als Filmfestival, sondern als ein Event zu vermarkten. HELLAS FILMBOX BERLIN – das war 2016 und 2017 ein kulturpolitisches Statement; wenn man so will: eine „kulturelle Unabhängigkeitserklärung von der Tagespolitik“. In der aufgeheizten Atmosphäre und in Anbetracht des sehr gespannten zwischenstaatlichen Verhältnisses von 2015 lautete der Slogan für das erste HELLAS FILMBOX Festival: „71 griechische Filme an 4 Tagen“. Das war eine klare kulturpolitische Message, die Eindruck machte. Denn über „die Griechen“ wurde damals sehr viel gerichtet, ohne dass sie selbst zu Wort kommen konnten. Das kreative Griechenland existierte nicht mehr in der deutschen Berichterstattung. Dieses kreative Griechenland brachten wir durch HELLAS FILMBOX BERLIN in die deutsche Hauptstadt (zurück).

Hellas Filmbox Berlin

Das Projekt HELLAS FILMBOX BERLIN war so erfolgreich, dass im Januar 2018 unser Partnerkino in Berlin, das „Babylon“, als „Warm up“ zu unserem Festival 30 griechische Filme in 70 Screenings gezeigt hat, also einige Filme mehrmals. Das lässt deutlich werden, dass HELLAS FILMBOX BERLIN den griechischen Film so wettbewerbsfähig in Berlin gemacht hat, dass eine deutsche kulturelle Einrichtung auf eigenes Risiko zahlreiche griechische Filme zeigte. So etwas hat es, meines Wissens nach, in diesem Umfang nirgendwo anders gegeben – vor allem, wenn man bedenkt, dass sich dieser Prozess auf der Grundlage des Interesses eines nicht-griechischen Publikums vollzog.

Basis dieses Erfolgs war und ist das Engagement eines passionierten Teams – und zwar eines Teams, das jahrelang ehrenamtlich und ohne finanzielle Einnahmen gearbeitet hat. Das, was an „Honoraren“ gezahlt werden konnte, waren höchstens Unkostenpauschalen.

Dank

An dieser Stelle möchte ich zwei Institutionen und einem Konzern danken, ohne die es HELLAS FILMBOX BERLIN so nicht gegeben hätte. Wir haben natürlich – wie oben schon erwähnt – auch von einer Vielzahl anderer Personen, Firmen und staatlicher Stellen kleinere Beträge und Unterstützung unterschiedlicher Art bekommen, aber ohne die Zuwendungen der Niarchos Foundation, der Bundeszentrale für politische Bildung (für die Übersetzungen) und von Audi City Berlin hätte das Festival nicht als ein Kultur-Event durchgeführt werden können, das überhaupt irgendeine nennenswerte Aufmerksamkeit erzielt hätte. So aber konnte auf dem Gebiet der Kunst ein deutliches Zeichen für die Verständigung der Menschen aus beiden Ländern gesetzt werden. Allerdings … selbst mit dieser Unterstützung durch die Niarchos Foundation, die Bundeszentrale für politische Bildung, Audi etc.  würde das HELLAS FILMBOX BERLIN Festival nicht bestehen, ohne das Kernteam von etwa zwanzig Engagierten – größtenteils Griechen und einige Deutsche –, ein Team, das Herz und Seele dieses Festivals war und ist. Ihnen gilt mein Dank und mein Respekt.

Asteris Kutulas, 27.1.2018

(Asteris Kutulas initiierte 2014 zusammen mit Ina Kutulas das erste griechische Filmfestival in der deutschen Hauptstadt. 2015 gründete er zusammen mit Ina Kutulas und Sandra von Ruffin Hellas Filmbox Berlin und war Festivaldirektor der 1. Edition im Januar 2016. Von 2015 bis 2019 war er Creative Director des Festivals.) 

Hellas Filmbox Berlin Statement von Asteris Kutulas

 

Hellas Filmbox Berlin Statement von Asteris Kutulas
Artwork Hellas Filmbox 2018, mit Sandra von Ruffin & Friedrich Liechtenstein, fotografiert von DomQuichotte & Achilleas Gatsopoulos, Kostüme Heike Hartmann & Annabell Johannes, Art Director Achilleas Gatsopoulos, Creative Director Asteris Kutulas

Hellas Filmbox Berlin Statement von Asteris Kutulas

 

 

 

Producing, Artworking & Promoting Hellas Filmbox Berlin

Hellas Filmbox Berlin 2016  – Filmmakers‘ Trailer, dedicated to the Festival Team of Hellas Filmbox Berlin by Michael Kastenbaum, Zafeiris Haitidis, Yannis Sakaridis, Anna Rezan a.o.
Hellas Filmbox Berlin
Hellas Filmbox poster 2016 with Annabell Johannes, photo by DomQuichotte

Statement on producing & artworking Hellas Filmbox Berlin

For me, Hellas Filmbox was a conceptual art project from the very beginning. My aim was not to create just another „normal film festival“, but rather an „undogmatic communication model“ that would transcend conventional boundaries. I imagined an institution imbued with creativity and freedom – a vision that initially existed only in my head, but gradually took shape with each successive festival, culminating in the third festival at the Urban Spree location (Berlin-Friedrichshain) in January 2018.

Now, as we – meaning Sandra von Ruffin, Ina and myself – entrust the festival to the capable hands of Sofia Stavrianidou and Elisa Deftos, I have encapsulated and visualised the artistic and political essence of the four festivals (2016-2019) during my tenure as creative director. The artwork we developed and the accompanying marketing materials exude the energy we wanted to convey.

In collaboration with Sandra, Ina, Achilleas Gatsopoulos, Dom Quichotte and many other talented individuals, and with the invaluable support of peppermint and Gero Angreß, we cultivated a distinct „berlinesque“ identity – artistic and unconventional, yet deeply unique.

I would like to thank everyone involved for their fantastic collaboration. Together we have created something extraordinary, unexpected and truly beautiful.

Asteris Kutulas, Co-Founder & Creative Director Hellas Filmbox Berlin (2016-19)

Hellas Filmbox Berlin, Asteris Kutulas, Sandra von Ruffin
Festival Poster 2016 with Sandra von Ruffin, photo by DomQuichotte

Hard Facts 2016-19

  • 300 screenings with approx. 230 films
  • 65 films translated into German
  • roadshows with 30 Best of films in 15 German cities
  • over 150 Greek directors present at the festival
  • over 15.000 spectators
  • more than 200 German and international filmmakers, artists and professionals present at the festival

Hellas Filmbox Berlin directed by Asteris Kutulas
Festival Poster 2018 by Achilleas Gatsopoulos

Press Quotes

  • „The small Greek Berlinale “ (Zeit online)
  • „…contemporary, daring and creative cinema, as rarely seen before…“ (Goethe Institut)
  • „Look towards Greece! A group of artists are trying to save the image of a nation through art-house cinema.“ (Stern)
  • „Contemporary Greek cinema and its insights into the situation of this land.“ (Tagesspiegel)
  • „The most heartfelt film festival in Berlin!“ (Jüdische Zeitung)
Hellas Filmbox Berlin, Creative Director: Asteris Kutulas
Vorbericht in der BILD über das zweite Filmfestival im Januar 2017 (mit Sandra von Ruffin, fotografiert von DomQuichotte)

Press & Media Impact 2016-19

  • more than 800 articles in the press from Germany, Greece, Switzerland, Russia, Belgium, France, USA, Australia etc.
  • over 26 million media contacts
  • reviews in the most influential media in Germany: ZEIT, STERN, BILD, BUNTE, BZ, TAZ, GALA, FAZ, Deutsche Welle, RBB Berlin, Sat1 etc. as well as in the leading media in Greece
  • Hellas Filmbox’s website had 2,500 visitors per day in the month of January 2018
  • the Facebook page of Hellas Filmbox had 332.600 visits, 79.200 interactions, 46.400 video views in the month of January 2018
 
Hellas Filmbox Berlin, Creative Director: Asteris Kutulas
Box Talk with Oscar winner Volker Schlöndorff & Yannis Sakaridis

 

Hellas Filmbox Berlin, Creative Director: Asteris Kutulas
Festival poster 2017 (with Stathis Papadopoulos, photo © by DomQuichotte)

 

Hellas Filmbox Berlin, directed by Asteris Kutulas
Poster for the side event „Pop-up exhibition HELLAS ARTBOX BERLIN“

 

Hellas Filmbox Cyprus, creative director: Asteris Kutulas
Retrospective – Greek Cypriot Cinema CYPRUS IN A BOX (poster by Achilleas Gatsopoulos)

 

Retrospective – GREEK FEMALE FILMMAKER (poster with Sandra von Ruffin, photo © by DomQuichotte, art work by Achilleas Gatsopoulos)

Hellas Filmbox Berlin

  • was established in 2016 to highlight the current, highly artistic Greek film scene and present it to the German audiences
  • to gives an insight into the current situation of Greece, its people, inner conflicts and secrets
  • to take the German audience on a unique journey into the human soul through the eyes of Greek filmmakers
  • believes in films as an alternative way of thinking and seeing Greece
  • creates a constructive artistic dialogue between Greece and Germany by highlighting the current emotional and political rifts between the two countries
Hellas Filmbox Die Griechen kommen!
Hellas Filmbox poster by Achilleas Gatsopoulos with the Message of 2015/16: „The Greeks come!“

 

More than 350 directors & artists participated at the Hellas Filmbox festival between 2016 and 2019

Guests & Contributors

More than 350 filmmakers, artists and professionals from Greece, Germany, Turkey, the United States, France, etc. participating in …

  • Screenings
  • Panels
  • Exhibitions
  • Workshops
  • Theater productions
  • Concerts
  • Open Discussions etc.
GREEK EROTICA 2018 Hellas Filmbox festival
GREEK EROTICA 2018 Hellas Filmbox festival poster by Achilleas Gatsopoulos

The Festivals from 2016 to 2019

The first festival – the SOUTH: loud, radiant, hot, with nude art, overcrowded, like the first holidays in Greece.

The second festival – the WEST: structured, progressive, international, masculine & feminine, with Oscar winner Costa-Gavras, with Ulrich Tukur, Rolf Hochhut, Dani Levi and many others.

The third festival – the EAST: horny, dirty, honest, with a lot of heart, with a different focus and location, in the Urban Spree – a street art gallery on the „naughty“ district of Friedrichshain.

The fourth festival – the NORTH: more reserved, calm, thoughtful, influenced by the numerous experiences of the previous festivals. Different again! No walls! „More geil!“ (Even cooler!) 30 years after the fall of the Berlin wall.

„No walls! More geil“ – Festival poster series 2019 with Sandra von Ruffin by Achilleas Gatsopoulos & Asteris Kutulas
"No walls! More geil" with Sandra von Ruffin by Achilleas Gatsopoulos & Asteris Kutulas
„No walls! More geil“ – Festival poster series 2019 with Sandra von Ruffin by Achilleas Gatsopoulos & Asteris Kutulas

 

Hellas Filmbox, Asteris Kutulas, Friedrich Liechtenstein
Hellas Filmbox 2018 poster with Annabell Johannes & Friedrich Lichtenstein, photo by DomQuichotte, artwork by Achilleas Gatsopoulos

The Art Workers

Creative Director: Asteris Kutulas // Art Director: Achilleas Gatsopoulos // Photography: DomQuichotte & Achilleas Gatsopoulos // Creative: Ina Kutulas, Sandra von Ruffin, DomQuichotte & Achilleas Gatsopoulos // Body Painting: Johny Dar // Costumes: Heike Hartmann, Annabell Johannes, Ina Kutulas // Models/Actors: Sandra von Ruffin, Stathis Papadopoulos, Annabell Johannes, Friedrich Lichtenstein, Ioanna Kryona, Dimitris Argyriou

Hellas Filmbox poster 2018 with Sandra von Ruffin & Friedrich Lichtenstein, photo by DomQuichotte
Hellas Filmbox poster 2016 with Sandra von Ruffin & Annabell Johannes, photo by DomQuichotte

Statement

Für mich war Hellas Filmbox von Anfang an ein Konzeptkunst-Projekt. Ich wollte kein „normales Filmfestival“ kreieren, sondern ein über sich hinaus weisendes „undogmatisches Kommunikationsmodell“. Eine Institution, die nach Kreativität und Freiheit riecht. Das ist sicherlich etwas, das nur in meinem Kopf existierte, aber ich habe versucht – vor allem mit dem dritten Festival (2018) in der Urban Spree Galerie –, mich dem sehr anzunähern.
Jetzt, da wir – damit meine ich Sandra von Ruffin, Ina und mich – das Festival in die Hände von Sofia Stavrianidou und Elisa Deftos legen, habe ich das künstlerisch-politische Konzept der ersten vier Festivals (2016-2019), bei denen ich auch Creative Director war, zusammengefasst. Dieses von uns entwickelte Artwork und das dazugehörige Marketing offenbaren die Energie, auf die es uns ankam. Zusammen mit den Artworkern Sandra, Ina, Achilleas Gatsopoulos, DomQuichotte und zusammen mit vielen anderen sowie der wunderbaren Unterstützung von peppermint und Gero Angreß haben wir ein sehr eigenes, „berlinerisches“ und gleichzeitig sehr künstlerisches und ungewöhnliches Erscheinungsbild von Hellas Filmbox kreiert.  
Ich danke Euch allen für die phantastische Zusammenarbeit! Wir haben gemeinsam etwas Verrücktes, Überraschendes und sehr Schönes erschaffen.

Asteris Kutulas
Co-Founder & Creative Director Hellas Filmbox Berlin

Hellas Filmbox Berlin, Asteris Kutulas
Hommage Greek Erotica: Exhibition & Video Screenings
Hellas Filmbox Berlin, Asteris Kutulas
Inspiration for a poster with Stathis Papadopoulos (Photo by DomQuichotte)

Hellas Filmbox Berlin Team

Idea & Concept: Asteris & Ina Kutulas
Founder: Ina & Asteris Kutulas & Sandra von Ruffin
Title: Ina Kutulas
The great Hellas-Filmbox-Team 2016-18: Adam Adamopoulos, Argyro Antoniadou, Dimitris Argyriou, Michalis Argyrou, Rafika Chawishe, Elektra Daniilopoulou, Elisa Deftos, Elena Diesbach, Vassilis Dimitriadis, Giannina Erfany-Far, Elina Fotinou, Achilleas Gatsopoulos, Costas Giannacacos, Katharina Hein, Gerd Helinski, Galya Hristova, Julia Jendroßek, Dimitris Karras, Stella Kalafati, DanisKaraisaridis, Myrsini Karamanli, Maria Katsikadakou, Dareos Khalili, Vaios Kolofotias, Petros Koloutouris, Angela Konti, Ioanna Kryona, Andreas Malliaris, Eva Micropoulou, Brigit Mulders, Nefeli Myrodia, Mihalis Palaiologos, Michaela Prinzinger, Demian von Prittwitz, Nora Ralli, Klaus Salge, Yianna Sarri, Susanne Schickl, Sofia Stavrianidou, Iro Stratigaki, Maria Sventeriki, Dyonisios Tzavaras, Marsia Tzivara, Alexandra Zoe and many many more

Hellas Filmbox poster 2018 with Sandra von Ruffin & Annabell Johannes, photo by DomQuichotte

Nach der Wahl: Beginn einer neuen Ära? (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahl-Tagebuch, Athen, 08.07.2019

Tag 1 nach der Wahl. Sitze abends im Studio von Mikis Theodorakis, gegenüber die Akropolis, wir verfolgen zusammen gespannt die Abendnachrichten. Mitsotakis, Tsipras, Genimata, Koutsoumbas, Veropoulos, Varoufakis – die Vorsitzenden der sechs im Parlament vertretenen Parteien erscheinen einer nach dem anderen auf dem Fernsehbildschirm und geben Erklärungen ab.

Die Kommentare einer Vielzahl von Journalisten überschlagen sich. In der ausländischen Presse wird der „Beginn einer neuen Ära für Griechenland“ regelrecht gefeiert. Die „Märkte“ sprechen der neuen Regierung ihr „Vertrauen“ aus. Tayyip Erdogan hofft, dass es ab jetzt in der Ägäis und im Mittelmeer keine Probleme mehr geben wird. Der Chef der aus dem Parlament geflogenen Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ verspricht, umgeben von entschlossen nach vorn blickenden uniformierten Anhängern, wieder auf die „Straße“ zurückzukehren, „von wo wir gekommen und wo wir stark geworden sind“. Das kann man nur als Drohung verstehen.

Mikis stellt den Fernsehton leiser und sagt: „Es muss in Griechenland endlich ein wirksames Anti-Nazi-Gesetz geben. Diese Typen müssen sofort verhaftet und verurteilt werden und gleich darauf ins Gefängnis – und zwar für lange. Es ist unerträglich, wie sie ungehindert ihre Hetz-Propaganda in der Gesellschaft verbreiten können. Ich habe so ein Gesetz schon 2013 gefordert; jetzt werde ich mich deswegen auch an Mitsotakis wenden.“ Mikis kaut auf seiner kubanischen Zigarre herum – die er aus gesundheitlichen Gründen aber nicht mehr rauchen darf – und stellt den Fernsehton wieder lauter.

Graffiti in Athens (Photo © by Ina Kutulas)

Die Namen der neuen Regierungsmitglieder werden bekanntgegeben. 18 der 51 Ministerposten – in Griechenland gelten auch die „stellvertretenden Minister“ als Minister – sind mit Technokraten besetzt. Und fast alle anderen Minister erweisen sich tatsächlich als kompetente Fachleute für den Zuständigkeitsbereich des ihnen jeweils zugewiesenen Ministeriums. Das ist ein Novum in der griechischen Geschichte. In den letzten 100 Jahren galten andere Kriterien: Ministerposten wurden durch die mächtigsten Parteifunktionäre besetzt. Das war von Belang, nicht ihr fachliche Kompetenz. Den Bruch mit dieser unsäglichen Tradition hatte Mitsotakis vor seiner Wahl versprochen. Die Reaktionen innerhalb der Partei und innerhalb der Parlamentsfraktion werden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Die Frage wird sein, wie lange Mitsotakis bei den zu erwartenden Angriffen standhalten will und wird.

Alexis Tsipras, die abgewählte Ministerpräsident, bekommt durch sein starkes Wahlergebnis von 31,5% der Stimmen eine zweite Chance. Es fühlt sich wie ein Sieg in der Niederlage an. Er wird die nächste Zeit nutzen, um auf der Grundlage einer großen Wählerschaft aus seiner mitgliederschwachen SYRIZA eine Volkspartei zu machen. Und er muss eine wichtige strategische Entscheidung treffen: Will er weiterhin in Europa zu den „Linken“ gehören, oder wird er sich über kurz oder lang im „grünen Lager“ positionieren?

Asteris Kutulas Griechenland Athen Tagebuch 2019
Graffiti in Athens (Photo © by Ina Kutulas)

Die kleinen Parteien werden durch die Polarisierung der beiden großen Parteien zwischen diesen zerrieben. „Potami“, „Zentrumsunion“ und „Goldene Morgenröte“ sind aus dem Parlament geflogen, in dem nicht mehr acht, sondern nur noch sieben Parteien vertreten sind.

Im Fernsehen spricht gerade Kyriakos Velopoulos, dessen Partei „Griechische Lösung“ mit 3,7% neu ins griechische Parlament eingezogen ist. Bekannt wurde Velopoulos in den vergangenen Jahren als Kommentator in Spartenkanälen, als Telemarketing-Verkäufer von Büchern aus der eigenen Druckerei und als Vermarkter esoterischer Heilmittel. Dazu bemerkte mein Freund Wassilis Aswestopoulos in einem kürzlich geführten Gespräch: „Seine Wähler können keinen Widerspruch darin sehen, dass Velopoulos ihnen Haarwuchsmittel als „geheime Wundermittel“ verkauft, selbst aber eine nicht zu übersehene Halbglatze hat. Sie haben auch die von ihm als „Original Handschriften von Jesus Christus, unserem Gott!“ lautstark angepriesenen schriftlichen Dokumente einiger Mönche gekauft. Gebannt lauschen sie seinen Analysen, in denen er von einem wieder erstarkenden, zur Großmacht werdenden Griechenland schwärmt.“

Mikis schaltet den Fernseher aus und meint: „Es reicht. Hören wir uns meine 7. Sinfonie an.“ Sofort sind sie da, die Allmacht und die Schönheit der Musik. Und dann im dritten Satz die Worte von Jannis Ritsos: „Nächtlicher Hafen / Lichter, ins tiefe Wasser gerissen / Gesichter ohne Spuren, nichtssagend / kurz erhellt von den Scheinwerferlichtern / der Schiffe in einiger Entfernung / verschattet im Vorübergehn“.

© Asteris Kutulas, 8.7.2019

Text-Redaktion & © Photos: Ina Kutulas

Artikel-Veröffentlichung in der Tageszeitung „junge Welt“, 9.7.2019

Wahlgewinner: Mitsotakis, Tsipras und die Demokratie (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahlgewinner: Mitsotakis, Tsipras und die Demokratie (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahl-Tagebuch, Athen, 07.07.2019 

Gestern Abend war ich bei Dimitris, einem Freund, der eine Werbeagentur leitet. Wir sahen uns die Fernsehdebatten nach der Wahl an. Als die Wahlergebnisse bekannt waren, fragte ich ihn nach seiner Meinung. Dimitris streckte mir drei Finger entgegen: „Es gibt drei Sieger bei diesen Wahlen in Griechenland: die Demokratie, die rechts-konservative Partei „Neue Demokratie“ (ND) und die sozialistische Partei SYRIZA. Die Demokratie, weil die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“ an der 3%-Klausel gescheitert und darum nicht länger im Parlament vertreten ist. Die „Neue Demokratie“, weil sie mit ihrem Spitzenkandidaten Konstantinos Mitsotakis die Wahl mit fast 40% gewonnen hat und die Regierung bilden wird. SYRIZA, weil für die Partei von Alexis Tsipras die 31,5% Zustimmung einen beachtlichen Erfolg darstellen und SYRIZA damit die im Vergleich stärkste europäische sozialistische Partei geworden ist.“

Eine Minute, nachdem die exit pools bekannt gegeben wurden, akzeptierte SYRIZA die Wahlniederlage; wenig später rief TayyipErdogan den zukünftigen griechischen Ministerpräsidenten an und gratulierte ihm zum Sieg. Dagegen fällt der Freudentaumel der Anhänger des Wahlgewinners sehr bescheiden aus. Kein Überschwang, kein Fahnenmeer, keine Autokorsos … Das Volk bleibt zuhause vor den Fernsehapparaten und … wartet ab.

Griechenland Tagebücher 2019 von Asteris Kutulas

 

Wassilis Aswestopoulos, ein guter Freund und ein exzellenter Autor, der als Fotoreporter für die deutschen Medien in Griechenland arbeitet, erläutert mir seine Sicht auf die Situation: „Mitsotakis hat – anders als Tsipras und anders als seine konservativen Vorgänger – auf Fahnen schwingende und Parolen brüllende Parteihelfer bei seinen Wahlveranstaltungen verzichtet. Sein Wahlkampf orientierte sich an westlichen Vorbildern. Er erinnerte mehr an Obama als an die üblichen, populistischen Volkstribunen, denen die Griechen bislang ihre Stimme gaben. Mitsotakis wirkt wie ein College-Boy, wie eine griechische Kennedy-Version. Er möchte eine Gesellschaft der Eliten schaffen. Nicht mehr die Familie, sondern vielmehr die Ausbildung und die individuelle Leistung sollen die Berufslaufbahn bestimmen. Der Spross eines der größten Familien-Clans hat der Clanherrschaft den Kampf angesagt. #MetonKyriako, #MitKyriakos hieß der von der Partei in sozialen Medien verbreitete Hashtag, der die Familienbande in den Hintergrund stellen soll.“

Wassilis war noch ein Punkt wichtig: „Mit einer knallharten Law & Order Politik möchte die Partei die bislang an rechtsextreme Parteien verlorenen „besorgten Bürger“ zurückgewinnen. Und den Verlierern der Krise, den Armen verspricht Mitsotakis das bedingungslose Grundeinkommen. Er sieht sich als Vertreter des ganzen Volkes und nicht nur als Vertreter seiner eigenen politischen Klientel.“

Wie eine Bestätigung dessen kam in einer der zahllosen Debatten im Fernsehen folgende Erklärung von Makis Voridis, dem Fraktionsvorsitzenden der ND: „Mitsotakis ist kein Demagoge. Er hat alles angekündigt, was wir jetzt umsetzen wollen. Wir hatten und haben keine Hidden Agenda. Deshalb ist unser Programm vom griechischen Volk gewählt worden. Genau das werden wir umsetzen.“ Für einige Griechen hört sich das wie ein Neu-Anfang an, für andere wie eine Drohung.

Kurz darauf erscheint Alexis Tsipras vor den Kameras. Er sieht vollkommen entspannt – und irgendwie erleichtert aus. Er gratuliert Mitsotakis und bemerkt, dass seine Regierung vor vier Jahren eine katastrophale Situation, ein Land in Auflösung und kurz vor der Verarmung übernommen hatte, jetzt aber ein Griechenland an Mitsotakis übergibt, in dem die Arbeitslosigkeit halbiert wurde, die Staatskassen saniert sind, das Land den europäischen Rettungsschirm verlassen konnte und eine Reserve von 32 Milliarden der zukünftigen Regierung viel Gestaltungsfreiheit bieten. – Und tatsächlich berichteten Medien in den letzten Monaten, dass sich die Brüsseler Bürokraten immer wieder anerkennend äußerten: „Tsipras liefert“. Jetzt, scheint es, hat er die letzte Lieferung getätigt.

Griechenland Tagebücher 2019 von Asteris Kutulas
Athen, Juli 2019 (Photo © by Asteris Kutulas)

Dimitris sagt: „Es gibt wieder zwei Pole: die ND auf der einen und SYRIZA auf der anderen Seite. Hoffen wir, dass das nicht dieselbe Polarität zur Folge hat, wie wir sie in den letzten vierzig Jahren zwischen ND und PASOK erlebten. Hoffen wir, dass sich sowohl die „Neue Demokratie“ geändert und aus der Krise gelernt hat, als auch dass SYRIZA nicht in die Fußstapfen von PASOK tritt und sich stattdessen zu einer fortschrittlichen „grünen Volkspartei“ entwickelt. Und hoffen wir, dass die Kommunisten der KKE und der neu ins Parlament eingezogene Jannis Varoufakis mit seiner MERA25-Partei eine realistische, demokratische Gesellschaftsalternative entwickeln werden, wozu sie sich ja berufen fühlen.“ Ich antworte mit: „Amen!“

© Asteris Kutulas, Griechenland Tagebücher 2019

Text-Redaktion & © Photos: Ina Kutulas

Nach der Wahl: Beginn einer neuen Ära? (Wahl-Tagebuch 2019)

Artikel-Veröffentlichung in der Tageszeitung „junge Welt“, 9.7.2019

Morgen wird gewählt (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahl-Tagebuch, Athen, 06.07.2019

Morgen wird gewählt. Ich habe in den letzten Tagen bei Freunden, Bekannten oder bei zufälligen Begegnungen keine Hoffnung gespürt, habe nichts Positives erfahren – selbst, wenn mein Gegenüber vom besten aller möglichen Wahl-Ergebnisse seiner jeweils präferierten Partei ausging. Bei Neue-Demokratie-Anhängern, die einen großen Sieg erwarten, überwiegt eher die Freude darüber, dass SYRIZA verliert, als dass sie davon überzeugt wären, dass durch den Sieg ihrer Partei eine „bessere Zukunft“ bevorsteht. Manchmal hatte ich das Gefühl, eher fürchten sie sich vor den kommenden Entscheidungen ihrer Partei. Bei SYRIZA-Anhängern überwiegt das Argument, dass mit der Neuen Demokratie die Rechtsradikalen an die Macht kommen. „Koulis“ (so wird Mitsotakis hier mit pejorativem Unterton gerufen), heißt es, hätte Vertreter von LAOS und aus dem Umfeld der „Goldenen Morgenröte“ in den letzten Jahren mit ins Boot geholt, um dieser faschistischen Partei das Wasser abzugraben, die tatsächlich über die Hälfte ihrer Anhänger einbüßte.

Dabei sind die Programme – vor allem die der beiden großen Parteien – voll mit Wahlversprechen. Große Unterschiede gibt es nicht. Mein Freund Konstantinos sagte heute: „Egal, wer gewinnt, ob Alexis Tsipras oder Konstantin Mitsotakis, glaubst du wirklich, einer dieser beiden wird es wagen, das oligarchische System in Griechenland anzugreifen, die Grundlage von Korruption, Steuerhinterziehung und die eigentliche Ursache für die Krise?“ Wir sitzen im „Diplo“, einem wunderbaren Café auf dem Exarchia-Platz.

