Niki Eideneier: Asteris und Ina Kutulas: Die Horen, „Ich suche nicht, ich finde“ – Sogar dann, wenn Griechenland verloren zu sein scheint (fotopedia.de)
Jeder, der sich auch nur elementar für die neugriechische Literatur und allgemein für die neugriechische Kultur interessiert, dürfte wissen, wer Ina und Asteris Kutulas sind und was ihr Beitrag zur Verbreitung derselben im deutschsprachigen Raum, im Osten wie im Westen dieses Landes, bedeutet: Übertragungen und Nachdichtungen von zeitgenössischen Klassikern, aber auch von jüngeren, die es noch werden könnten, Essays und Beiträge in renommierten Zeitschriften, Organisierung von Lesungen und Diskussionen mit Musikbegleitung – unvergessen die poetische Nacht des Gedenkens an Jannis Ritsos zu seinem 100. Geburtstag im b-Flat in Berlin – erstklassige Konzerte mit und von Mikis Theodorakis und Maria Farantouri und anderen berühmten Interpreten oder das monumentale Buch: „Mikis Theodorakis, Ein Leben in Bildern“, Filme über Theodorakis und über Jannis Ritsos, und das Filmskript zu „Recycling Medea“, ein Projekt, das 2013 realisiert wurde, und, und, und …
Doch die Zusammenstellung der Texte für die Anthologie mit dem vielsagenden Titel: „Sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt – Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen) Land“ als 249. Band der „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“ die horen (Wallstein Verlag 2013) ist eine Errungenschaft der beiden und ein besonderes Ereignis.
Die Zeitschrift die horen wurden 1795 von Friedrich Schiller gegründet und nach den Töchtern von Zeus und Themis (Göttinnen der Jahreszeiten) genannt: Thalia, Göttin des Blühens, Auxo, Göttin des Wachsens, Karpo, Göttin der Früchte; nach Hesiod: Dike (Gerechtigkeit), Eunomia (Ordnung) und Eirene (Frieden). Die Zeitschrift erschien bis 1798 drei Jahre lang. 1955 wurden die horen von Kurt Morawietz in Hannover neu gegründet.
Bereits dreimal haben sich bis jetzt „die horen“ mit der neugriechischen Literatur und deren Autoren intensiv beschäftigt, sowohl in Krisen- als auch in Hoch-Zeiten Griechenlands. Das erste Mal mit einer Doppel-Edition: Griechenland I+II (Band 86/87 – 1972), also während der Junta Diktatur 1967-1974, ab dann sporadisch mit einzelnen Beiträgen; das zweite Mal mit dem Titel: „Rückkehr und Ankunft – Griechische Literatur aus zwei Jahrhunderten“, ausgewählt von Niki Eideneier und Torsten Israel, zusammengestellt vom Herausgeber Johann P. Tammen im Jahr 2001, als Griechenland Ehrengast der Internationalen Frankfurter Buchmesse gewesen war. Zwei Jahre später, 2003, kam erneut ein zweisprachiger dt./gr. Lyrikband: „Atmen lang von Babel her – Poesie aus Griechenland“, in der Reihe vis-à-vis – Blicke zum Nachbarn, herausgegeben von Gregor Laschen, und übersetzt von deutschen Dichtern nach einer Interlinear- Übersetzung und mit einem Nachwort von Torsten Israel. Und nun, 2013, zu Zeiten der höchsten ökonomischen und moralischen Krise des Landes, dieser Band, – die Zeitschrift befindet sich im 58. Jahrgang – in der Redaktion des jetzigen Herausgebers Jürgen Krätzer. Der Band kann sich stolz schätzen: „Literatur, Kunst und Kritik“, die Intentionen der Zeitschrift sehen sich hier voll erfüllt. Dreißig – wenn ich richtig zähle – griechische Dichter und Prosaschriftsteller, vom ältesten, Konstantinos Kavafis, geb.1863 in Alexandria/Ägypten, bis zum jüngsten, Jazra Khaleed, geb. 1979 in Grosny/Tschetschenien, und ihre vielen Übersetzer, elf Essayisten und ein Künstler, Ilan Manouach, mit seinen provokant-aktuellen Tuschzeichnungen (geb. 1980 in Athen).
Im Zentrum der globalen Einsamkeit
Der Band ist thematisch in zehn Kapitel gegliedert: 1) Das griechische Gen der Selbstzerstörung; 2) Immer aufs Neue der Untergang; 3) Und frei meine Seele, ohne Scheu … Kavafis zum 150 Geburtstag; 4) Die inwendige Seite – Maria Polydouri und Kostas Karyotakis; 5) Weil die Statuen keine Relikte mehr sind; 6) Hochgemute Nachrichten aus einer fernen Zeit – Verbannungsinsel Makronisos 1948-50; 7) Eine andere Art von Rückkehr – Die Generation der Niederlage; 8) Kaffeehäuser und Kometen nach Mitternacht; 9) Durch transparentes Dunkel; 10) Im Zentrum der globalen Einsamkeit. Verstreut am Anfang oder innerhalb der Kapitel die Zeichnungen von Ilan Manouach, der auch für das Titelblatt zuständig war, wie ein Spiegel der Worte. Dazu kommt eine ausführliche Einleitung von Asteris Kutulas, verfasst zu diesem Band unter dem Titel: „Schießt nicht mit Tränengas auf uns – wir weinen auch so“ (entliehen einem Brief der Freunde von Alexis Grigoropoulos, dem 17jährigen Schüler, der 2008, am Anfang der Jugend-Aufstände in Griechenland, durch eine Polizeikugel getötet und der beim Begräbnis des Getöteten verteilt wurde), und am Schluss Biografisches zu den Autoren, Künstlern und Übersetzern.
Allein die fein ausgewählten Titel der Kapitel fügen sich in die Poetik des gesamten Bandes. Er fängt an mit einem wohl nur bei Insidern bekannten Dichter, Jazra Khaleed, und endet mit der wohl bekanntesten zeitgenössischen Dichterin Griechenlands, Kiki Dimula. Der Essay von Ina Kutulas mit dem erfinderischen Titel: „Dimoularkationslinien“ ist eine Perle nicht nur des Kapitels „Im Zentrum der globalen Einsamkeit“, sondern überhaupt. Nur Dichter können sich so vielfältig und so tief einem anderen Dichter nähern und den Leser in Erstaunen versetzen, wie viel er übersieht, mit was für Blicken anderer Künstler er konfrontiert wird, um das Un-gesehene und Un-gehörte zu entdecken. Dazwischen die weltberühmten Klassiker: Kavafis, Seferis, Elytis, Ritsos, Engonopoulos, Theodorakis; dazu gesellen sich andere „Klassiker“, etwas verkannt zwar, aber deswegen nicht unwichtig, wie Karyotakis und Poliduri, Ludemis, Livaditis. Dann die Dichter der sogennanten und viel diskutierten „Generation der Niederlage“: Sinopoulos, Kambanellis, Anagnostakis, Rena Chatzidaki, Patrikios. Und Petros Markaris natürlich, der heutige griechische Star auch in der deutschen Literaturlandschaft. Aus dem Kreis der Jüngeren – interessant auch, dass dazu erneut Griechen des Auslands mit aufgenommen wurden, Aris Fioretos z.B. – Dionisis Karatzas, Sakis Serefas, Amanda Michalopoulou, Lefteris Poulios, Michalis Michailidis, Lila Konomara, Christos Chryssopoulos, Agoritsa Bakodimou und Antonis Fostieris. Zu diesen vielen Namen könnte man auch die Essayisten des Bandes und die Übersetzer hinzufügen, aber das hätte wirklich jeden Rahmen gesprengt. Zu bemerken wäre außerdem dass, sofern nicht anders angegeben, alle Texte Erstübertragungen sind bzw. für diese Ausgabe grundlegend revidiert wurden, wie die Herausgeber notieren.
„Schießt nicht mit Tränengas auf uns – wir weinen auch so“
Ich denke, dass die Einleitung eines Sammelwerks, wie des vorliegenden, erst nach der Lektüre des Inhalts gelesen werden sollte, quasi als Nachwort. Sonst ist man recht voreingenommen, der Gliederung des Verfassers aufs Wort zu folgen und die Zeitepochen, die die Historie bestimmen, auf die Werke bzw. deren Autoren so eng zu beziehen, dass man nicht frei bleibt für eigene Erkenntnisse. Denn das Leben und das Schaffen eines jeden Literaten sind von längerer Dauer als die historischen Ereignisse, die oft plötzlichen Wendungen unterliegen. Wie dem auch sei; eine vollkommene Objektivität dabei zu erwarten, wäre nicht möglich und dem Autor würde man Unrecht tun.
Für so eine Anthologie eine Einleitung zu verfassen, ist also eine große Herausforderung. Asteris Kutulas, der diese Aufgabe übernahm, hat eine Verbindung von Geschichte und Literatur gewagt. Er hat dazu eigens zueinander Beziehungen hergestellt, die wiederum auf Aussagen und allgemeinen Ansichten beruhen, hauptsächlich aber seine eigene Meinung zum Ausdruck bringen. Meistens würde man ihm beipflichten, manchmal tauchen aber auch Zweifel auf: Ich glaube z.B. nicht, dass „… das Volk insgesamt für die Regierenden zum Feind wurde, es musste kampfunfähig gemacht werden. Dazu gehörte auch, den Wert seiner kulturellen Traditionen mit Geringschätzigkeit zu bemessen und das Nationalbewusstsein der Griechen zu untergraben und zu zerstören. Also ihre gemeinschaftliche Erinnerung und Kultur auszulöschen. All das bekam das Etikett “Nationalismus“ aufgedrückt“. Aber nicht jeder Fortschritt steht der Tradition feindlich gegenüber.
Auch das Zitat von einem Theaterkritiker und Publizisten, Vertreter der älteren Generation, woher diese Aussage Kutulas’ ihren Bezug nimmt, ist bedenklich: „ … Universitätsprofessoren und diverse andere Intellektuelle bezeichneten in öffentlichen Verlautbarungen die Fahnen, die die Menschen auf der Straße getragen hatten, als ‚Lappen’, als ‚nationalistische Symbole’, als ‚Idole der Götzenanbetung’. Dieselben ‚Theoretiker’ wollen uns nun weismachen, dass die Nationen ‚Konstrukte’ seien, die Staaten ‚Gewaltmaschinen’ und die Geschichte unseres Volkes ein Szenarium für eine nachmittägliche Seifenopernserie im Fernsehen. Diese Meinungen werden jetzt tatsächlich in den Vorlesungen vertreten, sie sind in den Schulbüchern zu lesen, und zu großen Teilen wird die Bevölkerung ruhig gestellt mit Kulturgütern aus Staaten, die im Niedergang sind …“. Solche Äußerungen gehen an der Realität vorbei. Richtig dagegen ist, dass die jüngeren Historiker die lang erwünschte und notwendige Aufklärung betreiben und verschiedene „Mythen“ der griechischen Geschichte anhand der neu gelesenen Quellen richtigstellen, indem sie Götzenbilder vom Sockel herunterholen. Die Massendemonstrationen der Jugend sind aus der Ausweglosigkeit ihrer Situation – im Übrigen einem internationalen Phänomen – entstanden und nicht mit einer angeblichen Abkehr von den Traditionen und der „glorreichen“ Vergangenheit zu erklären. Aber das sind Themen, die nicht in einer Buchpräsentation zu behandeln sind.
Andererseits finde ich eine weitere Aussage Kutulas’ neu und besonders interessant, da sie in der Tat im Zusammenhang mit der neugriechischen Geschichte zu sehen ist: „Der vorliegende Band ist unter anderem das Zeugnis einer permanenten Literatur im Widerstand anzusehen.“ Natürlich könnte man entgegnen, dass jede gute Literatur, von jedem Land, Dichtung wie Prosa, ein wie auch immer begründeter Widerstand ist; den Verhältnissen gegenüber, der Politik, der Gesellschaft, dem Elternhaus, dem „Anderen“, dem eigenen Ich schließlich. Sie möchte wachrütteln, protestieren, mit dem Wort kämpfen, zu verstehen und zu erklären versuchen – was wäre denn sonst die viel gerühmte „Katharsis“! Aber: „Dieser Band offenbart zumindest, dass Griechenland sich seit jeher im „Kriegszustand“ befunden hat und dass bis heute Menschen mit Worten und Taten darauf reagieren und Widerstand leisten. Menschen vor allem, die sich auf ihr „inneres Griechenland“ berufen und Mittler sind zwischen diesem und allen Orten „draußen“, an denen es sich wieder findet.“ Wie wahr, lieber Asteris! Solange es solche Menschen gibt wie dich und Ina, ist Griechenland „kein verlorenes Land“.
Niki Eideneier
»Sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt …« – Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land, Zusammengestellt von Asteris und Ina Kutulas Reihe: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik (Hg. von Jürgen Krätzer); Bd. 249, 58. Jahrgang 240 S., 13 Abb., brosch.,15,5 x 23,5, ISBN: 978-3-8353-1235-7 (2013)
Politische Diaspora – Ein Leben zwischen Systemen, Ideologien, Sprachen, Kulturen, Mauern
[„Asteris Kutulas ist bekannt als Autor, Übersetzer, Filmemacher sowie als Event– und Musikproduzent. Als Sohn griechischer Emigranten in Rumänien kam er 1968 mit seiner Familie in die DDR. In seinem Essay »Mein griechisches Niemandsland DDR. Ein Leben zwischen Systemen, Ideologien, Sprachen, Kulturen, Ländern und Mauern« nimmt er die persönliche Lebensgeschichte zum Anlass, um über die Wechselbeziehungen zwischen den Verheißungen der kommunistischen Utopie und den Gegebenheiten des real existierenden Sozialismus, doppelter Fremde und doppelter Heimat, politischer Unfreiheit und geistiger Freiheit nachzudenken.“ Marco Hillemann & Miltos Pechlivanos (Aus dem Vorwort zum Buch „Deutsch-Griechische Beziehungen im ostdeutschen Staatssozialismus (1949-1989)“, Freie Universität Berlin 2017)]
I Unsere Eltern … (Gesellschaftssysteme und Ideologien)
Unsere Eltern – fast alle kamen sie vom Dorf – kämpften zuerst gegen die deutschen Besatzer, dann (ab Dezember 1944) gegen die „Briten“. Diese hatten die griechischen Kollaborateure der Nazis als neue Verbündete übernommen und sie mit neuen Waffen und englischem Knowhow ausgestattet. Diese bis-eben-noch-Nazi-Kollaborateure bekamen zudem Regierungsgewalt.
Die britische Kolonialmacht führte in dieser Zeit am Mittelmeer zwei Kriege: einen gegen die jüdischen – vorwiegend zionistischen – Partisanen in Palästina; den verloren sie, so dass der jüdische Staat Israel am 14.8.1948 entstehen konnte, und den anderen Krieg führten sie gegen die linken griechischen Partisanen, den sie mit Hilfe der USA 1949 letztendlich für sich entscheiden konnten. Daraufhin wurde Griechenland bis 1974 von einem quasi monarchofaschistischen Staatsgebilde beherrscht.
Theo Angelopoulos schuf mit seinem großartigen Streifen „Die Jäger“ das zutiefst melancholische Zeugnis von einem Land, in dem von 1936 bis 1977 (als sein Film entstand) dieselben faschistoiden Personen, dieselben parastaatlichen Strukturen den Machtapparat bildeten und mit der siebenjährigen Diktatur zwischen 1967 und 1974 ihrer Herrschaft schließlich die Krone aufsetzten. Einer der Höhepunkte dieser staatlich gelenkten Gewalt gegen Andersdenkende war 1963 die Ermordung des unabhängigen Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis, deren Umstände in dem Oscar-prämierten Film „Z“ von Costa-Gavras verewigt wurden.
Unsere Eltern,
die in den Bergen als Partisanen zuerst gegen die deutsche Wehrmacht und die SS und gleich anschließend bis 1949 gegen die „Briten“ und „Amerikaner“ gekämpft hatten …, unsere Eltern fanden sich wieder in Verbannungslagern, in Gefängnissen und viele von ihnen in den sozialistischen Ländern hinter einem eisernen Vorhang. Sie wurden mit Kalkül von einem übergeordneten Schicksal, das den Namen Hitler oder Churchill oder Stalin oder Tito trug, hin- und hergeschoben, bis sie irgendwo in Osteuropa eine Bleibe fanden, in kleinen Orten und Dörfern oder in fernen Großstädten mit für sie exotischen Namen: Bratislava, Oradea, Radebeul, Taschkent, Zgorzelec etc. etc.
Unsere Eltern, hatten hier keinerlei Besitz, das Geld war stets am Ende des Monats alle, aber sie empfanden Dankbarkeit dafür, dass man ihnen Wohnung und Arbeit gab. Sie waren in Textilbetrieben tätig, im Bau- und Handelsgewerbe, viele studierten und wurden Ärzte und Ingenieure, aber sie blieben doch Entrissene und im Innern immer „heimatlos“.
Heimatlos,
weil Griechenland sie als „Vaterlandsverräter“ stigmatisierte, sie dauerhaft aussperrte und häufig im Fall der Rückkehr mit dem Tod bedrohte – und weil die neuen Gefilde auf sie zunächst wie „Transit-Hotel-Leben“ wirken mussten, gastfreundlich und fremd zugleich.
Sie hatten persönlich nichts davon – ihr halbes Leben verbrachten sie wegen einer Chimäre in kalten Landschaften und lebten von der Hand in den Mund. Sie wurden in der Weltgeschichte herumgereicht, von Mächten, auf die sie keinen Einfluss hatten und deren Kalkül und Pläne nicht zu durchschauen waren … Sie kommen mir heute vor wie aufgewirbelte Staubkörner der Weltgeschichte. Aber sie machten das Beste daraus, sie kämpften, sie bildeten sich weiter. Sie waren stark. Trotzdem: Unsere Eltern waren keine Akteure, sie waren Getriebene. Diese Eltern, ich betrachte sie und kann sie nicht in den Himmel heben. Immer fiel aus diesem Himmel das Wasser von oben nach unten, machte ihre Flügel schwer und verwies sie zurück auf den Boden der Tatsachen.
Glaube & Utopie
Wofür das alles? Und: Warum? Einerseits, weil unsere Eltern keine Wahl hatten, andererseits wegen ihrer Ideologie – ich würde es so sagen: um ihres „Glaubens“ willen. Sie hatten die „Utopie des Kommunismus“ verinnerlicht. Und das Leben im Griechenland der 30er und Anfang der 40er Jahre hatte sie gelehrt, dass man sich wehren kann und muss gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit, und die einzige Ideologie, die diesen Widerstandskampf damals in Griechenland unterstützte, war die kommunistische.
Der Glaube meiner Eltern hatte zweifellos religiöse Züge. Aber diese „kommunistische Religion“ gründete sich nicht auf die Vorstellung vom Mysterium einer höheren, fernen Macht, sondern bezog sich auf ein real existierendes Gesellschaftsmodell, in dem sie ab 1949 dann tatsächlich lebten. Das heißt, immerhin: die Richtigkeit ihres utopistischen Glaubens konnte am Alltag gemessen und geprüft werden.
Und das war zugleich das „Große Dilemma“, weil zum einen diese Wirklichkeit eben nicht das Ziel der Verheißung, sondern weil diese Wirklichkeit voller Widersprüche war. Zum anderen bedeutete diese Realität vor allem die ständige Auseinandersetzung mit einer humanistischen Utopie – die den Menschen im Mittelpunkt hatte – und der Frage, ob der Mensch hier bereits im Mittelpunkt stand. Bei dieser Auseinandersetzung ging es immer – ich zitiere den Heilsbringer dieser Religion, Karl Marx – um die Freiheit des Menschen in einer von Ausbeutung befreiten Gesellschaft.
Mein griechisches Niemandsland DDR
Von den zwei konkurrierenden Gesellschaftssystemen verhieß das eine – der Sozialismus – Freiheit in einer menschlich gewordenen Gesellschaft und das andere – der Kapitalismus – Wohlstand, verknüpft mit einer absolut individuellen Freiheitsauffassung.
Letzteres Gesellschaftssystem konnte seine Versprechen zwischen 1950 und 1989 in gewisser Weise einlösen, es war überzeugender; das andere, das „sozialistische“, Gesellschaftssystem, in dem auch wir lebten, scheiterte, seine Verheißungen erfüllten sich nicht.
In diesem Dilemma lebten unsere Eltern und wir, ihre Kinder. Mit dem Unterschied, dass unsere Eltern bereits gelitten hatten für ihren Glauben und wir nicht, wir mussten nicht leiden. Ich allerdings – denn ich war etwas merkwürdig drauf – litt unter einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“, um einen sehr stimmigen Begriff des Philosophen Georg Lukács zu gebrauchen, den er geprägt hatte, als er jung war.
In der DDR stellte sich dieses Dilemma des Festhängens in einem Leben zwischen Utopie und Wirklichkeit graduell anders dar als in den anderen sozialistischen Ländern, denn in die DDR waren vor allem griechische KINDER gekommen. Diese hatten selbst keine „heroische Epoche“ durchgemacht, sondern wuchsen in einem behütenden sozialistischen Brutkasten auf, mit der „erzählten Erinnerung“ von einer Heimat, die sie nicht kannten und die ihnen bis auf weiteres versagt war, und einer neuen Heimat, die eine vorübergehende sei, in der man viel lernen sollte, um irgendwann als kommunistischer Missionar in die alte, eigentliche, zurückkehren zu können.
II Zäsuren … (Heimat- und Vaterländer)
Drei Jahreszahlen – 1967, 1974, 1981 – und die damit verbundenen Ereignisse waren für uns Griechen im sozialistischen Exil von besonderer Bedeutung:
In der DDR waren wir lange Zeit „heimatlose Menschen“. Das Jahr 1974 hat aus uns „Menschen mit zwei Heimaten“ gemacht.
Wir waren bzw. galten in der DDR als „politisch Verfolgte“. Das Jahr 1981 hat aus uns „politische Gastarbeiter“ gemacht.
1974
Fast 30 Jahre lang, bis 1974, konnten viele „politische Emigranten“ (wie wir – Eltern und Kinder – genannt wurden) nicht nach Griechenland zurückkehren. Dann stürzte die Junta. Konstantin Karamanlis brachte Griechenland die Demokratie. Er ließ durch eine Volksabstimmung die Monarchie abwählen, legalisierte die seit 1947 verbotene Kommunistische Partei und ermöglichte den politischen Emigranten die Rückkehr in ihre alte, inzwischen unbekannte Heimat. Bis dahin hatten wir nur einen Fremdenpass und waren „Fremde“, doppelt Fremde, sowohl in der DDR als auch in Griechenland. 1974 erhielten wir unsere Identität zurück, zum ersten Mal bekamen wir einen „echten“ griechischen Pass. Damit hatten wir auf einmal zwei Heimatländer. Wir konnten uns entscheiden, wo wir leben wollten; vor allem konnten wir nach Griechenland reisen und somit endlich aus unserer Zwangssituation, die fast 30 Jahre gewährt hatte, aussteigen – mental und emotional. Plötzlich hattest du die Wahl, und für einige von uns Griechen der „politischen Diaspora“ im Osten entpuppte sich eben dieser Osten als die eigentliche neue „neue Heimat“.
1981
Dann kam das Jahr 1981 und brachte Griechenland Andreas Papandreou und mit ihm die in der Geschichte Griechenlands erste linke Regierung an die Macht. Durch die längst überfällige Anerkennung des antifaschistischen Widerstandskampfes und durch das Repatriierungsgesetz, das endlich auch die Rentenansprüche Zehntausender ehemaliger politischer Emigranten klärte, war man nicht mehr in der Situation, „politisch“ Verfolgter zu sein. So wurde aus uns allen „politische Gastarbeiter“ im sozialistischen Ausland. Einige zogen die Konsequenzen, reisten aus nach Westberlin und Westdeutschland und tilgten das Adjektiv „politisch“, so dass sie von da an einfach nur „Gastarbeiter“ waren.
Für die in der DDR Gebliebenen galt dasselbe: das Politische wurde abgestreift, es gab keinen „Widerstandskampf“ mehr, ein Rückzug ins Private konnte stattfinden. Durch den Sieg von Andreas Papandreou und durch das Repatriierungsgesetz war der „kommunistischen Basis“ der Boden entzogen – ein Prozess, der 1968 begonnen hatte, der aber dann 1981 manifest wurde. Die Machtübernahme durch die PASOK-Partei 1981 bedeutete für die Kommunistische Partei Griechenlands dasselbe wie für die SED 1989 die Öffnung der Mauer – der Anfang vom Ende.
Das hatte aber auch damit zu tun, dass im Lebens-Alltag der DDR seit Ende der 70er Jahre der Sozialismus als UTOPIE keine Rolle mehr spielte und das Ideologische als erstarrt Floskelhaftes immer mehr zur Karikatur verkommen war.
Die Konsumideologie der westlichen Welt wurde in der DDR immer beherrschender, zumal die „SED“ und ebenso – wenn auch ganz anders – die „KP“ in Griechenland ihre Rolle als jeweilige utopistische Instanz längst eingebüßt hatten. Die Bürokratisierung sorgte für verkalkte Strukturen, die SED war zu einem Macht-Apparat geworden, der sich auf starren Herrschaftspositionen eingerichtet hatte, als wären sie aus dem gleichen Zement gewesen wie die Berliner Mauer. Er hielt noch einige Jahre, dann begann er zu bröckeln. Im Grunde wussten es alle seit Ende der siebziger Jahre: Es war vorbei mit dem sozialistischen Experiment. Dieses war an seiner kleinbürgerlichen (anti-kommunistischen) Führung und seiner stalinistischen Machtstruktur gescheitert.
1968
Für uns Griechen im Ostblock war das Jahr 1968 von entscheidender Bedeutung. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte man als Linker, zumal als Kommunist, in einer „fortwährenden Hoffnung“. Ich werde niemals den Silversterspruch meiner Eltern Anfang der sechziger Jahre in Rumänien vergessen: Kai tou chronou stin patrida! „Und nächstes Jahr in der Heimat!“ Aber am 21.4.1967 kam der Putsch der Obristen, und in den folgenden Jahren klang dieser Spruch nicht so optimistisch wie einst.
Das fatalste Ereignis jedoch war die Spaltung der Kommunistischen Partei, die sich im Februar 1968 während des 12.Plenums des Zentralkomitees in Bukarest vollzog. Durch diese Spaltung hatte man plötzlich so etwas wie einen Inneren Feind, man war einem doppelten „Bruderzwist“ ausgesetzt: zu der „unnatürlichen Entzweiung“ zwischen links und rechts seit dem Bürgerkrieg (1946-49) kam nun die noch schmerzhaftere „innere Entzweiung“ zwischen links und links, zwischen „Stalinisten“ und „Revisionisten“. Diese Spaltung führte dazu, dass mein Vater vom Ceausescu-Regime wegen seiner „Moskautreue“ ausgewiesen wurde und zusammen mit seiner Familie ein neues, ein zweites politisches Asyl in der DDR bekam.
III Kulturen & Mauern
Die DDR war ein idealer Lebensort für geistige Anarchisten. Ein Grund war, dass man kaum Geld zum Leben brauchte, oder andersherum gesagt: Geld war nichts wert. Der Lebensunterhalt konnte relativ leicht durch alternative, zum Beispiel künstlerische Tätigkeiten bestritten werden. Vielen Leuten, zu denen ich auch gehörte, ging es darum, einen hohen Grad an geistiger Freiheit zu erringen. So lässt sich der enorme Bücherkonsum erklären, das zum Teil massenhafte Besuchen von Lesungen und Theatervorstellungen, die Bereitschaft sich zu treffen und zuzuhören, der Dialog zwischen einem Großteil der Schriftsteller und einem großen Publikum, die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen – das alles diente nur einem Zweck: seine geistige Unabhängigkeit zu postulieren.
Ich war damals 20, Student in Leipzig, lebte in einer tiefen Melancholie und war von Pessimismus durchdrungen. So entdeckte ich für mich die sogenannte „Dichtung der Niederlage“ aus den fünfzigern, deren meist linke Vertreter, wie Manolis Anagnostakis, Takis Sinopulos, Aris Alexandrou und Michalis Katsaros, sich als eine betrogene Generation, als eine „lost generation“, ohne Perspektive fühlten – genauso wie ich 1981 in der DDR. So konnte ich in der mich damals umgebenden Trostlosigkeit Katsaros‘ Ausruf von 1952 in seinem berühmten Poem „Nach Sadduzäer-Art“ sehr gut nachempfinden: „Toten Wald der Wörter durchschreite ich stumm / entzünde die Laternen die falblichtig lähmen die leeren Straßen / such die zu erheben / die mit ihren Namen aufs Herz mir sind gesunken / in geheimen Konferenzen / die gelynchten Namen die lebenden – weitab gestellt im Vormarsch / Rosa Luxemburg Lenin ihr Lyriker / Thälmann und Tanev / eisklirrend splittern sie hin auf das Teppichrot„.
Jannis Ritsos
Und ich entdeckte für mich und für meine anarchistische DDR Jannis Ritsos und übersetzte die „Monochorde“, viele seiner existentialistischen Gedichte sowie das „Ungeheure Meisterwerk“, wo die Verse stehen:
und auch wir mußten endlich zu einem Schluß kommen zu einem großen roten Vogel zu einem großen Hammer-und-Sichel und andere waren müde und niedergeschlagen und andere hüpften wie lahme Spatzen über die Pfützen das Wasser im schlammigen Vorort und andere hatten Mercedesse erworben und doppelte Dachgartenwohnungen und schauten von oben herab auf Busse Fußgänger auf die zerfetzten Fahnen und andere schliefen in Kleidern und Schuhen immer zur Illegalität bereit und andere erkannten in all dem eindeutige Zeichen eines endgültigen Scheiterns und andere Zeichen der Vitalität der Bewegung und andere in Kaffeehäusern oder Luxussalons beschäftigte immerfort die ewige Schuldfrage und andere dreißig und mehr Jahre zurückgeblieben entlausten ständig ihre Jacken glaubend die Geschichte zu korrigieren und die Zukunft aufzubauen und andere kommentierten unbeteiligt rauchend die Ideen wie Zigaretten und viele Zigaretten waren auf den Fußboden gefallen und jene zerdrückten sie mit schön polierten Schuhen und andere hatten nicht eine Zigarette um ihrer Bitterkeit den Mund zu stopfen und die Soziologie war zu einem Problem der Nuancen geworden und die Philosophie zu einem Problem der grauen Flügel … ich sah die grüne Ader im gelben Blatt ich wollte gehn der Nackte ist der Einsamste der Entschlossenste
Sehnsucht
Etwas später traf ich bei der Arbeit an einem Band mit Gedichten von Georgios Seferis den Hallenser Künstler Fotis Zaprassis, der Grafiken für dieses Buch anfertigen sollte. Zaprassis gehörte zu denen, die aus der Situation heraus, nicht nach Griechenland zu können oder später dort kein Zuhause wiederfinden zu können, sein ganzes Leben sich mit dem Griechenland beschäftigte, das ihm zugänglich war. Er kreierte es in seinen Grafiken und wurde während dieses Prozesses, gerade wegen seiner inneren Zerrissenheit, einer, der anderen den Zugang zu Griechenland ermöglichte. Derjenige, der einige Jahre lang, wenn er in Griechenland war, mit seiner Frau zusammen in einem Boot zwischen Festland und Insel hin und her fuhr, wo ihm auf beiden Seiten eigentlich nichts gehörte, er war eine Brücke, ein Vermittler, einer, der teilte, indem er sich mitteilte. Er fühlte sich einsam, befand sich aber in Gemeinschaft derjenigen, die sich als solche erfuhren, die allein waren.
Die Sehnsucht wurde von Fotis Zaprassis immer wieder thematisiert und damit das Motiv der Reise nach Ithaka, das man nie erreichte. In jedem flüchtigen Augenblick war man zuhaus.
Das traf auf die DDR-Griechen zweifach zu. DDR-Bürger, die eigentlich mehr zuhause waren, als ihnen lieb war, die sich an ihr Zuhause gefesselt fühlten und daran zugrunde zu gehen drohten, waren mit Fotis Zaprassis zumindest in Gedanken unterwegs.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Unterwegs-Sein im Geiste, die Möglichkeit des Denkens in der griechischen, aber auch in einer weiteren Sprache, Heimat ist. Im ständigen Befragen der Heimat, die uns nicht selbstverständlich gegeben war, erschufen wir sie jeden Tag.
Heimat
„Heimat“ war für viele Exilgriechen im Osten die griechische Sprache und die griechische Kultur – und diese Feststellung erinnert mich an AXION ESTI, eine schwere Doppelschallplatte, zwei schwarze Scheiben, die uns ein Freund meines Vaters 1965, als wir noch in Rumänien lebten, aus Athen mitbrachte. Ich war fünf Jahre alt. Heute ist mir, als wäre mir „Griechenland“ durch Theodorakis’ Vertonung und Elytis’ Text wie mit der Muttermilch eingeflößt worden und mir in Fleisch und Blut übergegangen, als hätte ich diese Musik und diese Verse schon 1965 mindestens tausendmal gehört.
Als würde es jetzt passieren, hier: Die Worte legen sich auf meine Zunge, auf meine Haut, steigen mir in die Nase, hallen in meinen Ohren – sie waren das, was nach Griechenland schmeckte, roch, sie waren eine Antwort während der Suche nach der Heimat, die uns genommen war, sie ersetzten das Rauschen des Meeres, die mir unbekannten Inseln, Berge, Menschen.
Alles das auf zwei zerbrechlichen Schallplatten, über die mein Vater sanft mit der Hand strich. Dann legte er die eine auf den Plattenspieler, der eingelassen war in das große Radiogerät aus der Sowjetunion. Ich bekam die Plattenhülle gereicht. Eine barbrüstige Frau in der Mitte, das Schwert in der Hand, vier geflügelte Jünglinge mit Blumen um sie herum, vier schön exaltierte Engel. Viel später erfuhr ich, dass das ein Bild von Jannis Tsarouchis war, das geheimnisvolle Bild mit den vier Jünglingen, den Musen des homosexuellen Malers. Märchenfiguren aus einer für mich damals total mysteriösen und doch tagtäglich erklingenden Welt.
Axion Esti
„Axion Esti“ ist das poetische und musikalische Zeugnis eines Volks, so eine Art Tempelbau, ein Torso, der Artefakt, von dem auf das Ganze geschlossen werden kann – und ich setze hinzu, da es mich persönlich betrifft: eines Volks der Diaspora, mitten hinein gestürzt in dieses verfluchte 20. Jahrhundert, dem Elytis den Kampf angesagt hatte. Mit seinen überschwänglichen, hymnischen, melancholischen und durch und durch lyrischen Bildern, mit dem Glauben, durch die Kraft des Geistes die Wirklichkeit formen zu können, mit seiner mir unerklärlichen Gewissheit, dass durch die Veränderung des Bewusstseins eines jeden Einzelnen, die Menschheit zu retten wäre.
Seltsam, wie Literatur zu so etwas wie ein Rettungsanker werden kann. Seltsam, wie sich mir, als wär sie ein Schal, die Trauer um Hals und Schultern legte und mit meinem Körper verwuchs, damals Anfang der achtziger Jahre in Leipzig. Und ich lese in meinem Tagebuch von damals folgende Frage, auf die ich immer noch keine Antwort gefunden habe: „Wo ist der Ort, an dem beides zusammenkommt: meine griechische Seele und mein deutscher Geist?“
Heute Vormittag Frühstück am Syndagma-Platz, zusammen mit Hans Marquardt, dem Leipziger Reclam-Verleger. Fast schon Ende Oktober, und noch immer sehr warm. Konnten draußen sitzen. Dunkelgrüne, weiche große Nadelwolken der Kiefernbäume. Neben uns an den kleinen viereckigen Tischen einige ältere Herren, alle im Anzug und mit Krawatte, die über die politische Situation stritten. Hans war neugierig zu erfahren, was das für ein Spektakel ist. Fand es fast sensationell, wie es hier zugeht.
Gegen 12 gingen wir zum Ikaros-Verlag, wo Elytis’ Gesamtwerk erscheint. Wir wollten den Verleger Nikos Karydis bitten, für uns ein Treffen mit Elytis zu arrangieren. Trafen Nikos Karydis in dem kleinen Ikaros-Buchladen in der Voulis-Straße hinterm Syndagma-Platz. Ein hagerer, älterer, sympathischer Herr, mit einer etwas aristokratischen Attitüde. Ich sagte zu Hans: „Ist nicht verwunderlich, wenn man der Verleger von Kavafis, Seferis, Engonopoulos und Elytis ist.“
Nikos Karydis erzählte uns gleich als erstes, dass er Leute aus aller Welt abweist, die versuchen, über ihn an Elytis heranzukommen. Als Höhepunkt seines Berichts folgende Geschichte:
„Während der Obristendiktatur bekam ich 1970 einen Anruf vom damaligen Kulturminister. Er wollte mit mir ein Treffen vereinbaren. Darauf hatte ich absolut keine Lust, weil ich mit der Junta-Regierung nichts zu tun haben wollte. Doch ich konnte mich nicht weigern. Ehrlich gesagt, ich hatte auch Angst. Der Kulturminister kam also am nächsten Tag in den Verlag und sagte zu mir: „Herr Karydis, Sie sind der Einzige, der Elytis davon überzeugen kann, den diesjährigen Griechischen Literaturpreis anzunehmen. Sie müssen mir unbedingt helfen, denn ich habe den Regierungschef, Herrn Papadopoulos, bereits informiert, dass Elytis dieses Jahr den Preis verliehen bekommen und dass dieser ihn annehmen wird.“ Darauf sagte ich sofort, dass es grundsätzlich ein Fehler ist, ohne vorher mit einem Autor gesprochen zu haben, solch eine Aussage zu treffen, und das gelte nun besonders für Elytis, der sowieso Vorbehalte habe, was Preisverleihungen angeht. „Nicht aus politischen Gründen“, sagte ich, „sondern prinzipiell. Ich werde Elytis informieren, daß er dieses Jahr den Preis bekommen soll, aber machen Sie sich bitte keine allzu großen Hoffnungen. Sonst sind Sie nachher enttäuscht.“ Als ich Elytis am nächsten Tag zu 1 Million Drachmen – damals sehr viel Geld – gratulierte, wurde ihm ganz schlecht, und einige Tage später verließ er Griechenland und ging nach Frankreich. Er blieb dort drei Jahre, nur um diesen Preis nicht annehmen zu müssen …“
Hans Marquard erzählte Nikos Karydis daraufhin ein paar Episoden aus der DDR-Verlagslandschaft. Ich übersetzte. Wahrscheinlich kamen wir ihm irgendwie verrückt und exotisch genug vor, sodass er grinsen musste und dann sagte: „Ich ruf mal Elytis an.“ Karydis‘ beide Töchter, die in einem winzigen Büro saßen, kamen herunter und fragten uns, ob wir Wasser und Kaffee haben wollten – wir konnten wählen zwischen griechischem Kaffee oder Nescafe.
Nikos Karydis kam nach fünf Minuten mit strahlendem Gesicht zurück und verkündete: „Herr Elytis erwartet Sie morgen Abend, Punkt 20 Uhr.“ Beim Abschied schenkte Karydis mir einen Band mit seinen eigenen neuesten Gedichten – Titel: „Bis zum Eingang“.
21.10.1984, Athen
Gestern bei Odysseas Elytis gewesen. Hans Marquardt war aufgeregt wie noch nie. Er ähnelte in einigen Augenblicken einem Schüler – das machte ihn mir sympathisch. Dann wieder der bekannte Weltmann mit versierten Manieren. Odysseas Elytis empfing uns sehr herzlich und sprach mit uns ruhig und ausgelassen. Wir hatten zuvor etwa 5 Minuten betreten vor seiner Tür gestanden, weil es noch nicht um 20.00 Uhr war. Wie zwei kleine Kinder, die sich nicht trauen, ans Lehrerzimmer anzuklopfen und einzutreten. Dann war alles sehr schön. Elytis erzählte: „Man sagt über mich, ich sei sehr schwierig im Umgang. Sehen Sie, das stimmt nicht, ich bin nur sehr vorsichtig. Merke ich, dass ich es mit Menschen zu tun habe, die ihre Arbeit ordentlich machen, dann kann man mit mir alles tun.“ Und diese Erlaubnis gab er uns de facto. Besprachen mit ihm einen Lyrik-Querschnitt im Taschenbuch und eine bibliophile Ausgabe seiner Collagen.
Seine Wohnung einfach, überhaupt nicht luxuriös. Ein Videogerät auf einem Tisch. Was mich beeindruckte: dieses in-sich-Ruhende seines Wesens. Glaube, er versuchte, unsere Reserviertheit abzubauen. Seine Bescheidenheit verblüffte mich. Überhaupt hatte ich etwas anderes erwartet. Ein wunderschöner Besuch. Elytis meinte, dass er nicht geahnt habe, wie interessant unsere Begegnung sein würde und er sich sonst bessser darauf vorbereitet hätte.
Elytis hat uns für die bibliophile Ausgabe einen unveröffentlichten Essay über die Collagen-Technik gegeben. Dann erzählte er über das Sappho-Buch, das im November herauskommen soll. Als wir mit ihm, über seine Lizenzen sprechen wollten, winkte er ab und sagte, dass ihm, nachdem er unserer Arbeit als solid und ernst einschätzen könne, die finanzielle Seite nur sekundär interessiere.
Er sagte aber auch etwas sehr bezeichnendes: „Es ist ein reiner Zufall, aber Sie kommen zu einem Zeitpunkt zu mir, da mich zwei Dinge sehr interessieren: einerseits die große Verbreitung meines lyrischen Werks unter vielen Menschen, mein Werk für das Volk also, andererseits genau diese Verschmelzung von Dichtung und bildender Kunst, beispielsweise in bibliophilen Ausgaben. Sie kommen nun zu mir und bieten mir genau das an. Ich kann ihnen sagen, dass ich jahrelang nach so einem Verlag mit solch einem Grundkonzept suchte und ihn nicht fand. Und jetzt kommen Sie.“
17.4.1985, Athen
Habe heute Jannis Ritsos besucht, der gut gelaunt war und mir unter anderem folgendes sagte: „Elytis hat leuchtende, starke Bilder in seinen Gedichten. Sie verlieren bei jeder Übersetzung und müssen verlieren, weil sie nur auf Griechisch „funktionieren“. Als man sie ins Englische, glaube ich, übersetzte, waren Kritiker der Meinung, er würde bereits „vergangene“ Schreibweisen wiederbeleben wollen. Aber das macht er bestimmt nicht. Es gibt sehr viele Elytis-Gedichte, die mir sehr gefallen.“ Ritsos erwähnte, als ich von meinem Gespräch mit Elytis erzählte, dass dieser gesagt hätte, wie sehr ihm die Ritsos-Gedichte auf Französisch gefallen haben. Dass sie sich zur Übersetzung anböten.
4.4.1986, Athen
Gestern Abend für eine Stunde bei Elytis gewesen. Im Gegensatz zu Ritsos ist er fast überhaupt nicht egozentrisch. So wird man selbst auf eine angenehme Weise gefördert. Gefördert/gefordert wird man auch bei Ritsos, doch irgendwie totaler, verkrampfter, absoluter.
Elytis trinkt jeden Abend gegen 20.00 Uhr einen Whisky. Wir sprachen, weil mir das einfiel, kurz über Bunuel. Er sagte: „Mir gefällt Bunuel, ich habe all seine Filme gesehen. Wir gleichen uns auch in einem Punkt: Er hat sich für seine Filme nicht mehr interessiert, nachdem sie fertig waren. Ich bin auch so. Ich will, wenn ich ein Buch fertig habe, das dann auch nicht mehr sehen.“
28.8.1986, Athen
Gestern mit Ina von 20.00 bis 21.00 Uhr bei Elytis. Er war nervös, überspannt, müde. Wie wenn ihn windiges Wetter nicht hätte zur Ruhe kommen lassen. Zum ersten mal in seinem Leben warte er auf den Winter. Gestern gerade von einer Reise zurückgekehrt, sein Bruder krank, zum erstenmal seit dem Krieg war Elytis nicht schwimmen. Während wir uns unterhielten, gewann er langsam seine Ruhe zurück. Dann, einen Abglanz von Frohsinn in den Augen: „Jeden Sommer male ich, so auch jetzt, in Varkiza.“
Ich sagte, dass die Gedichte aus seinem „Tagebuch“ zu einigen seiner Collagen sehr gut passen, da sie selbst collagiert, beides also aus einer Hand ist. „Ja, das kann gut möglich sein. Oft arbeite ich auch so, dass ich Verse aus verschiedenen Texten zu einem neuen Text verschmelze. Mir wurde klar, dass das eine andere Art des Schreibens ist. Ich kann nicht immer dasselbe machen, ich ändere meinen Stil ständig. Das „Tagebuch“ stellt sowieso einen großen Unterschied zu den anderen Gedichtbänden dar. Dieser ist etwas „dunkel“, würde ich sagen.“
Mittwoch, 1
IMMERZU KAUEN DIE PFERDE schlohweiße Laken, immerzu drängen sie triumphierend ins Drohende. Die Äste von Eichen, von Buchen hörte ich schleifen übers Verdeck der alten Kutsche, in die ich mich geflüchtet hatte – irgendwie wegkommen. Spielte wieder in einem Streifen, einst heimlich gedreht und dann vergilbt, von keinem je gesehen. Schnell. Bevor die Bilder verblassen. Oder plötzlich stehenbleiben – und der Film, der abgenutzte, reißt.
Mir fiel auf, dass die Gestalt der Mutter und dass Kindheitserinnerungen eine große Rolle spielen. Elytis: „Ja, für mich war das eine Auseinandersetzung mit dem Alter, die zu den vorgeburtlichen Erinnerungen führt.“
9.9.1986, Berlin
Elytis erzählte über eine Zeit in Paris, da er mit einer Textilgestalterin in einer 1-Raum-Wohung lebte. „Als ich mit ihr in dieses kleine Zimmer zog, dachte ich: Hier schaffst du gar nichts! Wir hatten zwei Schreibtische, jeder einen. Sie breitete immer ihre Entwürfe aus und begann zu zeichnen und ich ihr gegenüber – konnte arbeiten! Ich habe seltsamerweise so viel wie noch nie arbeiten können. Dort entstanden z.B. „Maria Nepheli“ und „Monogramm“.
29.8.1991
Ich las den 1984 den Gedichtband „Tagebuch eines nichtgesehenen April“ von Odysseas Elytis, auf dessen Umschlag eine verblichene Wandmalerei von Pompeji abgebildet ist, gleich nach seiner Veröffentlichung. Ich kannte den Elytis, der „Axion esti“ und das wunderbare Poem „Maria Nepheli“ geschrieben hatte. Aber erst diese Texte berührten mich sofort und anders (so daß ich spontan beschloß, sie zu übersetzen). Sie offenbarten mir apokalyptische Momentaufnahmen einer ganz persönlichen „Geschichte des Todes der Geschichte oder besser einer Geschichte der Geschichte des Todes (und das ist kein Wortspiel)“, wie es im Gedicht vom 16. April heisst.
Die formale Gestaltung der Texte, die Tagebuchform, die Sprache, die poetischen Bilder und die Methode des Abfilmens und Schneidens dieser Bilder, der „monatliche“ Hintergrund – das alles dient dazu, den mysteriösen Raum der Seele eines Menschen abzutasten, der sich damit gleichsam vor seinem Leser entblößt. Dass dieser Mensch nicht nur in der Ich-Form spricht, sondern tatsächlich der Dichter selbst ist, faszinierte mich. Denn wer gibt schon freiwillig sein Innerstes preis? Viele Kritiker befanden angesichts dieser Offenbarung des Elytis, das „Tagebuch“ stelle etwas Neues, „Dunkles“ im Schaffen des Dichters dar. Und damit meinten sie vielleicht nur die formale Seite: die für andere Elytis-Gedichte nicht typische Kargheit der poetischen Bilder, den apokalyptischen Ton der lyrischen Sprache und die Nähe dieser Texte zu seiner Prosa.
Mittwoch, 1b
DORT SAH ICH gegen Mitternacht die ersten Feuer über dem Flughafen. Weiter hierher schwarze Leere. Dann erschien flora mirabilis, aufrecht stehend in ihrem Wagen, und streute Blumen aus dem riesigen Füllhorn. Die Opfer krümmten sich zusammen, nahmen wieder die Haltung ein, als wären sie noch im Mutterleib und mit diesem eins. Am Stengel der Nacht erzitterte Selene.
*** *** *** *** ***
Ich übersetzte das „Tagebuch“ 1987/88, aber zunächst verhinderten technische, später die uns allen bekannten gesellschaftlichen Veränderungen 1989 die bei Reclam Leipzig geplante bibliophile Veröffentlichung. Dem Interesse und Engagement von Niki Eideneier vom Romiosini Verlag in Köln ist das Erscheinen dieses Buches anläßlich des 80.Geburtstages von Odysseas Elytis 1991 zu danken. Im übrigen folgte ich bei meiner Übersetzung dem Rat des Dichters, daß „eine freie Übertragung besser ist, als eine treue Übersetzung“, den er mir nicht nur mehrmals mündlich gab, sondern ihn auch für die eigenen Nachdichtungen beherzigte. Was für mich bedeutete, dass ich um so genauer den Geist und den Ton des „Tagebuches“ im Deutschen zu treffen hatte.
Elytis war der „schwierigste“ griechische Autor für mich als Übersetzer und Nachdichter. Seine teilweise rauschhafte hymnische Sprache ist fast unübersetzbar, denn er stützt sich vielmehr als andere Dichter auf das griechische Element im Klangbild und in der Semantik. Ich habe trotzdem drei Bücher von ihm übersetzt und herausgegeben (allerdings nach langwierigen und „qualvollen“ Übersetzungsversuchen):
– Odysseas Elytis. Tagebuch eines nichtgesehenen April. Mit fünf Collagen des Autors, Übertragen und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas; Romiosini Verlag, Köln 1991 – Odysseas Elytis. Der Duft des Mittagsmahls, Übertragen von Asteris Kutulas, Mit Illustrationen von Fränz Dasbourg; editions phi, Luxembourg 1993 – Odysseas Elytis, Köder für Niemand, Mit Original-Illustrationen von Gottfried Bräunling und Fränz Dasbourg, Übertragen von Asteris und Ina Kutulas; editions phi, Echternach 1996
An Frau Dr. Marion Gräfin Dönhoff / Redaktion DIE ZEIT – bezüglich des Artikels aus der ZEIT vom 12.9.1991: „Vor vierzig Jahren: Aus der ZEIT vom 13. September 1951“
Sehr geehrte Frau Dr. Marion Gräfin Dönhoff,
ich las gestern Ihren Beitrag „Friederike, Friederike“ in der ZEIT vom 12. September 1991, in dem sich Königin Friederike von Griechenland brüsten darf, humanistische Umerziehungslager für Kommunisten Ende der vierziger Jahre geschaffen zu haben. Gestatten Sie mir bitte – da die Aussagen der Königin nicht nur kommentarlos bleiben, sondern durch den Eindruck Ihres ganzen Beitrags erhärtet werden –, Sie darauf hinzuweisen, daß auf den Verbannungsinseln während des Bürgerkriegs (1946-1949) bis zu 150.000 Linke bzw. Sympathisanten bzw. ehemalige Mitglieder der antifaschistischen Widerstandsbewegung EAM deportiert waren. Inzwischen gibt es genug Zeugnisse (auch auf Deutsch), wie es in diesen Lagern zuging.
Kommunistische Umerziehungslager
Die Behauptung der Königin Friederike von Griechenland, es handelte sich um junge Kommunisten, die gezwungen worden seien, ihr bisheriges Leben mit Rauben und Morden zuzubringen, die nicht lachten und noch nie in ihrem Leben gesungen hatten – ist wahrlich ein Hohn gegenüber fast der gesamten linken Intelligenz Griechenlands, die auf den Verbannungsinseln deportiert worden war. Einer ihrer wichtigsten Vertreter, der Dichter Jannis Ritsos, wurde in diesen „Umerziehungslagern“ fünf Jahre (1948-1952) festgehalten und hat diese Schreckenszeit in seinem Band „Tagebuch des Exils“ (Deutsch: Schwiftingen Verlag, 1979) festgehalten.
Mikis Theodorakis & Makronisos
Ein anderer jahrelang auf Ikaria und Makronisos – der „Hölle“ – Festgehaltener, der Komponist Mikis Theodorakis, hat in seiner Biografie ausführlich das Lagerleben beschrieben. Darin kommt er auch an einigen Stellen auf Königin Friederike zu sprechen. Ich habe mir gestattet, Ihnen zwei entsprechende Auszüge aus dem 3. Band seiner Autobiographie DIE WEGE DES ERZENGELS (1987), die im Dezember dieses Jahres beim Luxemburger Verlag editions phi erscheinen wird, zu notieren:
Bürgerkrieg
„… Alle Griechen waren nach dem Bürgerkrieg gebeugt. Nur der Thron, die Fremden, die Oligarchie und die ihnen dienenden politischen und militärischen Eliten sowie die Polizei: sie triumphierten. Für wen wohl hatte Odysseas Elytis geschrieben: „Und sie werden mit Blüten schmücken den Sieger, der leben wird im Gestank der Leichen“? Für Papagos? Oder für Königin Friederike? …
Abfärbe-Technik
… Die sogenannte Abfärbe-Technik wurde eingeführt. Sie bestand in individuellen und Massenfolterungen, Zwangsarbeit, Durststrafen, moralischen und psychischen Erpressungen. Wenn jemand „zerbrach“, musste er, um die „Echtheit“ seiner Reue zu beweisen, seinerseits zum Folterer werden. So kam es zu einer erstaunlichen Situation, in der die meisten der „Prügler“, wie sie genannt wurden, ehemalige Häftlinge waren. Man erzählte sich, daß in der Ersten Abteilung nur zwei Offiziere Nationalisten waren. Alle anderen seien ehemalige Linke, hieß es. Das „Abfärben“ wurde systematisch betrieben: Verleugnung der Kommunistischen Partei; Bekehrungs-Briefe an die Bewohner der Heimatgemeinde: Briefe an Unbekannte, deren Adressen dem Telefonbuch entnommen wurden; Reden während der „Stunde zur nationalen Erziehung“ um 11 Uhr vormittags vor der ganzen Abteilung; Teilnahme an Pogromen gegen die hartnäckigen und uneinsichtigen Gefangenen; Teilnahme an Prügelaktionen und Folterungen. Für all diese Aktivitäten gab es ein Heft, in das der Verantwortliche die genaue Anzahl der Briefe, der Reden, Folterungen usw. eintrug. Der Kommandant der Abteilung gab persönlich die Einwilligung zum ersten Athen-Urlaub, die höchste „Anerkennung für einen Gefangenen“. Der Kommandant sah ihn von oben bis unten an, kontrollierte bedächtig dessen Heft und sagte: „Nur dreimal geprügelt, und du willst schon nach Athen? Mach fünfmal draus und komm wieder.“ Er musste also noch zweimal prügeln, der beaufsichtigende Gendarm trug das kommentierend in sein Heft ein, und dann bekam der Gefangene den ersehnten Athen-Urlaub. Dieser „Abfärbe-Prozess“ dauerte Monate.
Einsamkeit
… So breitet sich das Gefühl der absoluten Einsamkeit aus. Du bist allein, ausgeliefert der Gnade der entfesselten Elemente der Natur und des Menschen. Keiner kann dir helfen. Auf Makronisos starben Mythen und Götter. Es starb auch das Wesen, das du Mensch genannt hattest. Du warst zu einem Wurm und die anderen über dir zu Ungeheuern verkommen.
Makronisos-Tick
Hinzu kommt das ganze Theater, das die Regierung auf Kosten der Gefangenen inszenierte. Und dieses Theater, das „Becken von Siloah“, wie es von den Offiziellen genannt wurde, hatte jeden Tag eine Fortsetzung mit den verschiedenen Verlautbarungen und Besuchen der Königin Friederike und verschiedener Minister bis hin zu ausländischen Journalisten und einheimischen „Persönlichkeiten“. Die Straßen und das Sanatorium wurden weiß getüncht, ins letztere legten sich Gendarmen und spielten die Kranken. Die Zelte mussten gesäubert werden, die Vorderansicht des Lagers wurde hergerichtet. Und hinter dieser Fassade: Dreck und Hunger, Gefolterte, Verkrüppelte und Tote. Du hast keine Chance, dass dein Martyrium bekannt wird. Du bist isoliert, verurteilt, für immer verloren. Du bist allein, der Gnade deiner erbarmungslosen Folterer ausgeliefert. Da drehst du durch. Irgendeine Schraube in deinem Gehirn oder Nervensystem lockert sich, ein Riemen reißt, und dein Kopf oder deine Hand geraten dir aus der Kontrolle. Der Verrückte von Makronisos ist gewöhnlich ein willenloses Geschöpf mit einem Tick. Ein Geschöpf, das sich in Momenten der Erleuchtung seiner Lage bewusst wird, was anschließend den spastischen Mechanismus nur intensiver auslöst. Noch heute gibt es Menschen, die Tabletten nehmen, um nicht wieder vom Makronisos-Syndrom überwältigt zu werden …“ (Mikis Theodorakis)
Entschuldigen Sie die langen Zitate, die sich weiterführen ließen – aber sie stehen doch in solch einem frappierenden Widerspruch zu den Aussagen der Königin Friederike von Griechenland, dass ich nicht umhin konnte, sie Ihnen mitzuteilen.
Übrigens haben französische Intellektuelle um Aragon und Picasso bereits Ende der vierziger Jahre die Praktiken in den griechischen „Umerziehungslagern“ angeprangert und das königliche Ehepaar deswegen angegriffen, aber auch Bertold Brecht und Stephan Hermlin forderten – wenn ich mich nicht irre – die Auflösung dieser Lager in Griechenland.
ich habe erst Ihren Brief und dann jenen Artikel von vor vierzig Jahren gelesen und dabei ist mir dann wirklich ganz bange geworden.
Ich bin überzeugt, dass Ihre Darstellung und die Zitate zutreffend sind und mein Bericht über die königliche Darstellung sich als abwegig erweist. Aber damals konnte man noch nicht reisen und musste das, was Leute einem erzählten, für bare Münze nehmen.
Da man einen Artikel von vor 40 Jahren heute nicht berichtigen kann, ist Ihr Brief als Leserbrief leider nicht geeignet, aber für mich persönlich ist er eine gute Lehre, und dafür danke ich Ihnen sehr.
Mit bestem Gruß
Dr. Marion Gräfin Dönhoff, Sept. 1991
Es ging um folgenden Abschnitt aus dem am 12. September 1991 wieder abgedruckten Artikel vom 13. September 1951:
Rubrik VOR VIERZIG JAHREN (aus der ZEIT vom 13. September 1951)
… „Sie müssen bedenken“, sagte die Königin, „dass die Kinder in Griechenland seit zehn Jahren überhaupt keinen Unterricht mehr gehabt haben. Fast alle Schulen waren zerstört, und die wenigen, die übriggeblieben sind, wurden für andere Zwecke gebraucht. Und Griechenland ist arm; es dauert sehr lange, das Land wieder aufzubauen. Mein Mann aber ist der Meinung, dass die Erziehung der Kinder und die Ausbildung der Jugend wichtiger ist als alles andere, und so ist es uns im vorigen Jahr gelungen, 360 Schulen neu herzustellen. Ah, das ist ein Anblick, wenn man jetzt durch das Land fährt und sieht diese neuen Gebäude in den Dörfern und kleinen Städten! Es sind keine Paläste, aber eigentlich sind es doch die schönsten Häuser überall.“ Und die junge Königin strahlte, so wie wohl nur die Augen ihrer preußischen Vorfahren aufleuchteten, wenn sie an ihre Garnisonen und Regimenter dachten.
„Wie steht es mit der sogenannten Umschulung der Kommunisten?“ fragte ich, auf das Problem lenkend, von dem ich wusste, dass es ausschließlich auf Grund der Initiative des Königspaars in Angriff genommen war. „Wir haben damit schon vor der endgültigen Niederwerfung der Kommunisten begonnen“, antwortete die Königin. „Wenn Sie das einmal gesehen hätten, diese Gefangenenlager, in denen junge Kommunisten von 15 bis 19 Jahren hinter Stacheldraht eingepfercht waren. Kinder, die gezwungen worden sind, ihr bisheriges Leben mit Morden und Rauben zuzubringen, die nie lachten, keine Spiele mehr kannten, noch nie in ihrem Leben gesungen hatten und deren Ausdruck mehr dem böser Tiere als dem eines Menschen glich – wenn man das gesehen hat, dann sagte man sich, was ihnen fehlt, ist menschliche Nähe und Wärme.“
„Und da haben wir auf der Insel Leros“, so fuhr die Königin fort, „ganz einfach Siedlungen und Lehrstätten eingerichtet, wo Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr, die sich freiwillig in den Gefangenenlagern meldeten, in völliger Freiheit leben können.“ – „Das Schöne ist“, fiel König Paul ein, „dass die Bewohner der Insel alle mit Feuereifer und ohne jedes Entgelt mitwirken. Auch sie empfinden, dass man bei diesen Menschen nicht eine Doktrin mit einer neuen Doktrin austreiben kann …“
… – Fast könnte man diese Griechen beneiden um ihr Königspaar, das so schlicht und selbstverständlich zupackt und den Mut hat, es anders zu machen als bisher, das Wagnis eingeht, in einem neuen Geist wiederaufzubauen …“
Tag 1 nach der Wahl. Sitze abends im Studio von Mikis Theodorakis, gegenüber die Akropolis, wir verfolgen zusammen gespannt die Abendnachrichten. Mitsotakis, Tsipras, Genimata, Koutsoumbas, Veropoulos, Varoufakis – die Vorsitzenden der sechs im Parlament vertretenen Parteien erscheinen einer nach dem anderen auf dem Fernsehbildschirm und geben Erklärungen ab.
Die Kommentare einer Vielzahl von Journalisten überschlagen sich. In der ausländischen Presse wird der „Beginn einer neuen Ära für Griechenland“ regelrecht gefeiert. Die „Märkte“ sprechen der neuen Regierung ihr „Vertrauen“ aus. Tayyip Erdogan hofft, dass es ab jetzt in der Ägäis und im Mittelmeer keine Probleme mehr geben wird. Der Chef der aus dem Parlament geflogenen Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ verspricht, umgeben von entschlossen nach vorn blickenden uniformierten Anhängern, wieder auf die „Straße“ zurückzukehren, „von wo wir gekommen und wo wir stark geworden sind“. Das kann man nur als Drohung verstehen.
Mikis stellt den Fernsehton leiser und sagt: „Es muss in Griechenland endlich ein wirksames Anti-Nazi-Gesetz geben. Diese Typen müssen sofort verhaftet und verurteilt werden und gleich darauf ins Gefängnis – und zwar für lange. Es ist unerträglich, wie sie ungehindert ihre Hetz-Propaganda in der Gesellschaft verbreiten können. Ich habe so ein Gesetz schon 2013 gefordert; jetzt werde ich mich deswegen auch an Mitsotakis wenden.“ Mikis kaut auf seiner kubanischen Zigarre herum – die er aus gesundheitlichen Gründen aber nicht mehr rauchen darf – und stellt den Fernsehton wieder lauter.
Die Namen der neuen Regierungsmitglieder werden bekanntgegeben. 18 der 51 Ministerposten – in Griechenland gelten auch die „stellvertretenden Minister“ als Minister – sind mit Technokraten besetzt. Und fast alle anderen Minister erweisen sich tatsächlich als kompetente Fachleute für den Zuständigkeitsbereich des ihnen jeweils zugewiesenen Ministeriums. Das ist ein Novum in der griechischen Geschichte. In den letzten 100 Jahren galten andere Kriterien: Ministerposten wurden durch die mächtigsten Parteifunktionäre besetzt. Das war von Belang, nicht ihr fachliche Kompetenz. Den Bruch mit dieser unsäglichen Tradition hatte Mitsotakis vor seiner Wahl versprochen. Die Reaktionen innerhalb der Partei und innerhalb der Parlamentsfraktion werden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Die Frage wird sein, wie lange Mitsotakis bei den zu erwartenden Angriffen standhalten will und wird.
Alexis Tsipras, die abgewählte Ministerpräsident, bekommt durch sein starkes Wahlergebnis von 31,5% der Stimmen eine zweite Chance. Es fühlt sich wie ein Sieg in der Niederlage an. Er wird die nächste Zeit nutzen, um auf der Grundlage einer großen Wählerschaft aus seiner mitgliederschwachen SYRIZA eine Volkspartei zu machen. Und er muss eine wichtige strategische Entscheidung treffen: Will er weiterhin in Europa zu den „Linken“ gehören, oder wird er sich über kurz oder lang im „grünen Lager“ positionieren?
Die kleinen Parteien werden durch die Polarisierung der beiden großen Parteien zwischen diesen zerrieben. „Potami“, „Zentrumsunion“ und „Goldene Morgenröte“ sind aus dem Parlament geflogen, in dem nicht mehr acht, sondern nur noch sieben Parteien vertreten sind.
Im Fernsehen spricht gerade Kyriakos Velopoulos, dessen Partei „Griechische Lösung“ mit 3,7% neu ins griechische Parlament eingezogen ist. Bekannt wurde Velopoulos in den vergangenen Jahren als Kommentator in Spartenkanälen, als Telemarketing-Verkäufer von Büchern aus der eigenen Druckerei und als Vermarkter esoterischer Heilmittel. Dazu bemerkte mein Freund Wassilis Aswestopoulos in einem kürzlich geführten Gespräch: „Seine Wähler können keinen Widerspruch darin sehen, dass Velopoulos ihnen Haarwuchsmittel als „geheime Wundermittel“ verkauft, selbst aber eine nicht zu übersehene Halbglatze hat. Sie haben auch die von ihm als „Original Handschriften von Jesus Christus, unserem Gott!“ lautstark angepriesenen schriftlichen Dokumente einiger Mönche gekauft. Gebannt lauschen sie seinen Analysen, in denen er von einem wieder erstarkenden, zur Großmacht werdenden Griechenland schwärmt.“
Mikis schaltet den Fernseher aus und meint: „Es reicht. Hören wir uns meine 7. Sinfonie an.“ Sofort sind sie da, die Allmacht und die Schönheit der Musik. Und dann im dritten Satz die Worte von Jannis Ritsos: „Nächtlicher Hafen / Lichter, ins tiefe Wasser gerissen / Gesichter ohne Spuren, nichtssagend / kurz erhellt von den Scheinwerferlichtern / der Schiffe in einiger Entfernung / verschattet im Vorübergehn“.
Gestern Abend war ich bei Dimitris, einem Freund, der eine Werbeagentur leitet. Wir sahen uns die Fernsehdebatten nach der Wahl an. Als die Wahlergebnisse bekannt waren, fragte ich ihn nach seiner Meinung. Dimitris streckte mir drei Finger entgegen: „Es gibt drei Sieger bei diesen Wahlen in Griechenland: die Demokratie, die rechts-konservative Partei „Neue Demokratie“ (ND) und die sozialistische Partei SYRIZA. Die Demokratie, weil die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“ an der 3%-Klausel gescheitert und darum nicht länger im Parlament vertreten ist. Die „Neue Demokratie“, weil sie mit ihrem Spitzenkandidaten Konstantinos Mitsotakis die Wahl mit fast 40% gewonnen hat und die Regierung bilden wird. SYRIZA, weil für die Partei von Alexis Tsipras die 31,5% Zustimmung einen beachtlichen Erfolg darstellen und SYRIZA damit die im Vergleich stärkste europäische sozialistische Partei geworden ist.“
Eine Minute, nachdem die exit pools bekannt gegeben wurden, akzeptierte SYRIZA die Wahlniederlage; wenig später rief TayyipErdogan den zukünftigen griechischen Ministerpräsidenten an und gratulierte ihm zum Sieg. Dagegen fällt der Freudentaumel der Anhänger des Wahlgewinners sehr bescheiden aus. Kein Überschwang, kein Fahnenmeer, keine Autokorsos … Das Volk bleibt zuhause vor den Fernsehapparaten und … wartet ab.
Wassilis Aswestopoulos, ein guter Freund und ein exzellenter Autor, der als Fotoreporter für die deutschen Medien in Griechenland arbeitet, erläutert mir seine Sicht auf die Situation: „Mitsotakis hat – anders als Tsipras und anders als seine konservativen Vorgänger – auf Fahnen schwingende und Parolen brüllende Parteihelfer bei seinen Wahlveranstaltungen verzichtet. Sein Wahlkampf orientierte sich an westlichen Vorbildern. Er erinnerte mehr an Obama als an die üblichen, populistischen Volkstribunen, denen die Griechen bislang ihre Stimme gaben. Mitsotakis wirkt wie ein College-Boy, wie eine griechische Kennedy-Version. Er möchte eine Gesellschaft der Eliten schaffen. Nicht mehr die Familie, sondern vielmehr die Ausbildung und die individuelle Leistung sollen die Berufslaufbahn bestimmen. Der Spross eines der größten Familien-Clans hat der Clanherrschaft den Kampf angesagt. #MetonKyriako, #MitKyriakos hieß der von der Partei in sozialen Medien verbreitete Hashtag, der die Familienbande in den Hintergrund stellen soll.“
Wassilis war noch ein Punkt wichtig: „Mit einer knallharten Law & Order Politik möchte die Partei die bislang an rechtsextreme Parteien verlorenen „besorgten Bürger“ zurückgewinnen. Und den Verlierern der Krise, den Armen verspricht Mitsotakis das bedingungslose Grundeinkommen. Er sieht sich als Vertreter des ganzen Volkes und nicht nur als Vertreter seiner eigenen politischen Klientel.“
Wie eine Bestätigung dessen kam in einer der zahllosen Debatten im Fernsehen folgende Erklärung von Makis Voridis, dem Fraktionsvorsitzenden der ND: „Mitsotakis ist kein Demagoge. Er hat alles angekündigt, was wir jetzt umsetzen wollen. Wir hatten und haben keine Hidden Agenda. Deshalb ist unser Programm vom griechischen Volk gewählt worden. Genau das werden wir umsetzen.“ Für einige Griechen hört sich das wie ein Neu-Anfang an, für andere wie eine Drohung.
Kurz darauf erscheint Alexis Tsipras vor den Kameras. Er sieht vollkommen entspannt – und irgendwie erleichtert aus. Er gratuliert Mitsotakis und bemerkt, dass seine Regierung vor vier Jahren eine katastrophale Situation, ein Land in Auflösung und kurz vor der Verarmung übernommen hatte, jetzt aber ein Griechenland an Mitsotakis übergibt, in dem die Arbeitslosigkeit halbiert wurde, die Staatskassen saniert sind, das Land den europäischen Rettungsschirm verlassen konnte und eine Reserve von 32 Milliarden der zukünftigen Regierung viel Gestaltungsfreiheit bieten. – Und tatsächlich berichteten Medien in den letzten Monaten, dass sich die Brüsseler Bürokraten immer wieder anerkennend äußerten: „Tsipras liefert“. Jetzt, scheint es, hat er die letzte Lieferung getätigt.
Dimitris sagt: „Es gibt wieder zwei Pole: die ND auf der einen und SYRIZA auf der anderen Seite. Hoffen wir, dass das nicht dieselbe Polarität zur Folge hat, wie wir sie in den letzten vierzig Jahren zwischen ND und PASOK erlebten. Hoffen wir, dass sich sowohl die „Neue Demokratie“ geändert und aus der Krise gelernt hat, als auch dass SYRIZA nicht in die Fußstapfen von PASOK tritt und sich stattdessen zu einer fortschrittlichen „grünen Volkspartei“ entwickelt. Und hoffen wir, dass die Kommunisten der KKE und der neu ins Parlament eingezogene Jannis Varoufakis mit seiner MERA25-Partei eine realistische, demokratische Gesellschaftsalternative entwickeln werden, wozu sie sich ja berufen fühlen.“ Ich antworte mit: „Amen!“
Morgen wird gewählt. Ich habe in den letzten Tagen bei Freunden, Bekannten oder bei zufälligen Begegnungen keine Hoffnung gespürt, habe nichts Positives erfahren – selbst, wenn mein Gegenüber vom besten aller möglichen Wahl-Ergebnisse seiner jeweils präferierten Partei ausging. Bei Neue-Demokratie-Anhängern, die einen großen Sieg erwarten, überwiegt eher die Freude darüber, dass SYRIZA verliert, als dass sie davon überzeugt wären, dass durch den Sieg ihrer Partei eine „bessere Zukunft“ bevorsteht. Manchmal hatte ich das Gefühl, eher fürchten sie sich vor den kommenden Entscheidungen ihrer Partei. Bei SYRIZA-Anhängern überwiegt das Argument, dass mit der Neuen Demokratie die Rechtsradikalen an die Macht kommen. „Koulis“ (so wird Mitsotakis hier mit pejorativem Unterton gerufen), heißt es, hätte Vertreter von LAOS und aus dem Umfeld der „Goldenen Morgenröte“ in den letzten Jahren mit ins Boot geholt, um dieser faschistischen Partei das Wasser abzugraben, die tatsächlich über die Hälfte ihrer Anhänger einbüßte.
Dabei sind die Programme – vor allem die der beiden großen Parteien – voll mit Wahlversprechen. Große Unterschiede gibt es nicht. Mein Freund Konstantinos sagte heute: „Egal, wer gewinnt, ob Alexis Tsipras oder Konstantin Mitsotakis, glaubst du wirklich, einer dieser beiden wird es wagen, das oligarchische System in Griechenland anzugreifen, die Grundlage von Korruption, Steuerhinterziehung und die eigentliche Ursache für die Krise?“ Wir sitzen im „Diplo“, einem wunderbaren Café auf dem Exarchia-Platz.
Es ist heiß. Ein Hund liegt in der Sonne, wie im tiefsten Frieden. Im Gegensatz zu gestern heute Wind. Konstantinos erklärt: „Frag doch mal, wie viele der 2.000 Namen aus der Lagarde-Liste mit vermuteten griechischen Steuerflüchtlingen in der Schweiz bislang überprüft wurden, seit die Liste vor sieben Jahren aufgetaucht ist! Bestimmt nicht mehr als 100. Die französische oder die deutsche Regierung haben im selben Zeitraum Tausende überprüft und sich Milliarden Steuergelder zurückgeholt. Und dabei ist diese Liste hier bereits durch die Hände eines ND-, eines PASOK- und eines SYRIZA-Finanzministers gegangen.“
Ein älterer Herr vom Nebentisch, der gehört hatte, dass wir uns über Tsipras unterhalten, mischt sich ein, ziemlich erbost: „Ich jedenfalls glaube Tsipras kein Wort mehr! Er hat uns versprochen, den Mindestlohn von 350 auf 750 Euro anzuheben. Und was hat Tsipras gemacht? Der Mindestlohn, den ich kriege, ist jetzt nur bei 550 Euro. Ich werde dieses Mal Mitsotakis wählen; der hat angekündigt, den Mindestlohn sogar abzusenken, wenn es sein muss, und Mitsotakis hält, was er verspricht. Ich lass mich nicht länger von Tsipras verarschen. Der hat versprochen, versprochen und nichts gehalten.“ Ich dachte, der Mann hätte gescherzt, merke allerdings sehr schnell, dass er das ernst meint. Auf meinen Einwand, dass der Mindestlohn inzwischen auf 650 Euro angehoben wurde und er im Fall einer Absenkung weniger Geld in der Tasche haben würde, schlägt der Mann erbost mit der Faust auf den Tisch: „Mein Junge, ich lass mich nicht von diesem Lügner verarschen, verstehst du?“ Konstantinos zuckt mit der Schulter: „Asteris, willkommen im griechischen Wahlkampf 2019! Die Leute sind einfach durcheinander. Und nach inzwischen fast zehn Jahren Krise müde.“
Dann deutet Konstantinos auf einen Mann, Mitvierziger, und sagt: „Da hast du dein positives Beispiel. Das ist Castro“. Er erzählt, dass Castro ein syrischer Flüchtling der ersten Stunde ist, ein Aktivist und Organisationstalent. „Castro hat in Athen Strukturen geschaffen, die Flüchtlingen, aber auch Griechen helfen, sich autark zu organisieren und Überlebensstrategien zu entwickeln, wo der Staat versagt. Castro hat Spenden gesammelt, außerhalb von Athen billig Land gekauft, das bewirtschaftet wird, hat Arbeitsplätze geschaffen und jetzt hier am Exarchia-Platz einen Falafel-Laden eröffnet, wo man mit jeweils so viel zahlt, wie man gerade geben kann. Eine funktionierende, selbst organisierte Parallelwelt, die den Menschen Hoffnung gibt und Mut macht. Solche funktionierenden Parallelwelten gibt es inzwischen einige in Griechenland. Auch viele griechische Jugendliche gehen diesen Weg, verlassen Athen und bauen Kommunen im ganzen Land auf. Parallelwelten, die sich schützen und nicht vereinnahmt werden wollen.“
Wir verabschieden uns. Konstantinos umarmt mich und gibt mir das mit auf den Weg: „Wenn du morgen wählst …“ Ich unterbreche ihn: „… wähle ich das kleinere Übel!“ Er lacht, und ich gehe zur Metro-Station Omonia-Platz.
Athen ist ruhig, seltsam still, unaufgeregt. Null Wahlkampfstimmung. Die Menschen bereiten sich auf die Sommerferien vor. Ich habe das Gefühl, wenn nicht auf den Fernsehbildschirmen in Restaurants oder Kafenions die diversen Politikerköpfe auftauchen würden und wenn es nicht ein paar zentrale Wahlveranstaltungen der Parteien gäbe, würde man vom Wahlkampf gar nichts merken.
Mein alter Freund Dionissis meint desillusioniert: „Es geht bei diesen Wahlen um nichts, glaub mir.“ Ich nehme einen Schluck griechischen Kaffee „me oligin“, mit wenig Zucker, und erwidere: „Tsipras hat gestern gesagt, es geht um UNSER LEBEN.“ Dionissis schüttelt den Kopf: „Alles Floskeln. Kuck sie dir an, diese traurigen, machtgeilen Gestalten: Konstantinos Mitsotakis von der Neuen Demokratie, Alexis Tsipras von SYRIZA, Fofi Genimata von der Ex-PASOK-Bewegung KINAL, Nikos Koutsoumbas von den Kommunisten … Und dazwischen auch noch der gescheiterte Ex-Finanzminister Varoufakis mit seiner neuen Partei Mera25 – irgendwie alles „greise“ Politiker von gestern. Kein Visionär darunter, keine inspirierende Persönlichkeit, nichts, alles Luftnummern. Wir sind wirklich verloren.“ Er nimmt einen Schluck Bier, schaut sich um und krempelt seine Ärmel hoch. Es ist sehr heiß in Athen.