Es ist heiß. Ein Hund liegt in der Sonne, wie im tiefsten Frieden. Im Gegensatz zu gestern heute Wind. Konstantinos erklärt: „Frag doch mal, wie viele der 2.000 Namen aus der Lagarde-Liste mit vermuteten griechischen Steuerflüchtlingen in der Schweiz bislang überprüft wurden, seit die Liste vor sieben Jahren aufgetaucht ist! Bestimmt nicht mehr als 100. Die französische oder die deutsche Regierung haben im selben Zeitraum Tausende überprüft und sich Milliarden Steuergelder zurückgeholt. Und dabei ist diese Liste hier bereits durch die Hände eines ND-, eines PASOK- und eines SYRIZA-Finanzministers gegangen.“

Asteris Kutulas Athen Tagebuch Mitsotakis Tsipras

Ein älterer Herr vom Nebentisch, der gehört hatte, dass wir uns über Tsipras unterhalten, mischt sich ein, ziemlich erbost: „Ich jedenfalls glaube Tsipras kein Wort mehr! Er hat uns versprochen, den Mindestlohn von 350 auf 750 Euro anzuheben. Und was hat Tsipras gemacht? Der Mindestlohn, den ich kriege, ist jetzt nur bei 550 Euro. Ich werde dieses Mal Mitsotakis wählen; der hat angekündigt, den Mindestlohn sogar abzusenken, wenn es sein muss, und Mitsotakis hält, was er verspricht. Ich lass mich nicht länger von Tsipras verarschen. Der hat versprochen, versprochen und nichts gehalten.“ Ich dachte, der Mann hätte gescherzt, merke allerdings sehr schnell, dass er das ernst meint. Auf meinen Einwand, dass der Mindestlohn inzwischen auf 650 Euro angehoben wurde und er im Fall einer Absenkung weniger Geld in der Tasche haben würde, schlägt der Mann erbost mit der Faust auf den Tisch: „Mein Junge, ich lass mich nicht von diesem Lügner verarschen, verstehst du?“ Konstantinos zuckt mit der Schulter: „Asteris, willkommen im griechischen Wahlkampf 2019! Die Leute sind einfach durcheinander. Und nach inzwischen fast zehn Jahren Krise müde.“

Dann deutet Konstantinos auf einen Mann, Mitvierziger, und sagt: „Da hast du dein positives Beispiel. Das ist Castro“. Er erzählt, dass Castro ein syrischer Flüchtling der ersten Stunde ist, ein Aktivist und Organisationstalent. „Castro hat in Athen Strukturen geschaffen, die Flüchtlingen, aber auch Griechen helfen, sich autark zu organisieren und Überlebensstrategien zu entwickeln, wo der Staat versagt. Castro hat Spenden gesammelt, außerhalb von Athen billig Land gekauft, das bewirtschaftet wird, hat Arbeitsplätze geschaffen und jetzt hier am Exarchia-Platz einen Falafel-Laden eröffnet, wo man mit jeweils so viel zahlt, wie man gerade geben kann. Eine funktionierende, selbst organisierte Parallelwelt, die den Menschen Hoffnung gibt und Mut macht. Solche funktionierenden Parallelwelten gibt es inzwischen einige in Griechenland. Auch viele griechische Jugendliche gehen diesen Weg, verlassen Athen und bauen Kommunen im ganzen Land auf. Parallelwelten, die sich schützen und nicht vereinnahmt werden wollen.“

Asteris Kutulas Athen Tagebuch Mitsotakis Tsipras

Wir verabschieden uns. Konstantinos umarmt mich und gibt mir das mit auf den Weg: „Wenn du morgen wählst …“ Ich unterbreche ihn: „… wähle ich das kleinere Übel!“ Er lacht, und ich gehe zur Metro-Station Omonia-Platz.

© Asteris Kutulas

Text-Redaktion & © Photos: Ina Kutulas

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Kaputtgespielt (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahl-Tagebuch, Athen, 05.07.2019

Athen ist ruhig, seltsam still, unaufgeregt. Null Wahlkampfstimmung. Die Menschen bereiten sich auf die Sommerferien vor. Ich habe das Gefühl, wenn nicht auf den Fernsehbildschirmen in Restaurants oder Kafenions die diversen Politikerköpfe auftauchen würden und wenn es nicht ein paar zentrale Wahlveranstaltungen der Parteien gäbe, würde man vom Wahlkampf gar nichts merken.

Mein alter Freund Dionissis meint desillusioniert: „Es geht bei diesen Wahlen um nichts, glaub mir.“ Ich nehme einen Schluck griechischen Kaffee „me oligin“, mit wenig Zucker, und erwidere: „Tsipras hat gestern gesagt, es geht um UNSER LEBEN.“ Dionissis schüttelt den Kopf: „Alles Floskeln. Kuck sie dir an, diese traurigen, machtgeilen Gestalten: Konstantinos Mitsotakis von der Neuen Demokratie, Alexis Tsipras von SYRIZA, Fofi Genimata von der Ex-PASOK-Bewegung KINAL, Nikos Koutsoumbas von den Kommunisten … Und dazwischen auch noch der gescheiterte Ex-Finanzminister Varoufakis mit seiner neuen Partei Mera25 – irgendwie alles „greise“ Politiker von gestern. Kein Visionär darunter, keine inspirierende Persönlichkeit, nichts, alles Luftnummern. Wir sind wirklich verloren.“ Er nimmt einen Schluck Bier, schaut sich um und krempelt seine Ärmel hoch. Es ist sehr heiß in Athen.

Asteris Kutulas Athen Tagebuch 05
Liebe! Hoffe!

2012 war Dionissis noch Mitglied der Hackergruppe Anonymus. Ende Januar 2012 schickte Anonymus eine Botschaft an die damalige griechische Regierung, in der es hieß, das Volk solle keine Angst haben vor seiner Regierung, sondern die Regierung solle Angst haben vor dem Volk. Ich erinnere ihn daran. Dionissis will nichts mehr davon wissen: „Das ist Schnee von gestern. Außerdem ist ja durch SYRIZA das Volk an die Macht gekommen … oder?“ Er lacht selbst laut über diesen billigen Witz und klopft mir auf die Schulter. „Asteris, weißt du, was mich wirklich wütend macht?“ Er schaut mir direkt in die Augen. „Mich macht wütend, dass die Faschos von der Goldenen Morgenröte und der „Griechischen Lösung“ insgesamt bestimmt auf 7% kommen. Wie kann man nur solche furchtbaren und gefährlichen Typen wählen? Es gibt keine Hoffnung, mein Bruder. Es geht nur noch um das EIGENE Leben. Ich werde mit meiner Familie Griechenland verlassen. Wir ziehen zu meinem Cousin nach Perth. Ich kriege dort einen sehr guten Job in der Perlen-Produktion.“

Diesen „Schlussstrich“ haben in den Jahren der Krise inzwischen mehr als 600.000 vor allem jüngere Griechen gezogen. Griechenland verliert seine Zukunft. Sehr viele meiner Landsleute sind total ernüchtert, müde und kaputtgespielt. Solche resignierten Aussagen habe ich gestern und heute zuhauf gehört: Die griechischen Politiker haben das Land „verkauft“ und „verraten“, die EU hat Griechenland herabgewürdigt und abgestoßen, und aus der Hoffnung und „System“-Alternative SYRIZA wurde ein Stabilisator des „Systems“. Auch Dionissis bringt es auf diesen Punkt: „Nach vier Jahren SYRIZA-Regierung hat uns das „System“ eine klare Botschaft geschickt: Keiner kann dem System was anhaben. Das System hat ohne große Mühe selbst die „Radikalen Linken“ von SYRIZA absorbiert und sich untertan gemacht.“

Asteris Kutulas Athen Tagebuch 05

 

Dionissis wechselt das Thema: „Wie findest du es in dieser Location? Ich dachte, dir als deutschem Griechen wird es gefallen, dass wir uns in einer der besten Bierbars Athens treffen.“ – „Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss. Ich trinke keinen Alkohol. Ich bleibe bei meinem Kaffee.“ Dionissis schaut mich ungläubig an. „Ich sollte auch keinen Alkohol trinken. Das Bier kostet hier 5 Euro, und ich kann mir das eigentlich nicht leisten.“

© Asteris Kutulas

Text-Redaktion & © Photos: Ina Kutulas

Veröffentlichung in der Tageszeitung „junge Welt“

 

Tsipras mit den kühlen Händen eines Sushi-Meisters (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahl-Tagebuch, Athen, 4.7.2019

Gleich nach meiner Ankunft in Athen fuhr ich ins Stadtzentrum. Elisa hatte sich mit mir verabredet im Restaurant SAH. „Kam, sah … und eröffnete das SAH“, dachte ich. Elisa, eine Performance-Künstlerin, deren Kunst darin besteht, sich in diversen Underground-Locations Schmerzen zuzufügen. Sie weiß, dass ich diese Art von Aktion schwer ertragen kann. Sie sagt, sie verkörpere Griechenland. „Da kommt ja mein größter Fan!“ Elisa umarmt mich und beißt mir in die Schulter. „Nein, bitte nicht!“, ich schiebe sie weg, sie lacht und stellt mir ihren neuen Freund vor: „Das ist er! Stefanos! Er arbeitet bei der Post.“ Stefanos, 35, Bartträger, blaue Augen, nur noch wenig Freiraum zwischen seinen Tattoos.

Während des Essens bemerke ich, dass sich die Gäste im gegenüberliegenden Restaurant eine Fernsehdebatte fünf älterer Herren ansehen, bei der es immer wieder Einblendungen von Alexis Tsipras gibt. „Worum geht’s da?“, frage ich Elisa und Stefanos. Elisa winkt ab: „Alles dreht sich gerade um ein Fernsehinterview, das Tsipras dem Sender SKY vor zwei Tagen gegeben hat. Jahrelang boykottierte er SKY, weil die immer Anti-SYRIZA-Propaganda gemacht haben.“ Stefanos unterbricht sie: „Aber 5 Tage vor der Wahl wollte er sich die 40% Zuschauerquote nicht entgehen lassen.“ – „Klar!“, meint Elisa. „Tsipras wird die Wahl verlieren und greift nach jedem Strohhalm, um sich noch mal darstellen zu können.“ Ich frage die beiden: „Und wie war das Interview?“ – „So, wie er regiert hat – es war seltsam!“ – „Wie meinst du das?“

Elisa streicht sich mit der Hand übers Gesicht: „In den letzten Jahren wirkte Tsipras so abgehoben, wie nicht von dieser Welt; er gab sich oft aristokratisch staatsmännisch – das war ein krasser Gegensatz zur profanen und üblen Realität hier.“ Stefanos erklärt: „Die Gesetze werden in Brüssel gemacht, Griechenland ist eine Schuldenkolonie und Tsipras deren Staathalter. Egal, wer in Athen die Wahlen gewinnt – regiert werden wir von Brüssel aus.“ Elisa stimmt ihm zu: „Deshalb ging es Tsipras ab einem bestimmten Punkt nicht mehr um Griechenland, sondern vor allem um das Wohlwollen der Brüsseler Bürokratie und der europäischen Staatschefs. Er wollte von Frau Merkel, von Tusk und von Juncker als Staatsmann auf Augenhöhe akzeptiert werden …“ Ich werfe ein: „Ist doch nicht schlecht für Griechenland, wenn unser Premier in Europa respektiert und nicht beschimpft wird …“ Stefanos zuckt mit der Schulter: „In Griechenland kann er nicht mehr viel ausrichten, seit er sich dem Brüsseler Diktat im Juli 2015 unterworfen hatte.“

Asteris Kutulas Wahl Tagebuch Alexis Tsipras
Graffiti in Athens

SAH, denke ich, wär auch in Berlin ein guter Name für ein Restaurant. Auf dem Fernsehbild von gegenüber jetzt wieder groß Tsipras‘ Gesicht. „Er sieht entspannt aus“, sage ich, und Stefanos erwidert: „Seine bevorstehende Niederlage macht ihm nicht viel aus. Tsipras hat sich – vor allem durch die Lösung für den Mazedonien-Namensstreit – der europäischen Nomenklatura „angedient“; der hat in den letzten beiden Jahren mit kühler Hand regiert, weil er für den Nobelpreis vorgeschlagen werden wollte und weil er in Zukunft Kommissionsmitglied in Brüssel sein möchte. Griechenland interessiert ihn nicht besonders. Er hat „europäische“ Politik gemacht, keine griechische.“

Elisa konstatiert ziemlich resigniert: „Griechenland liegt am Boden, die Konservativen, die uns diese ganze Scheiße eingebrockt haben, kommen wieder an die Macht, und Tsipras sieht zufrieden aus. Das ist die Situation.“ Ich frage: „Aber ist das nicht eine außerordentliche Leistung, aus einer 4%-Bewegung eine Regierungspartei zu machen und nach vier Jahren an der Macht immer noch 25% der Wähler halten zu können?“ Für Stefanos gibt es keine Diskussion: „Was ich Tsipras vorwerfe ist, dass er dafür gesorgt hat, dass die Konservativen von der ND wieder an die Macht kommen.“

„Bei der nächsten Performance bin ich Elisa-Hellas,“ sagt Elisa. „Um mich herum Sushi-Meister, die mir Instrumente reichen … Ihr wisst, warum es keine Frauen als Sushi-Meister gibt?“ Sie schaut uns an. Ich schüttle den Kopf. „Weil die kühlere Hand-Temperatur des Mannes eher geeignet ist, Sushi zu machen … Also von mir gibt es jetzt für Euch Brüsseler Sushi.“ Sie nimmt ein Messer und beginnt, sich in die Hand zu ritzen.

© Asteris Kutulas |Text-Redaktion & © Photos: Ina Kutulas

Junge Welt Veröffentlichung, 6.7.2019

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„Wahlen in Griechenland: SYRIZA oder Sex“ (Wahl-Tagebuch 2019)

Wahl-Tagebuch, Athen, 03.07.2019

Sitze im Flugzeug nach Athen. Am Sonntag wird in Griechenland gewählt. Und obwohl ein „Machtwechsel“ bevorsteht, scheint niemand – zumindest unter meinen Bekannten – besonders „besorgt“ oder „aufgewühlt“ zu sein. Was für ein Gegensatz zu den zwei Wahlen 2015.

„Die Deutschen sind unzuverlässig geworden. Aber irgendwie seltsam unzuverlässig.“ Neben mir sitzt George, ein griechischer Musiker, der ein Gespräch mit mir führen will: „Wir Griechen sind zumindest zuverlässigunzuverlässig. Abgesehen natürlich von den Müttern, die sind nicht unzuverlässig …“ Er hält inne und dreht den Kopf zu mir: „Gehst du auch wählen? Die Rechten von der Neuen-Demokratie-Partei kommen jetzt wieder an die Macht.“ – „Und wie findest du das?“, will ich wissen. George dreht den Kopf leicht zu mir hin, knetet ein Stück Papier zu einer Kugel und sagt: „Ich weiß es nicht.“

Das habe ich in letzter Zeit sehr oft gehört. Viele meiner Landsleute wissen nicht, wen bzw. was sie wählen sollen, und viele können nicht glauben, dass die Partei „Neue Demokratie“ mit ihrem Spitzenkandidaten Konstantin Mitsotakis innerhalb von vier Jahren wieder zu einer wählbaren Alternative geworden ist. Immerhin waren diese Partei und ihre Politiker – zusammen mit der sozialistischen PASOK – hauptverantwortlich für die größte politische, ökonomische und humanitäre Krise im Nachkriegsgriechenland. Eine Freundin aus Kalamata sagte mir kürzlich am Telefon: „Nach vier Jahren Alexis Tsipras und SYRIZA wissen wir: Die machen alle dieselbe Politik. Also warum nicht gleich das Original des kapitalistischen Systems wählen? Die von der Nea Dimokratia sollten das am besten können.“ Tatsächlich kann man im Griechenland von 2019 nicht zwischen alternativen Politiken, sondern nur das wählen, wovon man glaubt, es sei das „kleinere Übel“.

Mein Freund Nikos, den ich letzte Woche während eines Kurztrips nach Athen auf einen Kaffee am Syntagma-Platz getroffen hatte, ist anderer Meinung: „SYRIZA hat einen neuen Politik-Stil eingebracht und hat durch viele kleine Schritte eine viel sozialere Politik gemacht, als es alle anderen Parteien getan hätten. Und die SYRIZA-Politiker sind nicht korrupt, im Gegensatz zu den alt eingesessenen.“ Bei der Schlacht zwischen den beiden führenden Parteien, die bei den Umfragen eine große Differenz aufzeigen (ND: 35%, SYRIZA: 26%), geht es darum, wer das Land am besten aus der Krise führen kann. SYRIZA konnte offenbar in den letzten vier Jahren nicht überzeugen – und viele „Versprechen“ nicht erfüllen. Und die Konservativen um Mitsotakis nutzten geschickt die vielen Fehler und die generell schwierige Ausgangsposition ihrer politischen Gegner aus, um das Wahlvolk vergessen zu lassen, welche Griechenland-Politik sie selbst jahrzehntelang gemacht hatten, und um ihr Wahl-Versprechen von einem besseren Lebensstandard plausibler zu „verkaufen“.

Asteris Kutulas Wahlt-Tagebuch 2019 SYRIZA Alexis Tsipras
Graffiti in Athens: „Die Haie leben nicht auf dem Land“

Sehr viele Griechen, vor allem die Jugendlichen, mussten ihr Lebensniveau drastisch nach unten schrauben. Die Verluste überwiegen. Viele von ihnen haben sich an die neue Armut „gewöhnt“. Meine Freundin Marina schrieb mir unlängst in einer Mail: „Weißt Du, die Sonne und das Meer kann uns keiner nehmen. Scheiß auf die Politiker.“ Ich antwortete ihr: „Ist das deine neue Definition von „Engagement“?“ Ihre nächste Mail kam prompt: „In einem Land, in dem selbst die „Radikalen Linken“ der SYRIZA nichts gegen das „System“ ausrichten können und eigentlich auch nichts ausrichten wollen, ziehe ich es vor, das Meer der Ägäis zu genießen, etwas Sex zu haben und mich intensiv mit der Imkerei zu beschäftigen und mit dem Oregano auf meinem Balkon.“

Gleich landen wir. Athen hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Zum Guten und zum Schlechten. Die Wahlen am Sonntag entscheiden wahrscheinlich gar nichts, außer dass alles beim Alten bleibt, nur noch etwas verschärfter, so scheint mir – aber vielleicht irre ich mich. „Gleich sind wir unten“, sagt Giorgos. „Zuhause! Heimat! Super!“ Das Flugzeug setzt auf. Es ruckelt kaum. Auf einem der Flughafengebäude weht die blau-weiße griechische Fahne.

© Asteris Kutulas | Text-Redaktion & © Photos: Ina Kutulas

Junge Welt Veröffentlichung, 5.7.2019

Tsipras mit den kühlen Händen eines Sushi-Meisters (Wahl-Tagebuch 2019)

Das Makedonien-Problem – Ein Brief von Mikis Theodorakis

Brief von Mikis Theodorakis an Wim Wenders

[Der folgende Brief von Mikis Theodorakis an Wim Wenders (Herbst 1992), in dessen Eigenschaft als Vorstandsmitglied der European Film Academy, ist eine Reaktion auf die Nominierung eines Films aus der „Skopje-Republik“ unter der Staatsbezeichnung „Makedonien“ für den europäischen Filmwettbewerb FELIX 92. Daraufhin protestierten eine Reihe griechischer Filmemacher, u.a. Theodoros Angelopoulos und vor allem Melina Mercouri. Theodorakis erklärte seinen Austritt aus der Akademie für den Fall, dass diese ihren Beschluss nicht rückgängig machen würde, woraufhin Wim Wenders in einem Brief die Entscheidung der Film Academy verteidigte. Der daraufhin hier abgedruckte Brief, sowie der griechische Protest, führten zur Revision der Nominierung und der Annahme des am Schluss des Theodorakis-Briefes vorgeschlagenen Kompromisses.

Theodorakis setzte sich seitdem aktiv dafür ein, die Beziehungen zwischen Griechenland und „Skopje“ zu normalisieren und zu verbessern. 1996 reiste er als erster und einziger griechischer Künstler in die Nachbarrepublik, traf sich mit dem damaligen Präsidenten Kiro Gligorov zu Gesprächen und dirigierte das Staatsopernorchester von Skopje. 2010 prangerte er die griechische Regierung an, dass sie unfähig und aus populistischen Gründen unwillens sei, das zwischenstaatliche Problem der zwei Nachbarländer politisch zu lösen. Dieselbe Haltung brachte er in seiner Rede am 4. Februar 2018 auf dem Syntagma-Platz zum Ausdruck, wobei einige selbstkritische Töne dazukamen. Diese sehr antifaschistische Rede, in der er Brecht zitierte und sich als internationaler Patriot“ bezeichnete, der „alle Heimatländer liebt“, betonte er: 1) dass die Griechen selbst und alle griechischen Regierungen der letzten Jahrzehnte eine große Mit-Schuld an der derzeitigen Situation in Beziehung zum Nachbarland haben, 2) dass Griechenland kein Recht hat, unserem Nachbarland vorzuschreiben, wie es sich nennen soll, 3) dass Griechenland akzeptieren muss, dass unser nördlicher Nachbar in der Märchenvorstellung lebt, vom antiken griechischen Makedonien abzustammen, 4) dass das Einzige, was Griechenland tun kann, folgendes ist: dieses „Märchen“ nicht mit unserer Unterschrift zu bestätigen, aber ein freundschaftliches Verhältnis mit unserem Nachbarland zu pflegen und dieses zu vertiefen. Und dass es 5) für den Fall, dass eine griechische Regierung darüber nachdenkt, dieses „Märchen“ dennoch bestätigen zu wollen, eine Volksabstimmung dazu geben sollte – wegen der großen nationalen Tragweite dieser Entscheidung. // Folgend der Brief von Mikis Theodorakis an Wim Wenders vom Herbst 1992:]

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Lieber Wim Wenders,

ich danke Ihnen für Ihren Brief, auf den ich, wie Sie sehen, sofort antworte, da mir beim Lesen Ihrer Zeilen deutlich wurde, dass es ein prinzipielles Missverständnis hinsichtlich der Beweggründe, die mich zu meinem letzten Brief an die Akademie bewegt haben, auszuräumen gilt. Ich bin nämlich keineswegs von politisch geprägten Prämissen oder gar nationalistischen Vorurteilen gegenüber irgend einem Volk oder einer Minderheit geleitet worden. Ich habe einen Großteil meines Lebens, fast 50 Jahre, dem Kampf für die Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen gewidmet, was mich, so hoffe ich, vom Verdacht, auch nur im Geringsten souveräne Rechte anderer Völker – wie dem der Skopje-Republik – verletzen zu wollen, befreit. Nicht zufällig, lieber Wim Wenders, war ich es, der – als erster – während seiner Rede bei der Regierungssitzung vom 6.11.1991 in Athen die Ansicht vertreten hat, dass der Skopje-Staat nicht von Griechenland anerkannt werden soll, solange in seiner Staatsbezeichnung das Wort „Makedonien“ gebraucht wird, solange also die Herrschenden dort versuchen, etwas zu usurpieren, was ihnen nicht gehört. Zu diesem Vorschlag, auf den ich stolz bin, bewogen mich, neben der Liebe zu meiner Heimat, meine Eigenschaft als Intellektueller und meine Fixierung auf die humanistischen Ideale.

Die Erfindung einer „Makedonischen Nationalität“

An dieser Stelle komme ich nicht umhin, einige historische Fakten anzuführen: Ausgehend vom Namen „Makedonien“, den Tito 1945 im Interesse seiner panslawischen Anschauung für den südlichen Bezirk Jugoslawiens einführte, gingen die später in Skopje Herrschenden einen Schritt weiter, indem sie eine nicht-existierende „Makedonische Nationalität“ erfanden, um letztendlich „die Befreiung des griechischen Makedoniens vom griechischen Joch“ zu verlangen!

Das, was mir schon immer an den Menschen und insbesondere an den Skopjanern nicht gefiel, ist die Verneinung ihrer Herkunft, die Verheimlichung und Verleugnung ihrer historischen Wurzel. Alle wissen, dass im Skopje-Staat heute vorwiegend Albaner und Slawen leben. Letztere kamen in den ersten Jahrhunderten nach Christi auf den Balkan. In den historischen Dokumenten tauchen sie als Bulgari auf, während ihre Sprache eine Mischung aus bulgarischem Dialekt und anderen slawischen Dialekten war. Sie koexistierten mit den Griechen, den Bulgaren, Albanern, mit Christen und Muslimen. Sie schufen wie alle anderen Völker ihre eigene Kultur, ihre eigenen Lieder, Tänze und Mythen. Im jugoslawischen Völkerbund versuchten sie, ihre eigene, rein slawische, Physiognomie zu entwickeln. Aber statt auf ihre Herkunft, ihre Wurzeln, ihre Sprache, ihre Symbole stolz zu sein, beschlossen sie – verleitet von einem politischen Annektionismus, der sie für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren trachtete –, sich zu verwandeln, und zwar: in Griechen!

Die Makedonier sind Griechen

Denn die Makedonier lebten im griechischen Makedonien tausend Jahre, bevor die Slawen auf den Balkan kamen, und keiner bezweifelte bislang, dass Alexander der Große Grieche war, und dass sein Lehrer Aristoteles griechisch sprach und schrieb. Mit alledem will ich nur darauf hinweisen, dass es sich hierbei keineswegs um eine politische Auseinandersetzung handelt, sondern um eine Frage moralischer Natur: Kann man akzeptieren, dass sich ein Staat anmaßt, die Geschichte eines anderen Volkes, dessen Symbole und Namen zu usurpieren?

Schließlich wählte der Skopje-Staat als Symbol für seine Staatsflagge die SONNE VON VERGINA, das Wappen von Phillip, das kürzlich im Grab des Königs von Makedonien am Fuße des Olymp, also im Herzen Griechenlands, gefunden wurde. Vorher schon druckte Skopje auf seine Geldscheine den Weißen Turm von Thessaloniki und schmückte all seine Institute mit dem Abbild Alexanders des Großen, um nur einige der zahllosen Aneignungsversuche griechischer Wahrzeichen und Geschichte anzuführen.

Anspruch auf griechische Territorien

Sie könnten mir entgegnen: Wenn sich die Skopje-Slawen so sehr als Makedonier fühlen, warum fordert ihr sie nicht auf, heim ins Reich, nach Griechenland, zu kommen? Aber zum Glück – oder sollte ich „leider“ sagen? – haben wir Griechen nicht die Mentalität einer Großmacht, nicht den Anspruch, das auserwählte Volk zu sein, keinerlei Arroganz gegenüber Schwächeren. In unserm Fall beobachten wir das andere Extrem: Ein kleiner Bezirk Jugoslawiens, der vor einigen Jahrzehnten willkürlich auf einen griechischen Namen getauft wurde, bekommt mit der Zeit immer mehr Appetit – unterstützt von mächtigen Interessengruppen in der ganzen Welt –, erklärt im weiteren Geschichtsverlauf die Existenz einer „Makedonischen Nation“ und krönt nun seine Staatsdoktrin, indem es Anspruch auf griechische Territorien erhebt, darunter auf Makedonien selbst, den Nordbezirk Griechenlands, mit seiner Hauptstadt Thessaloniki.

Sie schreiben mir, dass sich „Europa in einer Übergangsphase befindet, die Landkarte neu gestaltet wird, Nationen und Grenzen aufgelöst und neu definiert werden …“. Ich hoffe sehr, Sie meinen damit nicht, dass auch unsere Grenzen neu definiert werden sollten … Und Sie fahren fort: „Deshalb sind sie auch beide unsere Kollegen und Freunde – die Filmemacher Griechenlands und die Filmemacher Mazedoniens.“ Auch wenn ich wollte, könnte ich dem nicht zustimmen, dass es heute Griechen und Makedonier gibt. Denn ganz einfach: die Makedonier sind Griechen, genauso wie die Sachsen Deutsche sind.

Mikis Theodorakis Makedonien Problem, Asteris Kutulas
Photo by © Privatier/Asti Music

Und so möchte ich meinen Brief mit einem absurden und monströsen Szenarium beenden, das, hoffe ich, Ihnen hilft zu verstehen, was genau geschieht und in welch unvorstellbare Situation uns der „Trotz“ einer Handvoll Menschen gebracht hat, die fortfahren, sich als etwas anderes auszugeben, als sie in Wirklichkeit sind:

1945 beschließen Stalin und polnische Staatsfunktionäre, um später „rechtmäßig“ deutsche Territorien beanspruchen zu können, an den östlichen Grenzen zu Deutschland einen Bezirk mit dem Namen „Sachsen“ zu gründen. Seine Einwohner haben keinerlei Beziehung zum deutschen Volk. Sie sind eine Mischung aus Slawen unterschiedlicher Herkunft, Polen, Zigeunern, Albanern und Muslimen. Dieses seltsame „Sachsen“ entwickelt einen eigenen Dialekt mit slawischen, albanischen und polnischen Einflüssen. Diesen Dialekt taufen die Herrschenden „Sächsische Sprache“. Des weiteren gründen sie (mit reichlich Geld) Institute in Australien, Kanada, den USA und in Europa, in denen die „Sächsische Nation“ propagiert wird. Die neuen „Sachsen“, oder besser die Pseudo-Sachsen, erklären sich mit der Zeit zum alleinigen Erben des sächsischen (und damit auch: deutschen) Kulturgutes. Walther von der Vogelweide, Luther, Bach, Immanuel Kant werden zu ihren nationalen Idolen. Sie drucken Landkarten von „Groß-Sachsen“ mit der Hauptstadt Dresden, nehmen den Dresdner Zwinger als Staatssymbol in ihre Fahne auf und geben Briefmarken mit dem Abbild August des Starken heraus. Schließlich wählen sie im Jahre 1991 eine Verfassung, die den Grundsatz festlegt, dass das Staatsziel „Sachsens“ darin besteht, ganz Sachsen, also auch den noch deutschen Teil, vom deutschen Joch zu befreien! Aber das deutsche Volk rebelliert. Die deutsche Regierung sieht sich zum Handeln gezwungen. Das Thema wird im EU-Rat behandelt, der gerade in Lissabon tagt und der einstimmig beschließt, dass die Pseudo-Sachsen aufhören müssen, einen fremden, einen deutschen Namen zu führen und die deutsche Geschichte zu usurpieren. Aber die Pseudo-Sachsen machen weiter … So schicken sie auch zum Filmfestival nach Athen einen pseudo-sächsischen Regisseur, den wir hier in Griechenland sofort als echten Sachsen anerkennen, also de facto als Repräsentanten des – deutschen! – „Groß-Sachsens“. Und wenn Sie als deutscher Künstler – und das deutsche Volk – protestieren und darauf hinweisen, dass es sich dabei um eine unverhohlene Geschichtsanmaßung handelt, antworten wir Ihnen, dass es uns nicht möglich ist, Unterschiede zu machen und dass für uns die „Sachsen“ (in Anführungsstrichen) und die Deutschen gleichermaßen Kollegen und Freunde sind, was nichts anderes bedeutet, als dass wir anerkennen, dass Deutsche und Sachsen (ohne Anführungsstriche) was vollkommen anderes sind und damit ebenfalls, dass Dresden, Meißen, Chemnitz, Leipzig, die Sächsische Schweiz eigentlich zum slawischsprechenden „Sachsen“ gehören. Obwohl dessen Vorfahren ja eigentlich noch Tausende von Meilen entfernt lebten, als das sächsische/deutsche Volk bereits das Nibelungenlied, einen Dürer, Lessing, Schiller, Mozart hervorbrachte. Jedenfalls stelle ich mir ungern vor, was passiert wäre, wenn nicht Griechenland, sondern tatsächlich Deutschland von so einem Problem betroffen gewesen wäre.