2012 war Dionissis noch Mitglied der Hackergruppe Anonymus. Ende Januar 2012 schickte Anonymus eine Botschaft an die damalige griechische Regierung, in der es hieß, das Volk solle keine Angst haben vor seiner Regierung, sondern die Regierung solle Angst haben vor dem Volk. Ich erinnere ihn daran. Dionissis will nichts mehr davon wissen: „Das ist Schnee von gestern. Außerdem ist ja durch SYRIZA das Volk an die Macht gekommen … oder?“ Er lacht selbst laut über diesen billigen Witz und klopft mir auf die Schulter. „Asteris, weißt du, was mich wirklich wütend macht?“ Er schaut mir direkt in die Augen. „Mich macht wütend, dass die Faschos von der Goldenen Morgenröte und der „Griechischen Lösung“ insgesamt bestimmt auf 7% kommen. Wie kann man nur solche furchtbaren und gefährlichen Typen wählen? Es gibt keine Hoffnung, mein Bruder. Es geht nur noch um das EIGENE Leben. Ich werde mit meiner Familie Griechenland verlassen. Wir ziehen zu meinem Cousin nach Perth. Ich kriege dort einen sehr guten Job in der Perlen-Produktion.“
Diesen „Schlussstrich“ haben in den Jahren der Krise inzwischen mehr als 600.000 vor allem jüngere Griechen gezogen. Griechenland verliert seine Zukunft. Sehr viele meiner Landsleute sind total ernüchtert, müde und kaputtgespielt. Solche resignierten Aussagen habe ich gestern und heute zuhauf gehört: Die griechischen Politiker haben das Land „verkauft“ und „verraten“, die EU hat Griechenland herabgewürdigt und abgestoßen, und aus der Hoffnung und „System“-Alternative SYRIZA wurde ein Stabilisator des „Systems“. Auch Dionissis bringt es auf diesen Punkt: „Nach vier Jahren SYRIZA-Regierung hat uns das „System“ eine klare Botschaft geschickt: Keiner kann dem System was anhaben. Das System hat ohne große Mühe selbst die „Radikalen Linken“ von SYRIZA absorbiert und sich untertan gemacht.“
Dionissis wechselt das Thema: „Wie findest du es in dieser Location? Ich dachte, dir als deutschem Griechen wird es gefallen, dass wir uns in einer der besten Bierbars Athens treffen.“ – „Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss. Ich trinke keinen Alkohol. Ich bleibe bei meinem Kaffee.“ Dionissis schaut mich ungläubig an. „Ich sollte auch keinen Alkohol trinken. Das Bier kostet hier 5 Euro, und ich kann mir das eigentlich nicht leisten.“
Gleich nach meiner Ankunft in Athen fuhr ich ins Stadtzentrum. Elisa hatte sich mit mir verabredet im Restaurant SAH. „Kam, sah … und eröffnete das SAH“, dachte ich. Elisa, eine Performance-Künstlerin, deren Kunst darin besteht, sich in diversen Underground-Locations Schmerzen zuzufügen. Sie weiß, dass ich diese Art von Aktion schwer ertragen kann. Sie sagt, sie verkörpere Griechenland. „Da kommt ja mein größter Fan!“ Elisa umarmt mich und beißt mir in die Schulter. „Nein, bitte nicht!“, ich schiebe sie weg, sie lacht und stellt mir ihren neuen Freund vor: „Das ist er! Stefanos! Er arbeitet bei der Post.“ Stefanos, 35, Bartträger, blaue Augen, nur noch wenig Freiraum zwischen seinen Tattoos.
Während des Essens bemerke ich, dass sich die Gäste im gegenüberliegenden Restaurant eine Fernsehdebatte fünf älterer Herren ansehen, bei der es immer wieder Einblendungen von Alexis Tsipras gibt. „Worum geht’s da?“, frage ich Elisa und Stefanos. Elisa winkt ab: „Alles dreht sich gerade um ein Fernsehinterview, das Tsipras dem Sender SKY vor zwei Tagen gegeben hat. Jahrelang boykottierte er SKY, weil die immer Anti-SYRIZA-Propaganda gemacht haben.“ Stefanos unterbricht sie: „Aber 5 Tage vor der Wahl wollte er sich die 40% Zuschauerquote nicht entgehen lassen.“ – „Klar!“, meint Elisa. „Tsipras wird die Wahl verlieren und greift nach jedem Strohhalm, um sich noch mal darstellen zu können.“ Ich frage die beiden: „Und wie war das Interview?“ – „So, wie er regiert hat – es war seltsam!“ – „Wie meinst du das?“
Elisa streicht sich mit der Hand übers Gesicht: „In den letzten Jahren wirkte Tsipras so abgehoben, wie nicht von dieser Welt; er gab sich oft aristokratisch staatsmännisch – das war ein krasser Gegensatz zur profanen und üblen Realität hier.“ Stefanos erklärt: „Die Gesetze werden in Brüssel gemacht, Griechenland ist eine Schuldenkolonie und Tsipras deren Staathalter. Egal, wer in Athen die Wahlen gewinnt – regiert werden wir von Brüssel aus.“ Elisa stimmt ihm zu: „Deshalb ging es Tsipras ab einem bestimmten Punkt nicht mehr um Griechenland, sondern vor allem um das Wohlwollen der Brüsseler Bürokratie und der europäischen Staatschefs. Er wollte von Frau Merkel, von Tusk und von Juncker als Staatsmann auf Augenhöhe akzeptiert werden …“ Ich werfe ein: „Ist doch nicht schlecht für Griechenland, wenn unser Premier in Europa respektiert und nicht beschimpft wird …“ Stefanos zuckt mit der Schulter: „In Griechenland kann er nicht mehr viel ausrichten, seit er sich dem Brüsseler Diktat im Juli 2015 unterworfen hatte.“
SAH, denke ich, wär auch in Berlin ein guter Name für ein Restaurant. Auf dem Fernsehbild von gegenüber jetzt wieder groß Tsipras‘ Gesicht. „Er sieht entspannt aus“, sage ich, und Stefanos erwidert: „Seine bevorstehende Niederlage macht ihm nicht viel aus. Tsipras hat sich – vor allem durch die Lösung für den Mazedonien-Namensstreit – der europäischen Nomenklatura „angedient“; der hat in den letzten beiden Jahren mit kühler Hand regiert, weil er für den Nobelpreis vorgeschlagen werden wollte und weil er in Zukunft Kommissionsmitglied in Brüssel sein möchte. Griechenland interessiert ihn nicht besonders. Er hat „europäische“ Politik gemacht, keine griechische.“
Elisa konstatiert ziemlich resigniert: „Griechenland liegt am Boden, die Konservativen, die uns diese ganze Scheiße eingebrockt haben, kommen wieder an die Macht, und Tsipras sieht zufrieden aus. Das ist die Situation.“ Ich frage: „Aber ist das nicht eine außerordentliche Leistung, aus einer 4%-Bewegung eine Regierungspartei zu machen und nach vier Jahren an der Macht immer noch 25% der Wähler halten zu können?“ Für Stefanos gibt es keine Diskussion: „Was ich Tsipras vorwerfe ist, dass er dafür gesorgt hat, dass die Konservativen von der ND wieder an die Macht kommen.“
„Bei der nächsten Performance bin ich Elisa-Hellas,“ sagt Elisa. „Um mich herum Sushi-Meister, die mir Instrumente reichen … Ihr wisst, warum es keine Frauen als Sushi-Meister gibt?“ Sie schaut uns an. Ich schüttle den Kopf. „Weil die kühlere Hand-Temperatur des Mannes eher geeignet ist, Sushi zu machen … Also von mir gibt es jetzt für Euch Brüsseler Sushi.“ Sie nimmt ein Messer und beginnt, sich in die Hand zu ritzen.
Sitze im Flugzeug nach Athen. Am Sonntag wird in Griechenland gewählt. Und obwohl ein „Machtwechsel“ bevorsteht, scheint niemand – zumindest unter meinen Bekannten – besonders „besorgt“ oder „aufgewühlt“ zu sein. Was für ein Gegensatz zu den zwei Wahlen 2015.
„Die Deutschen sind unzuverlässig geworden. Aber irgendwie seltsam unzuverlässig.“ Neben mir sitzt George, ein griechischer Musiker, der ein Gespräch mit mir führen will: „Wir Griechen sind zumindest zuverlässigunzuverlässig. Abgesehen natürlich von den Müttern, die sind nicht unzuverlässig …“ Er hält inne und dreht den Kopf zu mir: „Gehst du auch wählen? Die Rechten von der Neuen-Demokratie-Partei kommen jetzt wieder an die Macht.“ – „Und wie findest du das?“, will ich wissen. George dreht den Kopf leicht zu mir hin, knetet ein Stück Papier zu einer Kugel und sagt: „Ich weiß es nicht.“
Das habe ich in letzter Zeit sehr oft gehört. Viele meiner Landsleute wissen nicht, wen bzw. was sie wählen sollen, und viele können nicht glauben, dass die Partei „Neue Demokratie“ mit ihrem Spitzenkandidaten Konstantin Mitsotakis innerhalb von vier Jahren wieder zu einer wählbaren Alternative geworden ist. Immerhin waren diese Partei und ihre Politiker – zusammen mit der sozialistischen PASOK – hauptverantwortlich für die größte politische, ökonomische und humanitäre Krise im Nachkriegsgriechenland. Eine Freundin aus Kalamata sagte mir kürzlich am Telefon: „Nach vier Jahren Alexis Tsipras und SYRIZA wissen wir: Die machen alle dieselbe Politik. Also warum nicht gleich das Original des kapitalistischen Systems wählen? Die von der Nea Dimokratia sollten das am besten können.“ Tatsächlich kann man im Griechenland von 2019 nicht zwischen alternativen Politiken, sondern nur das wählen, wovon man glaubt, es sei das „kleinere Übel“.
Mein Freund Nikos, den ich letzte Woche während eines Kurztrips nach Athen auf einen Kaffee am Syntagma-Platz getroffen hatte, ist anderer Meinung: „SYRIZA hat einen neuen Politik-Stil eingebracht und hat durch viele kleine Schritte eine viel sozialere Politik gemacht, als es alle anderen Parteien getan hätten. Und die SYRIZA-Politiker sind nicht korrupt, im Gegensatz zu den alt eingesessenen.“ Bei der Schlacht zwischen den beiden führenden Parteien, die bei den Umfragen eine große Differenz aufzeigen (ND: 35%, SYRIZA: 26%), geht es darum, wer das Land am besten aus der Krise führen kann. SYRIZA konnte offenbar in den letzten vier Jahren nicht überzeugen – und viele „Versprechen“ nicht erfüllen. Und die Konservativen um Mitsotakis nutzten geschickt die vielen Fehler und die generell schwierige Ausgangsposition ihrer politischen Gegner aus, um das Wahlvolk vergessen zu lassen, welche Griechenland-Politik sie selbst jahrzehntelang gemacht hatten, und um ihr Wahl-Versprechen von einem besseren Lebensstandard plausibler zu „verkaufen“.
Sehr viele Griechen, vor allem die Jugendlichen, mussten ihr Lebensniveau drastisch nach unten schrauben. Die Verluste überwiegen. Viele von ihnen haben sich an die neue Armut „gewöhnt“. Meine Freundin Marina schrieb mir unlängst in einer Mail: „Weißt Du, die Sonne und das Meer kann uns keiner nehmen. Scheiß auf die Politiker.“ Ich antwortete ihr: „Ist das deine neue Definition von „Engagement“?“ Ihre nächste Mail kam prompt: „In einem Land, in dem selbst die „Radikalen Linken“ der SYRIZA nichts gegen das „System“ ausrichten können und eigentlich auch nichts ausrichten wollen, ziehe ich es vor, das Meer der Ägäis zu genießen, etwas Sex zu haben und mich intensiv mit der Imkerei zu beschäftigen und mit dem Oregano auf meinem Balkon.“
Gleich landen wir. Athen hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Zum Guten und zum Schlechten. Die Wahlen am Sonntag entscheiden wahrscheinlich gar nichts, außer dass alles beim Alten bleibt, nur noch etwas verschärfter, so scheint mir – aber vielleicht irre ich mich. „Gleich sind wir unten“, sagt Giorgos. „Zuhause! Heimat! Super!“ Das Flugzeug setzt auf. Es ruckelt kaum. Auf einem der Flughafengebäude weht die blau-weiße griechische Fahne.
… im Dezember 2016 während der Vorbereitung des zweiten Edition von Hellas Filmbox Berlin (im Januar 2017)
Elena Taxidou: Wie entstand bei Ihnen die Idee zur Gründung des Festvals?
Asteris Kutulas: Zwischen März und Juni 2015 gab es wegen der Wahl der linken Tsipras-Regierung (die einen plötzlichen Erdrutsch in der griechischen Parteienlandschaft bedeutete) einen signifikanten Umschwung in der Kommunikation der deutschen Öffentlichkeit im Hinblick auf Griechenland. Die Urteile waren massiv negativ und hauptsächlich undifferenziert, das Klima zwischen beiden Ländern vergiftet von Schuldzuweisungen, Empörung, Verächtlichkeit, Spott. Diese durchweg „schlechte Stimmung“ gegenüber allem Griechischen und bedauerlicherweise allen Griechen wurde von verächtlichen Stereotypen angeheizt und sowohl von der deutschen Politik als auch von der deutschen Presse ständig reproduziert. Positives und Kreatives war kein Thema mehr.
Die Medienlandschaft in Deutschland zeichnete sich in ihrer Berichterstattung über Griechenland wahrlich nicht durch Differenziertheit und wohlbedachte Worte aus. Wenn man jetzt plötzlich, Ende 2016, von kommunikativen «Echokammern» spricht und sich an diese Zeit erinnert, dann wird man feststellen, dass sich bereits Anfang 2015 beinah ganz Deutschland in solch eine «Echokammer» verwandelt hatte. Erst Jan Böhmermanns Reaktion, der mit seinem Varoufakis-Stinkefinger-Video mehr als überraschte, war ein Appell, der zum Nachdenken aufforderte.
Das Griechenland-Bashing, das 2010 mit dem der griechischen Göttin Aphrodite von einem deutschen Journal aufgesetzten Stinkefinger begonnen hatte, wirkte sich massiv negativ aus, bis hinein in den Alltag Zehntausender Griechen in Deutschland. Es resultierte daraus eine Situation der Feindseligkeit, die sich keiner bis dahin hätte vorstellen können. Deutsche und griechische Künstler und Aktivisten wollten sich auf diesen Prozess der Entfremdung konstruktiv reagieren. Sie gründeten im Frühjahr 2015 die Deutsch-Griechische Kulturassoziation. Deren erstes politisches „künstlerisches Statement“ war die Gründung des griechischen Filmfestivals HELLAS FILMBOX BERLIN, das im Januar 2016 erstmals stattfand.
Taxidou: Wie war das erste Feedback auf das erste Festival im Januar 2016?
Asteris Kutulas: Wir haben HELLAS FILMBOX BERLIN 2105 mit dem Anliegen initiiert, mit den Mitteln der Kunst Brücken zu bauen zwischen Deutschland und Griechenland in einer für die Beziehung der beiden europäischen Länder schwierigen Zeit. Das ist in eindrucksvoller Weise gelungen. Die im traditionsreichen Kino Babylon gezeigten 71 Filme wurden an 4 Tagen von Tausenden von Zuschauern besucht und das Festival in über 220 Presseberichten in Print, Rundfunk und TV besprochen (u.a. in großen Beiträgen in BILD, DIE ZEIT, STERN, SAT1, in diversen ARD-Medien etc.).
Von den 36 Filmvorführungen (Slots) waren 15 ausverkauft und weitere 10 fast ausverkauft. Ausverkauft waren auch der Opening- und der Closing-Event des Festivals, bei denen u.a. folgende Gäste auftraten: Vicky Leandros, Hans W. Geißendörfer (Köln), James Chressanthis (Los Angeles), Holger Ehlers, André Hennecke, Klaus Hoffmann, Michael Kastenbaum (New York), Kostas Papanastassiou, Anna Rezan (Athen), Melentini, Sarah P., Sandra von Ruffin und viele andere.
Das Festival hat bewiesen, dass HELLAS FILMBOX BERLIN nicht nur ein starkes künstlerisches Statement in der deutschen Hauptstadt ist, sondern dass es zugleich ein breites – und zudem auch jugendliches – Publikum angesprochen hat.
Taxidou: Wie einfach oder wie schwer war es letztendlich aus dem Nichts heraus ein Filmfestival in der deutschen Hauptstadt zu gründen? Und warum hat es vorher kein Griechisches Filmfestival in Berlin gegeben?
Asteris Kutulas: Wir begannen 2015 im April mit der Planung und ab Juni mit den Vorbereitungen für das 1. Festival. Wir haben viele Gespräche geführt und ein Konzept entwickelt, um in Berlin das deutsche Kino-Publikum zu erreichen. Wir haben das Ganze nicht als „Filmfestival“, sondern als „Event“, als „Politikum“ vermarktet. Und wir haben etwa 30 Filme ins Deutsche übersetzt und untertitelt. Das war eine ganz wesentliche Entscheidung. Im Kino haben wir es ja nicht nur mit Bildern, sondern auch mit Sprache zu tun. Sie können, wenn Sie ein breiteres deutsches Publikum für griechische Filme interessieren wollen, diese Filme nicht mit englischen Untertiteln zeigen.
Das größte Problem bestand und besteht weiterhin allerdings darin, dass unser Festival nicht durchfinanziert ist, so dass wir unsere Kosten nicht decken können. Neben der Unterstützung durch die Niarchos Stiftung Athen und die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn (für die deutschen Übersetzungen) sind wir auf Spenden und Sponsoren-Leistungen von Freunden und Unternehmen angewiesen. Aber auch diese reichen nicht aus, so dass wir unser Festival letztendlich nur durch den immensen Einsatz unseres hochmotivierten und sehr inspirierenden HELLAS FILMBOX-Teams verwirklichen können. Letztendlich entscheidet sich in solch einem Team, ob es dieses Festival gibt bzw. Ob es überleben kann.
Taxidou: Wie schätzen Sie das deutsche Publikum ein nach den Erfahrungen des ersten Festivals?
Asteris Kutulas: Gernot Wolfram, Professor für Cultural Studies an der Macromedia Hochschule Berlin, charakterisierte das für das deutsche Publikum Interessante an unserem Festival wie folgt: „Griechenland steht bei diesem Festival als Synonym für einen Aufbruch jenseits nationaler Logiken … Statt in langweiligen Eindeutigkeiten zu denken, fordert das HELLAS FILMBOX Festival den Entdeckergeist der Zuschauer heraus.“ Wir haben darauf vertraut, dass die Besucher des Festivals auf diese Realität in den Werken der Filmemacher gespannt sind. Wir waren davon überzeugt, dass es eine Offenheit dafür gibt, auch andere als die in den Leitmedien vermittelte Sichtweisen wahrnehmen zu wollen und sich dazu in Beziehung zu setzen.
Ja, man kann gewiss sagen: Wir Griechen – und zwar wir alle – haben in den vergangenen Jahrzehnten unseren „Job für Griechenland“ nicht gut gemacht. Unser Land ist ruiniert. Griechenland erlebt eine Katastrophe. Behauptungen wie die, dass Griechenland die gesamte Euro-Zone in Gefahr bringt und dass sich sämtliche Griechen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers ein schönes Leben machen, befördern allerdings einen Prozess der Verdummung.
Wir glaubten 2015, dass unter diesen Umständen die Notwendigkeit bestand – und sie besteht noch immer –, den deutsch-griechischen „Dialog“ durch künstlerische Aktivität in Gang zu halten und zu erweitern. Mehr denn je halten wir es derzeit für notwendig, kreativ zu bleiben. HELLAS FILMBOX BERLIN ist ein ganz praktisches Beispiel für eine kommunikative Plattform.
Was die schwierige Situation Griechenlands anbelangt, so wollen wir diese beiden Krisen – die „Krise in den bilateralen Beziehungen“ (in die viele Menschen beider Nationen geraten sind) und die „Krise in Griechenland“ – für die Förderung des griechischen Kunstschaffens nutzen und den griechischen Filmemachern in der deutschen Hauptstadt auch im Januar 2017 eine Plattform bieten, dem hiesigen Publikum und der hiesigen Presse ihre neuesten Produktionen vorzustellen.
Taxidou: Ist tatsächlich ein „Dialog“ durch ein solches Festival, also durch das „Kino“, möglich?
Asteris Kutulas: Kunst ist eine Kommunikationsform, die in bestimmter Art und Weise die Mentalität, die Denkungsart und bestimmte „Handlungsmuster“ einer Nation zum Ausdruck bringt. Das trifft insbesondere auf das Film-Genre zu. Wenn Sie sich zum Beispiel Fassbinder-Filme ansehen, kommen Sie sehr schnell zu einem besseren Verständnis der „deutschen Psyche“ – wie wir Griechen sagen würden. Aber natürlich auch der deutschen Geschichte und des deutschen „Alltags“.
Wenn Sie sich andererseits das griechische Filmschaffen ansehen – von Michalis Cacojannis, Nikos Koundouros, über Costa-Gavras und Pandelis Voulgaris bis hin zu Nikos Perakis, Athina Tsangari und Ektoras Lygizos –, dann stellen Sie fest, dass oft schon die „Form“ und die „Ästhetik“ griechischer Filme viel darüber verraten, wie wir Griechen „ticken“.
Ich will sagen: Wenn man „Film“ als Kommunikationsform ansieht, in gewisser Weise als ein internationales Verständigungsmodul, dann könnte es – neben dem „Vergnügen“ – auch als Medium der Erkenntnis dienen. Erkenntnis darüber, wie die Griechen „leben“, was sie für Menschen sind, wie ihr Sinn für Humor ist, wie sie Geschichte betrachten, die eigene und die der anderen etc. etc. Wir denken, dass das durch unser Festival „rübergekommen“ ist.
[Der folgende Brief von Mikis Theodorakis an Wim Wenders (Herbst 1992), in dessen Eigenschaft als Vorstandsmitglied der European Film Academy, ist eine Reaktion auf die Nominierung eines Films aus der „Skopje-Republik“ unter der Staatsbezeichnung „Makedonien“ für den europäischen Filmwettbewerb FELIX 92. Daraufhin protestierten eine Reihe griechischer Filmemacher, u.a. Theodoros Angelopoulos und vor allem Melina Mercouri. Theodorakis erklärte seinen Austritt aus der Akademie für den Fall, dass diese ihren Beschluss nicht rückgängig machen würde, woraufhin Wim Wenders in einem Brief die Entscheidung der Film Academy verteidigte. Der daraufhin hier abgedruckte Brief, sowie der griechische Protest, führten zur Revision der Nominierung und der Annahme des am Schluss des Theodorakis-Briefes vorgeschlagenen Kompromisses.
Theodorakis setzte sich seitdem aktiv dafür ein, die Beziehungen zwischen Griechenland und „Skopje“ zu normalisieren und zu verbessern. 1996 reiste er als erster und einziger griechischer Künstler in die Nachbarrepublik, traf sich mit dem damaligen Präsidenten Kiro Gligorov zu Gesprächen und dirigierte das Staatsopernorchester von Skopje. 2010 prangerte er die griechische Regierung an, dass sie unfähig und aus populistischen Gründen unwillens sei, das zwischenstaatliche Problem der zwei Nachbarländer politisch zu lösen. Dieselbe Haltung brachte er in seiner Rede am 4. Februar 2018 auf dem Syntagma-Platz zum Ausdruck, wobei einige selbstkritische Töne dazukamen. Diese sehr antifaschistische Rede, in der er Brecht zitierte und sich als „internationaler Patriot“ bezeichnete, der „alle Heimatländer liebt“, betonte er: 1) dass die Griechen selbst und alle griechischen Regierungen der letzten Jahrzehnte eine große Mit-Schuld an der derzeitigen Situation in Beziehung zum Nachbarland haben, 2) dass Griechenland kein Recht hat, unserem Nachbarland vorzuschreiben, wie es sich nennen soll, 3) dass Griechenland akzeptieren muss, dass unser nördlicher Nachbar in der Märchenvorstellung lebt, vom antiken griechischen Makedonien abzustammen, 4) dass das Einzige, was Griechenland tun kann, folgendes ist: dieses „Märchen“ nicht mit unserer Unterschrift zu bestätigen, aber ein freundschaftliches Verhältnis mit unserem Nachbarland zu pflegen und dieses zu vertiefen. Und dass es 5) für den Fall, dass eine griechische Regierung darüber nachdenkt, dieses „Märchen“ dennoch bestätigen zu wollen, eine Volksabstimmung dazu geben sollte – wegen der großen nationalen Tragweite dieser Entscheidung. // Folgend der Brief von Mikis Theodorakis an Wim Wenders vom Herbst 1992:]
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Lieber Wim Wenders,
ich danke Ihnen für Ihren Brief, auf den ich, wie Sie sehen, sofort antworte, da mir beim Lesen Ihrer Zeilen deutlich wurde, dass es ein prinzipielles Missverständnis hinsichtlich der Beweggründe, die mich zu meinem letzten Brief an die Akademie bewegt haben, auszuräumen gilt. Ich bin nämlich keineswegs von politisch geprägten Prämissen oder gar nationalistischen Vorurteilen gegenüber irgend einem Volk oder einer Minderheit geleitet worden. Ich habe einen Großteil meines Lebens, fast 50 Jahre, dem Kampf für die Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen gewidmet, was mich, so hoffe ich, vom Verdacht, auch nur im Geringsten souveräne Rechte anderer Völker – wie dem der Skopje-Republik – verletzen zu wollen, befreit. Nicht zufällig, lieber Wim Wenders, war ich es, der – als erster – während seiner Rede bei der Regierungssitzung vom 6.11.1991 in Athen die Ansicht vertreten hat, dass der Skopje-Staat nicht von Griechenland anerkannt werden soll, solange in seiner Staatsbezeichnung das Wort „Makedonien“ gebraucht wird, solange also die Herrschenden dort versuchen, etwas zu usurpieren, was ihnen nicht gehört. Zu diesem Vorschlag, auf den ich stolz bin, bewogen mich, neben der Liebe zu meiner Heimat, meine Eigenschaft als Intellektueller und meine Fixierung auf die humanistischen Ideale.
Die Erfindung einer „Makedonischen Nationalität“
An dieser Stelle komme ich nicht umhin, einige historische Fakten anzuführen: Ausgehend vom Namen „Makedonien“, den Tito 1945 im Interesse seiner panslawischen Anschauung für den südlichen Bezirk Jugoslawiens einführte, gingen die später in Skopje Herrschenden einen Schritt weiter, indem sie eine nicht-existierende „Makedonische Nationalität“ erfanden, um letztendlich „die Befreiung des griechischen Makedoniens vom griechischen Joch“ zu verlangen!
Das, was mir schon immer an den Menschen und insbesondere an den Skopjanern nicht gefiel, ist die Verneinung ihrer Herkunft, die Verheimlichung und Verleugnung ihrer historischen Wurzel. Alle wissen, dass im Skopje-Staat heute vorwiegend Albaner und Slawen leben. Letztere kamen in den ersten Jahrhunderten nach Christi auf den Balkan. In den historischen Dokumenten tauchen sie als Bulgari auf, während ihre Sprache eine Mischung aus bulgarischem Dialekt und anderen slawischen Dialekten war. Sie koexistierten mit den Griechen, den Bulgaren, Albanern, mit Christen und Muslimen. Sie schufen wie alle anderen Völker ihre eigene Kultur, ihre eigenen Lieder, Tänze und Mythen. Im jugoslawischen Völkerbund versuchten sie, ihre eigene, rein slawische, Physiognomie zu entwickeln. Aber statt auf ihre Herkunft, ihre Wurzeln, ihre Sprache, ihre Symbole stolz zu sein, beschlossen sie – verleitet von einem politischen Annektionismus, der sie für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren trachtete –, sich zu verwandeln, und zwar: in Griechen!
Die Makedonier sind Griechen
Denn die Makedonier lebten im griechischen Makedonien tausend Jahre, bevor die Slawen auf den Balkan kamen, und keiner bezweifelte bislang, dass Alexander der Große Grieche war, und dass sein Lehrer Aristoteles griechisch sprach und schrieb. Mit alledem will ich nur darauf hinweisen, dass es sich hierbei keineswegs um eine politische Auseinandersetzung handelt, sondern um eine Frage moralischer Natur: Kann man akzeptieren, dass sich ein Staat anmaßt, die Geschichte eines anderen Volkes, dessen Symbole und Namen zu usurpieren?
Schließlich wählte der Skopje-Staat als Symbol für seine Staatsflagge die SONNE VON VERGINA, das Wappen von Phillip, das kürzlich im Grab des Königs von Makedonien am Fuße des Olymp, also im Herzen Griechenlands, gefunden wurde. Vorher schon druckte Skopje auf seine Geldscheine den Weißen Turm von Thessaloniki und schmückte all seine Institute mit dem Abbild Alexanders des Großen, um nur einige der zahllosen Aneignungsversuche griechischer Wahrzeichen und Geschichte anzuführen.
Anspruch auf griechische Territorien
Sie könnten mir entgegnen: Wenn sich die Skopje-Slawen so sehr als Makedonier fühlen, warum fordert ihr sie nicht auf, heim ins Reich, nach Griechenland, zu kommen? Aber zum Glück – oder sollte ich „leider“ sagen? – haben wir Griechen nicht die Mentalität einer Großmacht, nicht den Anspruch, das auserwählte Volk zu sein, keinerlei Arroganz gegenüber Schwächeren. In unserm Fall beobachten wir das andere Extrem: Ein kleiner Bezirk Jugoslawiens, der vor einigen Jahrzehnten willkürlich auf einen griechischen Namen getauft wurde, bekommt mit der Zeit immer mehr Appetit – unterstützt von mächtigen Interessengruppen in der ganzen Welt –, erklärt im weiteren Geschichtsverlauf die Existenz einer „Makedonischen Nation“ und krönt nun seine Staatsdoktrin, indem es Anspruch auf griechische Territorien erhebt, darunter auf Makedonien selbst, den Nordbezirk Griechenlands, mit seiner Hauptstadt Thessaloniki.
Sie schreiben mir, dass sich „Europa in einer Übergangsphase befindet, die Landkarte neu gestaltet wird, Nationen und Grenzen aufgelöst und neu definiert werden …“. Ich hoffe sehr, Sie meinen damit nicht, dass auch unsere Grenzen neu definiert werden sollten … Und Sie fahren fort: „Deshalb sind sie auch beide unsere Kollegen und Freunde – die Filmemacher Griechenlands und die Filmemacher Mazedoniens.“ Auch wenn ich wollte, könnte ich dem nicht zustimmen, dass es heute Griechen und Makedonier gibt. Denn ganz einfach: die Makedonier sind Griechen, genauso wie die Sachsen Deutsche sind.
Und so möchte ich meinen Brief mit einem absurden und monströsen Szenarium beenden, das, hoffe ich, Ihnen hilft zu verstehen, was genau geschieht und in welch unvorstellbare Situation uns der „Trotz“ einer Handvoll Menschen gebracht hat, die fortfahren, sich als etwas anderes auszugeben, als sie in Wirklichkeit sind:
1945 beschließen Stalin und polnische Staatsfunktionäre, um später „rechtmäßig“ deutsche Territorien beanspruchen zu können, an den östlichen Grenzen zu Deutschland einen Bezirk mit dem Namen „Sachsen“ zu gründen. Seine Einwohner haben keinerlei Beziehung zum deutschen Volk. Sie sind eine Mischung aus Slawen unterschiedlicher Herkunft, Polen, Zigeunern, Albanern und Muslimen. Dieses seltsame „Sachsen“ entwickelt einen eigenen Dialekt mit slawischen, albanischen und polnischen Einflüssen. Diesen Dialekt taufen die Herrschenden „Sächsische Sprache“. Des weiteren gründen sie (mit reichlich Geld) Institute in Australien, Kanada, den USA und in Europa, in denen die „Sächsische Nation“ propagiert wird. Die neuen „Sachsen“, oder besser die Pseudo-Sachsen, erklären sich mit der Zeit zum alleinigen Erben des sächsischen (und damit auch: deutschen) Kulturgutes. Walther von der Vogelweide, Luther, Bach, Immanuel Kant werden zu ihren nationalen Idolen. Sie drucken Landkarten von „Groß-Sachsen“ mit der Hauptstadt Dresden, nehmen den Dresdner Zwinger als Staatssymbol in ihre Fahne auf und geben Briefmarken mit dem Abbild August des Starken heraus. Schließlich wählen sie im Jahre 1991 eine Verfassung, die den Grundsatz festlegt, dass das Staatsziel „Sachsens“ darin besteht, ganz Sachsen, also auch den noch deutschen Teil, vom deutschen Joch zu befreien! Aber das deutsche Volk rebelliert. Die deutsche Regierung sieht sich zum Handeln gezwungen. Das Thema wird im EU-Rat behandelt, der gerade in Lissabon tagt und der einstimmig beschließt, dass die Pseudo-Sachsen aufhören müssen, einen fremden, einen deutschen Namen zu führen und die deutsche Geschichte zu usurpieren. Aber die Pseudo-Sachsen machen weiter … So schicken sie auch zum Filmfestival nach Athen einen pseudo-sächsischen Regisseur, den wir hier in Griechenland sofort als echten Sachsen anerkennen, also de facto als Repräsentanten des – deutschen! – „Groß-Sachsens“. Und wenn Sie als deutscher Künstler – und das deutsche Volk – protestieren und darauf hinweisen, dass es sich dabei um eine unverhohlene Geschichtsanmaßung handelt, antworten wir Ihnen, dass es uns nicht möglich ist, Unterschiede zu machen und dass für uns die „Sachsen“ (in Anführungsstrichen) und die Deutschen gleichermaßen Kollegen und Freunde sind, was nichts anderes bedeutet, als dass wir anerkennen, dass Deutsche und Sachsen (ohne Anführungsstriche) was vollkommen anderes sind und damit ebenfalls, dass Dresden, Meißen, Chemnitz, Leipzig, die Sächsische Schweiz eigentlich zum slawischsprechenden „Sachsen“ gehören. Obwohl dessen Vorfahren ja eigentlich noch Tausende von Meilen entfernt lebten, als das sächsische/deutsche Volk bereits das Nibelungenlied, einen Dürer, Lessing, Schiller, Mozart hervorbrachte. Jedenfalls stelle ich mir ungern vor, was passiert wäre, wenn nicht Griechenland, sondern tatsächlich Deutschland von so einem Problem betroffen gewesen wäre.
Die Verleugnung der eigenen Tradition
Mein Szenarium hat mit streng historischen Fakten zu tun. Und zusätzlich mit folgender Tatsache: Wenn ein Volk, und mehr noch ein Künstler seine Wurzeln verleugnet, wird das, was er künstlerisch ausdrückt, eine Lüge sein. Und wie Sie sehr gut wissen, sind Kunst und Lüge wie Feuer und Wasser. So wird ein Pseudo-Sachse, der angibt, sein Werk gründe sich auf – nichtexistente – deutsche Wurzeln, genauso lügen müssen wie ein Pseudo-Makedonier, der auf seiner – natürlich nichtexistenten – makedonischen, also griechischen Herkunft besteht. Das ist ganz einfach Betrug, und ich bin mir sicher, dass auch Sie sich über kurz oder lang dessen bewusst werden.
Was nun, wenn die „unpolitische“ European Film Academy mit einem pseudo-makedonischen Regisseur konfrontiert wird? Wir leben in einer organisierten Weltgemeinschaft, in der bedauerlicherweise der einzelne Künstler darunter leiden muss, wenn es darum geht, seinen Staat, mit dem er sich identifiziert, in die Schranken zu weisen, falls dieser Staat das friedliche Miteinander der Weltgemeinschaft bedroht. Und die Film Academy ist eine Organisation dieser Weltgemeinschaft und kann nicht de facto das Prinzip der Gleichberechtigung des Einzelnen über das Völkerrecht stellen. So wird, meiner Meinung nach, auch die Film Academy als künstlerische Institution nicht umhin können, will sie beiden Grundrechten gerecht werden, einen Weg des Kompromisses zu gehen, der z.B. darin bestehen könnte, dem Künstler als Einzelperson – und nicht als Repräsentanten eines vom EU-„Anerkennungsboykott“ betroffenen Staates – die Teilnahme am Filmfestival nahezulegen, so wie das mit den jugoslawischen Sportlern bei den letzten Olympischen Spielen geschehen ist.
Ich hoffe sehr, dass Sie nun meine Haltung besser verstehen, aber auch diesen langen, allzu langen Brief, mit dem ich Sie bemüht habe, weswegen ich Sie auch um Verzeihung bitte, zugleich meine Achtung und Liebe Ihnen und Ihrem Werk gegenüber bekundend.
Trauer um die Opfer und ihre Angehörigen in Nizza. Der entfesselte Finanz-Kapitalismus gegen den Terrorismus, zwei Brüder im Geiste. Sie brauchen sich und nähren sich gegenseitig und gedeihen prächtig. Die Opfer: Wir alle, egal ob im Nahen Osten, in Europa oder anderswo. Das 21. ist ein dunkles Jahrhundert. Wir haben nichts aus dem 20. gelernt.
Einen Tag nach dem Brexit-Referendum veröffentlichte n-tv einen Artikel von Benjamin Konietzny unter der Überschrift: „Wer hat für den Brexit gestimmt? Arbeitslos, ungebildet, EU-Gegner. Rechtspopulismus hat Erfolgsrezepte, die auch in Großbritannien funktioniert haben.“
Die ignorante Diffamierung der Brexit-Befürworter als „arbeitslos, ungebildet, EU-Gegner“ und rechtspopulistisch – als wären das Bürger Zweiter Klasse – offenbart einen großen Realitätsverlust und öffnet geradewegs Tür und Tor für neofaschistische Rattenfänger.
Vor ein paar Tagen sagte der britische Ex-Außenminister Lord David Owen über die EU: „Das Soziale wird völlig vergessen, die Märkte dominieren alles. Ich bin nicht mehr so überzeugt wie früher, dass in Europa der Gesellschaftsvertrag noch etwas bedeutet. Interessengruppen, Big Business – das ist alles, was zählt … Die EU ist dysfunktional, sie hat ihre Ideale verloren, sie stagniert …“
Die Briten wollen sich nicht von Brüssler Eurokraten regieren lassen, und vielleicht ist der Grund eher der, dass diese – zusammen mit Cameron, Schäuble, Hollande etc. – eben kein Europa der Bürger, sondern ein „Europa der Märkte“ aufgebaut haben. Zum Zweiten könnte es sein, dass die Briten das Gefühl haben, mit den eigenen Politikern eher und direkter „fertig werden zu können“ als mit einer demokratisch nicht legitimierten EU-Kommission im fernen Brüssel, wo zudem die deutschen Wirtschafts-Interessen eine größere Rolle spielen als die britischen.
Und gesellschaftspolitisch gesehen, ist es letztendlich das Verschulden der Sozialdemokratie in ihrer Funktion als linke Volkspartei, dass sie das „EU-Europa“ den „Banken“ übergeben und eine Politik gemacht hat, die sich gegen das Soziale und gegen den Bürger gerichtet hat – und die insgesamt als gescheitert angesehen werden kann. Griechenland ist das erste Opfer dieser Politik gewesen. Die Sozialdemokratie hat den Kampf um eine „gerechtere Gesellschaft“ den Rechtspopulisten überlassen. Das ist vielleicht die größte Schuld, die sie in den letzten zwanzig Jahren auf sich geladen hat.
Der verpasste GREXIT: Melancholische Gedanken, ein Jahr nach dem OXI-Tag
24.6.2016
Heute vormittag – ich hatte gerade vom Brexit-Votum erfahren und trank darauf einen griechischen Kaffee – rief mich H. aus Paris an: „Sag mal, willst du nicht einen Artikel zum OXI-Tag am 5.7.2015 schreiben?“ An diesem Tag vor genau einem Jahr stimmten 61% der Griechen mit NEIN/OXI gegen das EU-Spardiktat. Und obwohl der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras in den Wochen darauf aus dem NEIN ein JA machte und alles, was aus Brüssel und Berlin kam, unterschrieb und umsetzte – gegen seinen Willen, wie er immer wieder betont –, gingen Verarmung und Verelendung weiter, die Kindersterblichkeitsrate stieg noch mehr, die Arbeitslosigkeit ist immer noch bei 25%, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50%, die Renten werden weiter gekürzt, die Steuern extrem erhöht, Hunderttausende Griechen ohne Krankenversicherung. Ein fortwährender Niedergangsprozesses, und kein Ende in Sicht. Und das alles nach so vielen EU-„Rettungspaketen“, nach so vielen seit 2011 in Brüssel erlassenen „Reform-Gesetzen“.
Genutzt hat den Griechen das Votum vom 5.7.2015 nichts, obwohl es damals nicht um’s Geld ging. Die 61% NEIN-Stimmen waren das letzte Aufbäumen eines Volkes gegen so etwas wie eine neokoloniale Unterwerfung, die sich damals für die Griechen vor allem in einer Person manifestierte – in der des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble.
Ein alter Freund meines Vaters, ein Kriegs-Veteran, der im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatte, brachte die damals herrschende emotionale Agonie in den deutsch-griechischen Verhältnissen auf den Punkt: „Wir Griechen haben doch keinen Weltkrieg angezettelt. Wir haben keinen Genozid betrieben, keine KZs gebaut und die Welt nicht in Schutt und Asche gelegt. Wir haben doch nur uns selbst am meisten geschadet, sonst niemandem.“
27.6.2016
Die isländische Fußball-Mannschaft hat die englische besiegt und sie aus dem EM-Turnier geworfen. Wie bitter, drei Tage nur nach dem beschlossenen Brexit. Eine Journalistin, die mich heute aus Athen anrief, sagte: „Warum sind wir letztes Jahr nicht raus – zumindest aus dem Euro? Das OXI am 5.7. war doch so etwas wie ein „Grexit“-Referendum.“ Sie gab sich selbst die Antwort: „Tsipras und seine scheinlinke Partei hatten nicht den Mumm, den richtigen Weg zu gehen.“
Tsipras‘ Geschichte geht so: „Den Aufstand gegen die EU und Deutschland kann sich das kleine, verarmte und „depressive“ Griechenland nicht leisten. Der einzige Weg, um das zu tun, führt über einen Ausstieg aus dem Euro, aber dafür habe ich kein Mandat vom griechischen Volk, also musste ich das furchtbare Abkommen unterzeichnen, um einen noch furchtbareren Staatsbankrott und ein maßloses Elend zu vermeiden.“
Viele Griechen antworten inzwischen darauf: „Dann hättest du in der Opposition bleiben sollen.“
28.6.2016
Hab gerade mit einem Freund aus Thessaloniki telefoniert. Er meinte: „Sei nicht so negativ im Hinblick auf Tsipras. Wir Griechen wollten letztes Jahr nur eins: Die alte, marode, verbrecherische Politikerkaste, die Griechenland in die Katastrophe geführt hatte, endlich abwählen. Es gab doch nur Tsipras, der sich als Alternative anbot. Wir wollten endlich diese Clique Samaras-Mitsotakis- Venizelos-Karamanlis-Simitis weghaben. Das verstehen sie außerhalb Griechenlands nicht.“
Er hat recht. Hinzu kam die unheilige Allianz zwischen Brüssler und Berliner Administration mit diesen durch und durch korrupten Politikern von PASOK und Nea Demokratia, die in den letzten 40 Jahren ein ausgeklügeltes System der Vetternwirtschaft, Steuerhinterziehung und des Klientelismus aufgebaut haben. Durch diese Allianz wurde aus dem innergriechischen Kampf gegen ein kriminelles und reformresistentes Establishment ein Kampf gegen die EU und gegen Deutschland.
3.7.2016
Heute hat Island 2:5 gegen Frankreich verloren. Und mir fällt ein: Als die Isländer erkannt haben, wie Europa mit dem Mitgliedsstaat Griechenland umspringt, haben sie sofort ihren Antrag auf Aufnahme in die EU zurückgezogen; spielen seitdem einen tollen Fussball, und auch wenn sie verlieren: kein Zeichen einer „Depression“.
Heute ein langes Telefonat über den Brexit/Grexit mit Andonis. Er ist verzweifelt: „Wir haben mehrere Probleme in Griechenland. Das größte sind wir Griechen selbst und unsere nicht-existierende Zivilgesellschaft. Das zweite sind die korrupte und mafiöse Macht-Elite und die Oligarchen, die immer noch das Sagen haben, trotz der Tsipras-Regierung. Das dritte unsere niemals stattgefundene Vergangenheitsbewältigung. Und das vierte ist ein Europa, das weder die Interessen Griechenlands, noch die Interessen von uns Bürgern, sondern jene der „Märkte“ und des „Big Business“ im Fokus hat. Was sollen wir tun?“
Auf diese Frage müssen wir zweifellos antworten. Griechenland ist der größte Verlierer innerhalb der EU – und wird es auf Jahrzehnte hinaus bleiben.
4.7.2016
Deutschland ist der größte Gewinner innerhalb der Europäischen Union. Von deutschen Mitbürgern höre ich immer wieder zwei Aussagen zur griechischen humanitären Katastophe: 1) „Ihr Griechen seid selber schuld“ und 2) „Hauptsache, wir kriegen unser Geld wieder“. Die erste Aussage beruhigt das eigene Gewissen, die zweite impliziert: „Egal, was ihr durchmachen müsst und egal, wie viele Menschen in Griechenland deswegen sterben. Denn ihr seid ja selber schuld.“ Ein Tanz der Erklärungen im Teufelskreis.
Diese dumme, zutiefst menschenverachtende Haltung offenbart mir, dass nicht nur wir Griechen ein existenzielles Riesenproblem haben, sondern auch Deutschland, das sich sehr verändert hat in den letzten Jahren, und auch diese Europäische Union, die offensichtlich keine Union mehr für ihre Bürger, für Menschen ist. Vielleicht hätte das OXI von vor einem Jahr zu einem GREXIT oder wenigstens zu einem Euro-Exit führen sollen. Dann hätten wir wenigstens eine kleine Chance auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gehabt … wie die fröhlichen Isländer.
Ich besuchte heute nocheinmal Mikis Theodorakis nach unserer Rückkehr in Athen. Die Kreta-Reise hat ihn verjüngt. Er strahlt. Er spricht und spricht – wie früher:
„Es geht heute natürlich nicht um einen bewaffneten Widerstand, das ist absurd. Aber es geht um die innere Haltung der Menschen. Es geht um unsere nationale Souverenität, die wir längst verloren haben. Es sind neue Arten von Diktaturen, auf die wir uns jetzt einstellen müssen. Wie überlebt Demokratie unter solchen Umständen, denen wir jetzt ausgesetzt sind? Während der Diktatur zwischen 1967 und 174 waren die Dinge eindeutig. Als die Obristen am 21. April 1967 in Griechenland putschten, war das eine Militärdiktatur nach altem Muster, die errichtet wurde. Ich erinnere mich, dass Mosche Dajan, der damals in Athen war, einen Tag nach dem Putsch meine Frau aufsuchte und sie bat, ein Treffen mit mir möglich zu machen. Ich lebte in der Illegalität, war untergetaucht. Zwei Tage später kam es zu diesem Treffen, und Mosche Dajan (der einige Wochen später als Verteidigungsminister in Israel den Sechstagekrieg entscheiden sollte) sagte zu mir: ‘Mikis, lass uns zusammen den Widerstand gegen die Junta in Griechenland aufbauen! Du übernimmst die politische Arbeit, und ich werde den militärischen Flügel der Befreiungsorganisation PAM leiten.’ Ich erwiderte: ‘Mosche, das ist keine gute Idee. Wenn das bekannt wird, haben wir alle Geheimdienste der Welt am Hals. Ich bleibe hier in der Illegalität, und du gehst zurück nach Israel und machst Druck gegen die griechische Junta in der israelischen Öffentlichkeit und bei der Regierung.’ Damals waren die Dinge klarer. Das Feindbild war klarer. Heute gleiten wir in einer ‘verschwommenen Situation’ in die Diktatur hinein bzw. aus der Demokratie heraus.“
In einem Spiegel-Artikel lese ich gerade die Aussage einer Studentin: „Allein kann man viel mehr bewegen als mit einem störenden Apparat im Hintergrund“. Und weiter der Reporter: „Sie wolle sich eben nicht als Parteimitglied engagieren, sondern als Mensch… Die alten Feindbilder, die strengen Lagergrenzen zwischen links und rechts hätten ausgedient – und deswegen auch das Interesse, an Wahlen teilzunehmen…“ Mikis verhielt sich irgendwie immer „wie die Jugend von heute“.
Ich höre, es ist frisch in Chania. Aus Deutschland haben sich die Unwetter verzogen, die Europameisterschaft hat begonnen. Es wird Sommer. In ein paar Wochen hat Theodorakis wieder Geburtstag. Widerstand ist eine Sache von Rhythmus und Klang einer „Mantinada“. Das erfährt man, wenn man auf Kreta ist.
Europa hat sich verändert. Der Kapitalismus hat sich verändert. Wir sind durch Reagan, Thatcher, Kohl, Bush & Bush, Blair & alle, die von dieser Entwicklung partizipierten, in die Neobarbarei des entfesselten Finanz-Kapitalismus getrieben worden. Wir ernten, was wir gesät haben. Und was jetzt – nach den schrecklichen Ereignissen von Paris – passieren wird, ist voraussehbar und gewollt: Europa wird autoritärer, militaristischer, totalitärer, wird sich in der „Staatsform“ jener von Russland und China annähern. Die Demokratie wird in einem schleichenden Prozess ausgehebelt (wie in Griechenland, wo es keine Demokratie mehr gibt), die Löhne werden fallen, die Umverteilung des Reichtums nach oben wird rasant zunehmen, die totale Überwachung eines jeden Einzelnen wird gesellschaftlich sanktioniert (was aber nicht mehr Sicherheit bringen wird) … und „Europa“ ist (sowieso) am Ende, ob mit oder ohne „Flüchtlinge“. Die „PEGIDA-Ideologie“ (der Faschismus-Verschnitt des 21.Jahrhunderts) wird immer mehr zum Mainstream für eine immer kleiner werdenden Mittelschicht und für ein immer größer werdendes Prekariat. Neue „Mauern“ und neue „Konzentrationslager“ werden entstehen. Schießbefehle an den Grenzen und anderswo werden erlassen und in Kauf genommen. Die „Schönheit“ und die „Utopie“ verschwinden als gesellschaftlich relevante Topoi oder als erlebbare „Kategorien“. Das Hässliche und das Destruktive gewinnen die Oberhand. So sieht unsere Zukunft aus, gewöhnen wir uns daran.
Alexis Tsipras hätte nach seiner Wahl Ende Januar 2015 sagen müssen: I HAVE A DREAM. Er hätte die Idee von einer „neuen Gesellschaft“, eine Vision für eine NEUE Zukunft Griechenlands entwickeln müssen. Aber er hat(te) offensichtlich weder einen Plan und noch weniger einen Traum.
Die neue Regierung hätte sofort nach der Wahl im Januar 2015 erklären müssen: WIR Griechen sind selbst (haupt)verantwortlich für das Desaster und das Leid in unserem Land. Diese Aussage hätte nämlich bedeutet: WIR selbst sind es, die auch etwas dagegen tun können! Die SYRIZA-Regierung hätte sagen können: ‘Fangen wir bei dem an, was wir in Griechenland selbst verändern können, um uns aus dem Sumpf zu ziehen.’ Und man könnte sehr viel tun … Die Regierung hat aber überhaupt keinen Ansatz erkennen lassen, in dieser Richtung zu denken, zu kommunizieren, Konzepte zu entwickeln oder gar zu handeln; und somit hat sie – genau wie die Regierungen davor – den Eindruck verstärkt, dass die AUSLÄNDER (vor allem die Deutschen) schuld sind an dieser Misere, und wir könnten nichts dagegen tun.
Aber wir Griechen können nicht Frau Merkel und Herrn Schäuble kontrollieren, geschweige denn Deutschland. Wir können jedoch unsere eigenen Politiker wählen und deren Politik mit-bestimmen – und wir können unser eigenes Land verändern, u.a. indem wir uns selbst verändern. Der „ideologische Egoismus“, der die griechische Gesellschaft seit etwa dreißig Jahren wie ein Krebsgeschwür zerstört, muss zurückgedrängt werden. Theodorakis hat das bereits 1991 – gemünzt auf die damals Regierenden – auf den Punkt gebracht: „Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Hirne geleert.“ Und wir haben das mit uns und mit unserem Land machen lassen.
Wenn Politik so gemacht wird, dass die Jugend – ihre Interessen und ihre Perspektiven – darin keine Rolle spielen, dann hat nicht nur diese Jugend keine Perspektive, sondern auch nicht das Land. Es ist ein „totes Land“, ein Niemandsland. Ich jedenfalls habe nicht wahrgenommen, dass Alexis Tsipras eine Zukunftsvision, einen wirklichen Plan für ein neues, ein anderes Griechenland kommuniziert oder gehabt hätte.
P.S. Mit der Unterschrift von Alexis Tsipras unter dem 3. sogenannten Rettungspaket im Juli 2015 hat Griechenland den Verlust seiner Souveränität auf Jahrzehnte hinaus besiegelt. Dieses „Rettungspaket“ – da sind sich alle Wirtschaftsexperten einig – wird mehr Armut, höhere Arbeitslosigkeit und höhere Schulden bringen. Der einzige Leidtragende in diesem europäischen Game of Thrones ist also (bislang) nur das griechische Volk.
Die Wahlerfolge von Alexis Tsipras und SYRIZA 2015 offenbaren andererseits die Willensbekundung vieler griechischer Bürger, einen Schlußstrich unter die katastrophale Vergangenheit zu ziehen – unabhängig von den „internationalen“ Implikationen. Also jene Politik von PASOK und Nea Dimokratia abzuwählen, die Griechenland durch Vetternwirtschaft, geduldeter Massen-Steuerhinterziehung und organisierter Staats-Kriminalität in die Katastrophe gestürzt hat. Das wenigstens ist den Griechen gelungen. Wie und ob es weitergeht, weiss keiner.
Berlin, 18.9.2015
(zwei Tage vor den erneuten Wahlen)
Meine Heimat war in den letzten Jahrzehnten eine von griechischen Oligarchen beherrschte Bananenrepublik. Sie wurde regiert von einer skrupellosen Politikerkaste, die das geltende Recht ständig beugte und die Demokratie aushöhlte. Das bedeutete auch, dass sie einen Teil der Bevölkerung durch Klientelismus und Vetternwirtschaft systematisch „korrumpierte“. Das griechische politische Establishment nutzte die finanziellen und personellen Ressourcen des Staates, um das bipolare, siamesische Parteiensystem von PASOK und Nea Dimokratia zu etablieren und am Leben zu erhalten. Die Wahlbüros der Parlamentarier dieser beiden Staatsparteien verkamen seit den achtziger Jahren zu „Agenturen für Arbeit auf Lebenszeit“, deren Kriterien nicht der Arbeitsmarkt und die persönliche Qualifikation, sondern vor allem Parteibuch und Wahlverhalten waren. Allein zwischen 2007 und 2009, also innerhalb von nur drei Jahren, hat die Nea Dimokratia, die Schwesterpartei der CDU, aus diesem Grund etwa 200.000 neue Beamte in den Staatsdienst aufgenommen.
Dieses korrupte „System Griechenland“ diente einerseits dem Machterhalt einer seit etwa 100 Jahren regierenden Politikerdynastie, andererseits aber vor allem der Herrschaft einer Handvoll griechischer Oligarchen. Letztere hatten zu jeder Zeit Zugriff auf die Reichtümer des Landes – inklusive der europäischen Geldzuwendungen, wie z.B. die Struktur- und Kohäsionsfonds der EU. Bei allen internationalen Ausschreibungen erhielten die Firmen dieser Oligarchen den Zuschlag oder sie waren bei den Geschäften des griechischen Staates mit multinationalen Konzernen deren Juniorpartner (Konzerne wie z.B. Hochtief, Siemens, die Deutsche Telekom oder amerikanische, französische, deutsche Rüstungskonzerne). Kick-backs, Betrug, Schmiergeldzahlungen, also illegitime Geschäfte, waren an der Tagesordnung und schröpften in vielerlei Hinsicht das griechische Staatsvermögen.
Bislang sitzt nur ein einziger Repräsentant dieser „Regierungskriminalität“ im Gefängnis – der ehemalige Stellvertretende Vorsitzende der PASOK-Partei und damalige Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, der im Jahr 2000 von der Rostocker Ferrostaal AG 20 Millionen Euro Schwarzgeld auf sein Schweizer Konto überwiesen bekam, um für 2,84 Milliarden Euro deutsche U-Boote zu kaufen. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass es zum Prozess gegen Herrn Tsochatzopoulos vor drei Jahren nur darum kam, weil ein deutscher Staatsanwalt während des Schmiergeldprozesses gegen Ferrostaal in München auf einen griechischen Namen gestoßen war und diese Akten seinem griechischen Kollegen nach Athen geschickt hatte.
Um dieses durch und durch korrupte und für sie hoch profitable System aufrechtzuerhalten, baute die herrschende Machtelite eine mafiöse Herrschaftsstruktur auf, zu der auch Teile der Staatsanwaltschaft, der Polizei und die maßgeblichen Akteure der Finanzverwaltung gehörten. Den Regierenden kam außerdem zugute, dass fast 90% der Information, also fast die gesamte Presse – aber auch die bedeutendsten Fußball- und Basketball-Vereine –, in den Händen der fünf mächtigsten Oligarchen waren und bis heute sind. Diese hievten je nach Interessenlage entweder die eine oder die andere der beiden Herrschafts-Parteien an die Macht. Allerdings blieben die Struktur und die Akteure immer dieselben.
Das „Geschäftsmodell“ auf Kosten der griechischen und europäischen Steuerzahler war jedenfalls überaus lukrativ, denn die Politikerkaste konnte zusammen mit den Oligarchen die Staatskassen plündern, Schulden machen, jede für das Land wichtige langfristige Investition vermeiden und nationale Interessen ignorieren.
Die Konsequenzen dieser Politik waren verheerend für Griechenland. Zusammen mit den starken Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008 führten sie direkt in die Katastrophe. Jetzt, da der tote Körper der griechischen Gesellschaft auf dem Seziertisch liegt, kann man während der Obduktion folgendes feststellen:
1. Griechenland ist kein souveräner Staat mehr. Alle maßgeblichen Gesetze werden in Brüssel verfasst. Die griechische Regierung – egal welcher Coloeur –, aber auch das griechische Parlament sind nur noch dazu da, die von außen diktierte Politik abzunicken und umzusetzen. Dieser Zustand einer „Schuldenkolonie“ soll nach dem Willen aller Hauptakteure Jahrzehnte währen. Darum fände ich es ehrlicher, wenn nicht nur alle Gesetze in Brüssel geschrieben, sondern auch, wenn Brüsseler Technokraten diese Gesetze in Griechenland durchsetzen würden.
2. Die Demokratie in ihrem ursprünglichen Verständnis existiert in Griechenland nicht mehr. Sie war seit langem sehr beschädigt, aber seit dem Ausbruch der immer noch anhaltenden wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Krise verlor das grundlegendste demokratische Prinzip – dass das Volk der Souverän sei – jede gesellschaftspolitische Grundlage. Unabhängig davon, was richtig und was falsch ist, muss man nüchtern feststellen, dass nach der 180-Grad-Wendung von Herrn Tsipras, die dem Referendum folgte, und nachdem das 3. Memorandum unterschrieben wurde, Wahlen ohnehin nur noch Makulatur und Augenauswischerei sind.
3. Auch unter den Bedingungen der Krise konnte sich in Griechenland keine Zivilgesellschaft außerhalb der Parteistrukturen formieren. Das Tragische an dieser Situation ist, dass sich zu Beginn der Krise 2010 die Interessen der mächtigen europäischen Länder Deutschland und Frankreich mit den Interessen des mafiösen Herrschaftssystems in Griechenland vereinbaren ließen. Die deutsche und die französische Regierung wollten nach der Bankenkrise von 2008 ihren Wählern nicht die Wahrheit zumuten, dass sich ihre Banken in Griechenland verzockt hatten und mit über 100 Milliarden gerettet werden mussten, also bürdeten sie den „gierigen und faulen Griechen“ die alleinige Schuld auf und gaben ihnen 2011 die 110 Milliarden Euro, die komplett an die französischen und deutschen Banken gingen. Davon blieb nichts in Griechenland hängen. Diese Transaktion konnte nur zusammen mit den alten Machteliten durchgeführt werden, also mit jenen, die durch Klientelismus, Vetternwirtschaft, geduldete Massen-Steuerhinterziehung, Schmiergeldzahlungen, Betrug und organisierte Staats-Kriminalität die Krise in Griechenland überhaupt hervorgerrufen hatten. Die Triebfedern der alten Politikerdynastien waren ihr Streben nach Machterhalt und ihre Angst, sonst im Gefängnis zu landen – also stimmten sie allem zu und setzten alles durch, was in Brüssel und Berlin angeordnet wurde.
Diese unheilige Allianz hatte – aus sehr unterschiedlichen Gründen – ein großes gemeinsames Interesse daran, eine im Entstehen befindliche Zivilgesellschaft zu unterdrücken, so dass letztendlich die griechische Bevölkerung das einzige Opfer dieser Geschichte ist. Das oligarchische System in Griechenland dagegen wurde während der ersten fünf Jahre der Krise nicht nur „verschont“, sondern systematisch weiter ausgebaut und gefestigt, leider mit dem Wissen und der Unterstützung des europäischen Establishments. Das führte dazu, dass aufgrund der Entscheidungen der europäischen Spitzenpolitiker drei Dinge passierten: die griechische Bevölkerung ist dramatisch verarmt, die Banken sind gerettet und die europäischen Steuerzahler haften für 340 Milliarden Euro. Was für eine Bilanz!
Sowohl die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2015 als auch des Referendums zeugen von einem letzten Aufbäumen der Bevölkerung, das alte korrupte System loszuwerden, einen Neuanfang zu wagen und sich selbst zu retten. Doch das ist weder im Interesse des griechischen noch des europäischen Establishments, darum gilt der Befund: Griechenland (als unabhängiger Staat, als selbstbestimmte Nation) hat sich selbst „vernichtet“ – und Europa hat zugeschaut, sich höhnend, drohend, richtend geäußert, hat sich eingeschaltet und mitgemacht. Doch diese Geschichte von Ursache und Wirkung ist noch nicht zu Ende.
Heute hat Mikis Geburtstag. Ich bekam vormittags die Nachricht, dass es ihm nicht gut geht und er darum alle Verabredungen abgesagt hat. Kaum ein Fernseh- und Rundfunk-Sender, kaum eine Zeitung oder Zeitschrift ohne eine große Würdigung. Konzerte im ganzen Land. Selbst in Deutschland ein Tsunami von Veröffentlichungen in den Medien. Fast alle Zeitungen widmen Theodorakis halbe oder ganze Seiten.
Süddeutsche, Welt, Tagesspiegel etc., mehr als 100 Publikationen am heutigen Tag allein in Deutschland. Kurz vor 18 Uhr überraschend der Anruf. Mikis ließ anfragen, wo ich denn bleibe, ich solle vorbeikommen.
Ich wollte schon immer mal wissen, wie große Komponisten ihren 90. Geburtstag feiern. Nun hab ich es erfahren: Mikis, leicht aufgerichtet in seinem Liegesessel, verfolgt im Fernsehen das Basketballspiel Litauen-Türkei. Weiter hinten der Parthenon und darüber der weite Himmel.
Mikis: „Da bist du ja. Ich wollte dich noch mal sehen, bevor du morgen nach Deutschland zurückfliegst.“ Er setzt die Sonnenbrille ab und zeigt auf sein rechtes Auge: „Siehst du“, sagt er. „Das Melanom verblasst langsam.“ Ein riesengroßer Bluterguss, seit Tagen auf seiner rechten Gesichtshälfte. „Deswegen hab ich die ganze Zeit die Sonnenbrille auf. Ich bin ja sonst nicht vorzeigbar.“ Ich frage ihn: „Wie ist denn das passiert?“ Er setzt die Sonnenbrille wieder auf: „Das, was mit Griechenland passiert, hat auf mich psychosomatische Auswirkungen …“ Er lächelt und schiebt die Fernbedienung ein Stück zur Seite. „Weißt du was … Diese Werke, die ich nicht geschrieben habe, die stören meinen Schlaf, immerzu …“ – „Na, dann schreib doch einfach noch was auf davon“, erwidere ich. Mikis führt seinen Zeigefinger zum Kopf und rollt mit den Augen: „Die Musik hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wann sie aufgeschrieben werden will. Jedenfalls – diese ungeschriebenen Werke rebellieren. Sie lassen mich nicht schlafen.“
Ich sage: „Schade, dass du heute nicht zum Konzert kommst. Alle erwarten dich dort. Mein Freund Jaka ist nur deshalb aus Berlin gekommen. Er hat vor zwei Jahren mit seiner Cinema for Peace Foundation unseren „Recycling-Medea“-Film unterstützt.“ Mikis greift nach rechts und hält die neueste CD mit seiner Musik in der Hand, ECHOWAND. „Johanna Krumin singt das so, dass man zuhören muss. Näher kann man mir als Musiker nicht sein.“ Mikis signiert die CD und sagt: „Zu seinem 90. Geburtstag schenkt Mikis Theodorakis Herrn Jaka die CD ECHOWAND.“ Er dreht den Kopf zum Fernseher. „Ich muss jetzt gehen“, sage ich. „Das Konzert fängt bald an.“
Am Fahrstuhl passt R. mich ab. „Nein nein nein nein …, du kannst noch nicht gehen. Jetzt kommt die Geburtstagsparty.“ – „Was!?“, frage ich. R. drückt mir die Torte in die Hand. In der Mitte steckt eine brennende Kerze. Auf der Torte steht: „Mikis Theodorakis zum 90. Geburtstag“. R. schiebt mich vor sich her. Ich wieder zurück durch die Tür, mit der Torte in den Händen, dann R., ihr folgen Mikis’ Krankenschwester und zwei seiner Mitarbeiter. Mikis pustet freudig die Kerze aus, lehnt sich zurück und sagt mit breitem Lächeln: „Was für eine schöne Geburtstagsparty … Jetzt lasst mich aber weiter das Spiel Türkei gegen Litauen sehen.“
Gestern eine Reihe „erregter“ Unterhaltungen gehabt. Ich werde als in Deutschland lebender Grieche stets in „Haftung“ genommen. Ich hatte auf Fragen keine Antwort, auf die ich selbst gern eine hätte, wie:
1) Die Troika und die deutsche Regierung haben seit 5 Jahren quasi die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik Griechenlands vorgegeben und jedes diesbezügliche Gesetz „vorgeschrieben“. Sie haben jede neue Tranche eines jeden „Rettungspakets“ von Fortschritten abhängig gemacht, z.B. davon, ob die MwSt. auf Diesel für Bauern 13% oder 23% betragen soll, was ein paar Milliönchen einbringt etc. Warum hat weder die Troika noch die deutsche Regierung jemals zur Bedingung für weitere Zahlungen an Griechenland gemacht, dass Gesetze verabschiedet und bilaterale Abkommen mit der Schweiz, Luxemburg, Großbritannien, Lichtenstein etc. getroffen werden, die zur Offenlegung von Schwarzgeldkonten und zur Steuerfluchtbekämpfung geführt hätten? Dafür wäre jeder griechische Bürger und jeder deutscher Steuerzahler der Troika und der deutschen Regierung dankbar gewesen. Martin Schulz behauptete immerhin, allein schon in der Schweiz lägen bis zu 200 Milliarden unversteuertes Griechen-Geld. Da geht es nicht um Millionen, sondern um „richtig Kohle“. (Und warum wurde diese einfache Frage der deutschen Regierung in keiner deutschen Talk-Show und in keinem Zeitungsartikel gestellt?)
2) Warum lässt „Europa“ zu, dass aufgrund einer finanziellen Krise innerhalb der EU täglich Menschen sterben? Warum wird dieses „Europa“, indem es durch aufgezwungene Austeritätsprogramme ganz bewusst z.B. zur Schließung von Krankenhäusern und zum Kollaps aller Sozialsysteme führt, selbst zum „Mörder“? Wieso schweigt die „europäische Familie“ zu diesem alltäglichen Sterben im „Hause ihrer griechischen Verwandten“? Warum verlangt man noch mehr menschlichen Blutzoll, um Banken zu retten und politische Macht ausüben zu können?
Auf diese und andere solcher Fragen kann ich einfach nicht antworten. Sie lassen einen mit der depremierenden Gewissheit zurück, dass es mit dem Kapitalismus nicht mehr so rund läuft und dass unsere Welt aus den Fugen geraten ist. Und dass Griechenland deshalb so schnell wie möglich DIESES Europa verlassen sollte, wenn es irgendwie als eigenständiges, demokratisches Land überleben will.
Dimosthenis, ein 33-jähriger Bekannter aus Berlin, läuft mir am Syndagmaplatz über den Weg. Hat gerade Urlaub und ist vor drei Wochen nach Athen gekommen. Beim Wort „Urlaub“ hebt er die Arme und krallt mit den Fingern Gänsefüßchen-Zeichen in die Luft. Dimosthenis macht keine Scherze mehr, aus einem fröhlichen, sanftmütigen jungen Mann ist ein Getriebener geworden, „in dessen Kopf Mühlsteine zu mahlen begonnen haben“, wie er es formuliert. „Keine Ahnung, was ich noch machen soll. Ich bin jetzt drei Wochen hier und blank. Es hat sich alles verschärft. Wen auch immer ich treffe oder besuche, ob Freunde, frühere Mitschüler, Bekannte … Es gibt fast niemanden mehr, der mich nicht fragt, ob ich irgendwie helfen kann, ob ich ein paar Euro habe. Und niemand von denen will das. Allen steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Von mir aus geb ich ihnen alles, das ist nicht der Punkt, aber mein Geld ist alle. Hab schon über 2.500 Euro für Freunde und Familie ausgegeben.“
Das bringt mich auf eine Idee: Eigentlich sollte man Spree-Athen umtaufen in Spree-Berlin. Die Hauptstadt Deutschlands käme dann zu sich selbst und Griechenland vielleicht auch. Der Griechenland-Beauftragte Hans-Joachim Fuchtel war vor etwa zwei Jahren nach Griechenland gekommen und hatte dem damaligen griechischen Innenminister eine Schwarzwälder Kuckucksuhr mitgebracht. „Das ist etwas anderes, als Eulen nach Athen zu tragen“, sagte damals mein Bruder. Ich erinnerte ihn gestern daran. Er balancierte auf einer Gabel einige Melonenkerne von seinem Mund zum Teller und sagte lachend, die Melonenkerne nicht aus dem Blick lassend: „Ne Eulenuhr wär dann vielleicht doch besser gewesen. Die Kuckucksuhr hat nicht viel geholfen.“ – „Doch“, meinte meine Mutter trocken, „bald danach kam Syriza.“ Und dabei hieß es doch früher: Hüte dich vor Griechen, die mit Geschenken kommen.
Der Sytagma-Platz ist fast leer, die Athener verlassen die griechische Hauptstadt über den Sommer in ihre Dörfer und die, die es sich leisten können, machen noch irgendwie Urlaub. Dimosthenes erzählt weiter: „Einer meiner Mitschüler von damals, Christos, 33 wie ich, ist vor fünf Wochen an einem Herzinfarkt gestorben wegen des Stress’. Der war Sportler, der hatte Kondition, nicht geraucht, nicht getrunken, einen Gesünderen kannst du dir nicht vorstellen. Und das Mädchen, mit dem ich vor sechs Jahren noch zusammen war, hat inzwischen Krebs. Und mein Vater, der verzweifelt jetzt, weil er nicht weiß, wie helfen kann. Ich stehe da … Vor zwei Jahren, da trugen wir noch lustige T-Shirts: „Ich brauch keinen Sex mehr. Die Regierung fickt mich jeden Tag.“ Wir konnten noch scherzen damals.“
Ja, und sicher ist auch: Die Troika bleibt Griechenland treu. Wie Siegfried dem Roy, reimte gestern mein Bruder. Tsipras und Varoufakis waren jedenfalls die einzige (zumindest die erste) realistische Chance für die EU und insbesondere Deutschland, ihr Geld wiederzukriegen, jedenfalls einen grossen Teil des Geldes. Warum Herr Schäuble und die deutsche Regierung das nicht erkannt haben, bleibt ein Rätsel der Geschichte. (Wahrscheinlich hatten „höhere Ziele“ Priorität.)
Dimosthenis setzt zu seinem Schlussplädoyer an: „Mein Kollege Matthias in Berlin hat jeden Tag Angst vor Hartz 4, der sagt: „Grieche, sei froh, dass wir hier überhaupt noch was verdienen und erzähl mir nix von deinem Stress da in der Heimat.“ Für den da bin ich einer, der jammert, für die Leute hier in Griechenland bin ich einer, der vielleicht noch helfen kann… Ich bin der, der vor dir steht und dir erzählt, dass sein Konto leer ist und sich genauso beschissen fühlt wie alle anderen, die mir das gesagt haben.“ – Da mir gerade nichts Tröstendes einfällt erwidere ich: „Den Letzten beißen die Hunde, Dimostheni! So ist das nun mal, ob hier oder in Deutschland…“
Die Menschen wollen sprechen. Es gibt ein existenzielles Bedürfnis nach Kommunikation. Neben mir sitzt ein älterer Straßenbahnfahrer, der gerade Feierabend hat und mit der Metro nach Hause fährt. Er entpuppt sich als glühender Syriza-Anhänger. „Wir sind stolz darauf, diesen Kampf gegen die Troika geführt zu haben. Wir haben dadurch nicht nur Griechenland geändert, sondern auch Europa.“ Und obwohl ich nichts sage, insistiert er: „Glaub mir, mein Junge, sie haben einen Pyrrhussieg errungen.“
Viel Angst, gepaart mit Pathos, macht sich breit in Griechenland. Und auch die Gewissheit, dass Alexis Tsipras am Ende ist, noch bevor er überhaupt etwas beginnen konnte. Ihm bleiben vielleicht noch ein, zwei Monate, dann ist seine Zeit abgelaufen, dann gehört auch er zum griechischen Establishment, zum „System Griechenland“, das das Land ruiniert hat. In seiner Rede vor dem Parlament hieß es vorgestern: „Dieser Kampf wird nicht umsonst gewesen sein. Nur diejenigen Kämpfe sind umsonst, die nicht geführt werden.“ Das klingt sehr melancholisch, klingt nach Endspiel. Seine Partei bricht gerade auseinander, der geteilte Himmel über Athen bleibt geteilt, Griechenland bleibt eine Wunde. Im September wird es Neuwahlen geben; die nächste Tragödie steht uns bevor.
Meine Mutter versucht immer wieder, mich in die Pflicht zu nehmen, als wäre ich verantwortlich für die Krise in den deutsch-griechischen Beziehungen: „Warum ziehen die deutschen Medien und Politiker dauernd diese Vergleiche zwischen den Griechen und den Bulgaren oder den Rumänen! In Bulgarien und Rumänien, da haben sie keine EU-Preise, keine 60% Jugendarbeitslosigkeit, das Gesundheitssystem ist dort nicht zusammengebrochen. In Griechenland sieht’s ganz anders aus. Die sozialen Systeme funktionieren nicht mehr. Man kann doch die Situation der drei Länder nicht gleichsetzen! Bei Lidl und im Media-Markt müssen wir deutsche Preise zahlen, haben aber nicht die Gehälter wie in Deutschland. Bei den Mieten sieht’s genauso aus. Meine Freundin hat einen 31-jährigen Sohn, arbeitslos; die 24-jährige Tochter studiert. Ihr Mann ist gestorben. Die leben zu dritt von 500 Euro und zahlen allein für die Miete einer winzigen Wohnung 250 Euro. Das ist ja kein Leben mehr. Und dann stellen deutsche Politiker diese Vergleiche an, als seien Menschen wie meine Freundin und ihre Kinder Idioten, die nicht kapieren würden, dass es ihnen blendend geht, im Vergleich zu den Menschen in Bulgarien oder Rumänien.“
Wenn ich meine Mutter so sprechen höre, dann fällt mir ein großer Unterschied in der Betrachtungsweise auf: Wenn Griechen sich über „die Deutschen“ kritisch äußern und manchmal auch ausflippen und fluchen, meinen sie niemals das deutsche Volk, sondern immer die Regierenden. Wenn Deutsche über die „Griechen“ urteilen, meinen sie zumeist – sehr stigmatisierend – die gesamte Bevölkerung und fast niemals die Regierung. Bis die Tsipras-Regierung an die Macht kam, schien es mir fast so, als würde die deutsche Öffentlichkeit das griechische Volk für das kriminelle Fehlverhalten seiner ehemaligen Regierungen verantwortlich machen.
Heute beim griechischen Außenminister, Nikos Kotzias. Das Gebäude, in dem er arbeitet, gegenüber dem Parlament, gleich am Syndagmaplatz, neoklassizistisch, aus dem 19. Jahrhundert. Im Bewusstsein zu haben, dass das Land bankrott ist, wenn man sich durch die Athener Straßen bewegt, und mit dem Bewusstsein solchen Bewusstseins einen Flur in diesem Gebäude lang zu gehen, umgeben von Prunk und erhabener Anmutung – das macht aus dem Hirn etwas, das man unter der Knochenschale anschwellen fühlt. Und würde in Griechenland das Wort “Anarchie” nicht ohnehin gern in den Mund genommen, man würde es eines Tages in diesem Außenministerium plötzlich vernehmen, wenn es, kaum entstanden, zerbirst und Substanzen abgibt.
Der Außenminister sagt: “… Und man muss sich vorstellen, dieses Gebäude ist damals von Herrn Syngrou nicht etwa dem griechischen Staat vermacht worden, sondern ausdrücklich dem Außenminister Griechenlands.” Ich sehe Nikos Kotzias an und frage: “Das heißt?” Er antwortet: “Das heißt – wenn ich versuchen würde, in ein anderes Gebäude umzuziehen, in ein zweckmäßigeres oder geräumigeres oder schlichteres … in ein wie auch immer anderes eben, dann würde dieses Gebäude als Besitz zurückgehen an die Erben von Herrn Syngrou. Es gehört nur solange dem griechischen Staat, solange es die offizielle Residenz des griechischen Außenministers ist.” Das Innere des Außenministeriums hat den Außenminister in der Mache und umgekehrt erfüllt der Außenminister das Innere des Außenministeriums mit Leben. Auf Gedeih und Verderb. Kein Entkommen. Entweder Herr Syngrou, ein Banker, war Dialektiker aus Vergnügen oder ein Prophet, als er sich diese Bedingung einfallen ließ. Die Syngrou-Allee ist nach ihm benannt. Das Außenministerium-Gebäude war einmal sein Wohnhaus, entworfen von einem deutschen Architekten aus Radebeul in Sachsen, der fast nur in Griechenland gearbeitet hat. Der Außenminister muss jedenfalls ständig nach Ausgleich suchen.
Nikos Kotzias spricht perfekt Deutsch, hat Habermas in Griechenland herausgegeben und selbst mehr als 25 Bücher geschrieben. Er ist kein Syriza-Mitglied, und in der “Zeit” war zu lesen, dass er der einzige griechische Politiker ist, der Frau Merkel versteht.
Ich war heute mit R. in seinem Büro, um ihn zu fragen, ob man uns für die Pressekonferenz der Initiative der Deutsch-Griechischen Kulturassoziation, also für das griechische Filmfestival HELLAS FILMBOX BERLIN, in diesem Außenministerium einen Raum zur Verfügung stellen könnte. Eigentlich wollten wir die Pressekonferenz im Goethe-Institut organisieren, aber das Institut ist ab diesem Wochenende wegen der Sommerferien-Pause geschlossen. Ich sage zum Außenminister: “Sie müssen uns helfen. Die deutsch-griechischen Beziehungen waren seit dem Zweiten Weltkrieg niemals so schlecht wie jetzt, und wir wollen was tun, sie wieder zu verbessern.” Nikos Kotzias schaut zu seinem Assistenten und sagt: “Ok., das Außenministerium unterstützt die HELLAS FILMBOX BERLIN. Ihr könnt den Raum nutzen. Wird geklärt.” Herr Syngrou war wohl beides – Prophet und vergnügter Dialektiker.
23.20 Uhr. In Berlin, so erzählt mir Sebastian am Telefon, strömender Regen, Blitz und Donner – das hätte ich hier auch gern. Meine Mutter stellt Melone auf den Tisch, meint aber im selben Augenblick, ich solle endlich schlafen gehen. Wer kann hier schlafen. Es ist heiß. Die Kakerlaken vermehren sich vermutlich schnell. Und im Fernsehen läuft der Thriller „Parlamentsdebatte“.