Die Verleugnung der eigenen Tradition

Mein Szenarium hat mit streng historischen Fakten zu tun. Und zusätzlich mit folgender Tatsache: Wenn ein Volk, und mehr noch ein Künstler seine Wurzeln verleugnet, wird das, was er künstlerisch ausdrückt, eine Lüge sein. Und wie Sie sehr gut wissen, sind Kunst und Lüge wie Feuer und Wasser. So wird ein Pseudo-Sachse, der angibt, sein Werk gründe sich auf – nichtexistente – deutsche Wurzeln, genauso lügen müssen wie ein Pseudo-Makedonier, der auf seiner – natürlich nichtexistenten – makedonischen, also griechischen Herkunft besteht. Das ist ganz einfach Betrug, und ich bin mir sicher, dass auch Sie sich über kurz oder lang dessen bewusst werden.

Was nun, wenn die „unpolitische“ European Film Academy mit einem pseudo-makedonischen Regisseur konfrontiert wird? Wir leben in einer organisierten Weltgemeinschaft, in der bedauerlicherweise der einzelne Künstler darunter leiden muss, wenn es darum geht, seinen Staat, mit dem er sich identifiziert, in die Schranken zu weisen, falls dieser Staat das friedliche Miteinander der Weltgemeinschaft bedroht. Und die Film Academy ist eine Organisation dieser Weltgemeinschaft und kann nicht de facto das Prinzip der Gleichberechtigung des Einzelnen über das Völkerrecht stellen. So wird, meiner Meinung nach, auch die Film Academy als künstlerische Institution nicht umhin können, will sie beiden Grundrechten gerecht werden, einen Weg des Kompromisses zu gehen, der z.B. darin bestehen könnte, dem Künstler als Einzelperson – und nicht als Repräsentanten eines vom EU-„Anerkennungsboykott“ betroffenen Staates – die Teilnahme am Filmfestival nahezulegen, so wie das mit den jugoslawischen Sportlern bei den letzten Olympischen Spielen geschehen ist.

Ich hoffe sehr, dass Sie nun meine Haltung besser verstehen, aber auch diesen langen, allzu langen Brief, mit dem ich Sie bemüht habe, weswegen ich Sie auch um Verzeihung bitte, zugleich meine Achtung und Liebe Ihnen und Ihrem Werk gegenüber bekundend.

Herzlich –

Ihr Mikis Theodorakis
Athen, 1992

Übersetzt von Asteris Kutulas

Mikis Theodorakis: „Wenn ich an den Holocaust denke: Ich schäme mich, als Mensch geboren zu sein“

Costa-Gavras, Sandra von Ruffin und New Visions …

Hellas Filmbox Berlin, Second Edition: 18.1.-22.1.2017, Babylon
60 Filme, 30 Slots, 20 Q&As, 6 Side Events, 1 Ausstellung //

Griechenland Aktuell sprach mit Asteris Kutulas, dem Filmregisseur, Gründer der Deutsch-Griechischen Kulturassoziation e.V., Festivaldirektor des 1. Festivals und Übersetzer griechischer Literatur, über das Festival HELLAS FILMBOX BERLIN, über Costa-Gavras, über die deutsch-griechischen Beziehungen und die aktuelle Situation in Griechenland.

graktuell.gr: HELLAS FILMBOX BERLIN ist ein griechisches Filmfestival. Es wurde im Frühjahr 2015 gegründet, um das hochaktuelle und künstlerisch äußerst spannende Filmschaffen Griechenlands in den Fokus des deutschen Publikums zu rücken. Möchten Sie uns von Ihrer Initiative als Gründer und auch als Direktor des Festivals erzählen?

Asteris Kutulas: Die Gründung des Festivals HELLAS FILMBOX BERLIN durch Ina und mich und dann offiziell durch die Deutsch-Griechische Kulturassoziation e.V. bedeutete 2015 ein künstlerisches Statement in einer für die Beziehungen beider Länder sehr schwierigen Zeit. Die waren seit dem Zweiten Weltkrieg nicht so schlecht wie zwischen 2010 und 2015. Wir glaubten, dass Anfang 2015 der richtige Moment gekommen war, den deutsch-griechischen Dialog in Gang zu halten und zu beförden.

Bei unserem 1. Festival waren die dort gezeigten 71 Filme etwas wie das Aufleuchten eines sehr reichen Kosmos. Jetzt, beim 2. Festival, wird das nicht anders sein. 60 Filme in fünf Tagen.
Das Medium Film ist unserer Ansicht nach ideal geeignet, Menschen aus Deutschland und Griechenland immer neu miteinander ins Gespräch kommen zu lassen, aber auch, um die Qualität der Filme für sich bzw. für das hohe Niveau des griechischen Filmschaffens und die Kompetenz der griechischen Filmemacher sprechen zu lassen. Besonders diese Künstler sind Seismographen und visuelle Chronisten der Geschehnisse in ihrem Land.

Festivaldirektor war ich beim 1. Mal, als das HELLAS FILMBOX BERLIN Projekt angeschoben war. Mein Ziel war, diese Funktion dann abzugeben. Mit Sandra von Ruffin hat das Festival ab 2016 eine Direktorin bekommen, die Herausforderungen zu begegnen weiß. Und was sie nicht weiß, das bringt sie in Erfahrung. Es ist spannend mitzuerleben, was da zustande kommt und wie das Festival tatsächlich jung bleibt.

graktuell.gr: Costa Gavras ist dieses Jahr der Ehrengast des Filmfestivals. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?

Asteris Kutulas: Dass Costa-Gavras kommt, ist eine große Ehre für uns. Er hat – zusammen mit Michalis Cacojannis, Nikos Koundouros und einigen anderen – in den Sechzigerjahren den internationalen Durchbruch für den Neuen griechischen Film erzielt und konnte beides gewinnen: die Kritik und ein internationales Publikum.

Bei HELLAS FILMBOX BERLIN lag der Fokus vor allem darauf, die Sicht griechischer Filmemacher auf die Krisensituation ihres Landes erfahrbar zu machen. Deshalb wurden hauptsächlich Filme gezeigt, die in jüngster Zeit entstanden sind, sehr aktuelle Filme. Trotzdem sahen wir von Anfang an, dass die filmische Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen den aktuellen Filmen Werke zugesellt, die Rückblicke ermöglichen und das Jetzt mit dem Vorher verbinden. Griechische Geschichte wird präsent und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit heutigen Ereignissen und Erscheinungen. Erst so kann die aktuelle Situation des Landes in ihrer Vielschichtigkeit erfahren werden. Man wird Griechenland nicht verstehen, wenn man die Kriegsereignisse, den Bürgerkrieg oder die Junta-Zeit außen vorlässt, wenn man die Diaspora nicht mitbetrachtet.

Costa-Gavras ist ein bis heute höchst aufgeschlossener Filmemacher. Wenn so jemand zu HELLAS FILMBOX kommt, dann muss man keinen Roten Teppich ausrollen und keine Orden parat halten, sondern dann ist jemand dabei, der viele Zeiten vereint und deshalb einen einzigen Moment zu etwas Großem und Besonderem werden lässt. Costa-Gavras steht für Vieles, was Griechenland eben auch ausmacht – Internationalität, kritischer Geist, Dialog, Flexibilität, Interesse, Durchhaltevermögen. Es wird in Deutschland etliche Filmemacher geben, für die Costa-Gavras ein Kollege ist, mit dem man sehr gern einen Film zusammen drehen würde. Costa-Gavras bringt diese Energie mit, die sich in Berlin-Mitte sicher wunderbar verbreiten wird. Dass er überhaupt die Zeit gefunden hat … Jedenfalls ist es großartig, dass diese Regisseur-Legende zu unserem Festival kommt.

graktuell.gr: Ein besonderes Anliegen der HELLAS FILMBOX BERLIN ist, mit Sparten wie „Neue Visionen“ außergewöhnliche und neuartige Filme aus den Bereichen Kunst, Animation und Experimental zu zeigen und zu fördern. Was planen Sie noch, und wie reagiert das Berliner Publikum auf das Filmfestival?

Asteris Kutulas: Wir wollten gern Filme einladen, die bei vielen Festivals gar nicht eingereicht werden können, weil sie weder Spielfilm noch Dokumentarfilm sind, also in keiner Sparte verortet werden können. Mit „New Vision“ ist eine Kategorie geschaffen, die Künstlern die Möglichkeit gibt, freiere Formen zu präsentieren. Das wird unserer Meinung nach der Tatsache gerecht, dass Film ein Spiegel des Weltgeschehens ist. In dieser Welt ist inzwischen so vieles miteinander verflochten, in der Kunst und anderswo geht es ständig Cross Over, die Sprachen vermischen sich, neue Medien entstehen, selbst die museale Welt verändert sich usw. usf. Wir fanden es unerlässlich, darauf zu reagieren und Filme zu präsentieren, die um neue Ästhetiken ringen, weil sie die Auseinandersetzung mit sich verändernden Inhalten wagen. Was nirgendwo gezeigt werden könnte, kann bei „New Vision“ zu sehen sein.

Das Publikum hat vom ersten Augenblick an unser Festival angenommen. Es waren beim 1. Festival packende, dramatische und informative Filme zu erleben. Ich glaube übrigens auch, dass gerade „New Vision“ zu Griechenland gut passt. Da zeigt sich etwas, wovon sonst kaum die Rede ist – ein kreativer Geist, der das Publikum sucht, als Dialogpartner, offen für Gegenpositionen, für das Experiment. Eine ganz wesentliche Seite meines Heimatlandes: der Mut zum Risiko, die Neugier, der Funke Hoffnung. Den hat es in Griechenland immer wieder gegeben.

Costa-Gavras ist übrigens auch in dieser Hinsicht von Bedeutung. Ebenso ein gestandener Filmemacher wie Pantelis Voulgaris. Das sind Regisseure der älteren Generation, die dann mit im Publikum sitzen und sich Filme anschauen, die bei „New Vision“ laufen. Ich glaube, das macht die Atmosphäre von HELLAS FILMBOX mit aus, die das Publikum sucht und begeistert. Man kann mit den Filmemachern ins Gespräch kommen, man erlebt so viele Regisseure. Mitten in Berlin ist man mit einem Bein in Griechenland und selbst eine Brücke.
Wir wollten von Anfang an innovativ sein. Deshalb haben wir für die Gewinnerfilme eine Road Show organisiert, die mehrere Filme auch in andere deutsche Städte brachte. Das ist eine großartige Sache. Noch mehr Menschen können aktuelles griechisches Kino erleben. Die Road Show, die nach dem 1. Festival einmal ihre Tour gemacht hat, war ebenfalls gut besucht, also eine gute Idee.

Ich könnte mir vorstellen, dass HELLAS FILMBOX BERLIN noch viel künstlerischer werden könnte. Dass man sich mit einzelnen Regisseurinnen und Regisseuren, mit Schauspielern und Drehbuchschreibern weitergehend beschäftigt – das hat ja gerade erst begonnen. HELLAS FILMBOX ist ein großartiger Rahmen, der sich immer wieder verändert und verändern wird. Zum einen kann man in der Programmgestaltung flexibel bleiben, zum anderen kann man immer wieder neue Räume finden für Side-Events, man kann im Prinzip das ganze Festival auch einfach „auf den Kopf stellen“, neu erfinden, verkleinern, den Charakter ändern und inhaltlich immer wieder andere Schwerpunkte setzen. Also, es macht Spaß. Und darauf kommt es an. Man hat so etwas wie einen Baukasten, und was der enthält, wird immer wieder ausgekippt.

Hellas Filmbox Berlin, Asteris Kutulas
Gäste von Hellas Filmbox Berlin: Costa-Gavrasm Pantelis Voulgaris, Dani Levy, Vicky Leandros, The Boy u.v.a.

graktuell.gr: Wie sehen heute die deutsch-griechischen Beziehungen aus, nachdem sie während der sogenannten Finanzkrise so gelitten haben?

Asteris Kutulas: Im Moment erfährt man in Deutschland darüber wenig. Um Griechenland ist es fast erschreckend still geworden. Mir persönlich kommt es so vor, als ginge es vielen wie nach einer Magenverstimmung. In Griechenland gab es sicher eine fürchterliche Enttäuschung darüber, dass an „den Griechen“ kein gutes Haar mehr gelassen wurde und viele in Deutschland sich an nichts mehr zu erinnern schienen, was ihnen an Griechenland eigentlich doch lieb gewesen war. Beim Geld hörte die Freundschaft sprichwörtlich auf. Das war tatsächlich ein Schock. Dass ein ganzes Volk so einfach über einen Kamm zu scheren war – man hätte nicht annehmen können, dass das in Deutschland möglich wäre.

„Die faulen Griechen“, „die gerissenen Griechen“. Dass mit der Nazi-Keule zurückgeschlagen wurde, war kaum verwunderlich. Das führte auch in Deutschland zu Enttäuschungen. Ich glaube, der Varoufakis-Stinkefinger-Skandal, den Jan Böhmermann mit seinem Fake-Video ausgelöst hatte, brachte eine wichtige Wende. Das warf Fragen danach auf, wie sicher man sich sein konnte, durch die Medien nicht manipuliert zu werden. Wie sehr man selbst in Klischeedenken verfallen war und und und … Erst das verursachte bei vielen ein Innehalten.

Auf einmal wurde die Berichterstattung über Griechenland zunehmend kritisch betrachtet. Einige werden es bedauert haben, eine Zeitlang auch davon überzeugt gewesen zu sein, dass „die Griechen“ faul sind, eigentlich, nichts zustande bringen, von Feta und Fakelakia leben und andere „am Nasenring durch die Manege führen“ zu wollen, wie es die Bundeskanzlerin formulierte. Die Leute sind wieder gern nach Griechenland in den Urlaub gefahren. Allerdings landeten sie in einer noch stärker veränderten Situation.

Zehntausende Flüchtlinge, die über das Mittelmeer gekommen sind und in Griechenland festhängen – das wirkt sich aus. In den Filmen der griechischen Filmemacher ist das ein großes Thema. Es verbindet beide Länder, obwohl in ganz Europa die Grenzen dicht gemacht werden. Und nicht zu vergessen: Die Troika-Institutionen sind noch immer in Griechenland. Wer fragt eigentlich danach? Die Situation vieler Menschen hat sich weiter verschlechtert. Noch immer verlassen Zehntausende jedes Jahr ihre Heimat. Vielleicht sieht man inzwischen, dass Griechenland nicht Deutschlands großes Problem ist. Ich jedenfalls denke, dass das Berliner Publikum u.a. deshalb zum Festival kam und kommt. Letztes Jahr, um eine andere Sicht auf das Land haben zu können als die, die die Medien boten. Dieses Jahr möglicherweise, um mit Griechenland in Kontakt zu bleiben und sich seiner Lebendigkeit zu versichern.

© Asteris Kutulas, 12. Januar 2017

Hellas Filmbox Berlin, Second Edition: 18.1.-22.1.2017, Babylon
60 Filme, 30 Slots, 20 Q&As, 6 Side Events, 1 Ausstellung

Recycling History, every day

Nizza, Brexit, Griechenland

Trauer um die Opfer und ihre Angehörigen in Nizza. Der entfesselte Finanz-Kapitalismus gegen den Terrorismus, zwei Brüder im Geiste. Sie brauchen sich und nähren sich gegenseitig und gedeihen prächtig. Die Opfer: Wir alle, egal ob im Nahen Osten, in Europa oder anderswo. Das 21. ist ein dunkles Jahrhundert. Wir haben nichts aus dem 20. gelernt.

Einen Tag nach dem Brexit-Referendum veröffentlichte n-tv einen Artikel von Benjamin Konietzny unter der Überschrift: „Wer hat für den Brexit gestimmt? Arbeitslos, ungebildet, EU-Gegner. Rechtspopulismus hat Erfolgsrezepte, die auch in Großbritannien funktioniert haben.“

Die ignorante Diffamierung der Brexit-Befürworter als „arbeitslos, ungebildet, EU-Gegner“ und rechtspopulistisch – als wären das Bürger Zweiter Klasse – offenbart einen großen Realitätsverlust und öffnet geradewegs Tür und Tor für neofaschistische Rattenfänger.

Vor ein paar Tagen sagte der britische Ex-Außenminister Lord David Owen über die EU: „Das Soziale wird völlig vergessen, die Märkte dominieren alles. Ich bin nicht mehr so überzeugt wie früher, dass in Europa der Gesellschaftsvertrag noch etwas bedeutet. Interessengruppen, Big Business – das ist alles, was zählt … Die EU ist dysfunktional, sie hat ihre Ideale verloren, sie stagniert …“

Die Briten wollen sich nicht von Brüssler Eurokraten regieren lassen, und vielleicht ist der Grund eher der, dass diese – zusammen mit Cameron, Schäuble, Hollande etc. – eben kein Europa der Bürger, sondern ein „Europa der Märkte“ aufgebaut haben. Zum Zweiten könnte es sein, dass die Briten das Gefühl haben, mit den eigenen Politikern eher und direkter „fertig werden zu können“ als mit einer demokratisch nicht legitimierten EU-Kommission im fernen Brüssel, wo zudem die deutschen Wirtschafts-Interessen eine größere Rolle spielen als die britischen.

Und gesellschaftspolitisch gesehen, ist es letztendlich das Verschulden der Sozialdemokratie in ihrer Funktion als linke Volkspartei, dass sie das „EU-Europa“ den „Banken“ übergeben und eine Politik gemacht hat, die sich gegen das Soziale und gegen den Bürger gerichtet hat – und die insgesamt als gescheitert angesehen werden kann. Griechenland ist das erste Opfer dieser Politik gewesen. Die Sozialdemokratie hat den Kampf um eine „gerechtere Gesellschaft“ den Rechtspopulisten überlassen. Das ist vielleicht die größte Schuld, die sie in den letzten zwanzig Jahren auf sich geladen hat.

Der verpasste „Grexit“

Der verpasste GREXIT: Melancholische Gedanken, ein Jahr nach dem OXI-Tag

24.6.2016
Heute vormittag – ich hatte gerade vom Brexit-Votum erfahren und trank darauf einen griechischen Kaffee – rief mich H. aus Paris an: „Sag mal, willst du nicht einen Artikel zum OXI-Tag am 5.7.2015 schreiben?“ An diesem Tag vor genau einem Jahr stimmten 61% der Griechen mit NEIN/OXI gegen das EU-Spardiktat. Und obwohl der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras in den Wochen darauf aus dem NEIN ein JA machte und alles, was aus Brüssel und Berlin kam, unterschrieb und umsetzte – gegen seinen Willen, wie er immer wieder betont –, gingen Verarmung und Verelendung weiter, die Kindersterblichkeitsrate stieg noch mehr, die Arbeitslosigkeit ist immer noch bei 25%, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50%, die Renten werden weiter gekürzt, die Steuern extrem erhöht, Hunderttausende Griechen ohne Krankenversicherung. Ein fortwährender Niedergangsprozesses, und kein Ende in Sicht. Und das alles nach so vielen EU-„Rettungspaketen“, nach so vielen seit 2011 in Brüssel erlassenen „Reform-Gesetzen“.
Genutzt hat den Griechen das Votum vom 5.7.2015 nichts, obwohl es damals nicht um’s Geld ging. Die 61% NEIN-Stimmen waren das letzte Aufbäumen eines Volkes gegen so etwas wie eine neokoloniale Unterwerfung, die sich damals für die Griechen vor allem in einer Person manifestierte – in der des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble.
Ein alter Freund meines Vaters, ein Kriegs-Veteran, der im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatte, brachte die damals herrschende emotionale Agonie in den deutsch-griechischen Verhältnissen auf den Punkt: „Wir Griechen haben doch keinen Weltkrieg angezettelt. Wir haben keinen Genozid betrieben, keine KZs gebaut und die Welt nicht in Schutt und Asche gelegt. Wir haben doch nur uns selbst am meisten geschadet, sonst niemandem.“

Grexit, Asteris Kutulas
Riots in Athens (film still „Recycling Medea“)

 
27.6.2016
Die isländische Fußball-Mannschaft hat die englische besiegt und sie aus dem EM-Turnier geworfen. Wie bitter, drei Tage nur nach dem beschlossenen Brexit. Eine Journalistin, die mich heute aus Athen anrief, sagte: „Warum sind wir letztes Jahr nicht raus – zumindest aus dem Euro? Das OXI am 5.7. war doch so etwas wie ein „Grexit“-Referendum.“ Sie gab sich selbst die Antwort: „Tsipras und seine scheinlinke Partei hatten nicht den Mumm, den richtigen Weg zu gehen.“
Tsipras‘ Geschichte geht so: „Den Aufstand gegen die EU und Deutschland kann sich das kleine, verarmte und „depressive“ Griechenland nicht leisten. Der einzige Weg, um das zu tun, führt über einen Ausstieg aus dem Euro, aber dafür habe ich kein Mandat vom griechischen Volk, also musste ich das furchtbare Abkommen unterzeichnen, um einen noch furchtbareren Staatsbankrott und ein maßloses Elend zu vermeiden.“
Viele Griechen antworten inzwischen darauf: „Dann hättest du in der Opposition bleiben sollen.“

28.6.2016
Hab gerade mit einem Freund aus Thessaloniki telefoniert. Er meinte: „Sei nicht so negativ im Hinblick auf Tsipras. Wir Griechen wollten letztes Jahr nur eins: Die alte, marode, verbrecherische Politikerkaste, die Griechenland in die Katastrophe geführt hatte, endlich abwählen. Es gab doch nur Tsipras, der sich als Alternative anbot. Wir wollten endlich diese Clique Samaras-Mitsotakis- Venizelos-Karamanlis-Simitis weghaben. Das verstehen sie außerhalb Griechenlands nicht.“
Er hat recht. Hinzu kam die unheilige Allianz zwischen Brüssler und Berliner Administration mit diesen durch und durch korrupten Politikern von PASOK und Nea Demokratia, die in den letzten 40 Jahren ein ausgeklügeltes System der Vetternwirtschaft, Steuerhinterziehung und des Klientelismus aufgebaut haben. Durch diese Allianz wurde aus dem innergriechischen Kampf gegen ein kriminelles und reformresistentes Establishment ein Kampf gegen die EU und gegen Deutschland.

3.7.2016
Heute hat Island 2:5 gegen Frankreich verloren. Und mir fällt ein: Als die Isländer erkannt haben, wie Europa mit dem Mitgliedsstaat Griechenland umspringt, haben sie sofort ihren Antrag auf Aufnahme in die EU zurückgezogen; spielen seitdem einen tollen Fussball, und auch wenn sie verlieren: kein Zeichen einer „Depression“.
Heute ein langes Telefonat über den Brexit/Grexit mit Andonis. Er ist verzweifelt: „Wir haben mehrere Probleme in Griechenland. Das größte sind wir Griechen selbst und unsere nicht-existierende Zivilgesellschaft. Das zweite sind die korrupte und mafiöse Macht-Elite und die Oligarchen, die immer noch das Sagen haben, trotz der Tsipras-Regierung. Das dritte unsere niemals stattgefundene Vergangenheitsbewältigung. Und das vierte ist ein Europa, das weder die Interessen Griechenlands, noch die Interessen von uns Bürgern, sondern jene der „Märkte“ und des „Big Business“ im Fokus hat. Was sollen wir tun?“
Auf diese Frage müssen wir zweifellos antworten. Griechenland ist der größte Verlierer innerhalb der EU – und wird es auf Jahrzehnte hinaus bleiben.

Grexit, Asteris Kutulas
Greek TV

 
4.7.2016
Deutschland ist der größte Gewinner innerhalb der Europäischen Union. Von deutschen Mitbürgern höre ich immer wieder zwei Aussagen zur griechischen humanitären Katastophe: 1) „Ihr Griechen seid selber schuld“ und 2) „Hauptsache, wir kriegen unser Geld wieder“. Die erste Aussage beruhigt das eigene Gewissen, die zweite impliziert: „Egal, was ihr durchmachen müsst und egal, wie viele Menschen in Griechenland deswegen sterben. Denn ihr seid ja selber schuld.“ Ein Tanz der Erklärungen im Teufelskreis.
Diese dumme, zutiefst menschenverachtende Haltung offenbart mir, dass nicht nur wir Griechen ein existenzielles Riesenproblem haben, sondern auch Deutschland, das sich sehr verändert hat in den letzten Jahren, und auch diese Europäische Union, die offensichtlich keine Union mehr für ihre Bürger, für Menschen ist. Vielleicht hätte das OXI von vor einem Jahr zu einem GREXIT oder wenigstens zu einem Euro-Exit führen sollen. Dann hätten wir wenigstens eine kleine Chance auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gehabt … wie die fröhlichen Isländer.

© Asteris Kutulas, 5.7.2016

Nach den Wahlen: vor den Wahlen … ad infinitum

Athen & Rückkehr nach Berlin, 6. & 11.6.2016

Mosche Dajan in Griechenland, Berlin, 11.6.2016

Ich besuchte heute nocheinmal Mikis Theodorakis nach unserer Rückkehr in Athen. Die Kreta-Reise hat ihn verjüngt. Er strahlt. Er spricht und spricht – wie früher:
„Es geht heute natürlich nicht um einen bewaffneten Widerstand, das ist absurd. Aber es geht um die innere Haltung der Menschen. Es geht um unsere nationale Souverenität, die wir längst verloren haben. Es sind neue Arten von Diktaturen, auf die wir uns jetzt einstellen müssen. Wie überlebt Demokratie unter solchen Umständen, denen wir jetzt ausgesetzt sind? Während der Diktatur zwischen 1967 und 174 waren die Dinge eindeutig. Als die Obristen am 21. April 1967 in Griechenland putschten, war das eine Militärdiktatur nach altem Muster, die errichtet wurde. Ich erinnere mich, dass Mosche Dajan, der damals in Athen war, einen Tag nach dem Putsch meine Frau aufsuchte und sie bat, ein Treffen mit mir möglich zu machen. Ich lebte in der Illegalität, war untergetaucht. Zwei Tage später kam es zu diesem Treffen, und Mosche Dajan (der einige Wochen später als Verteidigungsminister in Israel den Sechstagekrieg entscheiden sollte) sagte zu mir: ‘Mikis, lass uns zusammen den Widerstand gegen die Junta in Griechenland aufbauen! Du übernimmst die politische Arbeit, und ich werde den militärischen Flügel der Befreiungsorganisation PAM leiten.’ Ich erwiderte: ‘Mosche, das ist keine gute Idee. Wenn das bekannt wird, haben wir alle Geheimdienste der Welt am Hals. Ich bleibe hier in der Illegalität, und du gehst zurück nach Israel und machst Druck gegen die griechische Junta in der israelischen Öffentlichkeit und bei der Regierung.’ Damals waren die Dinge klarer. Das Feindbild war klarer. Heute gleiten wir in einer ‘verschwommenen Situation’ in die Diktatur hinein bzw. aus der Demokratie heraus.“

© Asteris Kutulas

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Rhythmus und Klang, Athen, 6.6.2016

In einem Spiegel-Artikel lese ich gerade die Aussage einer Studentin: „Allein kann man viel mehr bewegen als mit einem störenden Apparat im Hintergrund“. Und weiter der Reporter: „Sie wolle sich eben nicht als Parteimitglied engagieren, sondern als Mensch… Die alten Feindbilder, die strengen Lagergrenzen zwischen links und rechts hätten ausgedient – und deswegen auch das Interesse, an Wahlen teilzunehmen…“ Mikis verhielt sich irgendwie immer „wie die Jugend von heute“.
Ich höre, es ist frisch in Chania. Aus Deutschland haben sich die Unwetter verzogen, die Europameisterschaft hat begonnen. Es wird Sommer. In ein paar Wochen hat Theodorakis wieder Geburtstag. Widerstand ist eine Sache von Rhythmus und Klang einer „Mantinada“. Das erfährt man, wenn man auf Kreta ist.