War tagsüber im Studio bei Jannis gewesen, einem bekannten Dokumentarfilm-Regisseur. Er hat vor ein paar Jahren einen Film gemacht über Menschen, die durchdrehn und medikamentös behandelt werden. Als wir uns über seinen Film unterhielten, meinte er: “Naja, inzwischen sind hier alle irre geworden, total irre. Mir kommt es so vor, als hätte der deutsche Arzt versucht, seinen griechischen Patienten von einer Erkältung zu kurieren, verpasste ihm aber eine falsche Spritze, so dass der wegen der Nebenwirkungen Amok läuft.” Stefanos’ Blick ging ins Weite. “Du kannst die Irren hier nicht mehr kontrollieren. Jetzt laufen in Griechenland Millionen von Irren herum. Europa hat sein Irrenhaus, so ist das nun mal, wir ticken nicht mehr richtig. Der Arzt will seinen Kunstfehler nicht eingestehen und duckt sich weg. Wie auch immer – wir sind alle irre hier, jeder auf seine Weise.”
Im Fernsehen die Debatte zum zweiten Gesetzespaket, das zusammen mit dem von letzter Woche als Voraussetzung dient, damit Griechenland mit den europäischen Institutionen (die übrigens jetzt wieder Troika heißen) ein neues Memorandum verhandeln darf. Varoufakis erklärte dem CNN-Sender gestern: “Das neue „Rettungspaket“ wird der größte Misserfolg der Wirtschaftsgeschichte. Und es ist klar, dass das Ding nach hinten losgeht.”
Im Bestiarium des griechischen Parlaments ereignet sich derweil Unerhörtes. Regierungsmitglieder und auch die Parlamentspräsidentin bringen Gesetzesvorlagen ein und sagen im selben Augenblick: “Wir tun das, um Griechenland zu retten, aber wir wissen, dass es nicht das Richtige ist für Griechenland.” Ich glaube, sowas hat es in keinem Land bislang gegeben. Da kommt eine Gesetzesvorlage, und der Justizminister sagt: “Ok., ich bring die hier mal ein, aber es ist eine schlechte Gesetzesvorlage. Ich bring sie ein, weil ich sie einbringen muss.”
Was alle SYRIZA-Politiker damit meinen: Europa hält Griechenland die Pistole an die Schläfe und sagt: Unterschreibt einfach! Irgendwas werden wir schon aus euch machen. Hauptsache, ihr unterschreibt erstmal. Klar, da muss man ja irre werden.
Mittag. Bin in einem Café in Glifada, einem Vorort von Athen, und warte auf einen Freund. Der Fernseher läuft, ein Mann am Nebentisch flucht auf alle griechischen Politiker. Er wird Mitte 60 sein. Ab und an schaut er nach links oder rechts, als suche er in den Gesichtern der anderen im Café zu lesen, ob und wie jemand auf seine Flüche reagiert. Ich nehme einen großen Schluck von meinem griechischen Kaffee mit wenig Zucker und frage den Mann in sehr griechischer Art und Weise: “Was ist los, Bruder? Wo brennt der Schuh?” Es stellt sich heraus, dass der Mann ein General a. D. ist. Er befehligte ein Flugzeuggeschwader, das auf der Insel Chios stationiert war. Als der Mann mitbekommt, dass ich ein Grieche aus Deutschland bin, sagt er: “Diese alten korrupten, verkommenen, Politiker – die haben uns in diese Scheiße reingeritten.” Der Mann bebt am ganzen Körper, und ich versuche, ihn zu beruhigen. “Mein Junge, du hast doch keine Ahnung”, erklärt er mir. “Weißt du, was wir damals machen mussten, weißt du, welche Befehle ich auszuführen hatte? Da gab es doch diesen Plan der Wiederaufforstung kleiner griechischer Inseln, zur Verbesserung der Lebensbedingungen derer, die auf diesen Inseln lebten und dort Ziegen hielten. Auch Zisternen sollten gebaut werden. Dafür flossen Hunderte Millionen von Europa nach Griechenland. Diese Politikerschweine haben das Geld in die eigene Tasche gesteckt, und wir mussten die Drecksarbeit machen. Die armen Ziegen!” – “Was denn für Ziegen?”, frage ich. Der Mann erklärt mir: “Immer, wenn die Kontrollkommission aus Europa kam, um zu schauen, wie dieses Programm umgesetzt wird, erhielt ich den Befehl, mit meinen Chinook-Transporthubschraubern aus Chios Ziegen mit Netzen einzufangen und sie auf verschiedenen Inseln auszusetzen, damit die Kontrolleure sich am nächsten Tag vom Erfolg des Programms ein Bild machen konnten. Am übernächsten Tag haben wir die Ziegen dann zu den nächsten Inseln geflogen. Und viele der armen Ziegen sind dabei draufgegangen. Den Politikern war das völlig egal. Man sah ja nicht, dass die Hälfte der Ziegen nicht schlief, sondern einfach verreckt war. Was waren das nur für Menschen! Die armen Ziegen!”
Ich kann mit keinem Griechen, der weiß, dass ich in Berlin lebe, irgendein normales Gespräch führen. Ich werde ständig mit Fragen überhäuft. Heute besuchte ich einen fast achtzigjährigen alten Freund meines Vaters: „Sag mal Asteris, die Frau Merkel scheint doch eigentlich ganz in Ordnung zu sein, aber sie hat während dieser ganzen Krise, zu unserem ganzen Unglück hier nicht ein menschliches Wort gesagt. Das ist nicht in Ordnung. In Griechenland herrscht immer größeres Elend. Interessiert sie das gar nicht?“
Tatsächlich ist der neuen Regierung und deren Politik zu verdanken, dass der Weltöffentlichkeit zum ersten Mal die Folgen einer sehr rabiaten Austeritätspolitik bekannt geworden sind – wenigstens das. Und das ist nicht wenig. Selbst in Deutschland, wo dies nicht zum bisherigen öffentlichen Diskurs über den „faulen“ und „gierigen“ Griechen passte, offenbarte sich in vielen Beiträgen und Kommentaren – von der Süddeutschen bis zur FAZ, vom Spiegel bis zu Die Zeit, von ARD, ZDF bis zu n-tv – das ganze Ausmaß des Elends als direkte Folge einer gnadenlosen Sparpolitik, die in der Öffentlichkeit allerdings zuvor als „Allheilmittel gegen die Krise“ angepriesen worden war. Sowohl von den Vorgängerregierungen in Griechenland als auch von der Troika und der Weltpresse wurde diese Realität bis vor ein paar Monaten mehr oder minder verschwiegen. Vielen Griechen, das ist mir in den letzten Tagen klar geworden, schien der Diskurs zwischen Tsipras und Schäuble so zu verlaufen: „Bei uns sterben Menschen; wir müssen das stoppen.“ Antwort: „Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Verträge eingehalten werden müssen.“
Zum anderen fühlen sich viele Griechen bestärkt in ihrem „Widerstand gegen die da draußen“, weil die Auseinandersetzung ihrer neuen Regierung mit den europäischen Institutionen einen weltweiten öffentlichen Diskurs ins Rollen brachte, der als phänomenal bezeichnet werden kann. Tausende von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur etc. nahmen Stellung zu den beiden brennenden Problemen: 1) wie steht es um die „Demokratie“ von heute und von morgen, und 2) wie wird die „Zukunft“ zwischen den Regierungen und den Völkern gestaltet. Auch das hat es in diesem Ausmaß noch nie gegeben. Das kleine Griechenland hat irgendwie die Welt „verändert“, zumindest einen Anstoß dazu gegeben.
Ich sag zu dem alten Freund meines Vaters: „Ich bin dir so dankbar, dass du nicht auch auf die deutsche Regierung fluchst, ich kann’s nicht mehr hören …“ Er sieht mich an und zieht an seiner Zigarette. „Wenn wir Griechen aufhören würden, auf Merkel und Schäuble zu fluchen, die wir sowieso nicht kontrollieren können, und stattdessen anfangen, unsere eigene Gesellschaft auszumisten von all den Verbrechern, wären wir schon viel weiter. Was mich zuversichtlich macht: Die Zeit der alten Machteliten von PASOK und Neue Demokratie ist abgelaufen. Selbst wenn sie irgendwann wieder die Regierungsgeschäfte übernehmen sollten – Griechenland hat sich geändert.“ Damit hat er, glaube ich, recht.
Ich „diagnostiziere“ fast täglich meine Schizophrenie: In Griechenland „liebe“ ich Deutschland und „hasse“ Griechenland, aber in Deutschland „hasse“ ich Deutschland und „liebe“ Griechenland. Ich hasse den Neo-Nationalismus in Deutschland und ich hasse die selbstzerstörerische „Arroganz“ der Griechen.
Spät nachts treffe ich Sabrina, eine deutsche Kindergärtnerin, die vor einem Jahr „wegen der Liebe“ nach Griechenland gezogen ist. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, in Deutschland zu leben.“ – „Fehlt dir Köln nicht?“, frage ich sie. „Nein. Aber meine deutschen Freunde schon. Einfach ist’s hier nicht – und trotzdem hab ich ein tolles Lebensgefühl. Jeder hilft jedem.“ Am Keramikos-Platz viele Bars und Restaurants. Sabrina macht mich darauf aufmerksam, dass es dafür, dass wir Freitag-Abend haben, unglaublich leer ist. „Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen. Es herrscht sowas wie eine nationale Depression.“
Ich erinnerte mich an Makis‘ Aussage: An den Tagen vor der Volksabstimmung des „OXI“ zog es die Menschen auf die Straßen, in die Tavernen, in die Bars, sie wollten reden, sich austauschen, diskutieren. Seit dem Tag, da Tsipras in Brüssel den Bedingungen zugestimmt hat, bleiben alle zu Hause und warten, was passiert.
Die Parkplatzsuche in Athen ist einfacher geworden. Sehr schwül heute, wenig Wolken, aber kein Smog, nicht zu vergleichen mit früher. Viele Familien mussten ihre Zweitwagen und viele auch ihre „Erstwagen“ verkaufen, weil sie sich kein Auto mehr leisten konnten. Bevor ich in die Stadt bin, war ich Koulourakia, Kringel kaufen, unser Frühstück. Angelos, der Bäcker, der gegenüber dem Wohnhaus meiner Mutter seinen Laden hat, stöhnte: „Ich musste mich von meinem BMW trennen. Jetzt fahr ich einen alten Fiat.“ Er weiß, dass ich in Berlin lebe, darum insistiert er, nachdem er mir die Tüte mit den Kringeln gereicht hat: „Du, Griechenland hat seit der Euro-Einführung, als die Zinsen fielen, wie verrückt deutsche Waren und auch deutsche Waffen gekauft. Wir waren Importweltmeister deutscher Mercedes’ und deutscher U-Boote. Jahrelang. Die damaligen Regierungen haben uns ständig aufgefordert: Nehmt einfach Kredite auf, kauft Waren, kauft, kauft, konsumiert – so funktioniert dieses System, das ist gut für’s Land! Wir wurden mit Kreditkarten überhäuft. Und wir haben gekauft. Keiner hat uns damals gewarnt, keiner hat gesagt: Halt, ihr könnt euch all das eigentlich nicht leisten! Auch Herr Schäuble hat das nicht verlauten lassen. Nein, ganz im Gegenteil.“
Es ist etwas passiert, seitdem Griechenland diese neue Regierung hat, etwas Ungeheurliches und für mich Unerwartetes: Viele Griechen sind „aufgeschreckt“ aus einer jahrelangen „tödlichen“ Lethargie; sie haben angefangen zu lesen, nachzudenken, ihr vom Konsum beherrschtes Leben zu hinterfragen, jetzt, da sie kein Geld mehr haben, es weiterzuführen – und je mehr ihre neue Regierung von „Europa“ (wie es hier so heißt) gedemütigt wird, desto mehr empfinden sie sich als „Kämpfende“, sie fühlen sich wieder als „Volk“, als ein zersplittertes zwar, aber als ein Volk im Widerstand gegen eine „alte Gesellschaft“, die dieses Volk nicht mehr will. Viele sind ängstlich, verunsichert, müde, fühlen sich hilflos, ohnmächtig einem täglichen Terror unzähliger Expertenmeinungen und politischer Aussagen ausgesetzt, die sie nicht mehr überblicken und einordnen können. Sie fühlen sich wie alleingelassen mit einigen exotischen, unbekannten Tieren, von denen sie gehört haben, dass diese gefährlich sind, aber nicht wissen, ob und wie diese angreifen.
Im Zentrum von Athen treffe ich mich mit Alekos, einem zwanzigjährigen IT-Spezialisten, der zur griechischen „Abteilung“ von Anonymus gehört. Er sagt: „Wenn du Souvlaki essen gehst, musst du ungesalzene bestellen.“ Ich schaue ihn fragend an. „Na ja, dann bezahlst du nur 13% Mehrwertsteuer; wenn du normal gesalzene nimmst, wird der neue Mehrwertsteuersatz von 23% berechnet.“ Ich traue meinen Ohren nicht. Er fährt fort: „Du musst auch beim Hackfleisch aufpassen: Wenn du keine 23% bezahlen willst, darf der Rindfleisch-Anteil nicht größer als 50% sein.“ Ich kann mich vor Lachen nicht mehr halten: „Damit beschäftigt ihr euch bei Anonymus?“ Er lässt ein Grinsen sehen: „Quatsch, wir lesen nur genau, was uns die Troika vordiktiert, dann handeln wir dementsprechend.“
Meine Mutter sagt gerade: „Als hätten wir nicht schon genug durchgemacht – jetzt auch noch diese Brände.“ Der Imitosberg über Athen steht in Flammen. Alle gehen von Brandstiftung aus. Rauchschwaden ziehen über den Stadtteil, in dem wir wohnen. Militärflugzeuge und Löschhubschrauber der Feuerwehr jagen im Minutentakt über unsere Köpfe hinweg und lassen Tonnen von Meerwasser auf den glutheißen Berg runterstürzen. Für einen Augenblick vergisst die Nation den Euro und Brüssel, und plötzlich erscheint Herr Tsipras in der Zentrale des Katastrophenschutzes als Anteil nehmender Beobachter bei diesem Inferno. Meine Mutter seufzt erleichtert: „Endlich ist ERT (das Staatliche Fernsehen) zurück. Die sind wieder auf Sendung.“
Dieser Satz erinnert mich an viele ähnliche Aussagen in den letzten Tagen. Also gibt es doch noch etwas Verbindendes in diesem Land: die tiefe Abneigung vieler Griechen gegenüber den Fernsehmoderatoren und Privatsendern, die sich mit Lügen, Manipulationen und medialen „Ablenkungsmanövern“ so vehement für das alte System eingesetzt hatten, dass es zum Himmel stank.
Die privaten Fernsehanstalten gehören den Oligarchen, die Griechenland die letzten 40 Jahre ausgeblutet und die EU ausgenommen haben. Die Medien waren ihre stärkste Waffe, einerseits gegen das griechische Publikum – das sie einer gnadenlosen Gehirnwäsche unterzogen – und andererseits als politisches Druckmittel gegenüber den Regierungen, um ihre ökonomischen Interessen durchzusetzen.
Elisa, eine Mathematikerin, erzählte gestern Abend: „Einige der bekanntesten Moderatoren stehen bei vielen Menschen auf der Hass-Skala noch über den alten Politikern (wie Samaras, Venizelos, Papandreou etc.) – und das will was heißen.“
Gerade läuft im Parlament der „letzte Akt der Schande“ wie mein kommunistischer Freund, der ewige Student Makis sagt. Am Tisch wir beide und Rita, eine zwanzigjährige, sehr begabte Schauspielerin aus Thessaloniki, die in London bereits in zwei Hauptrollen spielen konnte, aber seit mehr als zwölf Monaten in Athen ohne Job gestrandet ist. Wir sitzen in einem Café und verfolgen im Fernsehen die Parlamentsdebatte über das neue Memorandum für Griechenland. Makis knabbert seine Sonnenblumenkerne und flucht ununterbrochen auf die SYRIZA-Regierung.
Tsipras sagt kurz vor der Abstimmung: „Ich hatte nur drei Möglichkeiten: 1. einen verheerenden Staatsbankrott, 2. ein für Griechenland sehr schlechtes Abkommen und 3. den von Herrn Schäuble vorgeschlagenen geordneten Grexit. Ich habe mich schweren Herzens für die meiner Meinung nach einzige gangbare Lösung entschieden: das furchtbare Abkommen.“ Ich persönlich hätte mich für die dritte Möglichkeit entschieden – den von Herrn Schäuble angebotenen Grexit –, das scheint mir sehr vernüftig und die besten Aussichten auf Erfolg für Griechenland zu haben, aber diesen Gedanken kann ich hier nicht laut äußern.
Rita nimmt mich beiseite und sagt: „Ich halt es hier nicht länger aus mit diesen Griechen. Du verstehst das. Du lebst in Berlin. Hör dir deinen Freund Makis an. Das sind hier alles Taliban. Die wissen nicht, was sie wollen. Sehen die nicht, dass die deutsche Regierung unser Feind ist? Sie will uns vernichten, und Tsipras hat widerstanden.“ Ich nehme ihre Hand in meine Hände und sage: „Keiner will dich vernichten.“ Ihr steigen Tränen in die Augen, sie zieht ihre Hand zurück, stößt unsere drei Gläser vom Tisch und schreit: „Was kann ich dafür, dass ich so gut aussehe und dass mich jeder bescheuerte Regisseur und jeder bescheuerte Produzent beschlafen will? Ich will jedenfalls weder deren Plop-Love-Shots noch deren Kohle dafür. Ich will einfach arbeiten können und damit Geld verdienen. Ich werde dieses Scheißgriechenland verlassen. Taliban … Die sind alle Taliban.”
Viele Stunden nach der Abstimmung im Parlament und endlose Gespräche später nehme ich bei all meinen Bekannten und Freunden eine seltsame Mischung aus Wut und Erleichterung wahr – verbunden mit viel Trotz. Und die merkwürdige Gewissheit, die Makis so in Worte fasst: “Die deutsche Regierung hat uns geschlagen und gemartert, aber wir haben widerstanden und sind nicht besiegt.“ Und allseits die große Erleichterung, noch in der Euro-Zone zu sein – und sei es mit diesen harten Sparauflagen. Meine Tante sagt am Telefon: „Wir haben Krieg und Bürgerkrieg überstanden und auch die Juntazeit und das Kriegsrecht. Mach dir keine Sorgen um uns. Wir werden auch dieses Spardiktat noch überstehen.“
Kurz vor der Parlamentsdebatte zum neuen Austeritätsprogramm der »Troika«. In der Innenstadt Demos. Molotowcocktails. Der Schwarze Block in Rage. Athen bleibt Athen.
In der Galerie Beton7 treffe ich Poppy. Erstaunlich, wie hartnäckig Kunst in Griechenland in diesen Zeiten der Verarmung und Hoffnungslosigkeit hervorgebracht wird. Ausstellungen, Installationen, Theaterstücke, Filme. Ohne Finanzierung, mit viel Energie und teilweise auf einem unglaublich hohen künstlerischen Niveau. Was die griechischen Autoren der letzten hundert Jahre anbelangt, so ist mir das vertraut. Einige stellten das Schreiben selbst mit erfrorenen Fingern nicht ein. Das Land hat eine Tradition in Kunstproduktion unter widrigsten Bedingungen. Diese formte sich in Zeiten von Okkupation, Krieg, Junta und Verfolgung und war jedesmal gelebter Widerstand. Auf Bedrohungen reagiert der Mensch hier oft mit Kunst.
Poppy sagt: »Was uns fehlt, sind Visionen.« Und dann: »Wir Jüngeren sind total abgeschrieben. Ist dir schon mal aufgefallen, dass im griechischen Fernsehen keine Menschen aus der Altersgruppe der Unterdreißigjährigen zu sehen sind? Wir gehören nicht zur griechischen Gesellschaft. Die da oben machen keine Politik für die Zukunft; wir sind nicht auf ihrem Radar, wir existieren gar nicht. Wir dürfen gehen. Hast du einen Job für mich in Berlin?« – »Wovon lebst du?« frage ich. Ein schnelles Schulterzucken: »Alle Vorstellungen des Nationaltheaters sind abgesagt worden. Unterrichten kann ich auch nicht mehr, weil niemand mehr Geld hat. Es verdient ja kaum einer noch was.«
Ich blinzele und frage dann grinsend: »Gibst du mir einen Kaffee aus?« Sie: »Meinem deutschen Freund immer.« Poppy bestellt an der Bar einen doppelten Espresso. Dann fährt sie fort: »Weißt du, es ist doch egal, was Frau Merkel und Herr Schäuble vorhaben. Das Problem ist, was wir tun oder was wir nicht tun, hier in Griechenland. Warum kommt kein Politiker und sagt: Passt auf, wir machen jetzt ein gerechtes Steuersystem. Alle müssen bezahlen. Nicht nur die unteren Einkommensschichten, weil die keine andere Wahl haben, sondern auch der Rechtsanwalt, der Arzt und natürlich die Großen. Das muss jetzt endlich jemand durchsetzen. So geht es nicht weiter … Stell dir vor, ein Ministerpräsident würde sagen: Wir starten ein nationales Aufbauprogramm und beginnen damit, Griechenland unabhängig zu machen von Erdöl und Erdgas und langfristig sogar erneuerbare Energie zu exportieren. Stell dir vor, was das für Auswirkungen hätte! Arbeitsplätze, Klimaschutz. Das ist Hoffnung. Unabhängigkeit. Aber keiner tut es.«
Wenige Wolken heute, große Hitze, blendendes Licht. Fast nicht zu glauben, dass sich uns etwas erhält von dem, das immer dagewesen war, in dieser Zeit der Auflösung. Wie sagte gestern mein Dichter-Freund Alexandros: „Die Zukunft verschwindet, und sie nimmt die Vergangenheit mit. Uns Griechen bleibt dieses Jetzt, in dem die Tage sich vereinzeln und voneinander isolieren wie Kapitel eines Buchs, das auseinanderfällt.“
Überall, wo ich heute unterwegs war, die lärmenden Zikaden. Eine Klangrealität Griechenlands, Sommer für Sommer, ein von Insekten erzeugtes, sehr lautes Geräusch, das es trotz aller Oleander- und Olivenbaumkübel in Berlin nicht gibt. Man kann also nicht alles kaufen.
Ausgerechnet heute – obwohl mein Bruder, der rechts von mir saß, behauptete: „Das ist kein Zufall.“ –, ausgerechnet mitten in dieser Woche des Zorns, des Aufruhrs, der Niedergeschlagenheit, der herbeigesehnten Hoffnung: plötzlich dieses Konzert in Athen. Gestern, kurz nach meiner Ankunft, rief D. mich an und fragte: „Kommst du morgen mit? Im Herodes-Attikus spielt das Staatsorchester Mikis’ Erste Sinfonie und Axion Esti.“ Mir war völlig klar, dass nur wenige Zeit, Lust und das Geld haben würden, um in diesen Tagen in so ein Konzert zu gehen, zumal fast alle Kulturveranstaltungen abgesagt worden sind.
Ich hab mich unglaublich geirrt. Innerhalb von drei Tagen waren die fünfeinhalbtausend Tickets ausverkauft. Hunderte Menschen versuchten vergeblich, irgendwie in das Theater unterhalb der Akropolis zu kommen. In den Sitzreihen ältere Leute neben sehr jungen, sehr viele Dreißig- und Vierzigjährige und eine Menge Touristen, die sich irgendwie eine Karte besorgen konnten.
Dann kam er. Mikis Theodorakis, der in zehn Tagen 90 Jahre alt wird, im Rollstuhl langsam hereingeschoben in dieses Theater unter freiem Himmel, weißes Haar, blaues Hemd, eine große dunkle Sonnenbrille. Die Menschen riss es hoch, sie empfingen ihn. Der Klang des Jubels, der aus dem Gemurmel hervorschoss wie eine Fontäne. Das sollte an diesem Abend mehrmals passieren.
In der aufgewühlten Stimmung dieser Tage ausgerechnet diese beiden Werke. Die Musik offenbarte sich als eine kathartische Antwort auf das Gezischel beim Gipfeltreffen der europäischen Staatsoberhäupter in Brüssel und auf alles, was darauf folgte. Zu Beginn die Erste Sinfonie. Ein Mensch gegen den andern – so klingt das. Griechenland ist seit seiner Gründung ein Bürgerkriegsland. Im 19. Jahrhundert die Anhänger der Russischen Partei gegen die Anhänger der Französischen Partei. Die Anhänger des Katharevusa-Griechisch gegen die Anhänger der Volkssprache Dimotiki. Später die Monarchisten gegen die Venizelisten/Republikaner. Die Nationalisten gegen die Kommunisten im Bürgerkrieg. Die Sozialisten der Zentrums-Union gegen die Konservative ERE-Partei. Die PASOK-Anhänger gegen die Neue-Demokratie-Anhänger. Wenige entzogen sich dieser Entweder-Oder-Bürgerkriegsideologie. Hauptvertreter dieser Wenigen war Mikis Theodorakis.
Die Erste Sinfonie, 1948/49 mitten im Bürgerkrieg komponiert, ist zweien seiner Freunde gewidmet, die in den unterschiedlichen Lagern gekämpft hatten und zu Tode kamen.
Im bipolaren Herrschaftssystem Griechenlands waren solche Sätze wie „Wir alle sind Griechen.“ und „Wir sollten uns nicht gegenseitig zerfleischen.“ außerordentlich rar und suspekt. Thedorakis, weil er so sprach und weil ihn „Parteigrenzen“ nie interessierten, war suspekt.
Seine Musik heute Abend für fünfeinhalbtausend Menschen die Katharsis. Es ist ihre eigene Musik, eine Offensive, eine poetische Befreiung aus dem Würgegriff „Brüssels“ und der „griechischen Politik“. Nimm dem Menschen die Luft – er wird darum ringen. In der Pause sagte einer feixend: „Ha! Wir hier drinnen gehören zu den Begnadeten. Wir sind die Fünfeinhalbtausend, die das einatmen dürfen, während die andern vor den Fernsehern sitzen und sich anhören müssen, was Tsipras zu sagen hat nach seiner Kreuzigung.“
Dann „Axion esti“ (Lobgepriesen sei), das Oratorium auf der Grundlage einer Gedichtkomposition, für die der Dichter Odysseas Elytis 1979 den Literaturnobelpreis erhalten hat – eine ganz andere Art von „Nationalhymne“. Loukas Karytinos dirigiert, George Dalaras singt. Die Menschen auf den Rängen mit sich eins.
Als ich nach Hause komme, läuft der Fernseher. Stamatia, die Freundin meiner Mutter, die gerade zu Besuch ist, sagt den Satz: „Er hat sich mehrmals entschuldigt.“ Tsipras hat im griechischen Fernsehen gerade die erste Pressekonferenz nach der Einigung mit der EU gegeben. „Er hat sich mehrmals dafür entschuldigt, dass er nicht einhalten konnte, was er versprochen hatte; er hat gesagt, dass es für Griechenland ein schlechtes Abkommen ist – und für Europa. Dass ihm aber keine andere Wahl gelassen wurde, als das so zu akzeptieren. Und er hat es schweren Herzens akzeptiert.“ – „Und was sagst du jetzt dazu?“, frage ich. Meine Mutter dreht sich abrupt zu mir, sieht mich an und meint: „Es hat sich noch nie ein Premierminister bei uns entschuldigt. Noch nie. Die andern hätten hundertmal mehr Grund dazu gehabt. Weißt du was: Der sollte Ministerpräsident bleiben. Der ist der Einzige und der Erste, der den Oligarchen wirklich an den Kragen könnte.“
In den Nachrichten überschlagen sich die Kommentatoren.
Mir scheint, vieles ist anders als sonst. Athen verändert sich in kurzen Abständen, als gingen Wellen darüber. Lisa sagte vor vierzehn Tagen auf der Schönhauser Allee in Berlin: „In den letzten fünf Jahren bekamen wir in Griechenland jedes halbe Jahr einen Schock. Ich fühle mich, als hätte ich statt des Herzens einen Elektroschocker in meinem Körper, der von irgendwo außen ab und an betätigt wird.“
Auf dem Herflug in der ausgebuchten Maschine nach Athen eine befremdliche Atmosphäre an diesem Tag 1 nach der erneuten Brüsseler „Griechenland-Rettung“. Nachdem wir die angepeilte Flughöhe von 10.000 Metern erreicht haben, fragt mich meine Sitznachbarin, eine junge Frau: „Sie sind doch Grieche – oder? Werd ich in Griechenland als Deutsche Probleme haben?“ Und meine 76-jährige Mutter, die mich mit ihrem alten Skoda vom Flughafen abholt, will als erstes wissen: „Sag mal, was denken denn die ganz normalen Leute in Deutschland über uns? Hassen die uns auch alle so sehr wie Herr Schäuble? Wollen die sich auch an uns rächen, für irgendwas?“
Es ist seltsam still in Athen, als würde die Stadt die Luft anhalten. Ich bin unterwegs, um Freunde am Exarchia-Platz zu treffen. Die U-Bahn ist voll. Die Menschen eigenartig ruhig. An den Fahrkarten-Entwerterautomaten leuchtet es in Rot: Außer Betrieb. Weil die Banken geschlossen bleiben, hat die Regierung verfügt, dass in Athen bis auf weiteres alle Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos sind.
Am Exarchia-Platz, dem Treffpunkt der Athener Anarchisten-Szene, setze ich mich ins Café „Flora“. Stefanos P. kommt. Er erzählt, dass er vor kurzem arbeitslos geworden ist. Siebeneinhalb Jahre war er bei einer Druckerei beschäftigt. Jetzt bekommt er ein halbes Jahr lang monatlich 360 Euro Arbeitslosengeld. Danach nichts mehr. Stefanos ist außer sich, weil Tsipras in Brüssel „eingeknickt“ ist. „Das hätte er nicht unterschreiben dürfen“, sagt Stefanos erregt. „Es hilft Griechenland ja nicht, sondern so wird Griechenland unterjocht.“ Ich frage ihn, wie er überhaupt mit 360 Euro überleben kann. Er antwortet: „Frag mich lieber nicht. Ich muss mich irgendwie durchschlagen.“
Im Café Leere. Das Aircondition läuft, aber heute ist es nicht heiß. Ich schau kurz nach draußen. Auf dem Platz viele Menschen. Darunter drei, vier Männer, die lauthals gestikulierend in ihre Handys rufen. Stefanos bemerkt das und sagt: „Die bereiten den Aufstand vor. Am Mittwoch oder Donnerstag wollen zehntausend Anarchisten und etliche Linke gegen die Regierung protestieren. Dem müssten dann noch viele andere Menschen folgen und einen Generalstreik ausrufen.“ – „Und was passiert dann?“, frage ich. „Wir dürfen Tsipras das nicht durchgehen lassen. Wir haben beim Referendum ja nicht ohne Grund mit Nein gestimmt. Wir müssen Widerstand leisten.“ Dann schaut er auf die Uhr. Er reicht mir die Hand und verlässt das Café. Wolken am Himmel.
Zwanzig Minuten später kommt Alexandros. Er ist ein Dichter-Freund und arbeitet als Journalist. Wir haben uns lange nicht gesehen. „Weißt Du, was ich gerade mache?“, fragt er mich. „Ich übersetze gerade Texte eines ostdeutschen Autors. Wolfgang Hilbigs ICH – diesen Stasi-Roman.“ Alexandros bestellt einen Frappé und sagt unvermittelt: „Frau Merkel müsste doch eigentlich verstehen, was hier passiert! Dass das Volk auf die Barrikaden geht.“ Er streicht sich über den Nacken. „In Leipzig sind die doch auch damals auf die Straße gegangen. Und die hatten sogar was zu verlieren! Die hatten Arbeit, Wohnung, Essen war billig, Schule, Krankenversorgung. Und trotzdem hat’s denen gereicht. Die gingen auf die Straße ohne Plan, ohne Anführer. Mit vollem Risiko. Die haben irgendwelche Sätze gerufen. Wie war das …? Wir bleiben hier!Wir sind das Volk! Denen war klar, dass in ihrem Land Unrecht geschieht. Die hatten zu essen, aber sie hatten Hunger nach Freiheit. Wir haben auch so gefühlt und beim Referendum mit diesem Nein reagiert. Viele hier verstehen nicht, wie Frau Merkel, die doch aus Ostdeutschland kommt und das alles mitgemacht hat, für unsere Situation so wenig Verständnis hat und so knallhart bleibt.“
Versehentlich fegt Alexandros die Tasse vom Tisch, als er seine Worte mit einer schnellen Handbewegung unterstreicht. Der Rest vom Kaffee spritzt auf den Boden. Alexandros greift nach einer Serviette und sagt: „Das war die Hand von Frau Merkel, die uns vom Tisch kriegen muss. Die erwartet von uns etwas, was sie selbst nicht für sich gewollt hat damals in der DDR, als sie so alt war, wie wir jetzt. Wer soll das verstehen?“ Er schaut mich zweifelnd an. Ich als „deutscher Grieche“ müsste ja eine Antwort darauf haben.
Es ist 23.11 Uhr. Ich fahre mit der U-Bahn zurück bis zur Station in dem Viertel, in dem meine Mutter wohnt. Mein erster Tag in Griechenland geht zuende. Viele Fragen offen.
bitte nehmen Sie den gestrigen Vorschlag von Herrn Schäuble auf und lassen Sie uns sofort den Euro verlassen. Eine bessere Gelegenheit hat es dafür in den letzten 5 Jahren nicht gegeben! Wir haben keine Chance innerhalb der Eurozone zu recovern. Das bisherige Argument, dass ein ungerodneter Grexaccident ins Chaos führen würde, gilt seit dem gestrigen Vorschlag des deutschen Finanzministers nicht mehr. Darin verspricht er finanzielle Unterstützung, humanitäre Hilfe und technischen Beistand bei der Wiedereinführung der Drachme – und das alles innerhalb der Eurozone (wie die anderen 10 Euroländer, die keinen Euro haben.).
Herr Tsipras, Griechenland ist bankrott, korrupt und nicht mehr souverän – Sie und SYRIZA sind NICHT dafür verantwortlich. Jetzt haben Sie die einmalige Chance, Griechenland radikal zu ändern und zu reformieren. Tun Sie es!
Die junge lost generation in Griechenland hat nichts zu verlieren – sie ist bereits von der Gesellschaft abgeschrieben, sie hat keine Perspektive – ausser das Land zu verlassen -, ist von Massenarbeitslosigkeit (zwischen 50 und 60%) betroffen, sie taucht nicht auf in den Sozialsystemen der Staates, sie hat keine Chance auf irgend eine Rente, sie ist nicht präsent in den griechischen Massenmedien, die zu über 90% den griechischen Oligarchen gehören. UND SIE HAT KEINE SCHULD AN DER MISERE, MUSS SIE ABER TÄGLICH AUSBADEN. Wie drückte es ein 17-Jähriger Anarchist mir gegenüber aus: „Unsere Eltern haben uns den Krieg erklärt – jetzt kriegen sie ihren Krieg.“
85% der unter 24-jährigen haben mit NEIN gewählt. Die griechischen Machteliten haben in den letzten 20 Jahren eine Scorched-Earth Policy gegenüber der jungen Generation durchgezogen, die seit 2008 dagegen immer wieder aufbegehrt. Alles, was aus den Mündern von Samaras, Venizelos, Voridis, Bakojanni etc. ertönt, erscheint ihnen als hohle Phrasen, diese Clique als das personifizierte Scheitern, das personifizierte „Übel“. – Und sie können einfach nichts anfangen mit den „europäischen Botschaften“, die sie aus Brüssel oder Berlin erreichen, da es ihnen „übersetzt“ wird von genau diesen griechischen „Loosern“, der „alten Politikerkaste“, der „korrupten Mafia der Bankrotteure“, der „alten Garde des Klientelismus“. Das sind einfach die falschen Verbündeten für Europa. (Nach dem Mauerfall wollte auch keiner mehr mit Krenz oder Schabowski zusammenarbeiten.)
Die jungen Leute in Griechenland leben seit 5 Jahren ein gesellschaftliches Desaster, für das sie nicht verantwortlich sind. Das „System Griechenland“ der letzten 30 Jahre hat sie geopfert.
Das NEIN hat gewonnen. (Und zwar mit einem Riesenvorsprung.) Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Bei diesem Terror fast der gesamten griechischen (und deutschen) Presse gegen die Tsipras-Regierung, bei diesen Armaggedon-Drohungen der Opposition, bei dieser immensen finanziellen Unterstützung des JA-Lagers, bei diesen Untergangs-Prophezeiungen des gesamten europäischen Establishments, bei diesem Wahl-Boykott der Kommunistischen Partei (die immerhin 8% Wählerstimmen hat) und vor allem unter der Fuchtel geschlossener Banken, drohender Pleite und unter der Prämisse, dass KEINER wusste/weiss, was der nächste Tag bringen wird: RESPEKT! RESPEKT! Vor allem die letzten Punkte zeigen, dass es vielen Griechen um mehr ging, als nur um Geld. Und umso schwerer wiegen die 61%. Aber trotzdem, wie ich gestern schrieb: WIR SIND ALLE GRIECHEN, lasst uns jetzt endlich unsere Hausaufgaben machen! Wir müssen endlich unser Land umkrempeln. Und jetzt muss die Regierung liefern. Ich stimme mit ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID überein, die vorhin im Wiener STANDARD schrieb: Die „griechische Regierung muss ihren Plan vorlegen, wie sie die Zukunft des Landes aktiv gestalten will. Wer etwas von anderen will, muss sich dann auch an Vereinbarungen halten. Reformen sind in vielen Bereichen notwendig. Nur Nein zu sagen reicht nicht – weder in Brüssel noch in Athen.“
Ich bin vorhin gefragt worden, was ich morgen wählen würde. Leute, egal, was ihr wählt, egal, was ihr denkt und fühlt: GEHT MORGEN WÄHLEN! Jedes JA, jedes NEIN ist besser, als nicht zu wählen. Morgen geht es meiner Meinung nach zunächst einmal um unser Selbstbestimmungsrecht, und es geht morgen auch um ein Zeichen dafür, dass wir die Volksabstimmung als „Institution“ stärken und diese uns für die Zukunft erhalten. Egal, wer diese Volksabstimmung gewinnt, die Demokratie gewinnt morgen auf jeden Fall, und somit gewinnt jeder von uns. Ich finde das toll. Denn das Wichtigste, was in den letzten Monaten passiert ist – und das kann uns keiner nehmen: Millionen von Griechen sind „aufgewacht“, haben gestritten, gelitten, haben „nachgedacht“, haben Widerstand geleistet oder sich „ergeben“, haben Hoffnung geschöpft oder resigniert. Ein unglaublich dynamischer, gesellschaftlicher Diskurs ist in Gang gekommen, natürlich vor allem in Griechenland (wo es so etwas lange Zeit nicht mehr gegeben hat), aber auch in Europa und sogar weltweit. Wie schrieb Jürgen Habermas anerkennend vor einigen Tagen: die Griechen haben „Sand ins Brüsseler Getriebe gestreut“. Egal, was morgen bei dieser Abstimmung herauskommt: Wir haben so oder so Geschichte geschrieben – und wir sind ALLE Griechen.
5 JAHRE GEGENSEITIGES DEUTSCH-GRIECHISCHES BASHING SIND GENUG! //
Ich schätze das Leben in Deutschland sehr, und ich schätze die Deutschen und ihre funktionierende Zivilgesellschaft – etwas, das wir in Griechenland nicht haben (eines unserer größten Probleme). Meine Seele ist zwar „griechisch“ durch und durch, aber mein Geist ist „deutsch“, und der liebt Bach und Mahler, Schubert, den Dresdner Kreuzchor, Schopenhauer, Hölderlin, Immanuel Kant, Hermann Hesse, Thomas Mann, Caspar David Friedrich, Gerhard Richter, Max Beckmann, Hannah Höch, Siegmar Polke, Joseph Beuys, Käthe Kollwitz, August Sander, Paul Celan, Martin Walser, Heiner Müller, Volker Braun, Christa Wolf, Wim Wenders, Adolf Endler, Hans Magnus Enzensberger, Bertold Brecht, Marlene Dietrich, Ernst Bloch, Hanns Eisler, Udo Lindenberg, Klaus Kinsky, Konstantin Wecker, Peter Stein, Pina Bausch, Wolf Biermann, Hannah Arendt, Rainer Werner Fassbinder usw. usf. – und ich liebe all meine zur Zeit etwas „diffusen“ deutschen Freunde.