© Asteris Kutulas

Kreta-Tagebuch, 4. & 5.6.2016

Licht in dunklen Tagen
(Mit Mikis Theodorakis unterwegs in Kreta, 4.6.2016)

Das Theodorakis-Museum in Galatas ist noch lange nicht fertig. Heute zeigt sich, dass bisher nur die Arbeiten an der äußeren Hülle so weit fortgeschritten sind, dass man sagen kann: In Ordnung. Aber sowohl die Stadt Chania als auch der griechische Komponist wollen ein Zeichen setzen für die Zukunft. Der Bürgermeister von Chania erklärt: Wie Salzburg die Stadt Mozarts und Bayreuth die Stadt Richard Wagners ist, so soll Chania die Stadt Mikis Theodorakis’ werden. Chania legt am heutigen Tag ihrem berühmtesten Sohn alles zu Füßen, was sie hat: Ehrenbürgerschaften, Auszeichnungen der Präfektur, Auszeichnungen der Universitäten Kretas, Ehrendoktorwürde.

 

Mikis dankt mit einer Rede. Ganz langsam, Satz für Satz, liest er aus Perkikles’ (in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges überlieferte) Gefallenenrede. Über Demokratie. Über Freiheit. Über Bürgerrechte. Zu jedem Absatz macht Mikis eine Anmerkung im Hinblick auf die gegenwärtige Situation. Bei dem Satz: „Männern, die sich durch ihre Taten ausgezeichnet haben, sollte man auch durch Taten die letzte Ehre erweisen“ hält er inne, und sagt: „Wir sind Kreter. Ich erzähle Euch etwas über meine Vorfahren… 1915, während des 1. Weltkriegs, versuchten mein Vater, der damals 15 war, und sein Bruder, der damals 17 war, an die Front zu kommen, heimlich, weil sie Angst hatten, mein Großvater hätte sie niemals gehen lassen. Der war ein Hüne, mit einem riesigen Schnauzbart. Die beiden kamen tatsächlich bis zum Hafen von Suda und versteckten sich im Laderaum eines Schiffes. Plötzlich stand ihr Vater an Deck, irgendwo über ihnen, schaute zu ihnen hinunter und rief ihnen zu: Hier, nehmt dieses Brot mit und auch diese Taler. Ihr werdet sie auf dem Weg an die Front brauchen. Und noch eins: Kämpft, und macht uns keine Schande!“

Das Publikum im übervollen Saal absolut still. Mikis fährt fort: „Als ich 1967 gefangen genommen wurde, hielt man mich 60 Tage in Einzelhaft fest, in der Sicherheitszentrale von Bouboulinas, und kurz vor dem Tribunal durfte ich meinen Vater sehen, wovon man sich erhoffte, dass er mich zur Raison bringen würde. Ich sollte mich ‘einsichtig’ zeigen und meinen Überzeugungen abschwören. Als man uns beide zusammenbrachte, sagte der zuständige Offizier zu meinem Vater: ‘Herr Theodorakis, Ihr Sohn wird angeklagt nach dem Paragraphen 447 des Kriegsrechts.’ Mein Vater: ‘Können Sie mir das bitte bringen?’ Er schlug die entsprechende Seite langsam auf, sah mich an und sagte: ‘Mein Sohn, das ist ein Kriegsrechtsgesetz, und es steht mit roter Tinte darunter: Kann zur Verurteilung zum Tode führen.’ Er schaute den Offizier an. Dann, wieder mir zugewandt: ‘Du hast meinen Segen.’“

Er sieht seinen Zuhörern in die Augen: „Haben wir heute Demokratie in unserem Land? Nein. Verhalten wir uns gastfreundlich gegenüber den Fremden? Nein.“ Mikis kommt zu einem Thema, das in ganz Europa so aktuell ist wie noch nie zuvor. Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? Wie weit kann oder muss man gehen, um sie zu verteidigen? Und seine Botschaften an die Zuschauer im Saal sind zwei: “ Sie haben euch eure Unabhängigkeit genommen. Sie haben euch eure Demokratie genommen. Sie haben euch euer Geld genommen. Und was macht ihr? Ihr geht zum Strand, trinkt einen Kaffee und vergnügt euch.“ Und in Anlehnung an Perikles’ Aussagen, dass die Athener „Kampf und Tod für besser hielten als Unterwerfung und Leben“ sagt er: „Ich verfluche meine Beine, weil sie mich nicht mehr tragen können und weil ich keine ‘Kalaschnikow’ mehr halten kann, um mich zu verteidigen. Ihr müßt Widerstand leisten. Ihr müßt wieder das verbotene Wort Revolution denken.“ Im Saal wird es noch stiller. Vor genau 75 Jahren, Ende Mai 1941, fand die Luftlandeschlacht um Kreta statt. Wer auf Kreta lebt, lebt schon immer im Widerstand, vor 1941 und danach. Bevor deutsche Fallschirmjäger kamen und danach.

Nach etwa fünfzig Minuten beendet Theodorakis seine Rede. Im Saal braust Beifall auf, und die Kulturbeauftragte der Stadt Chania schluchzt ins Mikrophon: „Danke, Mikis, für dein Licht in diesen dunklen Tagen.“

© Asteris Kutulas

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Bürgerkriegsland
(Mit Mikis Theodorakis unterwegs in Kreta, 5.6.2016)

Im Auto, unterwegs zu einem großen Konzert zu Ehren von Theodorakis am Fuße des Weißen Gebirges, meinte Stathis: „Wir hier auf Kreta haben alles. Selbst der Menschenschlag ist ein anderer hier Wir könnten unser eigenes Ding machen.“ Giorgos widerspricht: „Quatsch! Wir sind Griechen. Wir gehören zu Griechenland.“ Und zu mir gewandt: „Das Problem, das viele Griechen mit Mikis haben, offenbart das ganze Dilemma Griechenlands. Er gehört seit den 50er Jahren zu den wenigen – und manchmal war er auch der Einzige –, die die Entzweiung unseres Volkes in die Bürgerkriegsparteien, in Linke und Rechte, niemals hinnehmen wollten. Parteigrenzen waren ihm egal. Er wollte, dass die Griechen sich vereinigen, unabhängig davon, ob sie links oder rechts sind, um ein demokratisches und unabhängiges Land aufzubauen. Aber das war über Jahrzehnte das Schlimmste, was man in Griechenland denken und äußern konnte. Griechenland ist bis heute ein Bürgerkriegsland geblieben.”

© Asteris Kutulas

Kreta-Tagebuch, 3.6.2016

Kreta, eigentlich
(Mit Mikis Theodorakis unterwegs in Kreta)

Das Flugzeug von Athen nach Chania ist voll. Mein Sitznachbar zur Rechten, der ein offenbar großes Redebedürfnis hat, erklärt mir: „Kreta gehört eigentlich nicht zu Griechenland. Kreta ist das eigentliche Griechenland.“ Links neben mir sitzt Anastassia, eine griechische Lyrikerin, die aus dem selben Grund wie ich nach Kreta fliegt. Sie meint: „Vielleicht ist das seine letzte Reise. Da muss man dabei sein.“ Vorn in der ersten Reihe der fast 91jährige Mikis Theodorakis mit seiner Tochter Margarita und seiner Assistentin Rena. Das ist vielleicht tatsächlich seine letzte Reise. Am Telefon hatte er mir gesagt: „Ich muss checken, ob sie mein Grab richtig bemessen haben. Ich bin 1,97 groß, und ich will nicht, dass sich während meiner Beerdigung plötzlich herausstellt, dass das Grab zu kurz ist.“ Die griechische Ikone Theodorakis fliegt nach Kreta, in das Land seiner Vorfahren, um in Galatas, dem Vorort von Chania, das zukünftige Theodorakis-Museum zu besichtigen, das im Haus seiner Eltern eingerichtet wird.

Gleich nach meiner Ankunft besuchte ich Stelios Lainakis. Einer der bedeutendsten Erforscher kretischer Musik. Der Taxifahrer, der mich zu ihm hinbringt, fragt mich: „Kannst Du auf die Quittung verzichten? Dann verdiene ich wenigstens was. Die Mehrwertsteuer ist auf 24% erhöht worden, Benzin ist teurer geworden und auch die Wartung. Weisst Du, wieviel hängenbleibt bei mir als Fahrer von den 25 Euro? 3,50 Euro! Davon kann man nicht leben, nur langsam sterben, und hoffen, dass man nicht krank wird. Mit meinen 55 Jahren und bei der Arbeitslosigkeit habe ich keine Chance. Komme mir inzwischen wie ein Bettler vor. Die Krise frisst uns alle auf.“

Stelios Lainakis zeigte mir die Instrumente, die er entweder geerbt oder selbst gebaut hatte: Laute, Bouzouki, Saz, Bulgari, Gitarren. Dann holte er seinen Sohn Leonidas, der wie er Instrumentenbauer und Musiker ist, und sie spielten mir eine Mantinada, ein kretisches Volkslied, für Mikis vor. „Du nimmst das jetzt auf und spielst ihm das vor. Ist das klar?“ Als sie fertig waren, sagte er zu mir: „Diese Mantinada hat einer unserer Onkel geschrieben, der wie Mikis erst gegen die deutsche Wehrmacht und dann im Bürgerkrieg Ende der 40ern gegen die Engländer gekämpft hat. Also genau wie Mikis. Er wird jedes Wort des Liedtextes verstehen.“ Und dann voller Stolz: „Weißt du, was Mikis auf der Todes-Insel Makronisos seinen Folterern entgegnete, als er die Reueerklärung unterschreiben sollte? Er hat nicht gesagt: Ich unterschreibe nicht, weil ich Kommunist bin. Sondern er hat gesagt: Ich unterschreibe nicht, weil ich Kreter bin.“

© Asteris Kutulas

Hellas Filmbox Berlin – Strategie und Konzept

Interview mit Festivaldirektor Asteris Kutulas
Von Maria Brand (November 2015)

Hellas Filmbox Berlin, First Edition: 21.1.-24.1.2016, Babylon
71 Filme, 36 Slots, 25 Q&As, 10 Nebenveranstaltungen
Webseite: www.hellasfilmbox.de
Facebook: www.facebook.com/hellasfilmbox

Maria Brand: Welche sind die wichtigsten Faktoren, die man Ihrer Meinung nach beachten muss, wenn man vorhat, ein Besucherfilmfestival auf die Beine zu stellen?

Asteris Kutulas: Es gibt wunderbare Festivals, die es sich leisten können, den rein künstlerischen (oder „avantgardistischen“) Aspekt in den Mittelpunkt zu rücken. Andere Festivals wollen eher ein breites Publikum erreichen, und das gelingt vor allem thematisch. Und dann gibt es die großen Festivals, die beides vereinen können.
Aber bei einem so genannten Publikumsfestival, wie wir es vorhaben, geht es immer darum, eine „Zielgruppe“ zu erreichen und um „Vermarktung“. Und natürlich darum, und vor allem darum, dass die Filme und das Publikum irgendwie „zusammenkommen“ sollten. Das muss man als Festival-Macher im Auge haben und ein strategisches Konzept dafür entwickeln. Es ist also nicht so sehr ein „künstlerischer“, sondern eher ein „kultur-politischer“ Fokus notwendig. Das kann man auch mit „Marketing“-Relevanz umschreiben oder damit, dass man dem Festival einen „Event-Charakter“ (was immer das heißen mag) geben muss.
Es ist wichtig zu begreifen, was das bedeutet: dass es in einer Stadt wie Berlin (und das gilt für andere Metropolen noch mehr) hunderte von Festivals gibt. Denn das wirft sofort die Frage auf: Warum noch eins mehr? Was muss man unternehmen, damit die Presse und das Publikum überhaupt auf dieses eigene, neue Festival reagieren? Von Bedeutung sind bereits im Vorfeld Gespräche mit Pressevertretern, Kulturpolitikern und eventuellen Sponsoren, um von vornherein Entscheidungen treffen und eine Struktur aufbauen zu können, die „Öffentlichkeit“ und Finanzierbarkeit überhaupt realistisch erscheinen lassen.
Und schließlich sollte man ein Team haben – verrückt genug, viel Zeit und Energie in das Projekt zu stecken – und das alles ohne Geld. Voraussetzung dafür ist, dass das Projekt den Machern Spaß macht, dass sie zu 100% hinter dem Projekt stehen und es unbedingt realisieren wollen. Durch diese Energie, das Durchhaltevermögen und zugleich die notwendige Professionalität bekommt das Ganze dann auch eine „Aura“ und eine „Message“ und dadurch wiederum jene Ausstrahlung, die es braucht, um Filmemacher, Journalisten und ein Publikum zu interessieren und schließlich zu begeistern.

Inwiefern kann Ihrer Meinung nach ein Filmfestival des zeitgenössischen griechischen Kinos in der deutschen Gesellschaft ein Umdenken und eine veränderte Auffassung über den „faulen und korrupten Griechen“ bewirken?

Asteris Kutulas: Für viele ist das Medium Film ein zugänglicheres und leichter zu konsumierendes Medium als das Buch, das Gedicht, die Bildende Kunst, das Theater oder anspruchsvollere Musik. Immerhin können an einem Wochenende Tausende von Menschen direkt (und weitere Zehntausende über Presse und Social Media) mit den Welten griechischer (verfilmter) Realität in Kontakt kommen. Unabhängig davon, ob diese als Komödie, Dokfilm, Krimi, Thriller oder Short auf der Bildfläche erscheint, ist diese filmische Realität doch immer ein sehr spezifischer Ausdruck griechischer Lebensweise, Denkungsart, aber auch des Alltags – und sei es, dass sie als eine vollkommen überspitzte Realität zu sehen ist. Das alles hat jedenfalls tatsächlich mit Griechenland und „den Griechen“ zu tun, und nichts mit deutschem Tagesjournalismus.

Sie sprechen über die anti-griechischen Kampagnen in der deutschen Presse?

Asteris Kutulas: Die Medien haben fünf Jahre lang ein Griechenlandbild vorgegeben, wie wenn man auf Griechenland durch einen sehr kleinen Rahmen schaut. Beim Fotografieren wäre das der Sucher, der einen begrenzten Bildausschnitt festlegt. Man hat sich auf das Negative konzentriert und das in den Fokus gerückt. HELLAS FILMBOX BERLIN macht den Rahmen des Suchers und damit den Bildausschnitt viel größer. Bei der „Bild“ z.B. heißt es: „Bild dir deine Meinung“. Es geht also interessanterweise tatsächlich um Bilder: Was haben wir vor dem Inneren Auge? Was haben wir im Blick, wenn wir an Griechenland denken? Ein Bild von etwas macht man sich. Das ist also etwas ganz Aktives. Wenn ich einerseits die Medien in Deutschland sehe, die einseitige Vor-Bilder geliefert haben, dann ist es andererseits die Sache von HELLAS FILMBOX BERLIN, mehr und andere Bilder anzubieten. Und wenn ich vorhin sagte, das Projekt muss den Machern Spaß machen, dann sind die vielen anderen Griechenland-Bilder, die wir zur Verfügung haben, genau das, was dem Team diesen Spaß beschert: ein reicher Fundus statt dieser beschränkte Bild-Ausschnitt.

Hellas Filmbox Berlin Asteris Kutulas

Ist ein solches Projekt mit öffentlicher Förderung finanzierbar?

Asteris Kutulas: Wenn das Projekt aktuell „wichtig“ und ganz offensichtlich in irgendeiner Weise Ausdruck des „Zeitgeists“ ist, und wenn es von einem guten Team konzipiert und gemanagt wird, dann kann es sich auch finanziell über kurz oder lang „durchsetzen“. Egal, ob das mit öffentlicher Förderung, Sponsoring oder über den Ticketverkauf und/oder durch Selbstausbeutung erreicht wird.
Das Interessante an unserem HELLAS FILMBOX BERLIN-Projekt ist, dass wir sowohl sehr künstlerisch als auch sehr „politisch“-aktivistisch daherkommen, was eine Finanzierbarkeit sehr schwierig macht. Wir haben kein Geld und auch keinen Glamour, HELLAS FILMBOX BERLIN ist kein „Roter-Teppich-Event“, sondern ein „Schwarzer-Teppich-Event“.

Was muss ein Kulturmanager mitbringen, der so ein Projekt auf die Beine stellen will?

Asteris Kutulas: Ein Filmfestival kann eigentlich „jeder“ machen – oder eben nur ganz wenige … Je nachdem, wie man’s nimmt. Es ist ganz einfach: Man braucht „nur“ etwas Geld, man sucht sich ein Thema, ein Motto, man lässt sich ein paar Filme schicken, schaut sie sich an, stellt eine Auswahl zusammen, mietet für ein Wochenende ein Kino, verschickt eine Presserklärung und wartet ab, was passiert. So ungefähr – sehr überspitzt gesagt – werden viele Festivals „gemacht“. Das ist keine Negativ-Bewertung meinerseits, sondern ich will damit sagen: Jede „Liebhaberei“ entspringt einer Passion; und von einer Idee dahin zu kommen, dass das Festival tatsächlich stattfindet – das ist immer mit viel Arbeit und Energieaufwand verbunden. Ich habe davor in jedem Fall Respekt.
Neben solchen eher „privat“ motivierten Projekten gibt es die großen kommerziellen Festivals, quasi das Marketing-Instrument der (vor allem US-amerikanischen) Filmindustrie: Sundance, Cannes, Berlinale, Venedig etc. Dazu gehören ein Millionenbudget, große Namen und viel Glamour. Zwischen diesen beiden Polen gibt es Dutzende Arten von Festivals …
Ich denke, die Aufgabe eines Kulturmanagers besteht zuerst darin, seinem Projekt „Leben“ einzuhauchen, ihm ein „Herz“, einen „Puls“ zu geben. Dafür brauchst du eine „Message“, die allerdings eine essentielle und nicht nur eine „behauptete“ ist – und die du gut „verkaufen“ kannst. Zweitens muss ein Kuturmanager eine organisatorisch und finanziell stimmige Strategie erarbeiten und drittens ein gutes, motiviertes Team zusammenstellen können. Viertens braucht er das „Glück“ auf seiner Seite, das man mit viel Arbeit bis zu einem gewissen Grad durchaus heraufbeschwören kann.

Hellas Filmbox Berlin Asteris Kutulas

Könnten Sie sich vorstellen, dass dieses Festival mit einem ähnlichen – auf dem gleichen Charakter basierenden – Festival zusammenwachsen kann? In einer Art Fusion, die die einzelnen Kräfte zu einem Katalysator der Schöpfungskraft und Kreativität zusammenführt? Unter welchen Voraussetzungen?

Asteris Kutulas: Da mich das „Filmfestival“ als eine Institution an sich nicht besonders interessiert und ich persönlich das Ganze „nur“ aus aktivistischen Gründen mache, kann ich diese Frage mit NEIN beantworten. Aber abgesehen davon, würde ich niemals etwas gründen, was von einem anderen bereits gegründet wurde oder was etwas anderem so ähnlich ist, dass man mit diesem anderen fusionieren könnte. Warum sollte ich das tun?

Was macht bei HELLAS FILMBOX BERLIN die Besonderheit aus, die konkreten Unterschiede? Und welche – würden Sie zusammenfassend sagen – sind die Voraussetzungen für ein individuelles Festival?

Asteris Kutulas: Am Anfang stand nicht die Idee, ein künstlerisches oder ein kommerzielles Festival zu machen, sondern hier gab es eine negative, hochproblematische Situation in der Gesellschaft, einen Fanatismus, die Stigmatisierung eines ganzen Volkes – und wir beschlossen, darauf zu reagieren.
Es gab also aktivistische Gründe: Griechenland und seine Menschen wurden in absolut negativer Art und Weise dargestellt. Dialog und Austausch – darum ging es nicht mehr. Darum geht’s aber bei Kunst.
Wo sozusagen alles danach rief, Griechenland den Rücken zu kehren, sich abzuwenden, hatten die Festivalinitiatoren eine andere Intention: hinschauen, sehen, was es gibt, es zu präsentieren, gerade das zu zeigen, was keine Rolle mehr spielte. Im Grunde genommen hatte man den Idealfall: ein Tabu. Und gerade die Jüngeren sind damit aufgewachsen: dass Medien das zum Thema machen, was Tabu ist. Es soll gerade über das intensiv kommuniziert und diskutiert werden, was verschwiegen wird. Und das kreative Leben der Menschen in Griechenland ist genau so etwas.
Mit Griechenland ist hier in Deutschland inzwischen etwas sehr Merkwürdiges passiert: Es ist zu einem plötzlich größtenteils wieder unbekannten, unsichtbaren Land geworden, ein kulturelles No-Go-Areal, das – wie nach einem Vulkanausbruch – unter einer dicken Ascheschicht begraben liegt; und nun geht eine Expeditionsteam daran, es freizulegen. Man entdeckt die Wandmalereien von „Pompej“ wieder. Und nicht nur das. Es stellt sich heraus, an diesem Ort passiert was. Die Vulkanasche ist fruchtbar. Manche Teile sind ganz und gar versunken, wie bei der Insel Santorini, bei der man sich sogar fragt, ob das vielleicht das sagenhafte Atlantis war, also ein verlorener Sehnsuchtsort. Interessanterweise kann man Sehnsuchtsorte mittels seiner Vorstellungskraft rekonstruieren.

Das Gespräch führte Maria Brand im November 2015
(für diablog.eu)

 

Erste Entwürfe für das Hellas-Filmbox-Logo von Ina Kutulas, Frühjahr 2015

Paris, Europa, unsere Zukunft

Europa hat sich verändert. Der Kapitalismus hat sich verändert. Wir sind durch Reagan, Thatcher, Kohl, Bush & Bush, Blair & alle, die von dieser Entwicklung partizipierten, in die Neobarbarei des entfesselten Finanz-Kapitalismus getrieben worden. Wir ernten, was wir gesät haben. Und was jetzt – nach den schrecklichen Ereignissen von Paris – passieren wird, ist voraussehbar und gewollt: Europa wird autoritärer, militaristischer, totalitärer, wird sich in der „Staatsform“ jener von Russland und China annähern. Die Demokratie wird in einem schleichenden Prozess ausgehebelt (wie in Griechenland, wo es keine Demokratie mehr gibt), die Löhne werden fallen, die Umverteilung des Reichtums nach oben wird rasant zunehmen, die totale Überwachung eines jeden Einzelnen wird gesellschaftlich sanktioniert (was aber nicht mehr Sicherheit bringen wird) … und „Europa“ ist (sowieso) am Ende, ob mit oder ohne „Flüchtlinge“. Die „PEGIDA-Ideologie“ (der Faschismus-Verschnitt des 21.Jahrhunderts) wird immer mehr zum Mainstream für eine immer kleiner werdenden Mittelschicht und für ein immer größer werdendes Prekariat. Neue „Mauern“ und neue „Konzentrationslager“ werden entstehen. Schießbefehle an den Grenzen und anderswo werden erlassen und in Kauf genommen. Die „Schönheit“ und die „Utopie“ verschwinden als gesellschaftlich relevante Topoi oder als erlebbare „Kategorien“. Das Hässliche und das Destruktive gewinnen die Oberhand. So sieht unsere Zukunft aus, gewöhnen wir uns daran.

© Asteris Kutulas

Keine Vision für Griechenland

WARUM ALEXIS TSIPRAS UND SYRIZA GESCHEITERT SIND

Alexis Tsipras hätte nach seiner Wahl Ende Januar 2015 sagen müssen: I HAVE A DREAM. Er hätte die Idee von einer „neuen Gesellschaft“, eine Vision für eine NEUE Zukunft Griechenlands entwickeln müssen. Aber er hat(te) offensichtlich weder einen Plan und noch weniger einen Traum.

Die neue Regierung hätte sofort nach der Wahl im Januar 2015 erklären müssen: WIR Griechen sind selbst (haupt)verantwortlich für das Desaster und das Leid in unserem Land. Diese Aussage hätte nämlich bedeutet: WIR selbst sind es, die auch etwas dagegen tun können! Die SYRIZA-Regierung hätte sagen können: ‘Fangen wir bei dem an, was wir in Griechenland selbst verändern können, um uns aus dem Sumpf zu ziehen.’ Und man könnte sehr viel tun … Die Regierung hat aber überhaupt keinen Ansatz erkennen lassen, in dieser Richtung zu denken, zu kommunizieren, Konzepte zu entwickeln oder gar zu handeln; und somit hat sie – genau wie die Regierungen davor – den Eindruck verstärkt, dass die AUSLÄNDER (vor allem die Deutschen) schuld sind an dieser Misere, und wir könnten nichts dagegen tun.

Aber wir Griechen können nicht Frau Merkel und Herrn Schäuble kontrollieren, geschweige denn Deutschland. Wir können jedoch unsere eigenen Politiker wählen und deren Politik mit-bestimmen – und wir können unser eigenes Land verändern, u.a. indem wir uns selbst verändern. Der „ideologische Egoismus“, der die griechische Gesellschaft seit etwa dreißig Jahren wie ein Krebsgeschwür zerstört, muss zurückgedrängt werden. Theodorakis hat das bereits 1991 – gemünzt auf die damals Regierenden – auf den Punkt gebracht: „Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Hirne geleert.“ Und wir haben das mit uns und mit unserem Land machen lassen.

Wenn Politik so gemacht wird, dass die Jugend – ihre Interessen und ihre Perspektiven – darin keine Rolle spielen, dann hat nicht nur diese Jugend keine Perspektive, sondern auch nicht das Land. Es ist ein „totes Land“, ein Niemandsland. Ich jedenfalls habe nicht wahrgenommen, dass Alexis Tsipras eine Zukunftsvision, einen wirklichen Plan für ein neues, ein anderes Griechenland kommuniziert oder gehabt hätte.

P.S. Mit der Unterschrift von Alexis Tsipras unter dem 3. sogenannten Rettungspaket im Juli 2015 hat Griechenland den Verlust seiner Souveränität auf Jahrzehnte hinaus besiegelt. Dieses „Rettungspaket“ – da sind sich alle Wirtschaftsexperten einig – wird mehr Armut, höhere Arbeitslosigkeit und höhere Schulden bringen. Der einzige Leidtragende in diesem europäischen Game of Thrones ist also (bislang) nur das griechische Volk.

Die Wahlerfolge von Alexis Tsipras und SYRIZA 2015 offenbaren andererseits die Willensbekundung vieler griechischer Bürger, einen Schlußstrich unter die katastrophale Vergangenheit zu ziehen – unabhängig von den „internationalen“ Implikationen. Also jene Politik von PASOK und Nea Dimokratia abzuwählen, die Griechenland durch Vetternwirtschaft, geduldeter Massen-Steuerhinterziehung und organisierter Staats-Kriminalität in die Katastrophe gestürzt hat. Das wenigstens ist den Griechen gelungen. Wie und ob es weitergeht, weiss keiner.

© Asteris Kutulas, 23.9.2015

Politischer Nachruf: Griechenland hat sich selbst vernichtet

Berlin, 18.9.2015
(zwei Tage vor den erneuten Wahlen)

Meine Heimat war in den letzten Jahrzehnten eine von griechischen Oligarchen beherrschte Bananenrepublik. Sie wurde regiert von einer skrupellosen Politikerkaste, die das geltende Recht ständig beugte und die Demokratie aushöhlte. Das bedeutete auch, dass sie einen Teil der Bevölkerung durch Klientelismus und Vetternwirtschaft systematisch „korrumpierte“. Das griechische politische Establishment nutzte die finanziellen und personellen Ressourcen des Staates, um das bipolare, siamesische Parteiensystem von PASOK und Nea Dimokratia zu etablieren und am Leben zu erhalten. Die Wahlbüros der Parlamentarier dieser beiden Staatsparteien verkamen seit den achtziger Jahren zu „Agenturen für Arbeit auf Lebenszeit“, deren Kriterien nicht der Arbeitsmarkt und die persönliche Qualifikation, sondern vor allem Parteibuch und Wahlverhalten waren. Allein zwischen 2007 und 2009, also innerhalb von nur drei Jahren, hat die Nea Dimokratia, die Schwesterpartei der CDU, aus diesem Grund etwa 200.000 neue Beamte in den Staatsdienst aufgenommen.

Dieses korrupte „System Griechenland“ diente einerseits dem Machterhalt einer seit etwa 100 Jahren regierenden Politikerdynastie, andererseits aber vor allem der Herrschaft einer Handvoll griechischer Oligarchen. Letztere hatten zu jeder Zeit Zugriff auf die Reichtümer des Landes – inklusive der europäischen Geldzuwendungen, wie z.B. die Struktur- und Kohäsionsfonds der EU. Bei allen internationalen Ausschreibungen erhielten die Firmen dieser Oligarchen den Zuschlag oder sie waren bei den Geschäften des griechischen Staates mit multinationalen Konzernen deren Juniorpartner (Konzerne wie z.B. Hochtief, Siemens, die Deutsche Telekom oder amerikanische, französische, deutsche Rüstungskonzerne). Kick-backs, Betrug, Schmiergeldzahlungen, also illegitime Geschäfte, waren an der Tagesordnung und schröpften in vielerlei Hinsicht das griechische Staatsvermögen.
Bislang sitzt nur ein einziger Repräsentant dieser „Regierungskriminalität“ im Gefängnis – der ehemalige Stellvertretende Vorsitzende der PASOK-Partei und damalige Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, der im Jahr 2000 von der Rostocker Ferrostaal AG 20 Millionen Euro Schwarzgeld auf sein Schweizer Konto überwiesen bekam, um für 2,84 Milliarden Euro deutsche U-Boote zu kaufen. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass es zum Prozess gegen Herrn Tsochatzopoulos vor drei Jahren nur darum kam, weil ein deutscher Staatsanwalt während des Schmiergeldprozesses gegen Ferrostaal in München auf einen griechischen Namen gestoßen war und diese Akten seinem griechischen Kollegen nach Athen geschickt hatte.

Um dieses durch und durch korrupte und für sie hoch profitable System aufrechtzuerhalten, baute die herrschende Machtelite eine mafiöse Herrschaftsstruktur auf, zu der auch Teile der Staatsanwaltschaft, der Polizei und die maßgeblichen Akteure der Finanzverwaltung gehörten. Den Regierenden kam außerdem zugute, dass fast 90% der Information, also fast die gesamte Presse – aber auch die bedeutendsten Fußball- und Basketball-Vereine –, in den Händen der fünf mächtigsten Oligarchen waren und bis heute sind. Diese hievten je nach Interessenlage entweder die eine oder die andere der beiden Herrschafts-Parteien an die Macht. Allerdings blieben die Struktur und die Akteure immer dieselben.
Das „Geschäftsmodell“ auf Kosten der griechischen und europäischen Steuerzahler war jedenfalls überaus lukrativ, denn die Politikerkaste konnte zusammen mit den Oligarchen die Staatskassen plündern, Schulden machen, jede für das Land wichtige langfristige Investition vermeiden und nationale Interessen ignorieren.

Die Konsequenzen dieser Politik waren verheerend für Griechenland. Zusammen mit den starken Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008 führten sie direkt in die Katastrophe. Jetzt, da der tote Körper der griechischen Gesellschaft auf dem Seziertisch liegt, kann man während der Obduktion folgendes feststellen:

1. Griechenland ist kein souveräner Staat mehr. Alle maßgeblichen Gesetze werden in Brüssel verfasst. Die griechische Regierung – egal welcher Coloeur –, aber auch das griechische Parlament sind nur noch dazu da, die von außen diktierte Politik abzunicken und umzusetzen. Dieser Zustand einer „Schuldenkolonie“ soll nach dem Willen aller Hauptakteure Jahrzehnte währen. Darum fände ich es ehrlicher, wenn nicht nur alle Gesetze in Brüssel geschrieben, sondern auch, wenn Brüsseler Technokraten diese Gesetze in Griechenland durchsetzen würden.

2. Die Demokratie in ihrem ursprünglichen Verständnis existiert in Griechenland nicht mehr. Sie war seit langem sehr beschädigt, aber seit dem Ausbruch der immer noch anhaltenden wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Krise verlor das grundlegendste demokratische Prinzip – dass das Volk der Souverän sei – jede gesellschaftspolitische Grundlage. Unabhängig davon, was richtig und was falsch ist, muss man nüchtern feststellen, dass nach der 180-Grad-Wendung von Herrn Tsipras, die dem Referendum folgte, und nachdem das 3. Memorandum unterschrieben wurde, Wahlen ohnehin nur noch Makulatur und Augenauswischerei sind.

3. Auch unter den Bedingungen der Krise konnte sich in Griechenland keine Zivilgesellschaft außerhalb der Parteistrukturen formieren. Das Tragische an dieser Situation ist, dass sich zu Beginn der Krise 2010 die Interessen der mächtigen europäischen Länder Deutschland und Frankreich mit den Interessen des mafiösen Herrschaftssystems in Griechenland vereinbaren ließen. Die deutsche und die französische Regierung wollten nach der Bankenkrise von 2008 ihren Wählern nicht die Wahrheit zumuten, dass sich ihre Banken in Griechenland verzockt hatten und mit über 100 Milliarden gerettet werden mussten, also bürdeten sie den „gierigen und faulen Griechen“ die alleinige Schuld auf und gaben ihnen 2011 die 110 Milliarden Euro, die komplett an die französischen und deutschen Banken gingen. Davon blieb nichts in Griechenland hängen. Diese Transaktion konnte nur zusammen mit den alten Machteliten durchgeführt werden, also mit jenen, die durch Klientelismus, Vetternwirtschaft, geduldete Massen-Steuerhinterziehung, Schmiergeldzahlungen, Betrug und organisierte Staats-Kriminalität die Krise in Griechenland überhaupt hervorgerrufen hatten. Die Triebfedern der alten Politikerdynastien waren ihr Streben nach Machterhalt und ihre Angst, sonst im Gefängnis zu landen – also stimmten sie allem zu und setzten alles durch, was in Brüssel und Berlin angeordnet wurde.

Diese unheilige Allianz hatte – aus sehr unterschiedlichen Gründen – ein großes gemeinsames Interesse daran, eine im Entstehen befindliche Zivilgesellschaft zu unterdrücken, so dass letztendlich die griechische Bevölkerung das einzige Opfer dieser Geschichte ist. Das oligarchische System in Griechenland dagegen wurde während der ersten fünf Jahre der Krise nicht nur „verschont“, sondern systematisch weiter ausgebaut und gefestigt, leider mit dem Wissen und der Unterstützung des europäischen Establishments. Das führte dazu, dass aufgrund der Entscheidungen der europäischen Spitzenpolitiker drei Dinge passierten: die griechische Bevölkerung ist dramatisch verarmt, die Banken sind gerettet und die europäischen Steuerzahler haften für 340 Milliarden Euro. Was für eine Bilanz!

Sowohl die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2015 als auch des Referendums zeugen von einem letzten Aufbäumen der Bevölkerung, das alte korrupte System loszuwerden, einen Neuanfang zu wagen und sich selbst zu retten. Doch das ist weder im Interesse des griechischen noch des europäischen Establishments, darum gilt der Befund: Griechenland (als unabhängiger Staat, als selbstbestimmte Nation) hat sich selbst „vernichtet“ – und Europa hat zugeschaut, sich höhnend, drohend, richtend geäußert, hat sich eingeschaltet und mitgemacht. Doch diese Geschichte von Ursache und Wirkung ist noch nicht zu Ende.

© Asteris Kutulas, 2015

Der verpasste „Grexit“

Athener Tagebuch, 30.7.2015 (Rückflug)

Vierfüßige Schlangen

Während der Pressekonferenz zur Gründung der HELLAS FILMBOX BERLIN fragte gestern im Außenministerium eine junge Journalistin den deutschen Kultur-Presse-Attaché, welchen griechischen Lieblingsfilm er habe. Er antwortet: „My Big Fat Greek Wedding“. Woraufhin der griechische Kulturminister erwiderte: „Im Gegensatz zu unseren deutschen Freunden, die – wie es sich herausstellt – keine griechischen Filme kennen, kenne ich alle Filme von Schlöndorff, Wenders, von Trotta, Herzog, Fassbinder etc. Diese Filme haben mir geholfen, die deutsche Realität und die deutsche Mentalität zu begreifen. Unsere deutschen Freunde jedoch wissen offensichtlich gar nichts über uns … außer einigen touristischen Allgemeinplätzen. Vielleicht hilft die Hellas Filmbox Berlin, dieses griechische Filmfestival in der deutschen Hauptstadt, das zu ändern.“

Jemand erzählte mir im Flugzeug, es habe in der so genannten Urzeit vierfüßige Schlangen gegeben. „Schlangen mit Füßen?“, fragte ich. „Wozu Füße?“ Sie lebten unter der Erde, so die Erklärung, in Höhlen, und gruben sich an die Erdoberfläche vor. Ein grässliches, sechzehnfüßiges Reptil schlief bis eben hinter dem Imithos-Berg. Kavafis hat in seinem Gedicht davon erzählt: Manchmal, alle paar Jahrhunderte, erwacht es und zuckt kurz mit dem Lid, dann schläft es weiter. Diesmal nicht. Diesmal behält es die Augen etwas länger offen, spürt seinen Hunger, richtet sich auf, öffnet seinen Rachen und rollt seine Zungen aus. Es muss kein Feuer speien. Es muss nicht brüllen. Keine Kraftverschwendung. Nur die Zungen ausrollen und sich holen, was zu holen ist. Häuser, Wohnungen, Gärten und was die Menschen sonst noch haben. Die Ersparnisse von den Konten werden langsam abgeräumt. Das Reptil hat keine Eile. In Grenzregionen bringen sie das Geld nach Bulgarien. Den Zungen des Reptils sind Grenzen einerlei.

Morgen werd ich im Babylon stehen und sagen „DANCE FIGHT LOVE DIE – Unterwegs mit Mikis“. Ja, ich will ertrinken in meinen Bildern. Absichtlich. Bevor die Zungen des Reptils uns holen. Aus 39 Grad in Athen stürze ich runter auf 16 Grad in Berlin oder rauf. Je nachdem, wie man das verstehen möchte.

© Asteris Kutulas, 17.7.2015

Athener Krisentagebuch vom 30.7.2015, Asteris Kutulas

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 29.7.2015

Mikis Theodorakis wird 90

Heute hat Mikis Geburtstag. Ich bekam vormittags die Nachricht, dass es ihm nicht gut geht und er darum alle Verabredungen abgesagt hat. Kaum ein Fernseh- und Rundfunk-Sender, kaum eine Zeitung oder Zeitschrift ohne eine große Würdigung. Konzerte im ganzen Land. Selbst in Deutschland ein Tsunami von Veröffentlichungen in den Medien. Fast alle Zeitungen widmen Theodorakis halbe oder ganze Seiten.

Süddeutsche, Welt, Tagesspiegel etc., mehr als 100 Publikationen am heutigen Tag allein in Deutschland. Kurz vor 18 Uhr überraschend der Anruf. Mikis ließ anfragen, wo ich denn bleibe, ich solle vorbeikommen.
Ich wollte schon immer mal wissen, wie große Komponisten ihren 90. Geburtstag feiern. Nun hab ich es erfahren: Mikis, leicht aufgerichtet in seinem Liegesessel, verfolgt im Fernsehen das Basketballspiel Litauen-Türkei. Weiter hinten der Parthenon und darüber der weite Himmel.
Mikis: „Da bist du ja. Ich wollte dich noch mal sehen, bevor du morgen nach Deutschland zurückfliegst.“ Er setzt die Sonnenbrille ab und zeigt auf sein rechtes Auge: „Siehst du“, sagt er. „Das Melanom verblasst langsam.“ Ein riesengroßer Bluterguss, seit Tagen auf seiner rechten Gesichtshälfte. „Deswegen hab ich die ganze Zeit die Sonnenbrille auf. Ich bin ja sonst nicht vorzeigbar.“ Ich frage ihn: „Wie ist denn das passiert?“ Er setzt die Sonnenbrille wieder auf: „Das, was mit Griechenland passiert, hat auf mich psychosomatische Auswirkungen …“ Er lächelt und schiebt die Fernbedienung ein Stück zur Seite. „Weißt du was … Diese Werke, die ich nicht geschrieben habe, die stören meinen Schlaf, immerzu …“ – „Na, dann schreib doch einfach noch was auf davon“, erwidere ich. Mikis führt seinen Zeigefinger zum Kopf und rollt mit den Augen: „Die Musik hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wann sie aufgeschrieben werden will. Jedenfalls – diese ungeschriebenen Werke rebellieren. Sie lassen mich nicht schlafen.“

Ich sage: „Schade, dass du heute nicht zum Konzert kommst. Alle erwarten dich dort. Mein Freund Jaka ist nur deshalb aus Berlin gekommen. Er hat vor zwei Jahren mit seiner Cinema for Peace Foundation unseren „Recycling-Medea“-Film unterstützt.“ Mikis greift nach rechts und hält die neueste CD mit seiner Musik in der Hand, ECHOWAND. „Johanna Krumin singt das so, dass man zuhören muss. Näher kann man mir als Musiker nicht sein.“ Mikis signiert die CD und sagt: „Zu seinem 90. Geburtstag schenkt Mikis Theodorakis Herrn Jaka die CD ECHOWAND.“ Er dreht den Kopf zum Fernseher. „Ich muss jetzt gehen“, sage ich. „Das Konzert fängt bald an.“

Am Fahrstuhl passt R. mich ab. „Nein nein nein nein …, du kannst noch nicht gehen. Jetzt kommt die Geburtstagsparty.“ – „Was!?“, frage ich. R. drückt mir die Torte in die Hand. In der Mitte steckt eine brennende Kerze. Auf der Torte steht: „Mikis Theodorakis zum 90. Geburtstag“. R. schiebt mich vor sich her. Ich wieder zurück durch die Tür, mit der Torte in den Händen, dann R., ihr folgen Mikis’ Krankenschwester und zwei seiner Mitarbeiter. Mikis pustet freudig die Kerze aus, lehnt sich zurück und sagt mit breitem Lächeln: „Was für eine schöne Geburtstagsparty … Jetzt lasst mich aber weiter das Spiel Türkei gegen Litauen sehen.“

© Asteris Kutulas, 29.7.2015

Cover Photo with Mikis Theodorakis, Asteris Kutulas, Els Bolkenstein – Berlin 1984 – Rehearsals for the premiere of the 3rd Symphony

Photo with Mikis Theodorakis & Asteris Kutulas, Gewandhaus Leipzig, 1983

Athener Krisentagebuch, 29.7.2015, Asteris Kutulas, Mikis Theodorakis

Athener Tagebuch, 28.7.2015

Athener Air-condition

Bei einem Gespräch mit meinem Freund Makis kommen wir auf die schwülen und sehr heissen Nächte zu sprechen. Er erzählt mir über sein Air-condition-Gerät, das die Temperatur konstant auf 25 Grad hält; es schaltet sich automatisch ein und aus. Die Maschine macht draußen über der Balkontür Lärm, so dass die Nachbarin keine Ruhe findet. Makis hätte eigentlich ein herrlich temperiertes Zimmer, nachts, so dass er leicht in den Schlaf kommen könnte, aber zur gleichen Zeit würde seine Nachbarin nicht schlafen können, weil das Gerät zu laut ist. Also kein Air-condition; es ist wieder wie früher, kein Abkühl-Komfort. Das Ergebnis: Beide, sowohl Makis als auch die Nachbarin, können nicht schlafen, weil es in den Zimmern zu warm ist. Makis: „Wir üben Wachliege-Solidarität. Im ganzen Land übt jeder irgendeine Form von Solidarität. Es gibt hunderte neue Formen von Solidarität. Auch solche: gemeinschaftliches Nicht-in-den-Schlaf-Kommen. Uns mangelt’s nicht an Phantasie.“

Von den Bouzouki-Kneipen, von denen es vor wenigen Jahren in Athen noch sehr viele gab, können sich nur noch wenige gerade so über Wasser halten, sagte Fotis, nachdem ich ihn danach gefragt hatte. Ich hatte geglaubt, diese „Schuppen“ würden niemals schließen. Auf diese Art der Unterhaltung würde man nicht verzichten. Whisky trinken, Teller zerschmeißen, Nelken auf die Bühne werfen, Tanzen, eines der griechischen Klischees bestätigen, weil einem „einfach danach ist“. Irrtum. Es gibt inzwischen Orte, wo alle Sitzplätze bei einem Abend mit klassischer Musik besetzt sind, weil sonst kulturell nichts mehr stattfindet und man nirgendwo sonst ein Konzert erleben kann, und dieser eine Pianist …, wahrscheinlich verzichtet er auf die Gage. Vor hundert Jahren sangen die Rembeten in den Lokalen zusammen: „Emis tha sissoume kai na imaste ftochi – Leben werden wir, auch wenn wir arm sind.“ Offenbar war man in Athen vor hundert Jahren wohl irgendwie reicher als jetzt. Seferis’ Roman „Sechs Nächte auf der Akropolis“ erzählt von dieser Zeit. Vor einigen Jahren wurde beschlossen, wieder, wie zu der Zeit, in der die Romanhandlung spielt, die Akropolis in Vollmondnächten für Besucher zu öffnen. Eine Gruppe von Freunden würde sich, dessen bin ich sicher, auch jetzt finden können, um sich dem Mondlicht in solchen Nächten auszusetzen und damit ein Experiment zu wagen. Wird allerdings die Quatroika nicht darauf bestehen, umgehend eine Steuer auf das Mondlicht zu erheben?

© Asteris Kutulas, 28.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 27.7.2015

Unbeantwortete Fragen

Gestern eine Reihe „erregter“ Unterhaltungen gehabt. Ich werde als in Deutschland lebender Grieche stets in „Haftung“ genommen. Ich hatte auf Fragen keine Antwort, auf die ich selbst gern eine hätte, wie:

1) Die Troika und die deutsche Regierung haben seit 5 Jahren quasi die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik Griechenlands vorgegeben und jedes diesbezügliche Gesetz „vorgeschrieben“. Sie haben jede neue Tranche eines jeden „Rettungspakets“ von Fortschritten abhängig gemacht, z.B. davon, ob die MwSt. auf Diesel für Bauern 13% oder 23% betragen soll, was ein paar Milliönchen einbringt etc. Warum hat weder die Troika noch die deutsche Regierung jemals zur Bedingung für weitere Zahlungen an Griechenland gemacht, dass Gesetze verabschiedet und bilaterale Abkommen mit der Schweiz, Luxemburg, Großbritannien, Lichtenstein etc. getroffen werden, die zur Offenlegung von Schwarzgeldkonten und zur Steuerfluchtbekämpfung geführt hätten? Dafür wäre jeder griechische Bürger und jeder deutscher Steuerzahler der Troika und der deutschen Regierung dankbar gewesen. Martin Schulz behauptete immerhin, allein schon in der Schweiz lägen bis zu 200 Milliarden unversteuertes Griechen-Geld. Da geht es nicht um Millionen, sondern um „richtig Kohle“. (Und warum wurde diese einfache Frage der deutschen Regierung in keiner deutschen Talk-Show und in keinem Zeitungsartikel gestellt?)

2) Warum lässt „Europa“ zu, dass aufgrund einer finanziellen Krise innerhalb der EU täglich Menschen sterben? Warum wird dieses „Europa“, indem es durch aufgezwungene Austeritätsprogramme ganz bewusst z.B. zur Schließung von Krankenhäusern und zum Kollaps aller Sozialsysteme führt, selbst zum „Mörder“? Wieso schweigt die „europäische Familie“ zu diesem alltäglichen Sterben im „Hause ihrer griechischen Verwandten“? Warum verlangt man noch mehr menschlichen Blutzoll, um Banken zu retten und politische Macht ausüben zu können?

Auf diese und andere solcher Fragen kann ich einfach nicht antworten. Sie lassen einen mit der depremierenden Gewissheit zurück, dass es mit dem Kapitalismus nicht mehr so rund läuft und dass unsere Welt aus den Fugen geraten ist. Und dass Griechenland deshalb so schnell wie möglich DIESES Europa verlassen sollte, wenn es irgendwie als eigenständiges, demokratisches Land überleben will.

© Asteris Kutulas, 17.7.2015

 

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 26.7.2015

Kuckucksuhr und Eulen

Dimosthenis, ein 33-jähriger Bekannter aus Berlin, läuft mir am Syndagmaplatz über den Weg. Hat gerade Urlaub und ist vor drei Wochen nach Athen gekommen. Beim Wort „Urlaub“ hebt er die Arme und krallt mit den Fingern Gänsefüßchen-Zeichen in die Luft. Dimosthenis macht keine Scherze mehr, aus einem fröhlichen, sanftmütigen jungen Mann ist ein Getriebener geworden, „in dessen Kopf Mühlsteine zu mahlen begonnen haben“, wie er es formuliert. „Keine Ahnung, was ich noch machen soll. Ich bin jetzt drei Wochen hier und blank. Es hat sich alles verschärft. Wen auch immer ich treffe oder besuche, ob Freunde, frühere Mitschüler, Bekannte … Es gibt fast niemanden mehr, der mich nicht fragt, ob ich irgendwie helfen kann, ob ich ein paar Euro habe. Und niemand von denen will das. Allen steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Von mir aus geb ich ihnen alles, das ist nicht der Punkt, aber mein Geld ist alle. Hab schon über 2.500 Euro für Freunde und Familie ausgegeben.“

Das bringt mich auf eine Idee: Eigentlich sollte man Spree-Athen umtaufen in Spree-Berlin. Die Hauptstadt Deutschlands käme dann zu sich selbst und Griechenland vielleicht auch. Der Griechenland-Beauftragte Hans-Joachim Fuchtel war vor etwa zwei Jahren nach Griechenland gekommen und hatte dem damaligen griechischen Innenminister eine Schwarzwälder Kuckucksuhr mitgebracht. „Das ist etwas anderes, als Eulen nach Athen zu tragen“, sagte damals mein Bruder. Ich erinnerte ihn gestern daran. Er balancierte auf einer Gabel einige Melonenkerne von seinem Mund zum Teller und sagte lachend, die Melonenkerne nicht aus dem Blick lassend: „Ne Eulenuhr wär dann vielleicht doch besser gewesen. Die Kuckucksuhr hat nicht viel geholfen.“ – „Doch“, meinte meine Mutter trocken, „bald danach kam Syriza.“ Und dabei hieß es doch früher: Hüte dich vor Griechen, die mit Geschenken kommen.

Der Sytagma-Platz ist fast leer, die Athener verlassen die griechische Hauptstadt über den Sommer in ihre Dörfer und die, die es sich leisten können, machen noch irgendwie Urlaub. Dimosthenes erzählt weiter: „Einer meiner Mitschüler von damals, Christos, 33 wie ich, ist vor fünf Wochen an einem Herzinfarkt gestorben wegen des Stress’. Der war Sportler, der hatte Kondition, nicht geraucht, nicht getrunken, einen Gesünderen kannst du dir nicht vorstellen. Und das Mädchen, mit dem ich vor sechs Jahren noch zusammen war, hat inzwischen Krebs. Und mein Vater, der verzweifelt jetzt, weil er nicht weiß, wie helfen kann. Ich stehe da … Vor zwei Jahren, da trugen wir noch lustige T-Shirts: „Ich brauch keinen Sex mehr. Die Regierung fickt mich jeden Tag.“ Wir konnten noch scherzen damals.“

Ja, und sicher ist auch: Die Troika bleibt Griechenland treu. Wie Siegfried dem Roy, reimte gestern mein Bruder. Tsipras und Varoufakis waren jedenfalls die einzige (zumindest die erste) realistische Chance für die EU und insbesondere Deutschland, ihr Geld wiederzukriegen, jedenfalls einen grossen Teil des Geldes. Warum Herr Schäuble und die deutsche Regierung das nicht erkannt haben, bleibt ein Rätsel der Geschichte. (Wahrscheinlich hatten „höhere Ziele“ Priorität.)

Dimosthenis setzt zu seinem Schlussplädoyer an: „Mein Kollege Matthias in Berlin hat jeden Tag Angst vor Hartz 4, der sagt: „Grieche, sei froh, dass wir hier überhaupt noch was verdienen und erzähl mir nix von deinem Stress da in der Heimat.“ Für den da bin ich einer, der jammert, für die Leute hier in Griechenland bin ich einer, der vielleicht noch helfen kann… Ich bin der, der vor dir steht und dir erzählt, dass sein Konto leer ist und sich genauso beschissen fühlt wie alle anderen, die mir das gesagt haben.“ – Da mir gerade nichts Tröstendes einfällt erwidere ich: „Den Letzten beißen die Hunde, Dimostheni! So ist das nun mal, ob hier oder in Deutschland…“

© Asteris Kutulas, 26.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 24. & 25.7.2015

Die Zeit läuft ab …, 24.7.205

Die Menschen wollen sprechen. Es gibt ein existenzielles Bedürfnis nach Kommunikation. Neben mir sitzt ein älterer Straßenbahnfahrer, der gerade Feierabend hat und mit der Metro nach Hause fährt. Er entpuppt sich als glühender Syriza-Anhänger. „Wir sind stolz darauf, diesen Kampf gegen die Troika geführt zu haben. Wir haben dadurch nicht nur Griechenland geändert, sondern auch Europa.“ Und obwohl ich nichts sage, insistiert er: „Glaub mir, mein Junge, sie haben einen Pyrrhussieg errungen.“

Viel Angst, gepaart mit Pathos, macht sich breit in Griechenland. Und auch die Gewissheit, dass Alexis Tsipras am Ende ist, noch bevor er überhaupt etwas beginnen konnte. Ihm bleiben vielleicht noch ein, zwei Monate, dann ist seine Zeit abgelaufen, dann gehört auch er zum griechischen Establishment, zum „System Griechenland“, das das Land ruiniert hat. In seiner Rede vor dem Parlament hieß es vorgestern: „Dieser Kampf wird nicht umsonst gewesen sein. Nur diejenigen Kämpfe sind umsonst, die nicht geführt werden.“ Das klingt sehr melancholisch, klingt nach Endspiel. Seine Partei bricht gerade auseinander, der geteilte Himmel über Athen bleibt geteilt, Griechenland bleibt eine Wunde. Im September wird es Neuwahlen geben; die nächste Tragödie steht uns bevor.

© Asteris Kutulas, 24.7.2015

Athener Krisentagebuch vom 24.7.2015, Asteris Kutulas

Das ist kein Leben mehr…, 25.7.2016

Meine Mutter versucht immer wieder, mich in die Pflicht zu nehmen, als wäre ich verantwortlich für die Krise in den deutsch-griechischen Beziehungen: „Warum ziehen die deutschen Medien und Politiker dauernd diese Vergleiche zwischen den Griechen und den Bulgaren oder den Rumänen! In Bulgarien und Rumänien, da haben sie keine EU-Preise, keine 60% Jugendarbeitslosigkeit, das Gesundheitssystem ist dort nicht zusammengebrochen. In Griechenland sieht’s ganz anders aus. Die sozialen Systeme funktionieren nicht mehr. Man kann doch die Situation der drei Länder nicht gleichsetzen! Bei Lidl und im Media-Markt müssen wir deutsche Preise zahlen, haben aber nicht die Gehälter wie in Deutschland. Bei den Mieten sieht’s genauso aus. Meine Freundin hat einen 31-jährigen Sohn, arbeitslos; die 24-jährige Tochter studiert. Ihr Mann ist gestorben. Die leben zu dritt von 500 Euro und zahlen allein für die Miete einer winzigen Wohnung 250 Euro. Das ist ja kein Leben mehr. Und dann stellen deutsche Politiker diese Vergleiche an, als seien Menschen wie meine Freundin und ihre Kinder Idioten, die nicht kapieren würden, dass es ihnen blendend geht, im Vergleich zu den Menschen in Bulgarien oder Rumänien.“

Wenn ich meine Mutter so sprechen höre, dann fällt mir ein großer Unterschied in der Betrachtungsweise auf: Wenn Griechen sich über „die Deutschen“ kritisch äußern und manchmal auch ausflippen und fluchen, meinen sie niemals das deutsche Volk, sondern immer die Regierenden. Wenn Deutsche über die „Griechen“ urteilen, meinen sie zumeist – sehr stigmatisierend – die gesamte Bevölkerung und fast niemals die Regierung. Bis die Tsipras-Regierung an die Macht kam, schien es mir fast so, als würde die deutsche Öffentlichkeit das griechische Volk für das kriminelle Fehlverhalten seiner ehemaligen Regierungen verantwortlich machen.

© Asteris Kutulas, 25.7.2015

Athener Krisentagebuch 24.7.2015, Asteris Kutulas

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 23.7.2015

Beim Aussenminister

Heute beim griechischen Außenminister, Nikos Kotzias. Das Gebäude, in dem er arbeitet, gegenüber dem Parlament, gleich am Syndagmaplatz, neoklassizistisch, aus dem 19. Jahrhundert. Im Bewusstsein zu haben, dass das Land bankrott ist, wenn man sich durch die Athener Straßen bewegt, und mit dem Bewusstsein solchen Bewusstseins einen Flur in diesem Gebäude lang zu gehen, umgeben von Prunk und erhabener Anmutung – das macht aus dem Hirn etwas, das man unter der Knochenschale anschwellen fühlt. Und würde in Griechenland das Wort “Anarchie” nicht ohnehin gern in den Mund genommen, man würde es eines Tages in diesem Außenministerium plötzlich vernehmen, wenn es, kaum entstanden, zerbirst und Substanzen abgibt.
Der Außenminister sagt: “… Und man muss sich vorstellen, dieses Gebäude ist damals von Herrn Syngrou nicht etwa dem griechischen Staat vermacht worden, sondern ausdrücklich dem Außenminister Griechenlands.” Ich sehe Nikos Kotzias an und frage: “Das heißt?” Er antwortet: “Das heißt – wenn ich versuchen würde, in ein anderes Gebäude umzuziehen, in ein zweckmäßigeres oder geräumigeres oder schlichteres … in ein wie auch immer anderes eben, dann würde dieses Gebäude als Besitz zurückgehen an die Erben von Herrn Syngrou. Es gehört nur solange dem griechischen Staat, solange es die offizielle Residenz des griechischen Außenministers ist.” Das Innere des Außenministeriums hat den Außenminister in der Mache und umgekehrt erfüllt der Außenminister das Innere des Außenministeriums mit Leben. Auf Gedeih und Verderb. Kein Entkommen. Entweder Herr Syngrou, ein Banker, war Dialektiker aus Vergnügen oder ein Prophet, als er sich diese Bedingung einfallen ließ. Die Syngrou-Allee ist nach ihm benannt. Das Außenministerium-Gebäude war einmal sein Wohnhaus, entworfen von einem deutschen Architekten aus Radebeul in Sachsen, der fast nur in Griechenland gearbeitet hat. Der Außenminister muss jedenfalls ständig nach Ausgleich suchen.
Nikos Kotzias spricht perfekt Deutsch, hat Habermas in Griechenland herausgegeben und selbst mehr als 25 Bücher geschrieben. Er ist kein Syriza-Mitglied, und in der “Zeit” war zu lesen, dass er der einzige griechische Politiker ist, der Frau Merkel versteht.