Egal, was die Regierenden machen und wie sich einzelne Politiker und Journalisten verhalten, egal, wie zum Teil menschenverachtend die Bild-Zeitung gegen uns „gierige Griechen“ hetzt und uns in ihren Veröffentlichungen zu Bürgern Zweiter oder gar Dritter Klasse degradiert – denkt daran: Diese Journalisten sind nicht „Deutschland“. Viele Menschen in Deutschland schätzen uns Griechen, genauso wie wir Griechen Deutschland lieben. Vergeltet also nicht Gleiches mit Gleichem, selbst nicht in diesen Augenblicken „höchster Not“. Wir Griechen in Deutschland sind „Botschafter“ und „Über-Setzer“ zwischen den beiden Nationen; und gerade jetzt, da die deutsch-griechischen Beziehungen auf einem solchen Tiefpunkt angekommen sind, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie erlebt haben, sollten wir dementsprechend handeln und für Ausgleich sorgen… Kritisieren – ja, streiten – ja, parodieren – ja, aber nicht beleidigen, nicht herabsetzen, nicht entwürdigen. Wir sollten die Möglichkeiten des Dialogs und der Streitkultur ausschöpfen, sie aber niemals zerstören (auch wenn das schwer fällt).
Gert Hof, ein guter Freund, der leider vor ein paar Jahren den Kampf gegen den Krebs verloren hat, sagte immer: „Asteris, egal, was passiert ist, such den Fehler erst einmal bei dir.“ Darum sollten wir Griechen bei uns selbst anfangen – eine Prämisse, die mir so wichtig ist, dass ich mich gern selbst zitiere: Das derzeit für mich Erschreckende ist nämlich, dass ich beim Disput zwischen uns Griechen (sowohl in Griechenland als auch in der Diaspora) erlebe, welcher Dogmatismus herrscht, welche verbalen Erniedrigungen einander zugefügt werden, welcher Starrsinn noch immer besteht, welches Beharren darauf, dass die Ansichten eines anderen nichts wert sind, Schwachsinn oder Gedanken eines „Feindes“ oder gar „Verräters“. Die Zeiten des Bürgerkriegs und der „unnatürlichen Entzweiung“ sind längst vorbei, dachte ich, und vieles sei inzwischen anders, besser, offener. Dass es inzwischen selbstverständlich sein müsste, einander zuzuhören und tolerant zu sein. Dass inzwischen klar geworden sei, dass die politische und die emotionale Entzweiung der Griechen das Immunsystem des Landes geschwächt und zu zerstören begonnen haben. Dass dieser Prozess nicht weitergetrieben werden sollte. Dass jeder Einzelne sich dem verweigern müsste.
Ich hätte nie gedacht, dass nach so viel Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten, nach so viel Zeit, in der wir nicht unter Gewehrfeuerbeschuss waren, in der keine Bomben fielen, in der Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden, nach so viel Zeit, die uns gegeben war, um Abstand zu gewinnen, in uns zu gehen, tiefer zu sehen, unsere Ansichten auszutauschen, … dass nach so viel Zeit trotzdem so viel gegenseitige Verachtung, Abschätzigkeit und Hass herrschen und das Haar in der Suppe gesucht wird, während unser Land, Griechenland, das Land, das wir alle so nötig haben, den schlimmsten Niedergang seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und damit ein Verlust von Heimat stattfindet, der vor allem einen Verlust unserer kulturellen Identität und zugleich unserer „Menschlichkeit“ bedeutet. Griechenland wird nicht in einen politischen Dialog mit anderen Ländern kommen können, solange uns Griechen das nicht einmal im eigenen Sprachraum gelingt.
Unsere Freunde hier in Deutschland, unsere Kollegen und Nachbarn sind uns verbunden, weil sie uns als Philanthropen kennen und neben unserem Humor auch unsere Ernsthaftigkeit mögen (glaube ich jedenfalls). Wenn ich eingangs von der deutschen Zivilgesellschaft schrieb, die ich so sehr schätze, dann vor allem wegen der hier gelebten Meinungsfreiheit, die es ermöglicht, Kontroversen zu führen, einander zu kritisieren, ohne dass damit unweigerlich abgrundtiefe Verachtung, nicht endende Feindschaft und ein nicht enden wollendes Einander-Schlechtmachen oder so etwas wie „politische Sippenhaft“ einhergehen. Es ist mir in Deutschland wohl nie passiert, dass jemand an jemandem Kritik äußerte und im gleichen Atemzug erwähnte, aus welcher Familie der von ihm Kritisierte kommt, welcher Partei der Vater nahe steht, der Bruder usw. usf. Ich habe es leider aber sehr sehr oft erlebt, dass wir Griechen das sehr stark thematisieren und dass daraus niemals etwas Konstruktives resultierte. Wie viele wunderbare Projekte sind daran gescheitert … Für mich ist das die Fortsetzung des Bürgerkriegs – denn das war im Interesse der Machteliten unseres Landes auch in den letzten 40 Jahren -, der dadurch nie aufgehört hat, sondern unser Denken offensichtlich weiter bestimmt. Die Debatten in Deutschland empfinde ich dagegen oft als eine Wohltat, denn hier gibt es eine Welt auch neben und unter jener der „kalten Machtpolitik“. Lasst uns dort ansetzen und mit friedensfördernden Maßnahmen beginnen… Wir müssen die Trümmer des Krieges beiseite räumen – vielleicht endet er dadurch schneller.
Obwohl Frau Merkel und die deutsche Regierung bislang für die unglaubliche humanitäre Katastrophe in Griechenland nicht (oder nur teilweise) verantwortlich sind – dafür haben die griechischen Eliten, Politiker und Oligarchen die letzten Jahrzehnte schon selbst gesorgt -, so gehen sie doch ab jetzt „über Leichen“ in Griechenland.
So werden Frau Merkel, Herr Gabriel, Herr Schäuble & Co. in die Geschichte eingehen: als gnadenlose Machtpolitiker, die das Wohl der Banken (was nicht nur symbolisch gemeint ist) über das Wohl von Kindern, Jugendlichen und einer jahrelang „terrorisierten“ Bevölkerung stellen.
Das heutige „Europa“ ist mir egal (und hat sich wohl erübrigt), aber dass aufgrund einer konkreten Politik in den letzten Jahren Menschen tagtäglich sterben und die Demokratie ausser Kraft gesetzt wird (was Hand in Hand geht) – und dass das alles von unseren „europäischen Freunden“ wie selbstverständlich hingenommen wird – ist meiner Meinung nach monströs und offenbart, was uns die Zukunft wirklich bringen wird.
Zum 10jährigen Bestehen von EXANTAS und vor allem der gleichnamigen berliner deutsch-griechischen Zeitschrift …
Ich gehöre nicht mehr zur jüngeren Generation – obwohl die Übergänge fließend sind – und noch nicht zur so genannten alten, obwohl auch hier die Übergänge fließend sind. Und in diesem fließenden Prozess verstand ich mein Wirken, und das zusammen mit meiner Frau Ina, immer als ein Kontinuum.
Viele meiner Künstler-Kollegen haben im Bruch mit der Tradition ihre Bestimmung gesehen und ihre Möglichkeit, voranzukommen, was ich nachvollziehen kann. Ich dagegen fühlte mich immer und fühle mich bis heute zugehörig dem Griechenland- und Kunst-Verständnis eines Kavafis, Cacojannis, Seferis, Theodorakis, Ritsos, Chatzidakis, Kunduros, Anagnostakis, Angelopoulos, Tsarouchis, Mikroutsikos, Gavras, Elytis etc. – einem Verständnis, welches beinhaltet, dass sich das bzw. mein Griechisch-Sein über die griechische Sprache und die griechische Kultur definiert. Genau das ist für mich „Heimat“, mein „Land“, meine „Landschaft“. Von hier aus kann ich zurück in die Historie schauen, bis in die Antike und noch weiter zurück in die dunklen Jahrhunderte der chtonischen Zeit vor 1400 v.Chr., und zugleich in die Zukunft, die unsere Gegenwart ist, und in die andere Zukunft, die wir noch nicht kennen.
Aus meiner eigenen Erfahrung als Herausgeber zweier Zeitschriften zwischen 1988 und 1991 weiß ich, wie schwer es ist, streitbar, aber nicht unseriös, kritisch, aber nicht beleidigend, spannend, aber nicht „billig“ zu sein. Diesen Spagat und diese Versuchungen kenne ich gut.
Letztendlich halte ich genau das für das Beste, was möglich ist und wofür ich stets eingetreten bin: eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit, die die Möglichkeiten des Dialogs und der Streitkultur ausmachen. Das derzeit für mich Erschreckende ist nämlich, dass ich in der Diskussion zwischen Griechen (auch der Diaspora) erlebe, welcher Dogmatismus herrscht, welche verbalen Erniedrigungen einander zugefügt werden, welcher Starrsinn noch immer besteht, welches Beharren darauf, dass die Ansichten eines anderen nichts wert sind, Schwachsinn oder Gedanken eines „Feindes“ oder gar eines „Verräters“. Denn die Zeiten des Bürgerkriegs und der „unnatürlichen Entzweiung“ sind ja eigentlich vorbei und vieles inzwischen anders, besser, offener. Weil das Einander-Zuhören wichtig geworden sein müsste, die Toleranz. Weil inzwischen klar geworden sein müsste, dass die politische und die emotionale Entzweiung der Griechen das Immunsystem des Landes schwächten und zu zerstören begonnen haben. Dass dieser Prozess nicht weitergetrieben werden sollte. Dass jeder Einzelne sich dem verweigern müsste.
Ich hätte nie gedacht, dass nach so viel Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten, nach so viel Zeit, in der wir nicht unter Gewehrfeuerbeschuss waren, in der keine Bomben fielen, in der Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden, nach so viel Zeit, die uns gegeben war, um Abstand zu gewinnen, in uns zu gehen, tiefer zu sehen, unsere Ansichten auszutauschen, … dass nach so viel Zeit trotzdem so viel gegenseitige Verachtung, Abschätzigkeit und Hass herrschen und das Haar in der Suppe gesucht wird, während unser Land, Griechenland, das Land, das wir alle so nötig haben, den schlimmsten Niedergang seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und damit ein Verlust von Heimat stattfindet, der vor allem einen Verlust unserer kulturellen Identität und zugleich unserer „Menschlichkeit“ bedeutet.
Ich möchte nicht so weit gehen wie Giorgos Seferis, der am 5.1.1938 in seinem Tagebuch notierte: „Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das „Griechentum“ denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen“, um fast zwei Jahre später sein Leiden an Griechenland noch extremer zu formulieren: „Das, was sich am massivsten bemerkbar macht, ist dieses Faulende, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen … raushängende Zunge, schlaue, erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe es sich noch leben?“ (27.11.39)
Es ist wichtig, dass wir Griechen der Diaspora uns positionieren: als Griechen der Diaspora.
EXANTAS ist eine jener „exterritorialen Vereine“, die ich als Sprachrohr wahrnehme, als ein Medium für eine solche „Heimat“ – für uns Griechen in der Diaspora.
Es ist diese Energie, die ich mir immer wünsche. Eigentlich: dieses Konglomerat, bestehend aus Energie, Konzentration und Arbeit. Viel Arbeit. Heraus kommt dann solch eine Publikation wie die Zeitschrift EXANTAS.
Also, Exantas-Team, macht weiter so! Auf See vergeht die Zeit sehr langsam; an Land weiß man nicht, wo sie geblieben ist.
Ein Aroma von Heimat
Die griechische politische Diaspora in den sozialistischen Ländern – von Ina Kutulas
Griechen kamen im 20. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland – als Gastarbeiter in den 60ern und 70ern, als politische Flüchtlinge während der Zeit der Junta (1967 bis 1974 ), während des Ersten Weltkriegs nach Görlitz (1916) und als Deportierte während des Zweiten Weltkriegs.
Eine besondere Geschichte haben die mehr als 1.200 zumeist Kinder, die als Flüchtlinge nach dem Ende des Bürgerkriegs 1949 in die damalige DDR kamen.
Das Schicksal dieser Bürgerkriegsflüchtlinge soll der Dokumentarfilm „Ein Aroma von Heimat“ thematisieren und den Blick öffnen für ein tragisches Schicksal der jüngeren, noch nicht sehr weit zurückliegenden Geschichte, für eine Epoche, deren Ereignisse und Folgen ursächlich zur gegenwärtigen Krisen-Situation Griechenlands beigetragen haben.
Der Bürgerkrieg (1946-49) verursachte einen tiefen Riss, welcher sich in der griechischen Gesellschaft auftat, die noch schwer litt an den Folgen des Terrors und der grausamen Verbrechen der Wehrmacht und der SS, die während des Zweiten Weltkriegs verübt worden waren. Zehntausende Tote, eine total zerstörte Wirtschaft, zwischenmenschliche Tragödien. Der Bürgerkrieg ließ den Menschen keine Atempause, während anderswo in Europa der Wiederaufbau begann. Der in Griechenland provozierte und geschürte Bürgerkrieg ließ Feindeslinien entstehen, die mitten durch Familien verliefen, nicht selten zwischen dem einen Bruder und dem anderen Bruder. Es war ein Kampf zwischen Linken und Rechten, zwischen Ost und West.
Der Kalte Krieg, der umschlug und in Griechenland auf Leben und Tod geführt wurde, war 1949 Auslöser für einen Exodus von 56.000 griechischen im Widerstand aktiven Partisanen, die mit ihren Familien in den sozialistischen Ländern Asyl fanden. Sie wurden – entsprechend einer Abmachung zwischen den so genannten sozialistischen Bruderparteien – nach einem „Schlüssel“ auf verschiedene Länder verteilt. Eine „politische Diaspora“, einmalig in dieser Art in der neueren Geschichte Europas.
12.000 Griechen fanden Aufnahme in der Sowjetunion, die meisten davon in Taschkent, 9.000 in Rumänien, 12.000 in der Tschechoslowakei, 11.5000 in Polen, 7.300 in Ungarn, 3.000 in Bulgarien, 1.100 in der DDR.
Die Besonderheit: In die DDR kamen vor allem griechische Kinder in Begleitung einiger Lehrer und erwachsener Betreuer. Die meisten von ihnen wurden untergebracht in Radebeul bei Dresden, einige auch in Leipzig, Erfurt, Zwickau, Chemnitz, Magdeburg, Brandenburg, Berlin, Saßnitz. Auf das Schicksal dieser in der DDR aufwachsenden griechischen Kinder, die später eine Berufsausbildung machten oder studierten, arbeiteten und Familien gründeten, konzentriert sich der Film.
Es waren 1.200 Einzelschicksale – Menschen, die über lange Zeit jedes neue Jahr begrüßten mit dem sehnsuchtsvollen Silvester-Spruch: „Und nächstes Jahr in der Heimat“.
1.200 Einzelschicksale in einer „Zwischenwelt“. 1.200 Menschen, die lebten mit dem Bild von einer Heimat, die es so nur in der Vorstellung, niemals aber in der Realität geben konnte, mit dem Traum von einer „neuen“ eigentlichen Heimat, was diese Menschen jedes Jahr hoffen ließ, ihr „Übergangszuhause“ endlich verlassen zu können
1.200 Menschen, die aus einem von Krieg und Bürgerkrieg zerrütteten Land hatten fliehen müssen, oft das Stigma der Niederlage im Rücken, die ihnen von Funktionären eingeflößte Hoffnung einer nahenden Rückkehr im Sinn, angekommen dort, von wo kurz vorher der Zweite Weltkrieg ausgegangen war und wo vieles noch in Trümmern lag.
Die Geschichte dieser griechischen Kinder in den DDR-Städten lässt – wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet – die europäische und speziell auch die deutsche Nachkriegsgeschichte sichtbar werden. Im Film sollen Menschen zu Wort kommen, die einerseits Opfer der Ideologien und des Kalten Krieges geworden waren, von denen jeder Einzelne andererseits aber auch „seines eigenen Glückes Schmied“ war, je nachdem, welche Entwicklung er in der DDR nahm. Nicht wenige von ihnen sind heute sogar der Meinung, dass sie in Griechenland selbst vermutlich nie eine so gute Ausbildung erhalten und z.B. nie so viel klassische Musik gehört hätten, nie so oft ins Theater oder in die Gemäldegalerie gegangen wären.
Zeitzeugen, Dokumente, die Orte in der DDR, wo „die Griechen“ damals lebten, lernten und arbeiteten, Freunde, Rückkehrer, Hiergebliebene, Familiengeschichten, die nächste Generation – es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich auf besondere Art und Weise aus den ganz privaten Geschichten ablesen lässt.
Die aktuelle, höchst kritische und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch sehr angespannte Situation Griechenlands lässt den grausamen Bürgerkrieg und dessen Folgen als eine der Ursachen für die derzeitigen Zustände erkennen. Dieses Trauma ist nicht nur eines der damals unmittelbar Betroffenen, sondern es ist eines, dessen Auswirkungen gegenwärtig im auch eklatanten Erstarken rechtsradikaler Kräfte sichtbar werden. Die Wunden haben sich niemals geschlossen, die Thematik wurde nur ansatzweise aufgearbeitet, viele der Feindschaften blieben bestehen und treten jetzt wieder offen zutage.
Diese Erkenntnis ist überraschend und über diese Umstände kaum etwas bekannt, aber der kaum noch wahrnehmbare Gegenwartsbezug ist trotzdem deutlich. Eine Geschichte aus dem Kalten Krieg, die ins Heute führt.
Ich habe die Auflistung derer, die sich wegen der Krise das Leben genommen haben, nicht mehr weitergeführt. Aber ich bin mir absolut sicher: seit gestern steht dort + 1. Ich bin mir dessen absolut sicher, denn dieses + 1, das zur Rechnerei des Todes hinzugekommen ist – das war … meine Mutter.
Ich habe mich von meinen Eltern emotional sehr früh abgenabelt, weil sie das System unterstützt und mich darauf vorbereitet haben, wie das in allen Haushalten zu der Zeit der Fall war.
In meinen Augen (denen eines Teenagers), war die emotionale Abnabelung von meinen Eltern ein titanischer Kampf gegen das System, das ich von kleinauf als deformiert und korrupt wahrgenommen hatte, ohne dass irgendwelche giftzüngigen politischen Kräfte mich hätten erst noch indoktrinieren und dazu erziehen müssen, gegen dieses System zu sein.
Natürlich, im gleichen Maße, wie ich recht hatte, hatte ich auch unrecht. Denn meine Eltern waren, wie Millionen andere Eltern auch, einfache und gutgläubige Menschen, sie waren gefangen in der Kredit-Konsum-Schulden-Falle ihrer Zeit. Ein tödlicher Irrtum für sie und meine Generation und für etliche Generationen, die noch kommen werden – doch es war ein Irrtum, der auf Unwissenheit beruhte.
Genau wegen dieser meiner frühzeitigen Abnabelung und weil ich mich von allen Eltern-Stereotypisierungen freigemacht habe, kann ich Ihnen ganz objektiv sagen:
Meine Mutter war eine Heilige. Wann immer sie eine Notsituation erkannte, nahm sie sich dieser Angelegenheit an. Sie verbrachte Jahre in den Krankenhäusern der Erniedrigung und des Leids als freiwillige Krankenbetreuerin und als Seelendoktor für Dutzende von Verwandten und Bekannten und Unbekannten.
Sie umarmte jedes Kind, das ihren Weg kreuzte. Ihre Seele ließ nicht den kleinsten Makel erkennen, nicht die geringste Arglist. Die grenzenlose Liebe meiner Mutter war das „Bindemittel“ unserer Familie.
Immerzu rastlos – ein so lebendiges Wesen hatte meine Mutter, dass sie darin all ihre Kinder übertraf.
Ohne zu jammern hat sie so viele Kreuze getragen. Nie beklagte sie sich wegen irgendetwas. Sie verlangte nichts für sich. Alles für die anderen.
Warwara für alle – und niemand für Warwara. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, um Hilfe zu bitten.
Die letzten Jahre waren ihre schwierigsten – selbst, nachdem sie schon so viel durchgemacht hatte.
Die Krise hielt auch in ihrem Leben, in ihrem Haushalt Einzug. Eine Zukunft für ihre drei Kinder, die alle studiert hatten, nicht in Sicht. Die Rente ihres Ehemannes radikal gekürzt. Ihre eigene Rente, die sie hart erarbeitet hatte und bis zum Schluss bekam, wurde um mehr als die Hälfte gekürzt. Eine Rente – geraubt von diesem Politiker-Lumpenpack.
Jeden Tag Vaters Klagen. Der Druck unerträglich. Der Psychoterror der Medien, der ständig darauf abzielte, uns dazu zu bringen, dass wir uns mit dem massenhaften Raub unseres Eigentums, unserer Würde, unseres Lebens abfinden würden.
Mutter lud sich eines jeden Kreuz auf. Sie arbeitete ohne Unterlass im Haushalt, auch nachts. Sie war unnachgiebig sich selbst gegenüber. Schonte sich nicht. Sie schlief jeden Tag nur vier Stunden, um alles perfekt zu erledigen.
Vor zwanzig Tagen brach meine gute Mutter plötzlich zusammen unter all dem Druck und Schmerz, der sich nach und nach in ihr aufgestaut hatte. Dieser kleine Ausbund von Leben, der so viel Energie in sich hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sie wollte nicht essen. Sie wollte nicht sprechen. Die Hilflosigkeit der Ärzte.
Irgendwann einmal hatten die Worte meiner Mutter – mit der ihnen innewohnenden, erhellenden Lebensweisheit – mich tief berührt, als sie zu mir sagte: „Mein Junge, ich bewundere dich. Du bist wie eine Phönix. Immer wenn du stürzt, erhebst du dich wieder.“
Ich hab versucht, ihr dieses Darlehen an Seelengröße zurückzugeben. Ihr zu sagen: Mutter, erinnerst du dich: Phönix – du und ich.
Aber die Dunkelheit hat ihren Lebensfunken erstickt. In ihrer Verwirrung sagte sie irres Zeug. Sie erzählte ihren Kindern – also uns -, dass sie uns umgebracht hat. Dass sie uns vernichtet hat.
Sie bat um Verständnis für ihr Verbrechen. Sie verlangte, sie der Polizei zu übergeben. Sie verlangte, man möge sie exemplarisch bestrafen. Eine Strafe, weil sie ihr ganzes Leben eine Heilige war.
Das Fernsehen sprach aus ihr. Sagte, sie habe das alles verschlungen. All die Milliarden. Sie war es, die sie geklaut hat. Sie verlangte, der Polizei übergeben zu werden.
Ihr war klar, welches Dunkel in ihrem Kopf herrschte. Sie kannte diese Krankheit sehr gut, nachdem sie geduldig schon soundso viele auf deren letztem Stück des Lebensweges begleitet hatte.
Sie wollte sich auf keinen Fall dieser Krankheit ergeben.
Sie ist unseren Händen entglitten.
Während andere in ihrem Alter den Tod fürchten, öffnete sie das Fenster des Schlafzimmers, in dieser schicksalhaften Sekunde, als unser Vater in die Küche ging, um die Herdplatte auszuschalten, und wagte ihren heroischen Ausbruch.
Still, ohne zu klagen, nahm sie ihre Kreuze mit, um ihren federleichten 43-Kilo-Körper etwas schwerer zu machen, damit der Tod sie ernst nähme, den sie im Hinblick auf sich selbst immer auf die leichte Schulter genommen hatte.
Der Tod machte aus meiner Mutter keine Heldin. Nicht so, wie er es mit dem Helden Dimitris Christoulas gemacht hatte. Eine Heldin war meine Mutter in ihrem Alltagsleben. Eine kleine, alltägliche Heldin.
Schreie drangen herauf.
Und gleich danach sahen wir sie, die sich vom Balkon gestürzt hatte, unten neben dem Müll liegen. Jeder aus unserer Familie, jeder von uns, die wir sie alle so sehr geliebt hatten, zerbrach. Die Säule unseres Zuhause brach, als ihre Knochen brachen.
Ein jeder von uns stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und krümmte sich schluchzend am Boden.
Wir gingen nach unten und dann in die wie vom Blitz getroffene Menge.
Unsere Mutter verließ uns so, wie wir sie gekannt hatten: ohne eine einzige Schramme. Ohne einen Tropfen Blut, der ihr Antlitz hätte beflecken können. Alles in ihr. Alle Verletzungen waren innere. Wie im Leben, so auch im Tod. Unser geliebtes kleines Mädchen.
Mein Vater riss sich die Haare aus. Mein kleines Vögelchen! Mein Lämmchen! Meine kleine Taube! Noch immer war er verliebt in sie, seine Gefährtin auf Lebenszeit. Er weinte nicht seinetwegen. Er weinte um sie. Keiner von uns weinte um seiner selbst willen. Wir alle weinten, weil wir etwas so Kostbares verloren hatten.
Ich bin ein Mörder, rief mein Vater. Ich bin ein Verbrecher.
Nein, mein Vater war kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Der seine geliebte Gefährtin verloren hat.
Meine Mutter hinterließ keinen Abschiedsbrief. Wir haben’s nicht mehr geschafft, Adieu zu sagen, ihre letzten Wünsche zu hören, ihre Hand zu halten, ihr über das Haar zu streichen, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie verließ uns wie eine, die vorangeht, stolz und allein.
Der Tod meiner Mutter wird uns noch mehr Schulden aufbürden. Wie ich schon vor Jahren das Schicksal unserer Heimat vorhergesagt habe: Wir bringen es fast nicht über uns, unsere Tote zu begraben, denn vor einigen Augenblicken war sie noch so lebendig.
Sie hat uns ein reiches Erbe hinterlassen. Ihre unendlich große Seele. Ein kleines Stück ihrer Seele, das unser zerrissenes Herz zusammenhält, unser Herz, in dem ihr sinnloser Tod eine klaffende Wunde hinterlassen hat.
Damit es uns nicht härter, sondern zu besseren Menschen macht. Ein Erbe, das wir ehrenvoll bewahren wollen. Ich hoffe … ich kann nur hoffen, dass wir uns als ihres Nachlasses würdig erweisen werden. Ihrer Liebe für alle Menschen.
Ich war einer der Ersten, der das Schicksal der durch die Krise zu Selbstmördern gemachten Menschen thematisiert hat. Eine von ihnen ist nun gekommen und hat uns, unser Leben heimgesucht. Meine Mutter hat uns davon überzeugen wollen, dass sie eine Mörderin war. Dass sie uns getötet hat. Meine Mutter war keine Mörderin. Sie war heilig. Mein Vater schrie, dass er ein Mörder ist. Weil er sie hatte sterben lassen. Er ist kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Weder ich bin ein Mörder noch sonst irgend jemand aus unserer Familie.
Ich weiß aber, wer der Mörder meiner Mutter ist. Natürlich war es nicht seine Hand, die sie aus dem Fenster stieß. Das geschah durch ihren eigenen Willen und mit Hilfe ihrer unbeugsamen, fast heroischen Hartnäckigkeit ihrer Würde.
Allerdings war es der Mörder, der die große und erdrückende Last auf ihren Rücken lud, ganz oben auf all die Kreuze, die sie seit Jahrzehnten freiwillig und ohne zu klagen mit ihren 43 Kilo getragen hatte.
Es war allerdings der Mörder, der diese unermüdliche, rastlose Frau zwang, gelähmt vor Scham im Bett zu bleiben, gleich neben dem Fenster, ihrem Fluchtweg aus dem Leben. Und nur dieses Fenster konnte sie noch als Ausweg aus einem inneren Schmerz sehen, der so fürchterlich war, dass sie ihm nicht mal mehr stammelnd hätte Ausdruck verleihen können.
Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes. Und für diesen Mörder muss die Todesstrafe wieder eingeführt werden.
Diese Brandmarkung, diese Stigmatisierung des griechischen Volkes als „Schuldigen“ für alles, wofür die griechischen Machteliten und Oligarchen sowie das herrschende europäische „System“ verantwortlich sind, ist unerträglich geworden.
Was ich zudem als beschämend und entwürdigend für eine Vielzahl von „europäischen“ Politikern und Medien empfinde, ist nicht nur deren Arroganz und Herablassung dem griechischen Volk gegenüber, sondern vor allem ihre menschenverachtende Ignoranz: In Griechenland sterben aufgrund der sozialen Katastrophe tagtäglich Menschen, weil sie keine medizinische Versorgung mehr haben oder aus Verzweiflung Selbstmord verüben oder weil die Kindersterblichkeit aufgrund der Krise in die Höhe geschossen ist – es geht also um Leben und Tod –, und in Deutschland und vielerorts in Europa wird so „argumentiert“, als hätten es diese Tausenden von Opfern „verdient“, zugrunde zu gehen und auf diese Art und Weise von der Erdoberfläche zu verschwinden. Im besten Fall schweigt man darüber.
Die anhaltende Stimmungsmache gegen „die Griechen“ führt dazu, dass der griechische Botschafter in Berlin telefonisch Morddrohungen erhält und dass man mir in einem Berliner Lokal an den Kopf wirft, dass – wenn wir Griechen nicht endlich das tun würden, was man uns sagt – man uns ein paar Panzer „runterschicken“ wird. (Das haben bereits die USA 1967 gemacht und uns eine 7jährige Militärdiktatur beschert, zu der ja Herr Strauß und die CSU sehr gute Beziehungen unterhielten.)
Für mich als Germanisten, für den „LTI“ von Victor Klemperer seit 35 Jahren ein Kultbuch ist, stellt sich inzwischen immer vehementer die Frage, ob diese sprachliche Volksverhetzung und „Kriegstreiberei“ dazu führt, dass wir Griechen uns bald auch als „Juden“ fühlen werden – wie ein israelischer Freund mir letztes Jahr in Tel Aviv solidarisch anbot. Ich kam darauf, als ich 2013 auf einem Plakat des Jüdischen Museums von Berlin neben dessen Überschrift „Die Juden sind an allem schuld“ den hingekritzelten Satz las: „Jetzt sind’s die Griechen“.
Ich als Grieche und als deutscher Steuerzahler möchte jedenfalls nicht mehr Teil DIESES Europas sein. Das, was hier in Deutschland passiert, empfinde ich inzwischen als „Krieg“, angefacht von skrupel- und verantwortungslosen Politikern und Journalisten (bei weitem nicht alle, aber doch genug) … Wir Griechen müssen unbedingt raus aus dem Euro und raus aus DIESEM unmenschlichen Europa. Und wäre ich ein Jude, würde ich jetzt nach Israel auswandern … Mein Gott, was ist aus Deutschland geworden?
P.S. – Ich habe in einer Analyse gelesen, dass in über 120 Ausgaben der Bild-Zeitung das herabsetzende Wort „Pleite-Griechen“ benutzt wurde, zumeist in fetten Titelzeilen. Und da fiel mir der treffende Satz von Klemperer ein: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (LTI)
Hier drei – der unzähligen – Beispiele aus den letzten zwei Wochen:
1) Spiegel online veröffentlichte folgenden Schmähbrief an einen griechischen Gastronomen in Düsseldorf:
„In der Sonne liegen ist doch viel bequemer, insbesondere wenn andere dafür aufkommen … So geht es nicht !! Wir werden, solange diese Regierung derart schäbig, insbesondere fleißige und sparsame Europäer und Deutsche verunglimpft und beleidigt, ganz sicher keine griechischen Waren mehr kaufen, sondern auch Euren Laden ab sofort nicht mehr betreten !! Verkauft doch Eure Waren besser nicht mehr an die „Scheißdeutschen“, sondern macht Euch auf und zurück in Euer korruptes, stinkendfaules und total unfähiges Drecksgriechenland !! Griechenland NEIN DANKE !!!!!!!!!“
3) Die Bildzeitung bezeichnete im Rahmen ihrer Aktion vom 26.02.2015 sämtliche Bürger Griechenlands alsGIERIGE GRIECHEN – und tausende deutscher Mitbürger schlossen sich dieser Kampagne an.
Kooperation von Griechenland, Türkei und Israel als Zukunftsmodell für Frieden und Wohlstand
Ein Traum, der nicht geträumt werden darf/kann/soll …
Bereits 2010 hatte ich drei UTOPISCHE Vorschläge gemacht, die meiner Meinung nach Grundlage dafür wären, Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte eine nationale Unabhängigkeit zu ermöglichen:
1) Griechenland verlässt die Euro-Zone und kehrt zur Drachme zurück.
Baut eine mächtige Steuerbehörde auf nach dem Vorbild der USA (inkl. aller diesbezüglichen Steuergesetze) und ermöglicht erstmals die Arbeit einer unabhängigen Staatsanwaltschaft. Kopplung der Steuerpflicht an die Staatsangehörigkeit, wie in den USA.
2) Erklärung eines neutralen Status’ wie ihn die Schweiz, Schweden oder Österreich haben, um aus der NATO austreten zu können (dadurch signifikante Senkung der Militärausgaben sowie die Möglichkeit, Punkt 3 zu realisieren)
3) neben der EU-Mitgliedschaft Aufbau einer strategisch engen Zusammenarbeit und späteren „Konföderation“ mit der Türkei, Zypern und Israel
Ein jüdischer, ein säkularisiert-islamischer und ein christlicher Staat gemeinsam in einer „Konföderation“ nach skandinavischem Muster – das ist eine Vision, die eine völlig neue Perspektive eröffnet, sowohl wirtschaftlich, kulturell, aber vor allem auch politisch und spirituell. „On the way“ dahin müssten wir gemeinsam (als Voraussetzung) das Zypernproblem und das Palästina-Problem lösen, um später diese beiden Länder in die Konföderation mit einzubeziehen.
Die Koalition sollte allen drei Ländern helfen, ihre nationale Souveränität zurück zu erlangen bzw. effektiver verteidigen zu können, vor allem aber ihre politisch-militärische Unabhängigkeit von den USA. Auch aus diesem Grund sollte Griechenland aus der NATO austreten und einen neutralen und pazifistischen Status einnehmen, der auch in der Verfassung verankert werden müsste. Israel würde eine solche Koalition helfen, seine Isolation in der Region zu überwinden, die Türkei würde noch viel mehr als Brücke zwischen Orient und Okzident fungieren und seine diesbezügliche Vermittlerrolle ausbauen, und Griechenland hätte vollkommen neue wirtschaftliche und kulturelle Perspektiven und die Chance, zum ersten Mal in seiner Geschichte unabhängig zu werden. Außerdem würde es dadurch eine gewichtigere außenpolitische Rolle in der EU spielen und zur EU-Integration beitragen.
Eine enge strategische Zusammenarbeit und spätere Konföderation mit der Türkei und Israel wäre nicht nur für Griechenland, sondern für alle drei Länder ein Segen. Unter anderem gäbe es dann für Griechenland keine Notwendigkeit mehr, deutsche, französische und amerikanische Waffen für Milliarden Euro zu kaufen, sondern Griechenland könnte das Geld in gemeinsame Wirtschafts- und Forschungs-Institute, in Hightech- und Energie-Technologie etc. und in multinationale Tourismus-Projekte investieren, und die drei Länder könnten gemeinsam endlich die Bodenschätze und Rohstoffe (z.B. die im Mittelmeer-Gebiet brach liegenden) verwerten.
Alle drei Länder stehen in gewisser Weise isoliert da, sind aber Nachbarn, haben eine verwandte Mentalität, eine gemeinsame Vergangenheit, ähnliche Landschaften und das Mittelmeer.
Ich weiß, das alles klingt utopisch – aber diese Vision ist einfach zu schön, als dass sie nicht geäußert werden sollte.
Bis jetzt lagen die Geschicke Griechenlands in den Händen von Politikern, die weder fähig noch aus unterschiedlichen Gründen willens waren, politisch und wirtschaftlich griechische Interessen zu verfolgen und durchzusetzen, wie es zum Beispiel ein Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, eine Angela Merkel in Deutschland, ein Hugo Chavez in Venezuela oder ein Benjamin Netanjahu in Israel getan haben.
Ich bin der Meinung, dass die Anerkennung unserer Zahlungsunfähigkeit – also unsere Bankrotterklärung – und die Rückkehr zur Drachme eine Möglichkeit für einen Neuanfang wären. Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb … den Weg durch das Tal der Tränen muss Griechenland ohnehin weiter gehen. Ich würde es aber dabei gern in seiner Selbstbestimmtheit erleben … und weiß in dem Augenblick, in dem ich es äußere, was das für eine Illusion ist … und was für ein Traum, der nicht geträumt werden darf und von dem womöglich keine Rede sein sollte. Aber ich als Autor und Filmemacher darf das und MUSS es tun.
Ich war (und bin weiterhin) der Meinung, dass jedes Mal, wenn „Deutschland“ bzw. Frau Merkel oder Herr Schäuble von Griechen kritisiert und – noch schlimmer – beschimpft wurden, es einmal zu viel war, weil es von den wahren Verantwortlichen, nämlich von den bislang über 40 Jahre Regierenden ablenkte und ablenken sollte. Abgesehen davon, dass es zum Teil sehr beschämend ist, sollten wir Griechen uns um unsere eigenen Politiker und unsere eigene (nicht vorhandene) Zivilgesellschaft kümmern.
Das Makabre an diesen Schuldzuweisungen gegenüber Deutschland bestand darin, dass auch die Anhänger der bisherigen Regierungsparteien (ND & PASOK) – die ja mit Deutschland sehr „freundschaftlich“ verbunden waren – dies bei jeder Gelegenheit hinter vorgehaltener Hand taten, um damit deutlich zu machen: „Wir können nichts dafür. Deutschland zwingt uns zu dieser furchtbaren Austeritäts-Politik!“ Aber nicht Deutschland ist verantwortlich für die griechische Krise, sondern das griechische politische und ökonomische Establishment der letzten 40 Jahre. Und genau das ist endlich abgewählt worden bei den letzten Wahlen im Januar 2015.
Dafür sollten die Deutschen dem griechischen Volk – für dessen Mut und Entschlossenheit – Anerkennung entgegen bringen. Einen Tag nach diesen Wahlen war die Luft in Athen anders, ein wenig wie am Tag nach dem Mauerfall in Berlin. Vor allem die Ost-Deutschen werden das nachvollziehen können, denke ich. Es ging vielen Griechen am 26. Januar 2015 ungefähr so, wie vielen Bürgern der DDR, als sie sich ein Leben mit Mielke und Honecker in der Regierung nicht mehr vorstellen mussten.
Jedenfalls ist es eine Kapriole der Geschichte, dass sich in meiner Heimat jetzt ausgerechnet eine Linkspartei anschickt, den Kapitalismus in Griechenland zu reparieren und ihn endlich auf einen „westeuropäischen Stand“ zu bringen.
Oberflächlich betrachtet hat Frau Merkel einen guten Job gemacht: Deutschland profitierte gewaltig vom Euro und steht – ökonomisch gesehen – ganz gut da. Aber Griechenland ist nicht nur durch die Politik seiner bisherigen korrupten, reformresistenten und klientelistischen Regierungen und Machteliten, sondern auch durch den Euro bankrott gegangen. Denn die Kriterien, die die EU aufgestellt hatte, damit ein Land in die Euro-Zone aufgenommen werden kann, waren sinnvoll und an sich ein gutes Instrumentarium, um von vornherein ein Land vor einer wirtschaftlichen Katastrophe zu bewahren.
Griechenland hatte zu keinem Zeitpunkt die Maastricht-Kriterien erfüllt und ist also nur durch einen „Schwindel“ (der von der bis vor kurzem regierenden Politikerkaste zu verantworten war und über den andere Regierungen „großzügig“ hinweggesehen haben) in die Euro-Zone aufgenommen worden. So passierte genau das, was passieren musste: Die griechische Wirtschaft erwies sich als nicht konkurrenzfähig und ging zugrunde. Die Exporte nahmen immer mehr ab, weil diese durch die Einführung des Euro zu teuer wurden und Griechenland stattdessen (durch die sehr günstigen Euro-Kredite) zum Absatzmarkt für Mercedes, BMW etc. geworden war – einen Luxus, den viele Menschen in Griechenland sich wohl hätten kaum leisten dürfen. In Griechenland gibt es heute durch die Segnungen des Euro Lidl, Media Markt, Edeka etc., dafür gingen bislang 200.000 Klein- und mittelständische Unternehmen zugrunde. Für Deutschland, Frankreich etc. war/ist das gut, für Griechenland war/ist es schlecht. Die EU-Maastricht-Kriterien haben sich jedenfalls am Beispiel Griechenland als absolut richtig erwiesen.