Ich war heute mit R. in seinem Büro, um ihn zu fragen, ob man uns für die Pressekonferenz der Initiative der Deutsch-Griechischen Kulturassoziation, also für das griechische Filmfestival HELLAS FILMBOX BERLIN, in diesem Außenministerium einen Raum zur Verfügung stellen könnte. Eigentlich wollten wir die Pressekonferenz im Goethe-Institut organisieren, aber das Institut ist ab diesem Wochenende wegen der Sommerferien-Pause geschlossen. Ich sage zum Außenminister: “Sie müssen uns helfen. Die deutsch-griechischen Beziehungen waren seit dem Zweiten Weltkrieg niemals so schlecht wie jetzt, und wir wollen was tun, sie wieder zu verbessern.” Nikos Kotzias schaut zu seinem Assistenten und sagt: “Ok., das Außenministerium unterstützt die HELLAS FILMBOX BERLIN. Ihr könnt den Raum nutzen. Wird geklärt.” Herr Syngrou war wohl beides – Prophet und vergnügter Dialektiker.

© Asteris Kutulas, 23.7.2015

(Photos: © by  Ina Kutulas for Cover photo | © by DomQuichotte for Hellas Filmbox Photo with Sandra von Ruffin, Stathis Papadopoulos & Annabell Johannes)

Athener Tagebuch, 22.7.2015

Nebenwirkung: Amoklauf

23.20 Uhr. In Berlin, so erzählt mir Sebastian am Telefon, strömender Regen, Blitz und Donner – das hätte ich hier auch gern. Meine Mutter stellt Melone auf den Tisch, meint aber im selben Augenblick, ich solle endlich schlafen gehen. Wer kann hier schlafen. Es ist heiß. Die Kakerlaken vermehren sich vermutlich schnell. Und im Fernsehen läuft der Thriller „Parlamentsdebatte“.

War tagsüber im Studio bei Jannis gewesen, einem bekannten Dokumentarfilm-Regisseur. Er hat vor ein paar Jahren einen Film gemacht über Menschen, die durchdrehn und medikamentös behandelt werden. Als wir uns über seinen Film unterhielten, meinte er: “Naja, inzwischen sind hier alle irre geworden, total irre. Mir kommt es so vor, als hätte der deutsche Arzt versucht, seinen griechischen Patienten von einer Erkältung zu kurieren, verpasste ihm aber eine falsche Spritze, so dass der wegen der Nebenwirkungen Amok läuft.” Stefanos’ Blick ging ins Weite. “Du kannst die Irren hier nicht mehr kontrollieren. Jetzt laufen in Griechenland Millionen von Irren herum. Europa hat sein Irrenhaus, so ist das nun mal, wir ticken nicht mehr richtig. Der Arzt will seinen Kunstfehler nicht eingestehen und duckt sich weg. Wie auch immer – wir sind alle irre hier, jeder auf seine Weise.”

Im Fernsehen die Debatte zum zweiten Gesetzespaket, das zusammen mit dem von letzter Woche als Voraussetzung dient, damit Griechenland mit den europäischen Institutionen (die übrigens jetzt wieder Troika heißen) ein neues Memorandum verhandeln darf. Varoufakis erklärte dem CNN-Sender gestern: “Das neue „Rettungspaket“ wird der größte Misserfolg der Wirtschaftsgeschichte. Und es ist klar, dass das Ding nach hinten losgeht.”


Im Bestiarium des griechischen Parlaments ereignet sich derweil Unerhörtes. Regierungsmitglieder und auch die Parlamentspräsidentin bringen Gesetzesvorlagen ein und sagen im selben Augenblick: “Wir tun das, um Griechenland zu retten, aber wir wissen, dass es nicht das Richtige ist für Griechenland.” Ich glaube, sowas hat es in keinem Land bislang gegeben. Da kommt eine Gesetzesvorlage, und der Justizminister sagt: “Ok., ich bring die hier mal ein, aber es ist eine schlechte Gesetzesvorlage. Ich bring sie ein, weil ich sie einbringen muss.”
Was alle SYRIZA-Politiker damit meinen: Europa hält Griechenland die Pistole an die Schläfe und sagt: Unterschreibt einfach! Irgendwas werden wir schon aus euch machen. Hauptsache, ihr unterschreibt erstmal. Klar, da muss man ja irre werden.

© Asteris Kutulas, 22.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 21.7.2015

Die armen Ziegen…

Mittag. Bin in einem Café in Glifada, einem Vorort von Athen, und warte auf einen Freund. Der Fernseher läuft, ein Mann am Nebentisch flucht auf alle griechischen Politiker. Er wird Mitte 60 sein. Ab und an schaut er nach links oder rechts, als suche er in den Gesichtern der anderen im Café zu lesen, ob und wie jemand auf seine Flüche reagiert. Ich nehme einen großen Schluck von meinem griechischen Kaffee mit wenig Zucker und frage den Mann in sehr griechischer Art und Weise: “Was ist los, Bruder? Wo brennt der Schuh?” Es stellt sich heraus, dass der Mann ein General a. D. ist. Er befehligte ein Flugzeuggeschwader, das auf der Insel Chios stationiert war. Als der Mann mitbekommt, dass ich ein Grieche aus Deutschland bin, sagt er: “Diese alten korrupten, verkommenen, Politiker – die haben uns in diese Scheiße reingeritten.” Der Mann bebt am ganzen Körper, und ich versuche, ihn zu beruhigen. “Mein Junge, du hast doch keine Ahnung”, erklärt er mir. “Weißt du, was wir damals machen mussten, weißt du, welche Befehle ich auszuführen hatte? Da gab es doch diesen Plan der Wiederaufforstung kleiner griechischer Inseln, zur Verbesserung der Lebensbedingungen derer, die auf diesen Inseln lebten und dort Ziegen hielten. Auch Zisternen sollten gebaut werden. Dafür flossen Hunderte Millionen von Europa nach Griechenland. Diese Politikerschweine haben das Geld in die eigene Tasche gesteckt, und wir mussten die Drecksarbeit machen. Die armen Ziegen!” – “Was denn für Ziegen?”, frage ich. Der Mann erklärt mir: “Immer, wenn die Kontrollkommission aus Europa kam, um zu schauen, wie dieses Programm umgesetzt wird, erhielt ich den Befehl, mit meinen Chinook-Transporthubschraubern aus Chios Ziegen mit Netzen einzufangen und sie auf verschiedenen Inseln auszusetzen, damit die Kontrolleure sich am nächsten Tag vom Erfolg des Programms ein Bild machen konnten. Am übernächsten Tag haben wir die Ziegen dann zu den nächsten Inseln geflogen. Und viele der armen Ziegen sind dabei draufgegangen. Den Politikern war das völlig egal. Man sah ja nicht, dass die Hälfte der Ziegen nicht schlief, sondern einfach verreckt war. Was waren das nur für Menschen! Die armen Ziegen!”

© Asteris Kutulas, 21.7.2015

(Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 20.7.2015

Widerstand

Ich kann mit keinem Griechen, der weiß, dass ich in Berlin lebe, irgendein normales Gespräch führen. Ich werde ständig mit Fragen überhäuft. Heute besuchte ich einen fast achtzigjährigen alten Freund meines Vaters: „Sag mal Asteris, die Frau Merkel scheint doch eigentlich ganz in Ordnung zu sein, aber sie hat während dieser ganzen Krise, zu unserem ganzen Unglück hier nicht ein menschliches Wort gesagt. Das ist nicht in Ordnung. In Griechenland herrscht immer größeres Elend. Interessiert sie das gar nicht?“

Tatsächlich ist der neuen Regierung und deren Politik zu verdanken, dass der Weltöffentlichkeit zum ersten Mal die Folgen einer sehr rabiaten Austeritätspolitik bekannt geworden sind – wenigstens das. Und das ist nicht wenig. Selbst in Deutschland, wo dies nicht zum bisherigen öffentlichen Diskurs über den „faulen“ und „gierigen“ Griechen passte, offenbarte sich in vielen Beiträgen und Kommentaren – von der Süddeutschen bis zur FAZ, vom Spiegel bis zu Die Zeit, von ARD, ZDF bis zu n-tv – das ganze Ausmaß des Elends als direkte Folge einer gnadenlosen Sparpolitik, die in der Öffentlichkeit allerdings zuvor als „Allheilmittel gegen die Krise“ angepriesen worden war. Sowohl von den Vorgängerregierungen in Griechenland als auch von der Troika und der Weltpresse wurde diese Realität bis vor ein paar Monaten mehr oder minder verschwiegen. Vielen Griechen, das ist mir in den letzten Tagen klar geworden, schien der Diskurs zwischen Tsipras und Schäuble so zu verlaufen: „Bei uns sterben Menschen; wir müssen das stoppen.“ Antwort: „Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Verträge eingehalten werden müssen.“

Zum anderen fühlen sich viele Griechen bestärkt in ihrem „Widerstand gegen die da draußen“, weil die Auseinandersetzung ihrer neuen Regierung mit den europäischen Institutionen einen weltweiten öffentlichen Diskurs ins Rollen brachte, der als phänomenal bezeichnet werden kann. Tausende von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur etc. nahmen Stellung zu den beiden brennenden Problemen: 1) wie steht es um die „Demokratie“ von heute und von morgen, und 2) wie wird die „Zukunft“ zwischen den Regierungen und den Völkern gestaltet. Auch das hat es in diesem Ausmaß noch nie gegeben. Das kleine Griechenland hat irgendwie die Welt „verändert“, zumindest einen Anstoß dazu gegeben.

Ich sag zu dem alten Freund meines Vaters: „Ich bin dir so dankbar, dass du nicht auch auf die deutsche Regierung fluchst, ich kann’s nicht mehr hören …“ Er sieht mich an und zieht an seiner Zigarette. „Wenn wir Griechen aufhören würden, auf Merkel und Schäuble zu fluchen, die wir sowieso nicht kontrollieren können, und stattdessen anfangen, unsere eigene Gesellschaft auszumisten von all den Verbrechern, wären wir schon viel weiter. Was mich zuversichtlich macht: Die Zeit der alten Machteliten von PASOK und Neue Demokratie ist abgelaufen. Selbst wenn sie irgendwann wieder die Regierungsgeschäfte übernehmen sollten – Griechenland hat sich geändert.“ Damit hat er, glaube ich, recht.

© Asteris Kutulas, 20.7.2015

(Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 18. & 19.7.2015

Schizophrenie, 18.7.2015

Ich „diagnostiziere“ fast täglich meine Schizophrenie: In Griechenland „liebe“ ich Deutschland und „hasse“ Griechenland, aber in Deutschland „hasse“ ich Deutschland und „liebe“ Griechenland. Ich hasse den Neo-Nationalismus in Deutschland und ich hasse die selbstzerstörerische „Arroganz“ der Griechen.

Spät nachts treffe ich Sabrina, eine deutsche Kindergärtnerin, die vor einem Jahr „wegen der Liebe“ nach Griechenland gezogen ist. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, in Deutschland zu leben.“ – „Fehlt dir Köln nicht?“, frage ich sie. „Nein. Aber meine deutschen Freunde schon. Einfach ist’s hier nicht – und trotzdem hab ich ein tolles Lebensgefühl. Jeder hilft jedem.“
Am Keramikos-Platz viele Bars und Restaurants. Sabrina macht mich darauf aufmerksam, dass es dafür, dass wir Freitag-Abend haben, unglaublich leer ist. „Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen. Es herrscht sowas wie eine nationale Depression.“

Ich erinnerte mich an Makis‘ Aussage: An den Tagen vor der Volksabstimmung des „OXI“ zog es die Menschen auf die Straßen, in die Tavernen, in die Bars, sie wollten reden, sich austauschen, diskutieren. Seit dem Tag, da Tsipras in Brüssel den Bedingungen zugestimmt hat, bleiben alle zu Hause und warten, was passiert.

© Asteris Kutulas, 18.7.2015

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Alleine mit exotischen Tieren, 19.7.2015

Die Parkplatzsuche in Athen ist einfacher geworden. Sehr schwül heute, wenig Wolken, aber kein Smog, nicht zu vergleichen mit früher. Viele Familien mussten ihre Zweitwagen und viele auch ihre „Erstwagen“ verkaufen, weil sie sich kein Auto mehr leisten konnten. Bevor ich in die Stadt bin, war ich Koulourakia, Kringel kaufen, unser Frühstück. Angelos, der Bäcker, der gegenüber dem Wohnhaus meiner Mutter seinen Laden hat, stöhnte: „Ich musste mich von meinem BMW trennen. Jetzt fahr ich einen alten Fiat.“ Er weiß, dass ich in Berlin lebe, darum insistiert er, nachdem er mir die Tüte mit den Kringeln gereicht hat: „Du, Griechenland hat seit der Euro-Einführung, als die Zinsen fielen, wie verrückt deutsche Waren und auch deutsche Waffen gekauft. Wir waren Importweltmeister deutscher Mercedes’ und deutscher U-Boote. Jahrelang. Die damaligen Regierungen haben uns ständig aufgefordert: Nehmt einfach Kredite auf, kauft Waren, kauft, kauft, konsumiert – so funktioniert dieses System, das ist gut für’s Land! Wir wurden mit Kreditkarten überhäuft. Und wir haben gekauft. Keiner hat uns damals gewarnt, keiner hat gesagt: Halt, ihr könnt euch all das eigentlich nicht leisten! Auch Herr Schäuble hat das nicht verlauten lassen. Nein, ganz im Gegenteil.“

Es ist etwas passiert, seitdem Griechenland diese neue Regierung hat, etwas Ungeheurliches und für mich Unerwartetes: Viele Griechen sind „aufgeschreckt“ aus einer jahrelangen „tödlichen“ Lethargie; sie haben angefangen zu lesen, nachzudenken, ihr vom Konsum beherrschtes Leben zu hinterfragen, jetzt, da sie kein Geld mehr haben, es weiterzuführen – und je mehr ihre neue Regierung von „Europa“ (wie es hier so heißt) gedemütigt wird, desto mehr empfinden sie sich als „Kämpfende“, sie fühlen sich wieder als „Volk“, als ein zersplittertes zwar, aber als ein Volk im Widerstand gegen eine „alte Gesellschaft“, die dieses Volk nicht mehr will. Viele sind ängstlich, verunsichert, müde, fühlen sich hilflos, ohnmächtig einem täglichen Terror unzähliger Expertenmeinungen und politischer Aussagen ausgesetzt, die sie nicht mehr überblicken und einordnen können. Sie fühlen sich wie alleingelassen mit einigen exotischen, unbekannten Tieren, von denen sie gehört haben, dass diese gefährlich sind, aber nicht wissen, ob und wie diese angreifen.

Im Zentrum von Athen treffe ich mich mit Alekos, einem zwanzigjährigen IT-Spezialisten, der zur griechischen „Abteilung“ von Anonymus gehört. Er sagt: „Wenn du Souvlaki essen gehst, musst du ungesalzene bestellen.“ Ich schaue ihn fragend an. „Na ja, dann bezahlst du nur 13% Mehrwertsteuer; wenn du normal gesalzene nimmst, wird der neue Mehrwertsteuersatz von 23% berechnet.“ Ich traue meinen Ohren nicht. Er fährt fort: „Du musst auch beim Hackfleisch aufpassen: Wenn du keine 23% bezahlen willst, darf der Rindfleisch-Anteil nicht größer als 50% sein.“ Ich kann mich vor Lachen nicht mehr halten: „Damit beschäftigt ihr euch bei Anonymus?“ Er lässt ein Grinsen sehen: „Quatsch, wir lesen nur genau, was uns die Troika vordiktiert, dann handeln wir dementsprechend.“

© Asteris Kutulas, 19.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 17.7.2015

Brandstiftung

Meine Mutter sagt gerade: „Als hätten wir nicht schon genug durchgemacht – jetzt auch noch diese Brände.“ Der Imitosberg über Athen steht in Flammen. Alle gehen von Brandstiftung aus. Rauchschwaden ziehen über den Stadtteil, in dem wir wohnen. Militärflugzeuge und Löschhubschrauber der Feuerwehr jagen im Minutentakt über unsere Köpfe hinweg und lassen Tonnen von Meerwasser auf den glutheißen Berg runterstürzen. Für einen Augenblick vergisst die Nation den Euro und Brüssel, und plötzlich erscheint Herr Tsipras in der Zentrale des Katastrophenschutzes als Anteil nehmender Beobachter bei diesem Inferno. Meine Mutter seufzt erleichtert: „Endlich ist ERT (das Staatliche Fernsehen) zurück. Die sind wieder auf Sendung.“
Dieser Satz erinnert mich an viele ähnliche Aussagen in den letzten Tagen. Also gibt es doch noch etwas Verbindendes in diesem Land: die tiefe Abneigung vieler Griechen gegenüber den Fernsehmoderatoren und Privatsendern, die sich mit Lügen, Manipulationen und medialen „Ablenkungsmanövern“ so vehement für das alte System eingesetzt hatten, dass es zum Himmel stank.
Die privaten Fernsehanstalten gehören den Oligarchen, die Griechenland die letzten 40 Jahre ausgeblutet und die EU ausgenommen haben. Die Medien waren ihre stärkste Waffe, einerseits gegen das griechische Publikum – das sie einer gnadenlosen Gehirnwäsche unterzogen – und andererseits als politisches Druckmittel gegenüber den Regierungen, um ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen.


Elisa, eine Mathematikerin, erzählte gestern Abend: „Einige der bekanntesten Moderatoren stehen bei vielen Menschen auf der Hass-Skala noch über den alten Politikern (wie Samaras, Venizelos, Papandreou etc.) – und das will was heißen.“

© Asteris Kutulas, 17.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 16.7.2015

Die sind alle Taliban …

Gerade läuft im Parlament der „letzte Akt der Schande“ wie mein kommunistischer Freund, der ewige Student Makis sagt. Am Tisch wir beide und Rita, eine zwanzigjährige, sehr begabte Schauspielerin aus Thessaloniki, die in London bereits in zwei Hauptrollen spielen konnte, aber seit mehr als zwölf Monaten in Athen ohne Job gestrandet ist. Wir sitzen in einem Café und verfolgen im Fernsehen die Parlamentsdebatte über das neue Memorandum für Griechenland. Makis knabbert seine Sonnenblumenkerne und flucht ununterbrochen auf die SYRIZA-Regierung.
Tsipras sagt kurz vor der Abstimmung: „Ich hatte nur drei Möglichkeiten: 1. einen verheerenden Staatsbankrott, 2. ein für Griechenland sehr schlechtes Abkommen und 3. den von Herrn Schäuble vorgeschlagenen geordneten Grexit. Ich habe mich schweren Herzens für die meiner Meinung nach einzige gangbare Lösung entschieden: das furchtbare Abkommen.“ Ich persönlich hätte mich für die dritte Möglichkeit entschieden – den von Herrn Schäuble angebotenen Grexit –, das scheint mir sehr vernüftig und die besten Aussichten auf Erfolg für Griechenland zu haben, aber diesen Gedanken kann ich hier nicht laut äußern.

Athener Tagebuch Asteris Kutulas, Athen

Rita nimmt mich beiseite und sagt: „Ich halt es hier nicht länger aus mit diesen Griechen. Du verstehst das. Du lebst in Berlin. Hör dir deinen Freund Makis an. Das sind hier alles Taliban. Die wissen nicht, was sie wollen. Sehen die nicht, dass die deutsche Regierung unser Feind ist? Sie will uns vernichten, und Tsipras hat widerstanden.“ Ich nehme ihre Hand in meine Hände und sage: „Keiner will dich vernichten.“ Ihr steigen Tränen in die Augen, sie zieht ihre Hand zurück, stößt unsere drei Gläser vom Tisch und schreit: „Was kann ich dafür, dass ich so gut aussehe und dass mich jeder bescheuerte Regisseur und jeder bescheuerte Produzent beschlafen will? Ich will jedenfalls weder deren Plop-Love-Shots noch deren Kohle dafür. Ich will einfach arbeiten können und damit Geld verdienen. Ich werde dieses Scheißgriechenland verlassen. Taliban … Die sind alle Taliban.”

Viele Stunden nach der Abstimmung im Parlament und endlose Gespräche später nehme ich bei all meinen Bekannten und Freunden eine seltsame Mischung aus Wut und Erleichterung wahr – verbunden mit viel Trotz. Und die merkwürdige Gewissheit, die Makis so in Worte fasst: “Die deutsche Regierung hat uns geschlagen und gemartert, aber wir haben widerstanden und sind nicht besiegt.“ Und allseits die große Erleichterung, noch in der Euro-Zone zu sein – und sei es mit diesen harten Sparauflagen. Meine Tante sagt am Telefon: „Wir haben Krieg und Bürgerkrieg überstanden und auch die Juntazeit und das Kriegsrecht. Mach dir keine Sorgen um uns. Wir werden auch dieses Spardiktat noch überstehen.“

© Asteris Kutulas, 16.7.2015

(Athens Photos by © Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 15.7.2015

Die Jüngeren sind total abgeschrieben

Kurz vor der Parlamentsdebatte zum neuen Austeritätsprogramm der »Troika«. In der Innenstadt Demos. Molotowcocktails. Der Schwarze Block in Rage. Athen bleibt Athen.

In der Galerie Beton7 treffe ich Poppy. Erstaunlich, wie hartnäckig Kunst in Griechenland in diesen Zeiten der Verarmung und Hoffnungslosigkeit hervorgebracht wird. Ausstellungen, Installationen, Theaterstücke, Filme. Ohne Finanzierung, mit viel Energie und teilweise auf einem unglaublich hohen künstlerischen Niveau. Was die griechischen Autoren der letzten hundert Jahre anbelangt, so ist mir das vertraut. Einige stellten das Schreiben selbst mit erfrorenen Fingern nicht ein. Das Land hat eine Tradition in Kunstproduktion unter widrigsten Bedingungen. Diese formte sich in Zeiten von Okkupation, Krieg, Junta und Verfolgung und war jedesmal gelebter Widerstand. Auf Bedrohungen reagiert der Mensch hier oft mit Kunst.

Poppy sagt: »Was uns fehlt, sind Visionen.« Und dann: »Wir Jüngeren sind total abgeschrieben. Ist dir schon mal aufgefallen, dass im griechischen Fernsehen keine Menschen aus der Altersgruppe der Unterdreißigjährigen zu sehen sind? Wir gehören nicht zur griechischen Gesellschaft. Die da oben machen keine Politik für die Zukunft; wir sind nicht auf ihrem Radar, wir existieren gar nicht. Wir dürfen gehen. Hast du einen Job für mich in Berlin?« – »Wovon lebst du?« frage ich. Ein schnelles Schulterzucken: »Alle Vorstellungen des Nationaltheaters sind abgesagt worden. Unterrichten kann ich auch nicht mehr, weil niemand mehr Geld hat. Es verdient ja kaum einer noch was.«

Ich blinzele und frage dann grinsend: »Gibst du mir einen Kaffee aus?« Sie: »Meinem deutschen Freund immer.« Poppy bestellt an der Bar einen doppelten Espresso. Dann fährt sie fort: »Weißt du, es ist doch egal, was Frau Merkel und Herr Schäuble vorhaben. Das Problem ist, was wir tun oder was wir nicht tun, hier in Griechenland. Warum kommt kein Politiker und sagt: Passt auf, wir machen jetzt ein gerechtes Steuersystem. Alle müssen bezahlen. Nicht nur die unteren Einkommensschichten, weil die keine andere Wahl haben, sondern auch der Rechtsanwalt, der Arzt und natürlich die Großen. Das muss jetzt endlich jemand durchsetzen. So geht es nicht weiter … Stell dir vor, ein Ministerpräsident würde sagen: Wir starten ein nationales Aufbauprogramm und beginnen damit, Griechenland unabhängig zu machen von Erdöl und Erdgas und langfristig sogar erneuerbare Energie zu exportieren. Stell dir vor, was das für Auswirkungen hätte! Arbeitsplätze, Klimaschutz. Das ist Hoffnung. Unabhängigkeit. Aber keiner tut es.«

© Asteris Kutulas, 15.7.2015

(Athens Photos by © Ina Kutulas)

Athener Tagebuch, 14.7.2015 (Theodorakis & Tsipras)

Die Zukunft verschwindet …

Wenige Wolken heute, große Hitze, blendendes Licht. Fast nicht zu glauben, dass sich uns etwas erhält von dem, das immer dagewesen war, in dieser Zeit der Auflösung. Wie sagte gestern mein Dichter-Freund Alexandros: „Die Zukunft verschwindet, und sie nimmt die Vergangenheit mit. Uns Griechen bleibt dieses Jetzt, in dem die Tage sich vereinzeln und voneinander isolieren wie Kapitel eines Buchs, das auseinanderfällt.“

Überall, wo ich heute unterwegs war, die lärmenden Zikaden. Eine Klangrealität Griechenlands, Sommer für Sommer, ein von Insekten erzeugtes, sehr lautes Geräusch, das es trotz aller Oleander- und Olivenbaumkübel in Berlin nicht gibt. Man kann also nicht alles kaufen.

Ausgerechnet heute – obwohl mein Bruder, der rechts von mir saß, behauptete: „Das ist kein Zufall.“ –, ausgerechnet mitten in dieser Woche des Zorns, des Aufruhrs, der Niedergeschlagenheit, der herbeigesehnten Hoffnung: plötzlich dieses Konzert in Athen. Gestern, kurz nach meiner Ankunft, rief D. mich an und fragte: „Kommst du morgen mit? Im Herodes-Attikus spielt das Staatsorchester Mikis’ Erste Sinfonie und Axion Esti.“ Mir war völlig klar, dass nur wenige Zeit, Lust und das Geld haben würden, um in diesen Tagen in so ein Konzert zu gehen, zumal fast alle Kulturveranstaltungen abgesagt worden sind.

Ich hab mich unglaublich geirrt. Innerhalb von drei Tagen waren die fünfeinhalbtausend Tickets ausverkauft. Hunderte Menschen versuchten vergeblich, irgendwie in das Theater unterhalb der Akropolis zu kommen. In den Sitzreihen ältere Leute neben sehr jungen, sehr viele Dreißig- und Vierzigjährige und eine Menge Touristen, die sich irgendwie eine Karte besorgen konnten.

Dann kam er. Mikis Theodorakis, der in zehn Tagen 90 Jahre alt wird, im Rollstuhl langsam hereingeschoben in dieses Theater unter freiem Himmel, weißes Haar, blaues Hemd, eine große dunkle Sonnenbrille. Die Menschen riss es hoch, sie empfingen ihn. Der Klang des Jubels, der aus dem Gemurmel hervorschoss wie eine Fontäne. Das sollte an diesem Abend mehrmals passieren.

In der aufgewühlten Stimmung dieser Tage ausgerechnet diese beiden Werke. Die Musik offenbarte sich als eine kathartische Antwort auf das Gezischel beim Gipfeltreffen der europäischen Staatsoberhäupter in Brüssel und auf alles, was darauf folgte. Zu Beginn die Erste Sinfonie. Ein Mensch gegen den andern – so klingt das. Griechenland ist seit seiner Gründung ein Bürgerkriegsland. Im 19. Jahrhundert die Anhänger der Russischen Partei gegen die Anhänger der Französischen Partei. Die Anhänger des Katharevusa-Griechisch gegen die Anhänger der Volkssprache Dimotiki. Später die Monarchisten gegen die Venizelisten/Republikaner. Die Nationalisten gegen die Kommunisten im Bürgerkrieg. Die Sozialisten der Zentrums-Union gegen die Konservative ERE-Partei. Die PASOK-Anhänger gegen die Neue-Demokratie-Anhänger. Wenige entzogen sich dieser Entweder-Oder-Bürgerkriegsideologie. Hauptvertreter dieser Wenigen war Mikis Theodorakis.

Die Erste Sinfonie, 1948/49 mitten im Bürgerkrieg komponiert, ist zweien seiner Freunde gewidmet, die in den unterschiedlichen Lagern gekämpft hatten und zu Tode kamen.

Im bipolaren Herrschaftssystem Griechenlands waren solche Sätze wie „Wir alle sind Griechen.“ und „Wir sollten uns nicht gegenseitig zerfleischen.“ außerordentlich rar und suspekt. Thedorakis, weil er so sprach und weil ihn „Parteigrenzen“ nie interessierten, war suspekt.

Seine Musik heute Abend für fünfeinhalbtausend Menschen die Katharsis. Es ist ihre eigene Musik, eine Offensive, eine poetische Befreiung aus dem Würgegriff „Brüssels“ und der „griechischen Politik“. Nimm dem Menschen die Luft – er wird darum ringen. In der Pause sagte einer feixend: „Ha! Wir hier drinnen gehören zu den Begnadeten. Wir sind die Fünfeinhalbtausend, die das einatmen dürfen, während die andern vor den Fernsehern sitzen und sich anhören müssen, was Tsipras zu sagen hat nach seiner Kreuzigung.“

Dann „Axion esti“ (Lobgepriesen sei), das Oratorium auf der Grundlage einer Gedichtkomposition, für die der Dichter Odysseas Elytis 1979 den Literaturnobelpreis erhalten hat – eine ganz andere Art von „Nationalhymne“. Loukas Karytinos dirigiert, George Dalaras singt. Die Menschen auf den Rängen mit sich eins.