Der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone hätte demnach nichts zu tun mit einer „D-Mark-Nostalgie“ – zumal Deutschland der große Gewinner des Euro ist, Griechenland der größte Verlierer –, sondern damit, dass Griechenland niemals befugt und befähigt gewesen ist, dem Euro beizutreten. Daran hat sich nichts geändert, ganz im Gegenteil. Wir konnten und können uns den Euro als Land (noch) nicht leisten – das ist die Wahrheit. Also, raus aus dem Euro, damit wir wieder eine Chance haben, nicht auf ewig eine „Bananen-Republik“ zu bleiben. Immerhin hat die sogenannte „Euro-Krise“ in Hellas – für die die griechischen Machteliten und Oligarchen verantwortlich sind – zur einer Beschädigung der Demokratie, zu einer humanitären Katastrophe und zum Verlust der nationalen Souveränität geführt.
Es gibt sehr viele kluge, fähige und verantwortungsvolle Griechen im In- und Ausland, die sich sofort für ein neues demokratisches Griechenland engagieren würden, wissend, dass Veränderung oder gar ein Wandel nur durch harte Schnitte zu erreichen wären, die weiterhin einen Gang durch das Tal der Tränen bedeuten, zumindest wüssten die Betroffenen dann aber, warum sie das durchmachen. Was wir in meiner Heimat brauchen, sind unsere eigenen Visionen für die Zukunft und eine Zukunft für unsere Kinder. Das ist mit dem Euro nicht zu haben.
Glücklicherweise ist ein erster Schritt getan: Die alten Machteliten sind Ende Januar 2015 abgewählt worden, jetzt muss sich Griechenland „nur noch“ des Euros entledigen, um endlich unabhängig zu werden – was als Aussage symbolisch gemeint ist. Dafür habe ich seit 2010 plädiert, und heute bin ich um so mehr davon überzeugt. Ob die neue Regierung den von uns erhofften Anfang einer souveränen griechischen und zutiefst demokratischen Zukunft einläuten wird, ist sehr zweifelhaft – aber wer hätte überhaupt gedacht, dass die Griechen so standhaft sein und so viel Zivilcourage aufbringen würden? Ich nicht.
Am Sonnabend hatte es geregnet in Athen. Am Sonntag gingen die Griechen (und ich auch) wählen, und heute, am Montag, ist das Land, das unter der Krise wie kaum ein anderes in Europa gelitten hat, nicht wiederzuerkennen. Ein spürbares ungläubiges Aufatmen liegt in der Luft. Eine Leichtigkeit des Seins ist zu spüren, und die Menschen sind irgendwie freundlicher und relaxter. Vielleicht ist das alles aber auch nur Einbildung. Jedenfalls sagen Taxifahrer Sätze wie: „Samaras konnte in den letzten zweieinhalb Jahren nicht einmal die Reformen, die ihm Merkel & Co. aufgetragen haben, umsetzen. Der hat zu nichts getaugt.“
Mir ist ein wenig so wie damals, als die Mauer fiel. Nicht ganz so schön, aber fast… Das jedenfalls, was viele heute hier in Athen denken, kommt dem nah, was wir im November 1989 gespürt haben. Zum Beispiel, dass diese Wahl in Griechenland die Demokratie wiederhergestellt hat. Bis 2012 verfügte das herrschende politische System der beiden Parteien Neue Demokratie und PASOK fast vierzig Jahre lang konstant über 80% der Stimmen. 2012 stürzten diese beiden Parteien auf etwas über 30% ab. Es gab in der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte keine deutlichere „Abwahl“ einer Politikerkaste, aber nicht nur, dass diese beiden Parteien – mit „Unterstützung Europas“ – weiter herrschten, auch ihre korrupten und klientelistisch strukturierten Führungen machten weiter, als wäre nichts passiert. Samaras, Papandreou, Venizelos, Bakojanni, Karamanlis, Kefalojannis etc. etc. – die alten Politikerfamilien, die zum Teil seit 100 Jahren Griechenland in ihren Besitz genommen hatten, dachten gar nicht daran, von der Macht zu lassen. Dadurch wurde die konservative Rechte und die Sozialdemokratie völlig diskreditiert und es offenbarte sich, dass PASOK und Neue Demokratie keine demokratischen Parteien, sondern hierarchisch strukturierte „Familienclans“ sind… Das zeigt sich sehr extrem am Beispiel der PASOK, die von 44% im Jahr 2009 auf jetzt 4% abgesackt ist, und deren Vorsitzender Venizelos (der noch amtierende Außenminister) vorhin im Fernsehen erklärt hat, dass er weitermachen will. Immerhin ist dadurch, dass die neue Partei von Giorgos Papandreou an der 3%-Hürde scheiterte, zum ersten Mal seit 92 Jahren keiner aus der Papandreou-Dynastie mehr im griechischen Parlament vertreten.
Diese Wahl hat aber in den Augen vieler Griechen nicht nur die Demokratie, sondern auch die Souveränität Griechenlands wieder hergestellt. Samaras & Co., die verantwortlich waren für diese größte Krise in der griechischen Nachkriegsgeschichte, hatten in den letzten Jahren nicht nur ihre politische Handlungsfähigkeit verloren – was immer offenbarer wurde –, sondern auch die Glaubwürdigkeit in jeder Hinsicht, vor allem aber ihre Fähigkeit, eine „griechische Politik“ für Griechenland zu gestalten. Das führte dazu, dass die „Troika“ für die Griechen zum Hassobjekt wurde, und die Samaras-Regierung erschien vielen als deren Handlanger, die es zuließen, dass Griechenland einerseits wie eine Bananenrepublik behandelt und andererseits die griechischen Bürger mit dem härtesten europäischen Austeritätsprogramm aller Zeiten für etwas bestraft wurden, wofür sie nicht verantwortlich waren.
Schließlich denken viele Griechen, unabhängig davon, ob sie rechts oder links sind, dass sie durch die Wahl von Tsipras ihre Würde wieder erlangt haben. Das ist vor allem als emotionale Reaktion auf ein noch nie dagewesenes Griechenland-Bashing in Europa vor allem in den Jahren 2010 bis 2012 anzusehen, angeheizt durch die Regierenden daheim. Und jetzt schicken die Griechen jene „Kollaborateure Europas“ in den Ruhestand, die keine einzige wirkliche Reform umgesetzt, sondern nur sozialen Kollateralschaden angerichtet, hunderte von Skandalen unter den Tisch gekehrt und täglich neue angehäuft haben.
Ich persönlich weiß nicht, ob die weichgespülten Linken der SYRIZA-Partei überhaupt etwas zustande bringen, zumal sie ein System zum Gegner haben, das sie nicht kennen und dem sie möglicherweise nicht gewachsen sind. Auf jeden Fall ist Herr Tsipras ein besserer Partner für die EU und auch für die Bundeskanzlerin, denn er will – im Gegensatz zu Herrn Samaras und seinen Vorgängern – tatsächlich etwas an diesem korrupten und heruntergewirtschaftetem „System Griechenland“ verändern. Und dies wäre endlich an der Zeit und völlig im Sinne Griechenlands und vor allem Europas.
Es ist kalt an diesem Montagabend in Athen, selbst im Restaurant „Tee“. Am Nebentisch sagt ein Mann zu seiner Frau, dass wir einen „historischen Tag“ erlebt und dass wir die erste linke Regierung in Europa haben. „Stell Dir vor“, sagt er, „ein kommunistischer Politiker verteilt Ministerposten. Unglaublich!“ Er zieht an seiner Zigarette, obwohl ein Schild ihm gegenüber anzeigt, dass hier Rauchen verboten ist. Dieses „unglaublich“ erinnert mich an die ersten beiden Anrufe von Tsipras gestern Abend, noch vor der Veröffentlichung der ersten offiziellen Hochrechnung, unmittelbar nach Bekanntgabe der exit polls. Sie gingen an den Chef der griechischen Polizei und den Oberbefehlshaber der Armee. Der Putsch von 1968 und die nachfolgende siebenjährige Diktatur steckt allen Griechen noch in den Knochen. Und Samaras hatte oft genug in seinen Wahlkampf die „kommunistische Gefahr“ heraufbeschworen. Einer seiner Minister hatte zwei Tage vor den Wahlen ausgesagt, dass er „alles notwendige“ unternehmen würde, um eine kommunistische Machtübernahme zu verhindern. Auch aus diesem Grund ist die Entscheidung, mit den Rechtspopulisten von ANEL ein Regierungskoalition zu bilden, vielleicht die strategisch weiseste innenpolitische Entscheidung von Tsipras: damit beendet er den 1944 begonnenen Bürgerkrieg.
Auf dem Nachhauseweg fliegen mir die Wahlplakate diverser Parteien entgegen, eines mit dem Slogan der Neuen Demokratie: „Wir sagen die Wahrheit“, eine Aussage die bereits heute, einen Tag nach der Wahl, sehr schräg und unwahr klingt. Und gleich danach kreuzt ein zerfetztes Plakat von SYRIZA meinen Weg: „Die Hoffnung kommt“, etwas, was die Griechen, offensichtlich sehr ungläubig, „hoffen“ wollen.
Betrifft: Einladung zum Deutsch-Griechischen Dialog am 16.12.2013 durch die Hanns-Seidel-Stiftung
Mit Makis VORIDIS (MP, Vorsitzender der Fraktion „Nea Demokratia“ im Griechischen Parlament), Dr. Otmar BERNHARD (MdL, Staatsminister a.D.), Josef ERHARD (Ministerialdirektor a.D.) u.a.
Liebe F., danke für die Einladung zur oben genannten Veranstaltung,
aber ich denke, dass mit Politikern wie Herrn Makis Voridis kein DIALOG möglich und auch nicht sinnvoll ist, und vor allem, dass Politiker wie Herr Voridis der GARANT dafür sind, dass sich NICHTS in Griechenland verändert. Du weißt es, ich weiß es, alle wissen es: Es bringt gar nichts! Es kann nichts bringen. Politiker wie Herr Voridis haben das „System Griechenland“ mitgestaltet, sie SIND das System – und solche Veranstaltungen finden auf dem Rücken der Opfer dieses „System Griechenland“ statt. Wir sprechen hier über hunderttausende, vielleicht inzwischen Millionen von Opfern dieses „Systems“, die seit drei Jahren zu tun haben mit Verelendung, Hunger, Kälte, Depressionen, Flucht ins Ausland, Selbstmord, Fremdenhass, Tod, mit nicht mehr funktionierenden Sozialsystemen, einem längst kollabierten Rentensystem, einem grassierenden Neofaschismus und Antisemitismus sowie einem selbst moralisch völlig diskreditierten „Pleitestaat“. Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Macht-Clique, zu der inzwischen ja auch Herr Voridis gehört, ist genau dafür verantwortlich und hat eins bewiesen: SIE KANN ES NICHT, sie kann keinen Staat führen und kein Land regieren. Sorry, das stimmt zwar, aber richtig ist: SIE WILL ES NICHT. Sie interessiert sich allein für Machterhalt und/oder Geld – und dafür schickt sie – ohne mit der Wimper zu zucken – ein ganzes Volk ins Elend und eine ganze junge Generation in die Pampa … ins Ausland.
Warum mit diesen Politikern reden und ihnen ein „demokratisches Alibi“ geben, ihnen, die sehr effektiv die Demokratie in Griechenland abgeschafft haben? Auch das gehört – bildlich gesprochen – zu IHREM Machterhaltungs-System: Die fünf größten Zeitungen, die fünf größten Fernsehanstalten, die fünf größten Fußballmannschaften, die fünf größten Rundfunkstationen, die fünf größten Baskettballmannschaften gehören den fünf größten Unternehmern des Landes – Reeder, Großverleger, Bauunternehmer etc. – wir kennen sie alle. Da ist Italien mit nur einem Berlusconi ein demokratisches Musterland dagegen. In Griechenland beherrscht diese „systemrelevante“ Clique mindestens 95% der Information, und – über das Entertainment und den Sport – auch die „Seele“ des Volkes. In Griechenland gibt’s keinen „Spiegel“, keinen „der Freitag“, keine „Zeit“ etc. und inzwischen – dafür haben sie ebenfalls gesorgt – auch keine „ARD“, kein „ZDF“ etc.
Genau das ist das Griechenland des Herrn Voridis. Was willst du diesen Politiker-Menschen fragen? Was er unter Demokratie versteht? In Deutschland genügte – zu recht – eine nicht ordnungsgemäße Quellenangabe in einer zehn Jahre alten Dissertation, um den damals beliebtesten deutschen Politiker, den Verteidigungsminister der Bundesrepublik, zu seinem Rücktritt zu veranlassen, und zwar von allen politischen Ämtern. Ebenso genügte ein Wählerverlust (keine Niederlage!) bei der letzten NRW-Wahl, dass der Spitzenkandidat der CDU in NRW noch am Wahlabend von seinem Amt als NRW-Parteivorsitzender der CDU zurücktrat und einen Tag später auch seinen Ministerposten abgab. Und der deutsche Bundespräsident verlor seinen Job wegen 700 Euro. Und so weiter und so fort …, in Deutschland. Herr Voridis sowie seine Parteifreunde und Regierungspartner können darüber nur lachen. Sie haben in Griechenland hunderte nicht aufgeklärte Skandale angehäuft und tun alles, aber wirklich alles, damit sie nicht aufgeklärt werden. (So wird z.B. von den beiden Regierungsparteien dem Antrag des Finanzstaatsanwalts seit zwei Jahren blockiert, die Konten von 500 griechischen Politikern zu öffnen – die unter dem Verdacht der Veruntreuung und Steuerhinterziehung stehen.)
Im Gegensatz zu allen demokratischen Gepflogenheiten beharren die alteingesessenen Politiker in Griechenland auf ihren Machtanspruch und ihre Posten – Politiker, die zu verantworten haben, dass das Land bankrott ist, dass die Arbeitslosigkeit auf 27 % gestiegen ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei 59 % liegt, dass laut OECD-Angaben Griechenland in fast allen Kategorien, die über die Qualität der Arbeit des Staatsapparats Auskunft geben, europaweit das Schlusslicht bildet. Fast alle jetzt Herrschenden wie Antonis Samaras, Evangelos Venizelos, Dimitris Avramopoulos oder Dora Bakojanni etc. etc. sind seit den achtziger Jahren führende Politiker ihrer Parteien, bekleideten wichtige Regierungsämter seit Anfang der neunziger und sind direkt und persönlich verantwortlich für den heutigen Zustand Griechenlands. Aber weder sie noch die anderen Spitzenpolitiker der beiden Herrschaftsparteien haben die Verantwortung für die desaströse Lage, in die sie Griechenland und ganz Europa gebracht haben, übernommen oder gar Konsequenzen gezogen und sich aus der Politik verabschiedet. Selbst nach dem historischen Wahldebakel vom 6. Mai 2012, als zum Beispiel die PASOK von 44% der Stimmen (bei der Wahl von 2009) auf 14% absackte und quasi aufhörte, als Volkspartei zu existieren, lachte anschließend der Parteivorsitzende Venizelos (und jetzige Außenminister) in die Kameras und sagte, er sei der Garant für eine umfassende Reform seiner Partei und kenne den Weg, Griechenland aus der Krise zu führen! Das ist wirklich unvorstellbar und ungeheuerlich.
Liebe F., das sind „korrupte“, verantwortungslose und die Demokratie Hohn spottende Politiker. Und das bedeutet auch: es sind keine guten Menschen. Man möchte nicht von solchen Typen regiert werden, geschweige denn mit ihnen an einem Tisch sitzen und sein Gewissen damit beschmutzen. Mit „man“ meine ich natürlich mich, einen griechischen Vater, der das Glück hat, in Deutschland zu leben und der das Glück hat, dass sein Sohn in London studieren konnte.
Was sollen wir tun? Ich weiß es nicht. Ich kann zumindest etwas Widerstand leisten, indem ich diesen Brief schreibe, einen Film wie RECYCLING MEDEA (www.recycling-medea.com) drehe oder den HOREN-Griechenland-Band mit-herausgebe oder mich bemühe, jungen Menschen, die aus Griechenland nach Berlin exilieren müssen, bei der Job-Suche in Deutschland zu helfen.
Und was kannst Du tun? Du könntest dazu beitragen (wenn Du willst, natürlich), dass es in Zukunft solche unerträglichen Feigenblatt-Veranstaltungen für „kriminelle“ Politiker nicht mehr gibt … Wir werden in Griechenland von einer oligarchischen Clique regiert, die leider von der deutschen Regierung unterstützt wird, weil diese Clique vorbehaltlos alles tut, was die Troika (also auch Deutschland) verlangt – und sie tut das, um … (das sage ich) … nicht im Gefängnis zu landen. Bis jetzt hat es – mehr zufällig und „ungewollt“ – nur unseren ehemaligen Verteidigungsminister und Vize-Chef der PASOK-Partei erwischt, der sich 2001 von der deutschen Ferrostaal aus Rostock mit 20 Millionen hat schmieren lassen, um für 2,8 Milliarden deutsche U-Boote zu kaufen.
Insofern passen auch die deutschen Ministerialdirektoren und Staatsminister a.D. und auch die Hannes-Seidel-Stiftung ganz gut ins Bild … Wie immer wird sich bei dieser Veranstaltung ein Blabla über euch ergießen, das nichts sagt, nichts will, nichts bedeutet, und nur dazu dient, „staats-tragend“ in trauter griechischisch-deutscher Einigkeit das absolute Desaster, das Leid und den Schmerz, die schreiende Ungerechtigkeit, die tagtäglich in Griechenland passiert, zu übertönen mit einem Schweigen, bestehend aus leeren sowie mit Lügen und Halbwahrheiten behafteten Worthülsen. Und aus diesen Worthülsen bildet sich immer wieder eine ungeheuerliche – und sehr selten in dieser Deutlichkeit ausgesprochene – Behauptung: „Das griechische Volk ist selbst für seine Situation verantwortlich! Wir Politiker waschen unsere Hände in Unschuld.“ Das alles ist einfach nur furchtbar. Das tut in der Seele weh …
Liebe F., … ich weiß, wir sind dem System ausgeliefert. Es ist größer und mächtiger als wir. Wir können nichts tun, außer jeden Tag uns ein wenig dagegen wehren.
Wir Griechen sind so oder so verloren, aber vielleicht überleben wir ja als Volk in der Diaspora noch die nächsten 70 Jahre …
Sorry, ich musste sprechen …
Und verzeih mir diese künstlerisch-emotionale Reaktion,
Asteris Kutulas, 7.12.2013
P.S. Während ich diese Mail schrieb, fiel mir folgende Szene ein: 1988 fuhr ich mit der Straßenbahn Nummer 49 eines Abends von der S-Bahn-Station Pankow Richtung Zentrum. Plötzlich kam ein Mann herein, sah sich in der Straßenbahn um und schrie uns, die Fahrgäste, an: „In Afrika sterben die Kinder und ihr fahrt Straßenbahn!“ Der Mann hatte recht, und irgendwie war ich in jenem Moment sehr glücklich, nicht für dieses Sterben in irgendeiner Weise mit-verantwortlich zu sein.
Vorwort zu DIE HOREN (Nr. 249), I/2013, Herausgegeben von Asteris und Ina Kutulas
Im November 2012 sagte Jazra Khaleed bei einer Begegnung am Syndagma-Platz in Athen, interessanterweise führe die jetzt herrschende gesellschaftliche Situation in Griechenland nicht nur zu einem Zustand der Lethargie, Ungewissheit und Depression, sondern sie führe vereinzelt sogar zu Situationen, die er, Jazra, in den Jahren zuvor so noch nicht erlebt habe. Einige von ihm mitorganisierte Lesungen hatten in den letzten Monaten enormen Zulauf gehabt und das Interesse für Lyrik zum Beispiel sei immerhin so stark gewesen, dass man über die Gründung neuer, kleiner Verlage und über alternative Veranstaltungsformen nachzudenken und diese umzusetzen beginne. Man könne es selbst kaum glauben. Hin und wieder ist davon zu lesen und zu hören, dass sich in der Bevölkerung Formen von Solidarität zu entwickeln begonnen hätten, die es zuvor in dem Maße nicht gegeben hat, und zwar „sogar dann, wenn jeder Himmel fehlt …“
Es gibt es also, das „andere Griechenland“, das nicht „bankrott“ und korrrupt“, das nicht von Faulenzern, Schmarotzern, Betrügern bewohnt und nicht von „2000 Jahren Niedergang“ gekennzeichnet ist – tatsächlich ist „dieses Griechenland“ eine Chimäre im ursprünglichen Sinn des Wortes. In vorliegender Anthologie kommt nicht das Land der „Pleite-Griechen“ – die Bild-Zeitung soll diese Bezeichnung zwischen 2010 und 2012 in 127 Ausgaben benutzt haben – zu Wort, sondern es äußern sich Autoren, die in einer Sprache schreiben, die seit der Antike ununterbrochen gesprochen wird. Giorgos Seferis brachte diese Tatsache in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 1963 wie folgt zum Ausdruck: „Unser Land ist klein, verfügt aber über eine gewaltige Tradition, die ungebrochen bis in unsere Zeit weiterwirkt. Griechisch ist zu allen Zeiten gesprochen worden. Unsere Sprache hat sich verändert, wie sich alles Lebendige ändert, aber Brüche sind ihr erspart geblieben.“ So haben wir versucht, in dieser horen-Ausgabe aufzuzeigen, wie dieses Ungebrochene in einem heute scheinbar so sehr verlorenen Land aussieht.
Entstanden ist eine nach sehr subjektiven Gesichtspunkten zusammengestellte Textsammlung ohne jeden Anspruch auf irgend eine Vollständigkeit oder literaturhistorische Relevanz. Nach einiger Zeit entdeckten wir allerdings doch ein quasi unsichtbares Kriterium, das uns offensichtlich leitete, unsere Schwerpunkte diktierte und das sich umschreiben ließe mit dem Begriff Widerstand. Bei näherem Hinsehen mussten wir erkennen, dass das Begriffspaar „Literatur und Widerstand“ – wobei es dabei schon um Leben und Tod geht – Griechenland offenbar adoptiert zu haben scheint. Denn die Geschichte der neugriechischen Nation des 20. Jahrhunderts war geprägt von deren schrittweiser territorialer Konstituierung seit der Unabhängigkeit eines Rumpf-Griechenlands 1830 (hinzu kamen: die Ionischen Inseln 1864, Thessalien 1881, Kreta 1908, die meisten Inseln, Epirus und Makedonien mit Thessaloniki 1913), einer extremen politischen Polarisierung (zwischen Republikanern und Monarchisten, zwischen Rechts und Links), mehreren Kriegen und einem Bürgerkrieg. Tatsächlich enden die kriegerischen Auseinandersetzungen der Griechen mit dem Osmanischen Reich bzw. später mit der Türkei erst 1922. Im darauf folgenden Jahr kommt es zu einem Bevölkerungsaustausch. 1,5 Millionen in der kleinasiatischen Türkei lebende Griechen werden nach Griechenland und 500.000 in Griechenland lebende Türken in die Türkei zwangsumgesiedelt.
Nach den Balkankriegen 1912/13, der Beteiligung Griechenlands am Ersten Weltkrieg 1916 bis 1918, nach dem Griechisch-Türkischen Krieg 1922, nach der faschistischen Metaxas-Diktatur 1936 bis 1940, nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 sowie dem sich anschließenden Bestehen eines Militärstaates mit Notstandsgesetzgebung (der bis Anfang der 60er Jahre existierte), begann in Griechenland erst gegen Ende der 50er Jahre eine Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich Anfang der 60er Jahre langsam stabilisierten.
Allerdings bedeutete der Militärputsch im April 1967 ein jähes Ende dieser so kurzen und vor allem ersten (!) halbwegs demokratischen Phase in der Geschichte der jungen griechischen Nation mit verheerenden Folgen für die weitere gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung. Griechenland ist ein Sonderfall: Es war das einzige westeuropäische Land, in dem 1967, also zwei Jahrzehnte nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, eine Militärdiktatur installiert wurde, die immerhin sieben Jahre lang, bis 1974 währte. Weder die NATO-, noch die westlichen europäischen Partner Griechenlands, noch seine USA-Verbündeten waren bereit, einen Beitrag zu leisten, damit das Obristenregime so schnell wie möglich wieder verschwindet, sondern sie alle richteten sich mit der Diktatur ein, die ein Volk traf, das – zum ersten Mal in seiner neueren Geschichte – einen Hauch von Demokratie hatte erleben dürfen. Die neugriechische Literatur entstand in einem Umfeld, in welchem permanent Krieg, Krise, politische Unruhe und menschliche Not herrschten. Die Autoren reagierten darauf ganz unterschiedlich.
Konstantin Kavafis wählte, um seine politischen Botschaften übermitteln zu können, den Umweg über das hellenistische Zeitalter und verbarg sein Privatleben und insbesondere seine Homosexualität mit einer höchst beeindruckenden Konsequenz, die uns offenbart, welcher existentiellen Bedrohung er sich ausgesetzt sah – selbst als griechischer Dichter im fernen Alexandrien in Ägypten. Kostas Karyotakis, der in den zwanziger Jahren nicht nur als Dichter berühmt wurde, sondern sich gesellschaftlich in der Gewerkschaftsbewegung engagierte, nahm sich das Leben, weil er als Beamter aus politischen Gründen in ein Provinznest zwangsversetzt wurde, wo er nicht mehr atmen konnte. Maria Poliduri engagierte sich für den Feminismus und die Frauenfrage und gehörte in den zwanziger Jahren zu den Aussätzigen der griechischen Gesellschaft. Die Tuberkulose, die die noch sehr junge Dichterin dahinraffte, war eine Krankheit der Armen; den Aufenthalt im letzten Sanatorium ermöglichten Bekannte allerdings unter einem Vorwand, denn Maria Poliduri hätte diese finanzielle Unterstützung niemals akzeptiert.
Odysseas Elytis wurde der Literatur-Nobelpreis für die poetische Kodierung des Leidens des Griechentums vor allem während des 2. Weltkriegs in seinem Epos „Axion esti“ verliehen.
Jannis Ritsos, Mikis Theodorakis, Tassos Livaditis und fast alle anderen hier im Band vereinten Autoren, die in den ersten 40 Jahren des letzten Jahrhunderts geboren wurden, machten Gefängnis, Verbannungslager und Folter durch, ihre Bücher waren zum Teil für Jahrzehnte verboten, einige dieser Autoren mussten emigrieren oder waren beruflichen oder persönlichen Schikanen der Staatsmacht ausgesetzt.
So findet sich fast die gesamte linke Intelligenz Ende der vierziger Jahre auf der Todes- und Folterinsel Makronisos wieder, auf der das riesige Lager mit Hilfe der englischen und später der amerikanischen Regierungen aufgebaut wurde und bis 1950 bestehen bleiben konnte. Das geschah während des griechischen Bürgerkriegs, der im Dezember 1944 nach dem militärischen Eingreifen britischer Truppen gegen die linke Befreiungsbewegung EAM ausbrach. Eine europäische Demokratie nämlich Großbritannien arbeitete also Hand in Hand mit ehemaligen faschistischen Nazikollaborateuren, um eine demokratische Regierungsübernahme durch die enorm starke griechische Linke gewaltsam zu verhindern. Großbritannien setzte seine Machtinteressen in Griechenland berechnend und ohne demokratische Legitimation durch: angefangen mit der Wiedereinführung der Glücksburg-Monarchie – also eines dänischen Königs, der in Griechenland zum Staatsoberhaupt gemacht wurde –, bis hin zur gezielten Provokation eines Bürgerkriegs (auf Befehl von Winston Churchill) und damit auch zur Eröffnung von Konzentrationslagern, in die zehntausende Linke deportiert und in denen systematisch gefoltert und gemordet wurde. Als Großbritannien in Griechenland schließlich nicht mehr Herr der Situation war, zog es sich zurück und ließ die USA das Werk vollenden. Diese durch anhaltenden Terror und Einschüchterung sowie das Mittel der Bevorzugung und Zurücksetzung erzwungene “unnatürliche Entzweiung“ (Theodorakis) des griechischen Volkes und die jahrzehntelange Unterdrückung bescherte der griechischen Nation ein bleibendes Trauma, das ein tief im Bewusstsein einiger Generationen von Griechen verankertes antiwestliches Ressentiment zur Folge hatte.
Die sogenannte Generation der Niederlage eines Manolis Anagnostakis, Michalis Katsaros, Takis Sinopoulos etc. durchlebte nicht nur gnadenlose Verfolgung und Diskriminierung in den vierziger Jahren, sondern auch die desillusionierende und von völliger Hoffnungslosigkeit durchdrungene, nachfolgende Dekade der 50er Jahre, die Gefühlswelt und Schreibstil dieser Autoren prägte.
Die permanent kriegerischen Zustände und instabilen politischen Verhältnisse seit der Konstituierung des neugriechischen Staates 1830 führten dazu, dass die nationale Identität Griechenlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie über die kulturelle Identität des Griechentums definiert wurde, und es ist bezeichnend, dass in den 60er Jahren, während einer äußerst kurzen demokratischen Atempause von etwa sieben, acht Jahren, eine Kultur aufblühte, die enorme internationale Ausstrahlung hatte und die das künstlerische sowie ästhetische Selbstverständnis der meisten griechischen Kulturschaffenden bis in die 90er Jahre hinein prägte. In breiten Bevölkerungsschichten fand diese Kultur einen phänomenalen Anklang. Und nicht nur das. Griechentum bedeutete nicht mehr nur die immer wieder neu aufwallende Schwärmerei für das Altertum, sondern es war eine moderne Kultur auf hohem Niveau entstanden. Griechische Künstler machten international Karriere und erlangten Weltruhm. Es war, als hätte Griechenland urplötzlich die Zeit seit der europäischen Renaissance in rasantem Tempo aufgeholt. Diese kulturelle Bewegung konnte sich von der siebenjährigen Unterbrechung durch die Diktatur (1967 bis 1974) nur sehr schwer erholen, und mit Beginn der neunziger Jahre ging diese Ära schließlich ganz zu Ende. Sie wurde in einem schleichenden Prozess abgelöst von einer kosmopolitischen, zumeist indifferenten Kulturlandschaft, die ihre nationalen Charakteristika immer mehr einbüßte. Großartige Kunst von griechischen Künstlern entsteht seitdem vor allem in der griechischen Diaspora in den USA, in Australien und Europa, wo genauso viele Griechen leben wie im Heimatland selbst. Jeffrey Eugenides, Alexander Paine und Aris Fioretos seien hier als Beispiele genannt.
Golden Sixties
Beim wie ich es nennen würde Neuen Goldenen Zeitalter, den Golden Sixties der griechischen Kultur haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das auf allen künstlerischen Gebieten zu beobachten war in der Literatur, der Musik, der Bildenden Kunst, auf dem Gebiet des Filmschaffens. Einen Höhepunkt markierte zweifellos die Verleihung des Literaturnobelpreises an Giorgos Seferis 1963. Zugleich gewannen auch die Lyrik von Odysseas Elytis (der 1979 den Literaturnobelpreis erhielt) und Jannis Ritsos immer mehr an internationaler Bedeutung. Die neue griechische Literatur zuvörderst international repräsentiert durch Nikos Kazantzakis Romane wurde bald schon in vielen Ländern wahrgenommen und in etliche Sprachen übersetzt. Auf musikalischem Gebiet erlangte Manos Chatzidakis 1960, als ihm der Oscar für die Filmmusik verliehen wurde, einen enorm hohen Bekanntheitsgrad. Weit reichende internationale Popularität wurde Mikis Theodorakis sinfonischen Werken aus den 50ern als auch seinem späteren Liedschaffen zuteil. Auf dem Gebiet des Filmschaffens kam es in den 50er und 60er Jahren zur Verleihung einiger Oscars und anderer Preise in Los Angeles, Cannes, Berlin, Paris, London etc. an Künstler wie Michalis Cacojannis, Nikos Koundouros, Vassilis Photopoulos etc. Allein in den 60er Jahren gab es 16 Oscar-Nominierungen für einen griechischen Film oder Schauspieler, so viele, wie in keinem Jahrzehnt davor oder danach. Werke der Bildenden Kunst wie z.B. die von Jannis Zarouchis fanden Aufnahme in Sammlungen des Pariser Louvre und in die Bestände anderer namhafter Sammlungen und Museen. Mehrere griechische Künstler standen am Beginn ihrer bald schon international anerkannten Karriere (Constantin Costa-Gavras, Theodoros Angelopoulos, Jannis Kounellis, Vangelis, Olympia Doukaki, Petros Markaris). Allseits bekannte und gefeierte Persönlichkeiten waren zu dieser Zeit bereits Maria Callas, Melina Merkouri, Dimitris Mitropoulos, Jannis Xenakis, Irini Pappas, Katina Paxinou, Nana Mouskouri und nicht zu vergessen John Cassavetes, Elia Kazan beide griechisch-stämmig , um einige Beispiele zu nennen.
Die kulturelle Blüte, zu der es im modernen Griechenland der 60er Jahre kam, bahnte sich bereits in den 50er Jahren an. Interessanterweise lassen sich sowohl für die desillusionierte und traumatisierte linke Intelligenz als auch die sogenannten bürgerlichen Künstler drei gemeinsame ästhetische Bezugspunkte festmachen: die neuere griechische Kunst seit dem 19. Jahrhundert (z. B. über die Entdeckung der Erinnerungen von Makrijannis, der naiven Malereien von Theofilos, des Karagiosis-Puppenspiels und der alternativen Rembetiko-Musik), die europäische Moderne (z. B. zur als revolutionär empfundenen Tradition des sowjetischen Romans, des französischen Surrealismus, des modernen Balletts und der Neuen Musik) und natürlich die Antike (z.B. ästhetisch vermittelt zum einen durch den lakonischen Konstantinos Kavafis, zum andern durch den hymnischen Angelos Sikelianos, der die Delphische Kultur wieder auferstehen lassen wollte).
Der Putsch von 1967 kam nicht nur, um einen erwarteten phänomenalen Wahlerfolg der liberalen Zentrumsunion (Enossi Kentrou) zu verhindern, die kaum als eine das herrschende System bedrohende Kraft angesehen werden konnte, sondern der Putsch war vor allem eine Reaktion auf diese kulturelle Revolution, die von breiten Bevölkerungsschichten und insbesondere von der Jugend mitgetragen wurde und die einen linken libertaristischen und zugleich aufklärerischen Ansatz hatte. Die Kulturtradition dieser Golden Sixties wirkte zwar nach bis in die neunziger Jahre, wurde aber, wie bereits erwähnt, durch die siebenjährige Juntazeit brutal unterdrückt und anschließend ab 1974 von den Regierenden und ob des dieser kulturellen Bewegung innewohnenden Freiheitspostulats teilweise auch von der Kommunistischen Partei bekämpft.
Nationale Identität
Ab Anfang der neunziger Jahre führte die neoliberale Ausrichtung der Politik die griechische Gesellschaft dann in die “transzendentale Obdachlosigkeit“ (um einen Begriff des jungen Georg Lukács zu benutzen), denn das politisch-wirtschaftliche Streben nach Europäisierung und Globalisierung der Märkte brachte es mit sich, dass nationale und ethnische Besonderheiten immer mehr zurückgedrängt wurden. Das neue finanzgesteuerte Gesellschaftsmodell postulierte sie als Hemmschuhe des Fortschritts. Es brauchte keine eigensinnigen Griechen, sondern gesichtslose Konsumenten, bevorzugt unkritische, die bei ihrer Eitelkeit zu packen waren, wenn es darum ging, sich als Weltbürger zu empfinden und als solche zu beweisen. So gab es, parallel zur griechischen ökonomischen Krise, seit 2009 starke Tendenzen ausgehend sowohl von einigen intellektuellen Kreisen als auch von offiziellen Regierungsstellen, vor allem vom Bildungsministerium , die neugriechische Geschichte von 1821 an, beginnend mit dem Ausbruch des Aufstandes gegen die Osmanische Herrschaft, neu zu schreiben. Viele bislang tradierte nationale Ereignisse in der neugriechischen Geschichte wurden von offizieller Seite plötzlich neu definiert. Das griechische Volk begann seine Helden, seine Ideale, seine Geschichte zu verlieren, seine nationale Identität wurde in Frage gestellt.
Diese Diskussion über das rigorose Uminterpretieren und Umschreiben der Geschichte, bis in die Schulbücher hinein, löste in Griechenland einen Kulturkampf aus, der zum Teil brachial und sehr emotional geführt wurde. Kostas Georgasopoulos, einer der bedeutendsten griechischen Publizisten und Repräsentant der Golden Sixties, schrieb auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzung einen Artikel mit dem Titel Über Fahnenkunde, in dem u.a. folgendes zu lesen ist: “Viele Jahre nach der Phase der Aufstände (zur Erlangung der Unabhängigkeit Griechenlands, A.K.) bezeichneten Universitätsprofessoren und diverse andere Intellektuelle in öffentlichen Verlautbarungen die Fahnen, die die Menschen auf der Straße getragen hatten, als Lappen, als nationalistische Symbole, als Idole der Götzenanbetung. Dieselben Theoretiker wollen uns nun weismachen, dass die Nationen Konstrukte seien, die Staaten Gewaltmaschinen und die Geschichte unseres Volkes ein Szenarium für eine nachmittägliche Seifenopern-Serie im Fernsehen. Diese Meinungen werden jetzt tatsächlich in den Vorlesungssälen vertreten, sie sind in den Schulbüchern zu lesen, und zu großen Teilen wird die Bevölkerung ruhig gestellt mit Kulturgütern aus Staaten, die im Niedergang sind, Staaten, die die Kultur des Tauschhandels einführten an der Weltbörse der Rauschmittel, der seichten Unterhaltung, der Monotonie, des Schweigens und des Geschreis, der armseligen Sexspiele …“
Globalisierung & Identitätskrise
Dieser Angriff auf allen Ebenen des sozialen Lebens als auch auf das Geschichtsbewusstsein und die Integrität der Griechen löste eine noch nicht dagewesene Identitätskrise des sich bislang als selbstbewusst empfindenden griechischen Volkes aus. Es war zugleich ein innerer Krieg zwischen einer sich der Globalisierung verschreibenden, also anti-griechisch neoliberal agierenden Regierung und der älteren, noch mit Krieg, Bürgerkrieg und der Junta konfrontierten Generation, die ihre Kraft und ihre Zuversicht stets aus den nicht nationalistisch verstandenen Begriffen Griechenland, Heimat, Freiheit sowie aus der griechischen Geschichte und Kultur schöpften. Ihr ganzes Leben und ihre Ideale sollten einer neuen kosmopolitischen Weltanschauung geopfert werden. Somit wurde das Volk insgesamt für die Regierenden zum Feind, es musste kampfunfähig gemacht werden. Dazu gehörte auch, den Wert seiner kulturellen Traditionen mit Geringschätzigkeit zu bemessen und das Nationalbewusstsein der Griechen zu untergraben und zu zerstören. Also ihre gemeinschaftliche Erinnerung und Kultur auszulöschen. All das bekam das Etikett Nationalismus aufgedrückt.
Der vorliegende Band ist unter anderem das Zeugnis einer permanenten Literatur im Widerstand. Darum beginnt und endet unsere Auswahl mit aktuelleren Texten, dazwischengeschoben ist ein historischer Exkurs mit einigen Klassikern der modernen griechischen Literatur.