Athener Tagebuch 2015 Theodorakis Asteris Kutulas
Alexis Tsipras im griechischen TV

Als ich nach Hause komme, läuft der Fernseher. Stamatia, die Freundin meiner Mutter, die gerade zu Besuch ist, sagt den Satz: „Er hat sich mehrmals entschuldigt.“ Tsipras hat im griechischen Fernsehen gerade die erste Pressekonferenz nach der Einigung mit der EU gegeben. „Er hat sich mehrmals dafür entschuldigt, dass er nicht einhalten konnte, was er versprochen hatte; er hat gesagt, dass es für Griechenland ein schlechtes Abkommen ist – und für Europa. Dass ihm aber keine andere Wahl gelassen wurde, als das so zu akzeptieren. Und er hat es schweren Herzens akzeptiert.“ – „Und was sagst du jetzt dazu?“, frage ich. Meine Mutter dreht sich abrupt zu mir, sieht mich an und meint: „Es hat sich noch nie ein Premierminister bei uns entschuldigt. Noch nie. Die andern hätten hundertmal mehr Grund dazu gehabt. Weißt du was: Der sollte Ministerpräsident bleiben. Der ist der Einzige und der Erste, der den Oligarchen wirklich an den Kragen könnte.“

In den Nachrichten überschlagen sich die Kommentatoren.

© Asteris Kutulas, 14.7.2015 (Athener Tagebuch 2015 Theodorakis)

(Cover photo des Artikels Athener Tagebuch 2015 Theodorakis: Mikis Theodorakis & Asteris Kutulas, Gewandhaus Leipzig, Axion esti Probe, 1983)

Athener Tagebuch, 13. Juli 2015 (Hinflug)

Die Stadt hält die Luft an

Mir scheint, vieles ist anders als sonst. Athen verändert sich in kurzen Abständen, als gingen Wellen darüber. Lisa sagte vor vierzehn Tagen auf der Schönhauser Allee in Berlin: „In den letzten fünf Jahren bekamen wir in Griechenland jedes halbe Jahr einen Schock. Ich fühle mich, als hätte ich statt des Herzens einen Elektroschocker in meinem Körper, der von irgendwo außen ab und an betätigt wird.“

Auf dem Herflug in der ausgebuchten Maschine nach Athen eine befremdliche Atmosphäre an diesem Tag 1 nach der erneuten Brüsseler „Griechenland-Rettung“. Nachdem wir die angepeilte Flughöhe von 10.000 Metern erreicht haben, fragt mich meine Sitznachbarin, eine junge Frau: „Sie sind doch Grieche – oder? Werd ich in Griechenland als Deutsche Probleme haben?“ Und meine 76-jährige Mutter, die mich mit ihrem alten Skoda vom Flughafen abholt, will als erstes wissen: „Sag mal, was denken denn die ganz normalen Leute in Deutschland über uns? Hassen die uns auch alle so sehr wie Herr Schäuble? Wollen die sich auch an uns rächen, für irgendwas?“

Es ist seltsam still in Athen, als würde die Stadt die Luft anhalten. Ich bin unterwegs, um Freunde am Exarchia-Platz zu treffen. Die U-Bahn ist voll. Die Menschen eigenartig ruhig. An den Fahrkarten-Entwerterautomaten leuchtet es in Rot: Außer Betrieb. Weil die Banken geschlossen bleiben, hat die Regierung verfügt, dass in Athen bis auf weiteres alle Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos sind.

Am Exarchia-Platz, dem Treffpunkt der Athener Anarchisten-Szene, setze ich mich ins Café „Flora“. Stefanos P. kommt. Er erzählt, dass er vor kurzem arbeitslos geworden ist. Siebeneinhalb Jahre war er bei einer Druckerei beschäftigt. Jetzt bekommt er ein halbes Jahr lang monatlich 360 Euro Arbeitslosengeld. Danach nichts mehr. Stefanos ist außer sich, weil Tsipras in Brüssel „eingeknickt“ ist. „Das hätte er nicht unterschreiben dürfen“, sagt Stefanos erregt. „Es hilft Griechenland ja nicht, sondern so wird Griechenland unterjocht.“ Ich frage ihn, wie er überhaupt mit 360 Euro überleben kann. Er antwortet: „Frag mich lieber nicht. Ich muss mich irgendwie durchschlagen.“

Im Café Leere. Das Aircondition läuft, aber heute ist es nicht heiß. Ich schau kurz nach draußen. Auf dem Platz viele Menschen. Darunter drei, vier Männer, die lauthals gestikulierend in ihre Handys rufen. Stefanos bemerkt das und sagt: „Die bereiten den Aufstand vor. Am Mittwoch oder Donnerstag wollen zehntausend Anarchisten und etliche Linke gegen die Regierung protestieren. Dem müssten dann noch viele andere Menschen folgen und einen Generalstreik ausrufen.“ – „Und was passiert dann?“, frage ich. „Wir dürfen Tsipras das nicht durchgehen lassen. Wir haben beim Referendum ja nicht ohne Grund mit Nein gestimmt. Wir müssen Widerstand leisten.“ Dann schaut er auf die Uhr. Er reicht mir die Hand und verlässt das Café. Wolken am Himmel.

Zwanzig Minuten später kommt Alexandros. Er ist ein Dichter-Freund und arbeitet als Journalist. Wir haben uns lange nicht gesehen. „Weißt Du, was ich gerade mache?“, fragt er mich. „Ich übersetze gerade Texte eines ostdeutschen Autors. Wolfgang Hilbigs ICH – diesen Stasi-Roman.“ Alexandros bestellt einen Frappé und sagt unvermittelt: „Frau Merkel müsste doch eigentlich verstehen, was hier passiert! Dass das Volk auf die Barrikaden geht.“ Er streicht sich über den Nacken. „In Leipzig sind die doch auch damals auf die Straße gegangen. Und die hatten sogar was zu verlieren! Die hatten Arbeit, Wohnung, Essen war billig, Schule, Krankenversorgung. Und trotzdem hat’s denen gereicht. Die gingen auf die Straße ohne Plan, ohne Anführer. Mit vollem Risiko. Die haben irgendwelche Sätze gerufen. Wie war das …? Wir bleiben hier! Wir sind das Volk! Denen war klar, dass in ihrem Land Unrecht geschieht. Die hatten zu essen, aber sie hatten Hunger nach Freiheit. Wir haben auch so gefühlt und beim Referendum mit diesem Nein reagiert. Viele hier verstehen nicht, wie Frau Merkel, die doch aus Ostdeutschland kommt und das alles mitgemacht hat, für unsere Situation so wenig Verständnis hat und so knallhart bleibt.“

Versehentlich fegt Alexandros die Tasse vom Tisch, als er seine Worte mit einer schnellen Handbewegung unterstreicht. Der Rest vom Kaffee spritzt auf den Boden. Alexandros greift nach einer Serviette und sagt: „Das war die Hand von Frau Merkel, die uns vom Tisch kriegen muss. Die erwartet von uns etwas, was sie selbst nicht für sich gewollt hat damals in der DDR, als sie so alt war, wie wir jetzt. Wer soll das verstehen?“ Er schaut mich zweifelnd an. Ich als „deutscher Grieche“ müsste ja eine Antwort darauf haben.

Asteris Kutulas Wahl-Tagebuch 2015
Athens by night

Es ist 23.11 Uhr. Ich fahre mit der U-Bahn zurück bis zur Station in dem Viertel, in dem meine Mutter wohnt. Mein erster Tag in Griechenland geht zuende. Viele Fragen offen.

© Asteris Kutulas, 13.7.2015 | Photos by © Ina Kutulas

Herr Tsipras, verändern Sie endlich Griechenland!

Sehr geehrter Herr Tsipras,

bitte nehmen Sie den gestrigen Vorschlag von Herrn Schäuble auf und lassen Sie uns sofort den Euro verlassen. Eine bessere Gelegenheit hat es dafür in den letzten 5 Jahren nicht gegeben! Wir haben keine Chance innerhalb der Eurozone zu recovern. Das bisherige Argument, dass ein ungerodneter Grexaccident ins Chaos führen würde, gilt seit dem gestrigen Vorschlag des deutschen Finanzministers nicht mehr. Darin verspricht er finanzielle Unterstützung, humanitäre Hilfe und technischen Beistand bei der Wiedereinführung der Drachme – und das alles innerhalb der Eurozone (wie die anderen 10 Euroländer, die keinen Euro haben.).

Herr Tsipras, Griechenland ist bankrott, korrupt und nicht mehr souverän – Sie und SYRIZA sind NICHT dafür verantwortlich. Jetzt haben Sie die einmalige Chance, Griechenland radikal zu ändern und zu reformieren. Tun Sie es!

Asteris Kutulas

85% der unter 24-jährigen haben mit NEIN gestimmt

Die junge lost generation in Griechenland hat nichts zu verlieren – sie ist bereits von der Gesellschaft abgeschrieben, sie hat keine Perspektive – ausser das Land zu verlassen -, ist von Massenarbeitslosigkeit (zwischen 50 und 60%) betroffen, sie taucht nicht auf in den Sozialsystemen der Staates, sie hat keine Chance auf irgend eine Rente, sie ist nicht präsent in den griechischen Massenmedien, die zu über 90% den griechischen Oligarchen gehören. UND SIE HAT KEINE SCHULD AN DER MISERE, MUSS SIE ABER TÄGLICH AUSBADEN. Wie drückte es ein 17-Jähriger Anarchist mir gegenüber aus: „Unsere Eltern haben uns den Krieg erklärt – jetzt kriegen sie ihren Krieg.“

85% der unter 24-jährigen haben mit NEIN gewählt. Die griechischen Machteliten haben in den letzten 20 Jahren eine Scorched-Earth Policy gegenüber der jungen Generation durchgezogen, die seit 2008 dagegen immer wieder aufbegehrt. Alles, was aus den Mündern von Samaras, Venizelos, Voridis, Bakojanni etc. ertönt, erscheint ihnen als hohle Phrasen, diese Clique als das personifizierte Scheitern, das personifizierte „Übel“. – Und sie können einfach nichts anfangen mit den „europäischen Botschaften“, die sie aus Brüssel oder Berlin erreichen, da es ihnen „übersetzt“ wird von genau diesen griechischen „Loosern“, der „alten Politikerkaste“, der „korrupten Mafia der Bankrotteure“, der „alten Garde des Klientelismus“. Das sind einfach die falschen Verbündeten für Europa. (Nach dem Mauerfall wollte auch keiner mehr mit Krenz oder Schabowski zusammenarbeiten.)

Die jungen Leute in Griechenland leben seit 5 Jahren ein gesellschaftliches Desaster, für das sie nicht verantwortlich sind. Das „System Griechenland“ der letzten 30 Jahre hat sie geopfert.

Jetzt muss die Tsipras-Regierung liefern

Das NEIN hat gewonnen. (Und zwar mit einem Riesenvorsprung.) Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Bei diesem Terror fast der gesamten griechischen (und deutschen) Presse gegen die Tsipras-Regierung, bei diesen Armaggedon-Drohungen der Opposition, bei dieser immensen finanziellen Unterstützung des JA-Lagers, bei diesen Untergangs-Prophezeiungen des gesamten europäischen Establishments, bei diesem Wahl-Boykott der Kommunistischen Partei (die immerhin 8% Wählerstimmen hat) und vor allem unter der Fuchtel geschlossener Banken, drohender Pleite und unter der Prämisse, dass KEINER wusste/weiss, was der nächste Tag bringen wird: RESPEKT! RESPEKT! Vor allem die letzten Punkte zeigen, dass es vielen Griechen um mehr ging, als nur um Geld. Und umso schwerer wiegen die 61%. Aber trotzdem, wie ich gestern schrieb: WIR SIND ALLE GRIECHEN, lasst uns jetzt endlich unsere Hausaufgaben machen! Wir müssen endlich unser Land umkrempeln. Und jetzt muss die Regierung liefern. Ich stimme mit ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID überein, die vorhin im Wiener STANDARD schrieb: Die „griechische Regierung muss ihren Plan vorlegen, wie sie die Zukunft des Landes aktiv gestalten will. Wer etwas von anderen will, muss sich dann auch an Vereinbarungen halten. Reformen sind in vielen Bereichen notwendig. Nur Nein zu sagen reicht nicht – weder in Brüssel noch in Athen.“

Egal, was ihr wählt – wir sind alle Griechen!

Ich bin vorhin gefragt worden, was ich morgen wählen würde. Leute, egal, was ihr wählt, egal, was ihr denkt und fühlt: GEHT MORGEN WÄHLEN! Jedes JA, jedes NEIN ist besser, als nicht zu wählen. Morgen geht es meiner Meinung nach zunächst einmal um unser Selbstbestimmungsrecht, und es geht morgen auch um ein Zeichen dafür, dass wir die Volksabstimmung als „Institution“ stärken und diese uns für die Zukunft erhalten. Egal, wer diese Volksabstimmung gewinnt, die Demokratie gewinnt morgen auf jeden Fall, und somit gewinnt jeder von uns. Ich finde das toll. Denn das Wichtigste, was in den letzten Monaten passiert ist – und das kann uns keiner nehmen: Millionen von Griechen sind „aufgewacht“, haben gestritten, gelitten, haben „nachgedacht“, haben Widerstand geleistet oder sich „ergeben“, haben Hoffnung geschöpft oder resigniert. Ein unglaublich dynamischer, gesellschaftlicher Diskurs ist in Gang gekommen, natürlich vor allem in Griechenland (wo es so etwas lange Zeit nicht mehr gegeben hat), aber auch in Europa und sogar weltweit. Wie schrieb Jürgen Habermas anerkennend vor einigen Tagen: die Griechen haben „Sand ins Brüsseler Getriebe gestreut“. Egal, was morgen bei dieser Abstimmung herauskommt: Wir haben so oder so Geschichte geschrieben – und wir sind ALLE Griechen.

4.7.2015

Die griechische Krise und meine Liebe zu Deutschland

5 JAHRE GEGENSEITIGES DEUTSCH-GRIECHISCHES BASHING SIND GENUG! //

Ich schätze das Leben in Deutschland sehr, und ich schätze die Deutschen und ihre funktionierende Zivilgesellschaft – etwas, das wir in Griechenland nicht haben (eines unserer größten Probleme). Meine Seele ist zwar „griechisch“ durch und durch, aber mein Geist ist „deutsch“, und der liebt Bach und Mahler, Schubert, den Dresdner Kreuzchor, Schopenhauer, Hölderlin, Immanuel Kant, Hermann Hesse, Thomas Mann, Caspar David Friedrich, Gerhard Richter, Max Beckmann, Hannah Höch, Siegmar Polke, Joseph Beuys, Käthe Kollwitz, August Sander, Paul Celan, Martin Walser, Heiner Müller, Volker Braun, Christa Wolf, Wim Wenders, Adolf Endler, Hans Magnus Enzensberger, Bertold Brecht, Marlene Dietrich, Ernst Bloch, Hanns Eisler, Udo Lindenberg, Klaus Kinsky, Konstantin Wecker, Peter Stein, Pina Bausch, Wolf Biermann, Hannah Arendt, Rainer Werner Fassbinder usw. usf. – und ich liebe all meine zur Zeit etwas „diffusen“ deutschen Freunde.

Egal, was die Regierenden machen und wie sich einzelne Politiker und Journalisten verhalten, egal, wie zum Teil menschenverachtend die Bild-Zeitung gegen uns „gierige Griechen“ hetzt und uns in ihren Veröffentlichungen zu Bürgern Zweiter oder gar Dritter Klasse degradiert – denkt daran: Diese Journalisten sind nicht „Deutschland“. Viele Menschen in Deutschland schätzen uns Griechen, genauso wie wir Griechen Deutschland lieben. Vergeltet also nicht Gleiches mit Gleichem, selbst nicht in diesen Augenblicken „höchster Not“. Wir Griechen in Deutschland sind „Botschafter“ und „Über-Setzer“ zwischen den beiden Nationen; und gerade jetzt, da die deutsch-griechischen Beziehungen auf einem solchen Tiefpunkt angekommen sind, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie erlebt haben, sollten wir dementsprechend handeln und für Ausgleich sorgen… Kritisieren – ja, streiten – ja, parodieren – ja, aber nicht beleidigen, nicht herabsetzen, nicht entwürdigen. Wir sollten die Möglichkeiten des Dialogs und der Streitkultur ausschöpfen, sie aber niemals zerstören (auch wenn das schwer fällt).

Gert Hof, ein guter Freund, der leider vor ein paar Jahren den Kampf gegen den Krebs verloren hat, sagte immer: „Asteris, egal, was passiert ist, such den Fehler erst einmal bei dir.“ Darum sollten wir Griechen bei uns selbst anfangen – eine Prämisse, die mir so wichtig ist, dass ich mich gern selbst zitiere: Das derzeit für mich Erschreckende ist nämlich, dass ich beim Disput zwischen uns Griechen (sowohl in Griechenland als auch in der Diaspora) erlebe, welcher Dogmatismus herrscht, welche verbalen Erniedrigungen einander zugefügt werden, welcher Starrsinn noch immer besteht, welches Beharren darauf, dass die Ansichten eines anderen nichts wert sind, Schwachsinn oder Gedanken eines „Feindes“ oder gar „Verräters“. Die Zeiten des Bürgerkriegs und der „unnatürlichen Entzweiung“ sind längst vorbei, dachte ich, und vieles sei inzwischen anders, besser, offener. Dass es inzwischen selbstverständlich sein müsste, einander zuzuhören und tolerant zu sein. Dass inzwischen klar geworden sei, dass die politische und die emotionale Entzweiung der Griechen das Immunsystem des Landes geschwächt und zu zerstören begonnen haben. Dass dieser Prozess nicht weitergetrieben werden sollte. Dass jeder Einzelne sich dem verweigern müsste.

Ich hätte nie gedacht, dass nach so viel Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten, nach so viel Zeit, in der wir nicht unter Gewehrfeuerbeschuss waren, in der keine Bomben fielen, in der Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden, nach so viel Zeit, die uns gegeben war, um Abstand zu gewinnen, in uns zu gehen, tiefer zu sehen, unsere Ansichten auszutauschen, … dass nach so viel Zeit trotzdem so viel gegenseitige Verachtung, Abschätzigkeit und Hass herrschen und das Haar in der Suppe gesucht wird, während unser Land, Griechenland, das Land, das wir alle so nötig haben, den schlimmsten Niedergang seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und damit ein Verlust von Heimat stattfindet, der vor allem einen Verlust unserer kulturellen Identität und zugleich unserer „Menschlichkeit“ bedeutet. Griechenland wird nicht in einen politischen Dialog mit anderen Ländern kommen können, solange uns Griechen das nicht einmal im eigenen Sprachraum gelingt.

Unsere Freunde hier in Deutschland, unsere Kollegen und Nachbarn sind uns verbunden, weil sie uns als Philanthropen kennen und neben unserem Humor auch unsere Ernsthaftigkeit mögen (glaube ich jedenfalls). Wenn ich eingangs von der deutschen Zivilgesellschaft schrieb, die ich so sehr schätze, dann vor allem wegen der hier gelebten Meinungsfreiheit, die es ermöglicht, Kontroversen zu führen, einander zu kritisieren, ohne dass damit unweigerlich abgrundtiefe Verachtung, nicht endende Feindschaft und ein nicht enden wollendes Einander-Schlechtmachen oder so etwas wie „politische Sippenhaft“ einhergehen. Es ist mir in Deutschland wohl nie passiert, dass jemand an jemandem Kritik äußerte und im gleichen Atemzug erwähnte, aus welcher Familie der von ihm Kritisierte kommt, welcher Partei der Vater nahe steht, der Bruder usw. usf. Ich habe es leider aber sehr sehr oft erlebt, dass wir Griechen das sehr stark thematisieren und dass daraus niemals etwas Konstruktives resultierte. Wie viele wunderbare Projekte sind daran gescheitert … Für mich ist das die Fortsetzung des Bürgerkriegs – denn das war im Interesse der Machteliten unseres Landes auch in den letzten 40 Jahren -, der dadurch nie aufgehört hat, sondern unser Denken offensichtlich weiter bestimmt. Die Debatten in Deutschland empfinde ich dagegen oft als eine Wohltat, denn hier gibt es eine Welt auch neben und unter jener der „kalten Machtpolitik“. Lasst uns dort ansetzen und mit friedensfördernden Maßnahmen beginnen… Wir müssen die Trümmer des Krieges beiseite räumen – vielleicht endet er dadurch schneller.

Gottfried Bräunling und Asteris Kutulas
Gottfried Bräunling: Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen

Über Leichen …

Obwohl Frau Merkel und die deutsche Regierung bislang für die unglaubliche humanitäre Katastrophe in Griechenland nicht (oder nur teilweise) verantwortlich sind – dafür haben die griechischen Eliten, Politiker und Oligarchen die letzten Jahrzehnte schon selbst gesorgt -, so gehen sie doch ab jetzt „über Leichen“ in Griechenland.
So werden Frau Merkel, Herr Gabriel, Herr Schäuble & Co. in die Geschichte eingehen: als gnadenlose Machtpolitiker, die das Wohl der Banken (was nicht nur symbolisch gemeint ist) über das Wohl von Kindern, Jugendlichen und einer jahrelang „terrorisierten“ Bevölkerung stellen.
Das heutige „Europa“ ist mir egal (und hat sich wohl erübrigt), aber dass aufgrund einer konkreten Politik in den letzten Jahren Menschen tagtäglich sterben und die Demokratie ausser Kraft gesetzt wird (was Hand in Hand geht) – und dass das alles von unseren „europäischen Freunden“ wie selbstverständlich hingenommen wird – ist meiner Meinung nach monströs und offenbart, was uns die Zukunft wirklich bringen wird. 

Wir Griechen der Diaspora …

Zum 10jährigen Bestehen von EXANTAS und vor allem der gleichnamigen berliner deutsch-griechischen Zeitschrift …

Ich gehöre nicht mehr zur jüngeren Generation – obwohl die Übergänge fließend sind – und noch nicht zur so genannten alten, obwohl auch hier die Übergänge fließend sind. Und in diesem fließenden Prozess verstand ich mein Wirken, und das zusammen mit meiner Frau Ina, immer als ein Kontinuum.

Viele meiner Künstler-Kollegen haben im Bruch mit der Tradition ihre Bestimmung gesehen und ihre Möglichkeit, voranzukommen, was ich nachvollziehen kann. Ich dagegen fühlte mich immer und fühle mich bis heute zugehörig dem Griechenland- und Kunst-Verständnis eines Kavafis, Cacojannis, Seferis, Theodorakis, Ritsos, Chatzidakis, Kunduros, Anagnostakis, Angelopoulos, Tsarouchis, Mikroutsikos, Gavras, Elytis etc. – einem Verständnis, welches beinhaltet, dass sich das bzw. mein Griechisch-Sein über die griechische Sprache und die griechische Kultur definiert. Genau das ist für mich „Heimat“, mein „Land“, meine „Landschaft“. Von hier aus kann ich zurück in die Historie schauen, bis in die Antike und noch weiter zurück in die dunklen Jahrhunderte der chtonischen Zeit vor 1400 v.Chr., und zugleich in die Zukunft, die unsere Gegenwart ist, und in die andere Zukunft, die wir noch nicht kennen.

Aus meiner eigenen Erfahrung als Herausgeber zweier Zeitschriften zwischen 1988 und 1991 weiß ich, wie schwer es ist, streitbar, aber nicht unseriös, kritisch, aber nicht beleidigend, spannend, aber nicht „billig“ zu sein. Diesen Spagat und diese Versuchungen kenne ich gut.

Letztendlich halte ich genau das für das Beste, was möglich ist und wofür ich stets eingetreten bin: eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit, die die Möglichkeiten des Dialogs und der Streitkultur ausmachen. Das derzeit für mich Erschreckende ist nämlich, dass ich in der Diskussion zwischen Griechen (auch der Diaspora) erlebe, welcher Dogmatismus herrscht, welche verbalen Erniedrigungen einander zugefügt werden, welcher Starrsinn noch immer besteht, welches Beharren darauf, dass die Ansichten eines anderen nichts wert sind, Schwachsinn oder Gedanken eines „Feindes“ oder gar eines „Verräters“. Denn die Zeiten des Bürgerkriegs und der „unnatürlichen Entzweiung“ sind ja eigentlich vorbei und vieles inzwischen anders, besser, offener. Weil das Einander-Zuhören wichtig geworden sein müsste, die Toleranz. Weil inzwischen klar geworden sein müsste, dass die politische und die emotionale Entzweiung der Griechen das Immunsystem des Landes schwächten und zu zerstören begonnen haben. Dass dieser Prozess nicht weitergetrieben werden sollte. Dass jeder Einzelne sich dem verweigern müsste.

Ich hätte nie gedacht, dass nach so viel Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten, nach so viel Zeit, in der wir nicht unter Gewehrfeuerbeschuss waren, in der keine Bomben fielen, in der Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden, nach so viel Zeit, die uns gegeben war, um Abstand zu gewinnen, in uns zu gehen, tiefer zu sehen, unsere Ansichten auszutauschen, … dass nach so viel Zeit trotzdem so viel gegenseitige Verachtung, Abschätzigkeit und Hass herrschen und das Haar in der Suppe gesucht wird, während unser Land, Griechenland, das Land, das wir alle so nötig haben, den schlimmsten Niedergang seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und damit ein Verlust von Heimat stattfindet, der vor allem einen Verlust unserer kulturellen Identität und zugleich unserer „Menschlichkeit“ bedeutet.

Ich möchte nicht so weit gehen wie Giorgos Seferis, der am 5.1.1938 in seinem Tagebuch notierte: „Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das „Griechentum“ denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen“, um fast zwei Jahre später sein Leiden an Griechenland noch extremer zu formulieren: „Das, was sich am massivsten bemerkbar macht, ist dieses Faulende, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen … raushängende Zunge, schlaue, erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe es sich noch leben?“ (27.11.39)

Es ist wichtig, dass wir Griechen der Diaspora uns positionieren: als Griechen der Diaspora.

Griechen der Diaspora von Asteris Kutulas
Graffiti Athens (Photo © by Ina Kutulas)

EXANTAS ist eine jener „exterritorialen Vereine“, die ich als Sprachrohr wahrnehme, als ein Medium für eine solche „Heimat“ – für uns Griechen in der Diaspora.

Es ist diese Energie, die ich mir immer wünsche. Eigentlich: dieses Konglomerat, bestehend aus Energie, Konzentration und Arbeit. Viel Arbeit. Heraus kommt dann solch eine Publikation wie die Zeitschrift EXANTAS.

Also, Exantas-Team, macht weiter so! Auf See vergeht die Zeit sehr langsam; an Land weiß man nicht, wo sie geblieben ist.

© Asteris Kutulas – mit einem Beitrag von Ina Kutulas, Juni 2015

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Ein Aroma von Heimat
Die griechische politische Diaspora in den sozialistischen Ländern – von Ina Kutulas

Griechen kamen im 20. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland – als Gastarbeiter in den 60ern und 70ern, als politische Flüchtlinge während der Zeit der Junta (1967 bis 1974 ), während des Ersten Weltkriegs nach Görlitz (1916) und als Deportierte während des Zweiten Weltkriegs.

Eine besondere Geschichte haben die mehr als 1.200 zumeist Kinder, die als Flüchtlinge nach dem Ende des Bürgerkriegs 1949 in die damalige DDR kamen.

Das Schicksal dieser Bürgerkriegsflüchtlinge soll der Dokumentarfilm „Ein Aroma von Heimat“ thematisieren und den Blick öffnen für ein tragisches Schicksal der jüngeren, noch nicht sehr weit zurückliegenden Geschichte, für eine Epoche, deren Ereignisse und Folgen ursächlich zur gegenwärtigen Krisen-Situation Griechenlands beigetragen haben.

Der Bürgerkrieg (1946-49) verursachte einen tiefen Riss, welcher sich in der griechischen Gesellschaft auftat, die noch schwer litt an den Folgen des Terrors und der grausamen Verbrechen der Wehrmacht und der SS, die während des Zweiten Weltkriegs verübt worden waren. Zehntausende Tote, eine total zerstörte Wirtschaft, zwischenmenschliche Tragödien. Der Bürgerkrieg ließ den Menschen keine Atempause, während anderswo in Europa der Wiederaufbau begann. Der in Griechenland provozierte und geschürte Bürgerkrieg ließ Feindeslinien entstehen, die mitten durch Familien verliefen, nicht selten zwischen dem einen Bruder und dem anderen Bruder. Es war ein Kampf zwischen Linken und Rechten, zwischen Ost und West.

Der Kalte Krieg, der umschlug und in Griechenland auf Leben und Tod geführt wurde, war 1949 Auslöser für einen Exodus von 56.000 griechischen im Widerstand aktiven Partisanen, die mit ihren Familien in den sozialistischen Ländern Asyl fanden. Sie wurden – entsprechend einer Abmachung zwischen den so genannten sozialistischen Bruderparteien – nach einem „Schlüssel“ auf verschiedene Länder verteilt. Eine „politische Diaspora“, einmalig in dieser Art in der neueren Geschichte Europas.

12.000 Griechen fanden Aufnahme in der Sowjetunion, die meisten davon in Taschkent, 9.000 in Rumänien, 12.000 in der Tschechoslowakei, 11.5000 in Polen, 7.300 in Ungarn, 3.000 in Bulgarien, 1.100 in der DDR.

Die Besonderheit: In die DDR kamen vor allem griechische Kinder in Begleitung einiger Lehrer und erwachsener Betreuer. Die meisten von ihnen wurden untergebracht in Radebeul bei Dresden, einige auch in Leipzig, Erfurt, Zwickau, Chemnitz, Magdeburg, Brandenburg, Berlin, Saßnitz. Auf das Schicksal dieser in der DDR aufwachsenden griechischen Kinder, die später eine Berufsausbildung machten oder studierten, arbeiteten und Familien gründeten, konzentriert sich der Film.

Es waren 1.200 Einzelschicksale – Menschen, die über lange Zeit jedes neue Jahr begrüßten mit dem sehnsuchtsvollen Silvester-Spruch: „Und nächstes Jahr in der Heimat“.

1.200 Einzelschicksale in einer „Zwischenwelt“. 1.200 Menschen, die lebten mit dem Bild von einer Heimat, die es so nur in der Vorstellung, niemals aber in der Realität geben konnte, mit dem Traum von einer „neuen“ eigentlichen Heimat, was diese Menschen jedes Jahr hoffen ließ, ihr „Übergangszuhause“ endlich verlassen zu können

1.200 Menschen, die aus einem von Krieg und Bürgerkrieg zerrütteten Land hatten fliehen müssen, oft das Stigma der Niederlage im Rücken, die ihnen von Funktionären eingeflößte Hoffnung einer nahenden Rückkehr im Sinn, angekommen dort, von wo kurz vorher der Zweite Weltkrieg ausgegangen war und wo vieles noch in Trümmern lag.

Die Geschichte dieser griechischen Kinder in den DDR-Städten lässt – wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet – die europäische und speziell auch die deutsche Nachkriegsgeschichte sichtbar werden. Im Film sollen Menschen zu Wort kommen, die einerseits Opfer der Ideologien und des Kalten Krieges geworden waren, von denen jeder Einzelne andererseits aber auch „seines eigenen Glückes Schmied“ war, je nachdem, welche Entwicklung er in der DDR nahm. Nicht wenige von ihnen sind heute sogar der Meinung, dass sie in Griechenland selbst vermutlich nie eine so gute Ausbildung erhalten und z.B. nie so viel klassische Musik gehört hätten, nie so oft ins Theater oder in die Gemäldegalerie gegangen wären.

Zeitzeugen, Dokumente, die Orte in der DDR, wo „die Griechen“ damals lebten, lernten und arbeiteten, Freunde, Rückkehrer, Hiergebliebene, Familiengeschichten, die nächste Generation – es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich auf besondere Art und Weise aus den ganz privaten Geschichten ablesen lässt.
Die aktuelle, höchst kritische und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch sehr angespannte Situation Griechenlands lässt den grausamen Bürgerkrieg und dessen Folgen als eine der Ursachen für die derzeitigen Zustände erkennen. Dieses Trauma ist nicht nur eines der damals unmittelbar Betroffenen, sondern es ist eines, dessen Auswirkungen gegenwärtig im auch eklatanten Erstarken rechtsradikaler Kräfte sichtbar werden. Die Wunden haben sich niemals geschlossen, die Thematik wurde nur ansatzweise aufgearbeitet, viele der Feindschaften blieben bestehen und treten jetzt wieder offen zutage.

Diese Erkenntnis ist überraschend und über diese Umstände kaum etwas bekannt, aber der kaum noch wahrnehmbare Gegenwartsbezug ist trotzdem deutlich. Eine Geschichte aus dem Kalten Krieg, die ins Heute führt.

Ina Kutulas

„Sie hat einen Namen: Sie heißt Warwara Argiriou. Sie war meine Mutter.“ Von Petros Argiriou, ihrem Sohn

Ich habe die Auflistung derer, die sich wegen der Krise das Leben genommen haben, nicht mehr weitergeführt. Aber ich bin mir absolut sicher: seit gestern steht dort + 1. Ich bin mir dessen absolut sicher, denn dieses + 1, das zur Rechnerei des Todes hinzugekommen ist – das war … meine Mutter.
Ich habe mich von meinen Eltern emotional sehr früh abgenabelt, weil sie das System unterstützt und mich darauf vorbereitet haben, wie das in allen Haushalten zu der Zeit der Fall war.
In meinen Augen (denen eines Teenagers), war die emotionale Abnabelung von meinen Eltern ein titanischer Kampf gegen das System, das ich von kleinauf als deformiert und korrupt wahrgenommen hatte, ohne dass irgendwelche giftzüngigen politischen Kräfte mich hätten erst noch indoktrinieren und dazu erziehen müssen, gegen dieses System zu sein.
Natürlich, im gleichen Maße, wie ich recht hatte, hatte ich auch unrecht. Denn meine Eltern waren, wie Millionen andere Eltern auch, einfache und gutgläubige Menschen, sie waren gefangen in der Kredit-Konsum-Schulden-Falle ihrer Zeit. Ein tödlicher Irrtum für sie und meine Generation und für etliche Generationen, die noch kommen werden – doch es war ein Irrtum, der auf Unwissenheit beruhte.
Genau wegen dieser meiner frühzeitigen Abnabelung und weil ich mich von allen Eltern-Stereotypisierungen freigemacht habe, kann ich Ihnen ganz objektiv sagen:
Meine Mutter war eine Heilige. Wann immer sie eine Notsituation erkannte, nahm sie sich dieser Angelegenheit an. Sie verbrachte Jahre in den Krankenhäusern der Erniedrigung und des Leids als freiwillige Krankenbetreuerin und als Seelendoktor für Dutzende von Verwandten und Bekannten und Unbekannten.
Sie umarmte jedes Kind, das ihren Weg kreuzte. Ihre Seele ließ nicht den kleinsten Makel erkennen, nicht die geringste Arglist. Die grenzenlose Liebe meiner Mutter war das „Bindemittel“ unserer Familie.
Immerzu rastlos – ein so lebendiges Wesen hatte meine Mutter, dass sie darin all ihre Kinder übertraf.
Ohne zu jammern hat sie so viele Kreuze getragen. Nie beklagte sie sich wegen irgendetwas. Sie verlangte nichts für sich. Alles für die anderen.
Warwara für alle – und niemand für Warwara. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, um Hilfe zu bitten.
Die letzten Jahre waren ihre schwierigsten – selbst, nachdem sie schon so viel durchgemacht hatte.
Die Krise hielt auch in ihrem Leben, in ihrem Haushalt Einzug. Eine Zukunft für ihre drei Kinder, die alle studiert hatten, nicht in Sicht. Die Rente ihres Ehemannes radikal gekürzt. Ihre eigene Rente, die sie hart erarbeitet hatte und bis zum Schluss bekam, wurde um mehr als die Hälfte gekürzt. Eine Rente – geraubt von diesem Politiker-Lumpenpack.
Jeden Tag Vaters Klagen. Der Druck unerträglich. Der Psychoterror der Medien, der ständig darauf abzielte, uns dazu zu bringen, dass wir uns mit dem massenhaften Raub unseres Eigentums, unserer Würde, unseres Lebens abfinden würden.
Mutter lud sich eines jeden Kreuz auf. Sie arbeitete ohne Unterlass im Haushalt, auch nachts. Sie war unnachgiebig sich selbst gegenüber. Schonte sich nicht. Sie schlief jeden Tag nur vier Stunden, um alles perfekt zu erledigen.
Vor zwanzig Tagen brach meine gute Mutter plötzlich zusammen unter all dem Druck und Schmerz, der sich nach und nach in ihr aufgestaut hatte. Dieser kleine Ausbund von Leben, der so viel Energie in sich hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sie wollte nicht essen. Sie wollte nicht sprechen. Die Hilflosigkeit der Ärzte.
Irgendwann einmal hatten die Worte meiner Mutter – mit der ihnen innewohnenden, erhellenden Lebensweisheit – mich tief berührt, als sie zu mir sagte: „Mein Junge, ich bewundere dich. Du bist wie eine Phönix. Immer wenn du stürzt, erhebst du dich wieder.“
Ich hab versucht, ihr dieses Darlehen an Seelengröße zurückzugeben. Ihr zu sagen: Mutter, erinnerst du dich: Phönix – du und ich.
Aber die Dunkelheit hat ihren Lebensfunken erstickt. In ihrer Verwirrung sagte sie irres Zeug. Sie erzählte ihren Kindern – also uns -, dass sie uns umgebracht hat. Dass sie uns vernichtet hat.
Sie bat um Verständnis für ihr Verbrechen. Sie verlangte, sie der Polizei zu übergeben. Sie verlangte, man möge sie exemplarisch bestrafen. Eine Strafe, weil sie ihr ganzes Leben eine Heilige war.
Das Fernsehen sprach aus ihr. Sagte, sie habe das alles verschlungen. All die Milliarden. Sie war es, die sie geklaut hat. Sie verlangte, der Polizei übergeben zu werden.
Ihr war klar, welches Dunkel in ihrem Kopf herrschte. Sie kannte diese Krankheit sehr gut, nachdem sie geduldig schon soundso viele auf deren letztem Stück des Lebensweges begleitet hatte.

Sie wollte sich auf keinen Fall dieser Krankheit ergeben.
Sie ist unseren Händen entglitten.

Während andere in ihrem Alter den Tod fürchten, öffnete sie das Fenster des Schlafzimmers, in dieser schicksalhaften Sekunde, als unser Vater in die Küche ging, um die Herdplatte auszuschalten, und wagte ihren heroischen Ausbruch.
Still, ohne zu klagen, nahm sie ihre Kreuze mit, um ihren federleichten 43-Kilo-Körper etwas schwerer zu machen, damit der Tod sie ernst nähme, den sie im Hinblick auf sich selbst immer auf die leichte Schulter genommen hatte.
Der Tod machte aus meiner Mutter keine Heldin. Nicht so, wie er es mit dem Helden Dimitris Christoulas gemacht hatte. Eine Heldin war meine Mutter in ihrem Alltagsleben. Eine kleine, alltägliche Heldin.

Schreie drangen herauf.
Und gleich danach sahen wir sie, die sich vom Balkon gestürzt hatte, unten neben dem Müll liegen. Jeder aus unserer Familie, jeder von uns, die wir sie alle so sehr geliebt hatten, zerbrach. Die Säule unseres Zuhause brach, als ihre Knochen brachen.
Ein jeder von uns stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und krümmte sich schluchzend am Boden.
Wir gingen nach unten und dann in die wie vom Blitz getroffene Menge.

Unsere Mutter verließ uns so, wie wir sie gekannt hatten: ohne eine einzige Schramme. Ohne einen Tropfen Blut, der ihr Antlitz hätte beflecken können. Alles in ihr. Alle Verletzungen waren innere. Wie im Leben, so auch im Tod. Unser geliebtes kleines Mädchen.
Mein Vater riss sich die Haare aus. Mein kleines Vögelchen! Mein Lämmchen! Meine kleine Taube! Noch immer war er verliebt in sie, seine Gefährtin auf Lebenszeit. Er weinte nicht seinetwegen. Er weinte um sie. Keiner von uns weinte um seiner selbst willen. Wir alle weinten, weil wir etwas so Kostbares verloren hatten.

Ich bin ein Mörder, rief mein Vater. Ich bin ein Verbrecher.
Nein, mein Vater war kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Der seine geliebte Gefährtin verloren hat.

Meine Mutter hinterließ keinen Abschiedsbrief. Wir haben’s nicht mehr geschafft, Adieu zu sagen, ihre letzten Wünsche zu hören, ihre Hand zu halten, ihr über das Haar zu streichen, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie verließ uns wie eine, die vorangeht, stolz und allein.

Der Tod meiner Mutter wird uns noch mehr Schulden aufbürden. Wie ich schon vor Jahren das Schicksal unserer Heimat vorhergesagt habe: Wir bringen es fast nicht über uns, unsere Tote zu begraben, denn vor einigen Augenblicken war sie noch so lebendig.

Sie hat uns ein reiches Erbe hinterlassen. Ihre unendlich große Seele. Ein kleines Stück ihrer Seele, das unser zerrissenes Herz zusammenhält, unser Herz, in dem ihr sinnloser Tod eine klaffende Wunde hinterlassen hat.

Damit es uns nicht härter, sondern zu besseren Menschen macht. Ein Erbe, das wir ehrenvoll bewahren wollen. Ich hoffe … ich kann nur hoffen, dass wir uns als ihres Nachlasses würdig erweisen werden. Ihrer Liebe für alle Menschen.

Ich war einer der Ersten, der das Schicksal der durch die Krise zu Selbstmördern gemachten Menschen thematisiert hat. Eine von ihnen ist nun gekommen und hat uns, unser Leben heimgesucht. Meine Mutter hat uns davon überzeugen wollen, dass sie eine Mörderin war. Dass sie uns getötet hat. Meine Mutter war keine Mörderin. Sie war heilig. Mein Vater schrie, dass er ein Mörder ist. Weil er sie hatte sterben lassen. Er ist kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Weder ich bin ein Mörder noch sonst irgend jemand aus unserer Familie.
Ich weiß aber, wer der Mörder meiner Mutter ist. Natürlich war es nicht seine Hand, die sie aus dem Fenster stieß. Das geschah durch ihren eigenen Willen und mit Hilfe ihrer unbeugsamen, fast heroischen Hartnäckigkeit ihrer Würde.
Allerdings war es der Mörder, der die große und erdrückende Last auf ihren Rücken lud, ganz oben auf all die Kreuze, die sie seit Jahrzehnten freiwillig und ohne zu klagen mit ihren 43 Kilo getragen hatte.
Es war allerdings der Mörder, der diese unermüdliche, rastlose Frau zwang, gelähmt vor Scham im Bett zu bleiben, gleich neben dem Fenster, ihrem Fluchtweg aus dem Leben. Und nur dieses Fenster konnte sie noch als Ausweg aus einem inneren Schmerz sehen, der so fürchterlich war, dass sie ihm nicht mal mehr stammelnd hätte Ausdruck verleihen können.

Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes. Und für diesen Mörder muss die Todesstrafe wieder eingeführt werden.

Ewige Ruhe dir, unsere Warwara, geliebtes kleines Mädchen!

Freitag, 28. Juni 2013

© Übersetzt von Ina Kutulas

(Ich danke Petros Argiriou und Ina Kutulas für die Abdruckgenehmigung.)

„Die Juden sind an allem schuld“ … und „Jetzt sind’s die Griechen“

Diese Brandmarkung, diese Stigmatisierung des griechischen Volkes als „Schuldigen“ für alles, wofür die griechischen Machteliten und Oligarchen sowie das herrschende europäische „System“ verantwortlich sind, ist unerträglich geworden.

Was ich zudem als beschämend und entwürdigend für eine Vielzahl von „europäischen“ Politikern und Medien empfinde, ist nicht nur deren Arroganz und Herablassung dem griechischen Volk gegenüber, sondern vor allem ihre menschenverachtende Ignoranz: In Griechenland sterben aufgrund der sozialen Katastrophe tagtäglich Menschen, weil sie keine medizinische Versorgung mehr haben oder aus Verzweiflung Selbstmord verüben oder weil die Kindersterblichkeit aufgrund der Krise in die Höhe geschossen ist – es geht also um Leben und Tod –, und in Deutschland und vielerorts in Europa wird so „argumentiert“, als hätten es diese Tausenden von Opfern „verdient“, zugrunde zu gehen und auf diese Art und Weise von der Erdoberfläche zu verschwinden. Im besten Fall schweigt man darüber.

Die anhaltende Stimmungsmache gegen „die Griechen“ führt dazu, dass der griechische Botschafter in Berlin telefonisch Morddrohungen erhält und dass man mir in einem Berliner Lokal an den Kopf wirft, dass – wenn wir Griechen nicht endlich das tun würden, was man uns sagt – man uns ein paar Panzer „runterschicken“ wird. (Das haben bereits die USA 1967 gemacht und uns eine 7jährige Militärdiktatur beschert, zu der ja Herr Strauß und die CSU sehr gute Beziehungen unterhielten.)

Für mich als Germanisten, für den „LTI“ von Victor Klemperer seit 35 Jahren ein Kultbuch ist, stellt sich inzwischen immer vehementer die Frage, ob diese sprachliche Volksverhetzung und „Kriegstreiberei“ dazu führt, dass wir Griechen uns bald auch als „Juden“ fühlen werden – wie ein israelischer Freund mir letztes Jahr in Tel Aviv solidarisch anbot. Ich kam darauf, als ich 2013 auf einem Plakat des Jüdischen Museums von Berlin neben dessen Überschrift „Die Juden sind an allem schuld“ den hingekritzelten Satz las: „Jetzt sind’s die Griechen“.

Ich als Grieche und als deutscher Steuerzahler möchte jedenfalls nicht mehr Teil DIESES Europas sein. Das, was hier in Deutschland passiert, empfinde ich inzwischen als „Krieg“, angefacht von skrupel- und verantwortungslosen Politikern und Journalisten (bei weitem nicht alle, aber doch genug) … Wir Griechen müssen unbedingt raus aus dem Euro und raus aus DIESEM unmenschlichen Europa. Und wäre ich ein Jude, würde ich jetzt nach Israel auswandern … Mein Gott, was ist aus Deutschland geworden?

Asteris Kutulas
Berlin, 9.3.2015

P.S. – Ich habe in einer Analyse gelesen, dass in über 120 Ausgaben der Bild-Zeitung das herabsetzende Wort „Pleite-Griechen“ benutzt wurde, zumeist in fetten Titelzeilen. Und da fiel mir der treffende Satz von Klemperer ein: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (LTI)

Hier drei – der unzähligen – Beispiele aus den letzten zwei Wochen:

1) Spiegel online veröffentlichte folgenden Schmähbrief an einen griechischen Gastronomen in Düsseldorf:
„In der Sonne liegen ist doch viel bequemer, insbesondere wenn andere dafür aufkommen … So geht es nicht !! Wir werden, solange diese Regierung derart schäbig, insbesondere fleißige und sparsame Europäer und Deutsche verunglimpft und beleidigt, ganz sicher keine griechischen Waren mehr kaufen, sondern auch Euren Laden ab sofort nicht mehr betreten !! Verkauft doch Eure Waren besser nicht mehr an die „Scheißdeutschen“, sondern macht Euch auf und zurück in Euer korruptes, stinkendfaules und total unfähiges Drecksgriechenland !! Griechenland NEIN DANKE !!!!!!!!!

Griechen an allem schuld, Asteris Kutulas, Griechenland-Bashing
Spiegel Online, 04.03.2015

2) Auf Focus online lautet am 27.02.2015 die Schlagzeile zum Beitrag von online Redakteur Markus Voss: „Darauf einen Ouzo: Ein Drittel von Griechenland gehört bald uns“. Kein Kommentar – und ich mag die Assoziation, die ich dabei hatte, gar nicht aussprechen…

Asteris Kutulas, Griechenland-Bashing, Griechen an allem schuld
Focus online, 27.02.2015

3) Die Bildzeitung bezeichnete im Rahmen ihrer Aktion vom 26.02.2015 sämtliche Bürger Griechenlands als GIERIGE GRIECHEN – und tausende deutscher Mitbürger schlossen sich dieser Kampagne an.

Griechen an allem schuld, Asteris Kutulas

Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land

Griechenland im Umbruch – und bald unabhängig?

Kooperation von Griechenland, Türkei und Israel als Zukunftsmodell für Frieden und Wohlstand

Ein Traum, der nicht geträumt werden darf/kann/soll …

Bereits 2010 hatte ich drei UTOPISCHE Vorschläge gemacht, die meiner Meinung nach Grundlage dafür wären, Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte eine nationale Unabhängigkeit zu ermöglichen:

1) Griechenland verlässt die Euro-Zone und kehrt zur Drachme zurück.
Baut eine mächtige Steuerbehörde auf nach dem Vorbild der USA (inkl. aller diesbezüglichen Steuergesetze) und ermöglicht erstmals die Arbeit einer unabhängigen Staatsanwaltschaft. Kopplung der Steuerpflicht an die Staatsangehörigkeit, wie in den USA.

2) Erklärung eines neutralen Status’ wie ihn die Schweiz, Schweden oder Österreich haben, um aus der NATO austreten zu können (dadurch signifikante Senkung der Militärausgaben sowie die Möglichkeit, Punkt 3 zu realisieren)

3) neben der EU-Mitgliedschaft Aufbau einer strategisch engen Zusammenarbeit und späteren „Konföderation“ mit der Türkei, Zypern und Israel

Ein jüdischer, ein säkularisiert-islamischer und ein christlicher Staat gemeinsam in einer „Konföderation“ nach skandinavischem Muster – das ist eine Vision, die eine völlig neue Perspektive eröffnet, sowohl wirtschaftlich, kulturell, aber vor allem auch politisch und spirituell. „On the way“ dahin müssten wir gemeinsam (als Voraussetzung) das Zypernproblem und das Palästina-Problem lösen, um später diese beiden Länder in die Konföderation mit einzubeziehen.

Die Koalition sollte allen drei Ländern helfen, ihre nationale Souveränität zurück zu erlangen bzw. effektiver verteidigen zu können, vor allem aber ihre politisch-militärische Unabhängigkeit von den USA. Auch aus diesem Grund sollte Griechenland aus der NATO austreten und einen neutralen und pazifistischen Status einnehmen, der auch in der Verfassung verankert werden müsste. Israel würde eine solche Koalition helfen, seine Isolation in der Region zu überwinden, die Türkei würde noch viel mehr als Brücke zwischen Orient und Okzident fungieren und seine diesbezügliche Vermittlerrolle ausbauen, und Griechenland hätte vollkommen neue wirtschaftliche und kulturelle Perspektiven und die Chance, zum ersten Mal in seiner Geschichte unabhängig zu werden. Außerdem würde es dadurch eine gewichtigere außenpolitische Rolle in der EU spielen und zur EU-Integration beitragen.

Eine enge strategische Zusammenarbeit und spätere Konföderation mit der Türkei und Israel wäre nicht nur für Griechenland, sondern für alle drei Länder ein Segen. Unter anderem gäbe es dann für Griechenland keine Notwendigkeit mehr, deutsche, französische und amerikanische Waffen für Milliarden Euro zu kaufen, sondern Griechenland könnte das Geld in gemeinsame Wirtschafts- und Forschungs-Institute, in Hightech- und Energie-Technologie etc. und in multinationale Tourismus-Projekte investieren, und die drei Länder könnten gemeinsam endlich die Bodenschätze und Rohstoffe (z.B. die im Mittelmeer-Gebiet brach liegenden) verwerten.

Alle drei Länder stehen in gewisser Weise isoliert da, sind aber Nachbarn, haben eine verwandte Mentalität, eine gemeinsame Vergangenheit, ähnliche Landschaften und das Mittelmeer.
Ich weiß, das alles klingt utopisch – aber diese Vision ist einfach zu schön, als dass sie nicht geäußert werden sollte.

Bis jetzt lagen die Geschicke Griechenlands in den Händen von Politikern, die weder fähig noch aus unterschiedlichen Gründen willens waren, politisch und wirtschaftlich griechische Interessen zu verfolgen und durchzusetzen, wie es zum Beispiel ein Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, eine Angela Merkel in Deutschland, ein Hugo Chavez in Venezuela oder ein Benjamin Netanjahu in Israel getan haben.

Ich bin der Meinung, dass die Anerkennung unserer Zahlungsunfähigkeit – also unsere Bankrotterklärung – und die Rückkehr zur Drachme eine Möglichkeit für einen Neuanfang wären. Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb … den Weg durch das Tal der Tränen muss Griechenland ohnehin weiter gehen. Ich würde es aber dabei gern in seiner Selbstbestimmtheit erleben … und weiß in dem Augenblick, in dem ich es äußere, was das für eine Illusion ist … und was für ein Traum, der nicht geträumt werden darf und von dem womöglich keine Rede sein sollte. Aber ich als Autor und Filmemacher darf das und MUSS es tun.

Asteris Kutulas, November 2010/Januar 2015

Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land

Raus aus dem Euro!

Liebeserklärung an die älteste Währung Europas

Asteris Kutulas Griechenland Krise

Ich war (und bin weiterhin) der Meinung, dass jedes Mal, wenn „Deutschland“ bzw. Frau Merkel oder Herr Schäuble von Griechen kritisiert und – noch schlimmer – beschimpft wurden, es einmal zu viel war, weil es von den wahren Verantwortlichen, nämlich von den bislang über 40 Jahre Regierenden ablenkte und ablenken sollte. Abgesehen davon, dass es zum Teil sehr beschämend ist, sollten wir Griechen uns um unsere eigenen Politiker und unsere eigene (nicht vorhandene) Zivilgesellschaft kümmern.

Das Makabre an diesen Schuldzuweisungen gegenüber Deutschland bestand darin, dass auch die Anhänger der bisherigen Regierungsparteien (ND & PASOK) – die ja mit Deutschland sehr „freundschaftlich“ verbunden waren – dies bei jeder Gelegenheit hinter vorgehaltener Hand taten, um damit deutlich zu machen: „Wir können nichts dafür. Deutschland zwingt uns zu dieser furchtbaren Austeritäts-Politik!“ Aber nicht Deutschland ist verantwortlich für die griechische Krise, sondern das griechische politische und ökonomische Establishment der letzten 40 Jahre. Und genau das ist endlich abgewählt worden bei den letzten Wahlen im Januar 2015.

Dafür sollten die Deutschen dem griechischen Volk – für dessen Mut und Entschlossenheit – Anerkennung entgegen bringen. Einen Tag nach diesen Wahlen war die Luft in Athen anders, ein wenig wie am Tag nach dem Mauerfall in Berlin. Vor allem die Ost-Deutschen werden das nachvollziehen können, denke ich. Es ging vielen Griechen am 26. Januar 2015 ungefähr so, wie vielen Bürgern der DDR, als sie sich ein Leben mit Mielke und Honecker in der Regierung nicht mehr vorstellen mussten.

Jedenfalls ist es eine Kapriole der Geschichte, dass sich in meiner Heimat jetzt ausgerechnet eine Linkspartei anschickt, den Kapitalismus in Griechenland zu reparieren und ihn endlich auf einen „westeuropäischen Stand“ zu bringen.

Oberflächlich betrachtet hat Frau Merkel einen guten Job gemacht: Deutschland profitierte gewaltig vom Euro und steht – ökonomisch gesehen – ganz gut da. Aber Griechenland ist nicht nur durch die Politik seiner bisherigen korrupten, reformresistenten und klientelistischen Regierungen und Machteliten, sondern auch durch den Euro bankrott gegangen. Denn die Kriterien, die die EU aufgestellt hatte, damit ein Land in die Euro-Zone aufgenommen werden kann, waren sinnvoll und an sich ein gutes Instrumentarium, um von vornherein ein Land vor einer wirtschaftlichen Katastrophe zu bewahren.

Griechenland hatte zu keinem Zeitpunkt die Maastricht-Kriterien erfüllt und ist also nur durch einen „Schwindel“ (der von der bis vor kurzem regierenden Politikerkaste zu verantworten war und über den andere Regierungen „großzügig“ hinweggesehen haben) in die Euro-Zone aufgenommen worden. So passierte genau das, was passieren musste: Die griechische Wirtschaft erwies sich als nicht konkurrenzfähig und ging zugrunde. Die Exporte nahmen immer mehr ab, weil diese durch die Einführung des Euro zu teuer wurden und Griechenland stattdessen (durch die sehr günstigen Euro-Kredite) zum Absatzmarkt für Mercedes, BMW etc. geworden war – einen Luxus, den viele Menschen in Griechenland sich wohl hätten kaum leisten dürfen. In Griechenland gibt es heute durch die Segnungen des Euro Lidl, Media Markt, Edeka etc., dafür gingen bislang 200.000 Klein- und mittelständische Unternehmen zugrunde. Für Deutschland, Frankreich etc. war/ist das gut, für Griechenland war/ist es schlecht. Die EU-Maastricht-Kriterien haben sich jedenfalls am Beispiel Griechenland als absolut richtig erwiesen.

Der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone hätte demnach nichts zu tun mit einer „D-Mark-Nostalgie“ – zumal Deutschland der große Gewinner des Euro ist, Griechenland der größte Verlierer –, sondern damit, dass Griechenland niemals befugt und befähigt gewesen ist, dem Euro beizutreten. Daran hat sich nichts geändert, ganz im Gegenteil. Wir konnten und können uns den Euro als Land (noch) nicht leisten – das ist die Wahrheit. Also, raus aus dem Euro, damit wir wieder eine Chance haben, nicht auf ewig eine „Bananen-Republik“ zu bleiben. Immerhin hat die sogenannte „Euro-Krise“ in Hellas – für die die griechischen Machteliten und Oligarchen verantwortlich sind – zur einer Beschädigung der Demokratie, zu einer humanitären Katastrophe und zum Verlust der nationalen Souveränität geführt.

Es gibt sehr viele kluge, fähige und verantwortungsvolle Griechen im In- und Ausland, die sich sofort für ein neues demokratisches Griechenland engagieren würden, wissend, dass Veränderung oder gar ein Wandel nur durch harte Schnitte zu erreichen wären, die weiterhin einen Gang durch das Tal der Tränen bedeuten, zumindest wüssten die Betroffenen dann aber, warum sie das durchmachen. Was wir in meiner Heimat brauchen, sind unsere eigenen Visionen für die Zukunft und eine Zukunft für unsere Kinder. Das ist mit dem Euro nicht zu haben.

Glücklicherweise ist ein erster Schritt getan: Die alten Machteliten sind Ende Januar 2015 abgewählt worden, jetzt muss sich Griechenland „nur noch“ des Euros entledigen, um endlich unabhängig zu werden – was als Aussage symbolisch gemeint ist. Dafür habe ich seit 2010 plädiert, und heute bin ich um so mehr davon überzeugt. Ob die neue Regierung den von uns erhofften Anfang einer souveränen griechischen und zutiefst demokratischen Zukunft einläuten wird, ist sehr zweifelhaft – aber wer hätte überhaupt gedacht, dass die Griechen so standhaft sein und so viel Zivilcourage aufbringen würden? Ich nicht.

Asteris Kutulas 19.2.2015,