Sowohl Amanda Michalopoulou, Christos Chryssopoulos und Jazra Khaleed wie auch der Grafiker Ilan Manouach oder Michalis Michailidis und Petros Markaris reagieren unmittelbar auf den neuen Kriegszustand, auf die neue Junta-Zeit, als die die letzten fünf Jahre von vielen in Griechenland empfunden und beschrieben werden. In den Texten bzw. Aussagen dieser Autoren wird deutlich, dass bereits lange vor dem ökonomisch-wirtschaftlichen der gesellschaftliche Niedergang Griechenlands deutlich zu erkennen war. Dessen Ausmaß wurde schlagartig offenbar, als es im Dezember 2008, ein Jahr vor Ausbruch der Krise, zu einem gewaltsamen Aufstand der Jugend kam. Die innere Unzufriedenheit mit dem Status Quo der Elterngeneration, der Frust über die soziale Kälte des Staates und insbesondere die als existenzielle Bedrohung empfundene Perspektivlosigkeit entluden sich in einer bisher noch nicht dagewesenen explosionsartigen Protestwelle das Land hatte sich in ein Pulverfass verwandelt. Das geschah zu einem Zeitpunkt, da die gesamte Generation der 17- bis 30jährigen Griechenland als ein Land ohne Zukunft wahrnahm, ein Land, das im Hinblick auf seinen Wohlstand, seine Kultur, seine soziale Entwicklung dem Untergang geweiht war.
Werft kein Tränengas mehr. Wir weinen auch so …
Anlass dieses Aufstandes war der Tod des 15jährigen Alexis Grigoropoulos am 6.12.2008, der nach Zeugenaussagen von einem Polizisten kaltblütig erschossen, nach Angaben der Polizei allerdings durch den Querschläger aus der Waffe eines Polizeibeamten tödlich getroffen wurde. Wie auch immer, Alexis Grigoropoulos wurde zur Symbolfigur einer ausgestoßenen Generation. Kein Kind einer Verkäuferin im Supermarkt, sondern eines Juweliers. Der Zerfall des staatlichen Systems begann auch diejenigen in den Abgrund zu reißen, die bis dahin als ökonomisch abgesichert galten. Niemand konnte sich mehr in der Sicherheit wiegen, durch irgendeinen glücklichen biographischen Umstand vor der trostlosen Realität beschützt zu bleiben. Ein emphatisches Dokument dieser Sinnkrise und Ausdruck des Protestes gegen eine vollkommen kommerzialisierte Alltagskultur ist der folgende Brief von Alexis Freunden, den sie bei seiner Beerdigung verteilten:
“Wir wollen eine bessere Welt! Helft uns! Wir sind keine Terroristen, Vermummten … WIR SIND EURE KINDER! … Wir haben Träume Tötet sie nicht. ERINNERT EUCH! Ihr wart auch mal jung. Und jetzt rennt ihr nur noch Eurem Geld hinterher, interessiert Euch nur noch für Äußerlichkeiten, seid fett geworden und glatzköpfig, habt VERGESSEN! Wir dachten, ihr würdet uns unterstützen; wir dachten, es würde euch kümmern, dachten, dass auch ihr uns mal stolz machen würdet. VERGEBENS! Ihr lebt ein falsches Leben, lasst den Kopf hängen, habt die Hosen runtergelassen und wartet auf den Tag, an dem ihr sterbt. Ihr fantasiert nicht mehr, verliebt euch nicht mehr, kreiert nicht mehr. Nur kaufen und verkaufen könnt ihr noch. ÜBERALL NUR MATERIELLES. NIRGENDWO LIEBE NIRGENDWO WAHRHEIT. Wo sind die Eltern? Wo sind die Künstler? Wieso treten sie nicht hervor, uns zu schützen? MAN TÖTET UNS! HELFT UNS!
DIE KINDER PS: Werft kein Tränengas mehr. Wir weinen auch so.“
Wochenlang gingen zehntausende Schüler und Studenten auf die Straße, besetzten Schulen und Universitäten. Dabei handelte es sich nicht um vereinzelte Proteste, das war ein wütender Aufstand der Jugend, der sich auf das ganze Land ausweitete. Schlagartig wurden der tiefe Generationskonflikt und der Unmut der jungen Griechen im Hinblick auf die sozialen Zustände des Landes sichtbar.
Die verlorene Jugend
Die Ursache für den damaligen Jugendaufstand lag darin, dass diese so genannte 700-Euro-Generation (und die 400-Euro-Generation im Jahr 2013) schon zu diesem Zeitpunkt keine gesellschaftliche Perspektive mehr hatte. Selbst für die zumeist gut ausgebildeten Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten gab es kaum Arbeitsplätze, und wenn, dann waren diese schlecht bezahlt und oft bestanden keinerlei Aufstiegschancen. Die Jugend erlebte tagtäglich, dass sie nicht gebraucht wurde, egal wie viel Zeit, Kraft und Geld sie und ihre Familien in ihre Ausbildung investiert hatten. Für sie war kein Platz mehr in einem Land, das bis 2007 mit die höchsten Entwicklungsraten in der EU aufwies. Die jungen Erwachsenen waren gezwungen, bei ihren Eltern wohnen zu bleiben – im Ausland oft belächelt als diejenigen, die scheinbar nicht imstande waren, sich aus dem „Hotel Mama“ verabschieden. Tatsächlich aber konnten die meisten von ihrem geringen Gehalt nicht mal die Miete für eine 1-Raum-Wohnung bezahlen. Offenbar hatte das Griechenland ihrer Eltern sie abgeschrieben, sie waren lediglich geduldete Gäste und empfanden sich als heimatlose Griechen in einem dem Verfall preisgegebenen Land.
Bereits ein Jahr später brach die größte ökonomische Krise der letzten 50 Jahre aus. Wiederholt wurde in den Jahren nach 2009 in Griechenland davon gesprochen, dass das Land „zurückgebombt wird auf das Niveau der 60er Jahre“. In den 60er Jahren waren Hunderttausende Griechen wegen des noch immer sehr niedrigen ökonomischen und sozialen Niveaus des Landes gezwungen, dieses als Gastarbeiter zu verlassen, um der Armut und einem weiterhin instabilen politischen System zu entkommen. Seit 2010 tendiert die Situation wieder in dieselbe Richtung. Die Menschen dürfen/sollen scheinbar nur wählen können zwischen völliger Verarmung, „Chaos“ und der Drachme oder völliger Verarmung, „europäischer Ordnung“ und dem Euro. Erstere Möglichkeit ist eine hypothetische, die zweite inzwischen Realität. Tausende, vor allem junge Griechen flohen und fliehen aus ihrer Heimat. Dieser Aderlass an kreativem Potenzial und an Fachkräften besiegelt über kurz oder lang den Zukunftsverlust des Landes. Für eine Gesellschaft, in der die elterliche Fürsorge traditionell einen hohen Stellenwert hat, sind das tragische Zustände, zumal die Eltern-Generation der heute 40- bis 60jährigen sich außerdem dem Vorwurf ausgesetzt sieht, ihre Kinder einer traumatischen Perspektivlosigkeit ausgeliefert zu haben.
Die verlorene Zukunft
Griechenland hat – infolge der Regierungspolitik der letzten vierzig Jahre und der Auswirkungen einiger wirksamer Bestrebungen ausländischer politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme – seine junge Generation verloren und damit seine Zukunft. Seine Geschichte wird umgeschrieben; somit verliert das Land seine Vergangenheit. Seine nationale Identität ist infrage gestellt. Es hat die Fähigkeit eingebüßt, sich in der Gegenwart behaupten zu können. Das wirft nicht nur die Frage auf, ob es „Griechenland“ überhaupt noch gibt, sondern vor allem auch, ob es sich überhaupt noch einmal neu erfinden kann.
Dieser Band offenbart zumindest, dass Griechenland sich seit jeher im „Kriegszustand“ befunden hat und dass bis heute Menschen mit Worten und Taten darauf reagieren und Widerstand leisten. Menschen vor allem, die sich auf ihr „inneres Griechenland“ berufen und Mittler sind zwischen diesem und allen Orten „draußen“, an denen es sich wiederfindet.
Bei der Entstehung dieser Anthologie konnte ich mich auf die Unterstützung der Autoren und Übersetzer verlassen – in diesen Zeiten eine überaus erfreuliche Tatsache, insbesondere sei Ina Kutulas (auch für ihre Mitarbeit an der Auswahl und Zusammenstellung dieses Bandes), Michaela Prinzinger und Theo Votsos ausdrücklich gedankt: Efcharisto poly.
Bei den Wahlen vom 6. Mai 2012 haben die Griechen fundamental anders gewählt als die Spanier, Portugiesen oder Iren. Während diese der jeweiligen größten Oppositionspartei wieder zur Macht verhalfen, also nichts am überlieferten politischen Tableau änderten und somit im Rahmen der europäischen Ordnung blieben, verweigerten sich in Griechenland die Bürger dem gesamten seit Jahrzehnten etablierten politischen System und erschufen eine völlig neue Parteienlandschaft. Sie wählten nicht wie im Europa der letzten Jahrzehnte üblich zwischen sozialistisch / sozialdemokratisch und rechts / konservativ, sondern sie negierten die korrupte, klientelistische und desaströse Politik sowohl der sozialistischen PASOK-Partei als auch der konservativen Nea Demokratia (ND) und entschieden sich für etwas Neues, allerdings Unbekanntes. Die Griechen haben im Hinblick auf die bisherige Politik mit NEIN gestimmt, ohne bereits eine wirkliche Alternative vor Augen zu haben, aber es musste endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Das Ausmaß dieses Votums wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die beiden Herrschaftsparteien ND und PASOK seit 1981 zusammen immer etwa 80% der Wählerstimmen bekommen hatten; am 6.5.2012 waren es nur noch 34%. Es ist mehr ein Zufall der Geschichte – vor allem weil sich die Kommunistische Partei auf die Position einer selbstverliebten Außenseiterin mit einem starken Hang zur Selbstzerstörung versteift hat -, dass über Nacht eine linke 4%-Splitterbewegung zur zweitstärksten Partei wurde. SYRIZA mit dem weichgespülten und halbwegs charismatischen, so genannten „radikalen“ Tsipras an der Spitze bekam völlig unerwartet 17% der Stimmen, und war damit die einzig konkrete Alternative zum Alten System.
Politiker abgestraft
Eigentlich müssten die Regierungen und die Menschen in Europa diesen Wahlausgang sehr begrüßen, haben doch die Griechen genau die Politiker endlich abgestraft, die dafür verantwortlich sind, dass Griechenland aufgrund gefälschter Zahlen in die Euro-Zone aufgenommen wurde, und die ebenso die katastrophale wirtschaftliche und politische Lage zu verantworten haben, die ganz Europa an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Politiker, die – was verheerend ist – die Bildung staatlicher und parastaatlicher Strukturen beförderten (z.B. im Steuersystem, im Wahlverhalten und in der Justiz), welche zur Zerstörung der demokratischen Basis der Gesellschaft führten.
In Deutschland genügte zu Recht eine nicht ordnungsgemäße Quellenangabe in einer zehn Jahre alten Dissertation, um den damals beliebtesten deutschen Politiker, den Verteidigungsminister der Bundesrepublik, zu seinem Rücktritt zu veranlassen, und zwar von allen politischen Ämtern. Ebenso genügte ein empfindlicher Stimmenverlust (keine Niederlage!) bei der letzten NRW-Wahl, dass der Spitzenkandidat der CDU in NRW noch am Wahlabend von seinem Amt als NRW-Parteivorsitzender der CDU zurücktrat und einen Tag später auch seinen Ministerposten verlor. Der deutsche Bundespräsident verlor seinen Job wegen seiner Kontakte zu diversen Wirtschaftsbossen. Und derzeit werden bereits Rücktrittsforderungen im Hinblick auf den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wegen einer so genannten Teppich-Affäre laut.
Im Gegensatz dazu beharrten - allen demokratischen Gepflogenheiten zum Trotz - die alteingesessenen Politiker in Griechenland auf ihrem Machtanspruch und klammerten sich weiter an ihre Posten. Politiker, die zu verantworten haben, dass das Land bankrott ist, dass die Arbeitslosigkeit auf 22 % gestiegen ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei 55 % liegt, dass laut OECD-Angaben Griechenland in fast allen Kategorien, die über die Qualität der Arbeit des Staatsapparats Auskunft geben, europaweit das Schlusslicht bildet. Sowohl Antonis Samaras (ND) als auch Evangelos Venizelos (PASOK) oder Dora Bakojanni (ND) sind seit den achtziger Jahren führende Politiker ihrer Parteien, bekleideten wichtige Regierungsämter seit Anfang der Neunziger und sind direkt mit verantwortlich für den heutigen Zustand Griechenlands. Aber weder sie noch die anderen Spitzenpolitiker der beiden Herrschaftsparteien haben die Verantwortung für die desaströse Lage, in die sie Griechenland und ganz Europa gebracht haben, übernommen oder gar die Konsequenzen gezogen und sich aus der Politik verabschiedet. Selbst nach dem historischen Wahldebakel vom 6. Mai, als zum Beispiel die PASOK von 44% bei der Wahl von 2009 auf schlappe 14% absackte und quasi aufhörte, als Volkspartei zu existieren, lachte Evangelos Venizelos, der Parteivorsitzenden, in die Kameras und sagte, er sei der Garant für eine umfassende Reform seiner Partei und kenne den Weg, Griechenland aus der Krise zu führen – und zwar innerhalb von drei Jahren! Von Samaras, der es kaum fassen konnte, nicht Ministerpräsident geworden zu sein – denn entsprechend der Gewohnheit wäre er ja an der Reihe gewesen -, ganz zu schweigen.
„Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“?
Zwei Hauptkritikpunkte wurden in den deutschen Massenmedien immer wieder geäußert - nachdem Focus und Bild-Zeitung 2010 im Stile eines Paukenschlags den Auftakt dazu gaben:
– Der erste Punkt betraf die griechischen Regierungen und den griechischen Staat der letzten Jahrzehnte, die schonungslos und zu Recht der Vetternwirtschaft, des Klientelismus, der Korruption und Unfähigkeit bezichtigt wurden.
– Der zweite Punkt betraf das griechischen Volk, das als insgesamt mitschuldig an der katastrophalen Situation des Landes stigmatisiert wurde – bis über die Grenzen eines latenten Rassismus hinaus -, weil es diese Politiker immer wieder gewählt hatte. Der wie ein Mantra ins Feld geführte Satz: “Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“ machte die Runde an den Stammtischen und in unzähligen Talkrunden der öffentlichen wie der privaten Anstalten.
Nun haben sich die Griechen bei der Wahl am 6.5.2012 quasi emanzipiert und schließlich das einzig Richtige getan (wie es Bild, Focus und so viele andere verlangt hatten): sie haben diesen Politikern das Vertrauen entzogen und ihnen millionenfach die Wahlstimme verweigert.
Interessant ist, dass man in der deutschen Presse – nach zwei Jahren Hohn (allein die Bild-Zeitung benutzte innerhalb der letzten zwei Jahren in 125 Ausgaben den stigmatisierenden Begriff Pleite-Griechen), permanenter Kritik und der immer wieder geäußerten Aufforderung, es endlich zu begreifen und diese Politiker nicht abermals zu wählen - keinerlei Zustimmung für diesen Wahlausgang findet. Ganz im Gegenteil. Jetzt werden diejenigen kritisiert, die nicht länger bereit sind, jenen Politikern wieder ihre Stimme zu geben, die das Land in unverantwortlicher Weise regierten und es als ihre persönliche Beute betrachteten; und das Volk, das sich mehrheitlich von den bekannten Raubrittern verabschiedet hat, wird jetzt aufgefordert, diesen abermals den Steigbügel zu halten.
Wie auch immer die Wahl vom 17.6.2012 ausfallen wird, das Wählervotum vom 6. Mai hat das Land nachhaltig wie folgt verändert:
1. Das bisherige bipolare politische System (ND-PASOK) - die Grundlage für Korruption und Vetternwirtschaft - existiert nicht mehr.
2. Das Einparteien-System hat ausgedient, was eine neue politische Kultur Neuland für Griechenland zwingend notwendig macht.
3. Die in Griechenland schon lange latent existierende faschistische Gesinnung (die sich z.B. äußert in Antisemitismus und Rassismus) ist offenbar geworden und hat jetzt Gesichter bekommen, was insofern klärend wirkt, als dass sich die Gesellschaft mit dieser nicht zu übersehenden, nicht zu verdrängenden und nicht mehr wegzuredenden Tatsache auseinander setzen und das bekämpfen muss, worum sie bis jetzt einen Bogen gemacht hat. Der ungeheure Zulauf und die hunderttausenden Sympathiebekundungen, die die rechtsextreme Partei in Griechenland in den letzten Monaten erhielt, sind keine Phänomene, die urplötzlich erst kurz vor der Wahl zu bemerken waren. Es sei daran erinnert, dass die Briten 1944 mit Nazi-Kollaborateuren zusammen gearbeitet haben und diese infolge dessen in die Bildung fast aller Nachkriegsregierungen Griechenlands involviert und im Staatsapparat fest verankert waren, was entscheidend dazu beigetragen hat, dass es 1967 zu einem Militärputsch kam und dass die Faschisten bis 1974, also mehr als sieben Jahre an der Macht bleiben konnten. Bis heute überlebte eine faschistoide Gesinnung in den staatlichen militärischen Organen, was sich bei den Wahlen vom 6.5.2012 z.B. darin gezeigt hat, dass z.B. die Polizeikräfte in Athen mehrheitlich den Neonazis ihre Stimme gaben.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass am 17. Juni in Griechenland wieder das alte korrupte und unfähige System in Griechenland an die Macht kommt. Zu groß ist der Druck, der von der internationalen und der nationalen Nomenklatura auf die zum Teil verunsicherte, verängstigte und desorientierte griechische Bevölkerung ausgeübt wird. Wir sind Zeugen der massivsten internationalen Einmischung in nationale Wahlen in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Frau Lagarde vom IWF, Angela Merkel, Mario Monti, Herr Draghi, Herr Rico, Herr Schäuble, Herr Schulz, der Bundesbankpräsident, Herr Westerwelle, sie alle empfehlen den Griechen richtig zu wählen, nämlich die alte Politikerkaste.
Verständlicherweise, denn es geht der deutschen Regierung um deutsche Interessen. Die Bundeskanzlerin mag vielleicht einen guten Job für Deutschland machen. Dazu gehört aber eben auch, dass sie die Griechen zwingen will, wieder die Politiker zu wählen, die nur aus einem einzigen Grund und um jeden Preis an der Macht bleiben wollen: um nicht ins Gefängnis gehen zu müssen. Überspitzt gesagt: Die deutsche Regierung verlangt von den griechischen Bürgern, dass sie die bekannten Betrüger, Diebe, Verbrecher, Lügner und Bankrotteure wieder wählen sollen, weil diese die einzigen sind, die jetzt das durchzusetzen versprechen, was die deutsche Regierung einfordert. Und sie versprechen das, was die deutsche Regierung einfordert, um nicht ins Gefängnis zu müssen.
Einer von ihnen (nur ein einziger bislang!) musste jetzt in Untersuchungshaft: der ehemalige stellvertretende PASOK-Vorsitzende Akis Tsochatzopoulos, der als Verteidigungsminister 2001 Schmiergelder in Millionenhöhe von der deutschen Waffenfirma Ferrostaal erhalten hat (die dafür übrigens vom Kammergericht München vor zwei Monaten zu 140 Millionen Strafe verurteilt wurde), damit Griechenland deutsche U-Boote im Wert von 2,8 Milliarden Euro kauft. Ferrostaal hat griechische und portugiesische Politiker für insgesamt 62 Millionen geschmiert. In dem Zusammenhang ist die Aussage des Chefs des nationalen griechischen Finanzamts von vor einigen Tagen sehr erhellend: dass nämlich ein Antrag auf Einsicht in die Konten von 500 griechischen Politikern wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung seit über einem Jahr nicht bearbeitet wird.
Die Griechen wollen all diese Leute nicht zurück. Aber Griechenland wird genau diese Politiker wieder bekommen, weil sie derzeit die einzigen sind, die den europäischen (deutschen) Interessen in Griechenland zu dienen versprechen und das Problem ist, dass der griechischen Nation solches schon einige Male passiert ist. Die Briten z.B. gingen, wie oben bereits erwähnt, während des Zweiten Weltkriegs so weit, dass sie mit den griechischen Nazi-Kollaborateuren (Tagmata X) zusammengearbeitet haben, um eine eventuelle, wie auch immer geartete linke Regierung, die vorher ihrer Entwaffnung zugestimmt und sie durchgeführt hatte, prophylaktisch zu verhindern…
Ich will das als griechischer Bürger nicht: Ich will nicht, dass die alten Verbrecher noch einmal an die Macht kommen und ich ihre grinsenden Gesichter sehen muss. Und ich will keine internationale Einmischung in den Wahlkampf meiner Heimat, eine Einmischung, die nur eine Richtung und Aussage kennt: Wählt ja das alte Politikersyndikat, sonst lassen wir das Chaos über Euch kommen! Sonst werden wir ein Exempel an Euch statuieren! Mit dem Damoklesschwert der Apokalypse über dem Kopf ist schwer Demokratie zu leben.
Was ich will ist eine KATHARSIS und eine neue Chance auf Zukunft. Ob diese Tsipras heißt, weiß ich nicht, aber was ich weiß, ist: Venizelos oder Samaras heißt sie nicht. Diese Loser sind weder die Politiker, die Griechenland reformieren können, noch sind es die richtigen Partner für die Bundesrepublik oder für die Europäische Gemeinschaft…
Asteris Kutulas
(drei Tage vor der Wahl, die nichts entscheiden wird, 14.6.2012)
Sowohl Theodoros Pangalos als auch Evangelos Venizelos, aber auch Giorgos Papandreou, Konstantin Karamanlis, Dora Bakojanni oder Antonis Samaras, sie alle stammen aus Politikerfamilien, die teilweise seit 100 Jahren das gesellschaftliche System Griechenlands beherrschen. Sie symbolisieren das alteingesessene, korrupte, kriminelle, reformresistente Establishment von Vetternwirtschaft und Klientelismus, sie haben es beständig weiter gestärkt und gefestigt und damit in Griechenland quasi die Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinn abgeschafft. Sie alle gehören zu den wenigen Herrscherfamilien, die neben einer Handvoll Oligarchen – den eigentlichen Machthabern in Griechenland – die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Landes bestimmten. Etwa 400 Menschen treffen in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 alle ökonomischen und politischen Entscheidungen, und viele von ihnen bereicherten sich auf Kosten der Allgemeinheit auf die eine oder andere Art und Weise, wobei sie sich dabei auch an EU-Geldern in Form von Provisionen, Kick-Backs, auf dem Umweg über Scheinfirmen und sogar durch unverhohlenen Betrug bedienten. Dieses extrem parasitäre Establishment konnte sich an der Macht halten, weil es unentwegt dafür sorgte, sich eine politikhörige und untertänige Staatsanwaltschaft sowie eine durch und durch korrupte Finanz- und Steuerbehörde heranzuzüchten und diese am Leben zu erhalten, was jeglichen Ausbruch aus dem bestehenden System unmöglich machte. Zudem stützte sich dieses System auf eine durch die geduldete Steuerhinterziehung und andere Privilegien gehätschelte parasitäre Oberschicht, bestehend aus Kommunalpolitikern, Top-Rechtsanwälten, Gewerkschaftsbossen, Star-Journalisten, Ärzten, auserwählten Unternehmern und vielen Landwirten. Freie Wahlen waren zugelassen, aber viele Stimmen wurden gegen Vergünstigungen (rousfeti) jeglicher Art gehandelt, was hauptsächlich die Verbeamtung einer Anzahl von treuen Wählern oder deren Familienangehörigen bedeutete.
Dadurch wurde nicht nur ein Teil der Bevölkerung korrumpiert und politisch fanatisiert, sondern auch mitschuldig gemacht am Verfall der Werte und des sozialen Gefüges. Mikis Theodorakis brachte das bereits 1991 auf den Punkt: „Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Gehirne geleert“. Im Laufe der letzten 40 Jahre änderte sich dadurch das soziale Verantwortungsgefühl vieler Griechen noch einmal nachdrücklich. Es setzte sich immer mehr ein grenzenloser Egoismus durch, der von den herrschenden Machteliten befördert und zum obersten Prinzip der neoliberalen griechischen Gesellschaft erhoben wurde. Wer sich darauf nicht einlassen wollte, hatte kaum Anstellungs- und Aufstiegschancen. Vom Ausmaß der Korruption zeugen an der Spitze des Eisbergs der Koskotas-, der Siemens-, der Ferrostaal- und der Protonbank-Skandal, das Vathopedi-Desaster, die dubiosen Waffengeschäfte griechischer Politiker und Beamter sowie Hunderte nicht verfolgter und nicht aufgeklärter Skandale.
Hinzu kommt, dass die seit 1974 herrschende Politikerkaste den fast unbegrenzten Einfluss ausländischer und ungezügelter nationaler wirtschaftlicher Interessen zugelassen und darauf ihre Macht gestützt hat, ohne jemals auch nur ansatzweise eine eigenständige nationale griechische Politik zu verfolgen. Die Ergebnisse sind schockierend. Das Land befindet sich seit 2008 in einem rasanten Niedergang – nicht nur in finanzieller und struktureller, sondern auch in moralischer und kultureller Hinsicht. Vierzig Jahre PASOK/Nea Demokratia-Regierungen führten 2011 zu folgenden Ergebnissen, die außer Zweifel stehen:
1) Griechenland ist bankrott.
2) Der Staatsapparat verharrt in einem desolaten Zustand – es besteht keine Steuergerechtigkeit, das Gesundheitswesen ist marode, das Bildungswesen gehört zu den weltweit schlechtesten, das Rechtswesen ist unzureichend entwickelt, die Verwaltung arbeitet absolut ineffizient.
3) Griechenland hat keine Perspektive, so dass Zehntausende junge Griechen ihr Land verlassen, um sich im Westen eine neue Zukunft aufzubauen.
4) Griechenland ist im Resultat der Politik der letzten 40 Jahre zur Zwangversteigerung gezwungen, es muss also sein gesamtes Staatseigentum zu einem Bruchteil des Wertes an Privatpersonen, Konzerne und Investoren aus dem Ausland verkaufen.
5) Griechenland betreibt seit vielen Jahren keine unabhängige, national selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik und steht darum vor etlichen ungelösten Problemen mit seinen Nachbarländern (Türkei, Albanien, Mazedonien/FYROM) und mit der NATO.
6) Das internationale Ansehen Griechenlands ist fundamental und nachhaltig beschädigt, was sich in der negativen Presse widerspiegelt, die die griechischen Verhältnisse reflektiert und die Griechen im Allgemeinen „verurteilt“. Dieses Misstrauen gegenüber Griechenland wirkt sich verheerend auch auf den Export aus, was der stark angeschlagenen Wirtschaft noch weiter das Wasser abgräbt.
Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Politikerkaste hat nicht nur dazu beigetragen, dass sich die Mentalität und die Wertevorstellungen der griechischen Gesellschaft und besonders der jeweils jungen Generation innerhalb der letzten 40 Jahre immer mehr zugunsten eines ausgeprägten – kreditgetriebenen – Konsum- und Wohlstandsdenkens veränderten, sondern sie hat vor allem wirtschaftlichen und ausländischen Interessen gedient, anstatt eigene strategische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Griechenlands Wirtschaft und seinen Dienstleistungssektor schrittweise hätten stärken können.
Obwohl der hier beschriebene Zustand in den ersten Jahren der Krise für jeden sichtbar zutage trat, übernahm kein einziger griechischer Politiker auch nur ansatzweise eine Mitschuld und eine grundsätzliche Verantwortung für diesen desaströsen Zustand des Landes. Ganz im Gegenteil, die Politiker zelebrierten selbst in den letzten Monaten des absoluten Niedergangs den Machterhalt als oberstes Prinzip des politischen Lebens und als persönliches Allheilmittel gegen die Krise.
Da Griechenland zum einen – so klein es auch sein mag – to big to fail ist (genauso wie die großen europäischen Banken), und zum andern auch keine systemimmanente Destabilisierung zugelassen werden darf, können sich unsere korrupten und gescheiterten Politiker auf die Unterstützung ihrer europäischen Kollegen verlassen. Abgesehen von dieser System-erhaltenden Solidarität der europäischen Politiker für ihre griechischen Kollegen, muss jeder vernünftig denkende Mensch zu dem Schluss kommen, dass es mit den bisher herrschenden Machthabern, inklusive den jetzt gewählten Abgeordneten (also auch der gesamten Opposition), keinen Wandel in Griechenland geben kann – sie alle sind Teil des Problems und nicht nur de facto unfähig, es zu lösen, sondern sie sind auch nicht willens dazu.
(Wäre ich gläubig, würde ich mit dem Satz enden: Gott stehe uns bei!)
Jannis Tsarouchis, befragt von Asteris Kutulas, über den Heiligen Sebastian, Jannis Ritsos und über die „Ewigkeit des Menschen“
September 1983, Athen
Asteris Kutulas: Herr Tsarouchis, als wir bei Jannis Ritsos waren, haben wir ein Bild von Ihnen bei ihm hängen sehen, den „Heiligen Sebastian“. Können Sie uns dessen Geschichte erzählen?
Jannis Tsarouchis: Als ich vor vielen Jahren den Louvre besuchte, entdeckte ich das Bild eines deutschen Malers, auf dem der Heilige Sebastian nackt in der Mitte stand und links und rechts die beiden Soldaten in Kriegskleidung des 16. Jahrhunderts. Und ich fand, es wäre eine gute Idee, den Heiligen Sebastian mit zwei griechischen Soldaten zu malen, die ihn töten. Das war eine klare Botschaft, denn damals waren bei uns die Militärs an der Macht. Ich fand also einen griechischen Dichter, der im Pariser Exil wie ich lebte, und bat ihn, Modell zu stehen, und zwar für alle drei Figuren, sowohl für die beiden Soldaten als auch für den Heiligen Sebastian. Dadurch bekam das Werk von allein eine symbolische Bedeutung: Dass der Mensch den Menschen tötet. Und dass der Soldat, der den Heiligen Sebastian tötet, sich selbst tötet. Es war das erste Mal, das ich mich mit diesem Thema beschäftigte, das alle möglichen Maler seit der Renaissance in Bilder umgesetzt hatten.
Asteris Kutulas: Was symbolisierte der Heilige Sebastian für Sie?
Jannis Tsarouchis: Der Heilige Sebastian war, geschichtlich gesehen, Polizeibeamter gewesen, und seine Arbeit bestand darin, die Christen davon zu überzeugen, eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie an die herrschenden Idole und natürlich auch an den Herrscher glaubten, der sich selbst zum Gott erhoben hatte. Dieser Sebastian aber ging, wie viele andere Heilige auch, wie der Heilige Giorgos oder Dimitris, zu denen, die er ob ihres Christentums verurteilte und riet ihnen, nicht zu unterschreiben. Die Herrschenden ließen die Familien zu den Gefängnissen bringen und drohten: unterschreibt! Was wird aus Euren Kindern, aus Euren Häusern … Und viele wurden wankelmütig und unterschrieben. Der Heilige Sebastian aber half ihnen. So wurde bekannt, dass er gegen die Anordnungen der Herrscher handelte und seine systemtreuen Kollegen probierten ihre Pfeile an seinem Körper, der von ihnen ganz übersät war. Wie eine griechische Version dieser Legende berichtet, war er zu einem Igel geworden. Er wurde bewusstlos, und alle dachten, er sei tot. Aber einige Jungfrauen gingen zu ihm, darunter die Heilige Irene. Sie brachten ihn in ein Haus und zogen alle Pfeile aus seinem Körper, und der Heilige Sebastian kam wieder zu sich. Die Römer erfuhren, was passiert war und kamen mit Keulen wie denen von Herakles und erschlugen ihn.
Asteris Kutulas: Wie kommt es, dass Ihr Bild bei Jannis Ritsos hängt? Warum haben Sie es ihm geschenkt?
Jannis Tsarouchis: Zu der Zeit, als mir der Dichter Modell stand, hatte ich meine Brille verlegt und kein Geld, eine neue zu kaufen. Ich beschloß deshalb, das kleinformatige Bild, das ich fertig hatte, zu vergrößern und das Bild dann Stück für Stück noch einmal großformatig zu malen. Für größere Formate brauchte ich nämlich keine Brille. Dieses Bild vollendete ich dann auch, in Übergröße, während das Original nur 1,30 m hoch und 90 cm breit ist. Es gibt dazu noch eine weitere Geschichte: Zusammen mit vielen meiner Skizzen und anderen Bildern wurde es von einem Griechen gestohlen. Der schnitt es in vier Teile. Das Werk ist also im Ganzen nicht mehr erhalten, sondern so nur auf einem Foto zu sehen. Und an den Teil, der gerettet wurde, klebte ich andere und malte das Bild neu.
Ritsos hatte den Leninfriedenspreis erhalten und besuchte mich. Das Bild mit dem Heiligen Sebastian gefiel ihm sehr. Es war mit Reißzwecken an die Wand geheftet, und man sah, daß es aus vier oder fünf Teilen bestand. Ein Spezialist klebte die Teile dann zusammen, und sie wurden zu einem Bild. Und weil es noch unfertig war und Jannis es schnellstens haben wollte, vollendete ich es bei ihm zuhause. Er hatte Angst, dass ich es behalten würde.
Asteris Kutulas: Warum war das Bild ihm so wichtig?
Jannis Tsarouchis: Seiner Meinung nach war es ein gutes Bild. Ich selbst behielt das kleinere, das Original, nach dem das große entstanden war. Es gibt noch eine weitere Studie. Ich habe unzählige Studien gemacht, oft die Modelle wechselnd. Aber jenen Griechen, der Gefahr lief, verurteilt zu werden, bevorzugte ich. Weil er dem Mythos näher war.
Asteris Kutulas: Ritsos sagte, daß ihm das Bild gefalle, weil der Heilige Sebastian, trotz der Bedrohung, ein schöner Mensch bleibt, der sich nicht fürchtet. Er steht über dem Tod, er ignoriert die blutigen Pfeile.
Jannis Tsarouchis: Das ist der Zweck von Kunst: die Ewigkeit des Menschen zu offenbaren. Denn es gibt einige, die glauben, dass der Mensch eine Schöpfung des Teufels und Gott selbst der Teufel ist. Also verachten sie den Körper, denn, wenn er Teufels Werk ist, lohnt es nicht, ihm zu huldigen. Aber für jene, die glauben, dass der Mensch Gottes Sohn ist, hat dessen Korper etwas Göttliches, selbst wenn er leidet. Das symbolisiert auch die Kreuzigung. Die Schönheit und das Leben über den Tod hinaus. Das sind jedoch metaphysische Überlegungen, und wenn ich male, dann denke ich nur an die Organisation der Farben. Die Philosophie entsteht dann daraus und im Nachhinein, ich entwickle sie nicht vorher.
Asteris Kutulas: Es gibt ein konkretes Symbol in diesem Werk, den Polytechnikum-Aufstand, das Jahr 1973 …
Jannis Tsarouchis: Ja, wir lebten täglich mit diesen Ereignissen. Ich zeigte meinen Widerstand gegen die Folterungen und das Leid. Der Heilige Sebastian mußte schön sein, jung und ausgeglichen, damit das Verbrechen deutlicher zutage treten konnte. Ich habe kein expressionistisches Bild gemalt, weil das eine andere Aussage bedeutet hätte. Der Heilige Sebastian glaubte an den Schmerz, an das Unglück und daran, dass daraus Kraft zu schöpfen ist. Während die griechische Auffassung darin besteht, daß es kein Unglück gibt, wenn wir fest glauben. Die Geschichte hat doch sehr viel Heilige Sebastiane hervorgebracht. Wir sehen, wie die Byzantiner Christus dargestellt haben. Als würde er schlafen. Nicht aus Feigheit davor, den Tod zu zeigen, sondern weil sie an das Göttliche im Menschen glaubten.
Asteris Kutulas: Wann lernten Sie Ritsos kennen?
Jannis Tsarouchis: Ritsos lernte ich 1941 kennen. Alle Künstler, Schriftsteller und Musiker gingen ins Archäologische Museum, in den Saal, wo heute die mykenischen Goldschätze stehen. Damals war er voller Kopien von minoischen Wandmalereien. Heute ist er weiß getüncht. Und vor den Bildern teilte man Erbsensuppe aus, oder besser gesagt Wasser, in dem man Erbsen gekocht hatte. Dort sah ich auch Sikelianos, der zwei, drei mal dorthin kam. Viele ältere Leute wurden ohnmächtig vor Hunger. Oft gab es Streitereien, weil sie mehr Essen wollten. Es waren schwierige Zeiten. Nach dem Essen, das man uns in Konservenbüchsen reichte, gingen wir zu Ritsos in die Wohnung und unterhielten uns über verschiedene Dinge. Sowohl bei mir als auch bei ihm war das der Anfang von vielem, was wir später gemacht haben. Ob auf dem Gebiet des Theaters, des Kinos oder in der Dichtung. Wir sprachen viel über Theater, über Ballett.
Asteris Kutulas: In einem Essay, den Sie vor vier Jahren über Ritsos schrieben, stellen Sie fest, daß in seinen Werken ein tiefes Gefühl von Gerechtigkeit existiert …
Jannis Tsarouchis: Ja, in der Verbannung, wo er lange ausharren musste, hat er wie ein Asket gelebt, und zeigte Interesse für die nicht so bedeutenden Angelegenheiten der anderen. Einem kleinen Insekt, einem vom Wind aufgewirbelten Blatt begegnete er mit derselben Liebe, mit der die Humanisten den Menschen umfangen.
Alle Griechen, wenn sie in ihrem natürlichen Zustand verbleiben, sind Humanisten. Wenn sie sich von einer fremden Theorie beeinflussen lassen, verlieren sie im selben Maße ihr inneres Gleichgewicht. Kazantzakis wollte den Humanismus überwinden, um zum Nihilismus zu kommen. Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat. Wie der Afrikaner von Natur aus dunkel ist, so ist der Grieche Philosoph und Humanist, ohne diese Eigenschaften zwangsläufig ausgebildet zu haben, er hat aber die Voraussetzung dafür, dies zu tun.
Jannis Tsarouchis war seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Maler Griechenlands. Ich besuchte ihn Anfang der achtziger Jahre mehrmals in seiner Villa in Maroussi. Es war das märchenhafte Haus eines alten, weißhaarigen Künstlers, mit einem Riesenspinnenweben im Eingangsbereich – dem größten Spinnenweben, das ich je in meinem Leben gesehen habe –, mit vielen schönen jungen Männern, die das ganze Haus bevölkerten, den Maler inspirierten und ihm Modell standen. Eine Lithographie („Der Eros gegen den Krieg“), die er mir schenkte, stellt mehrere nackte langhaarige Jünglinge dar, bekleidet nur mit schwarzen Stiefeln – nachdenkliche Wesen mit Schmetterlingsflügeln. Oft, wenn ich dieses Bild anschaue, muß ich an Jannis Tsarouchis denken, wie er zwischen seinen hunderten von Drucken, Büchern und Malereien verharrte und erzählte … Asteris Kutulas
„Wohin ich auch reise, Griechenland verwundet mich …“ – Über die Einsamkeit des Giorgos Seferis
Eines der letzten Gedichte von Giorgos Seferis, es heißt „Verwitterte Inschrift“, besteht aus nur einer Zeile:
… Tote Wörter. Warum habt ihr sie getötet? …
Die epigrammatische Kürze und der Titel, so kann man vermuten, sollen eine antike Tafel assoziieren, auf der die in pendelischen Marmor gehauenen Buchstaben, archaisch streng, dorisch, kaum noch zu entziffern sind. Oder aber die Orchestra eines Theaters mit dem Ein- und Ausgang des Chores und zwischen den stillen Unendlichkeiten der drei Punkte: ein leises Murmeln. Weiter nichts.
Doch meint der Dichter keine Urworte antiker Barbarei, sondern die Losung der 1968 herrschenden Junta: „Griechenland Christlicher Griechen“. Wie so oft in unserer „phantasmagorischen Epoche“, wie sie Franz Fühmann nannte, kein Paradoxon frei nach Tertullian: Unter einem eisenstarrenden Himmel und wehenden Transparenten mit der Aufschrift „Griechenland Christlicher Griechen“ fahren 1967 in Athen Panzer auf. Und obwohl Seferis zeitlebens jeder öffentlichen Stellungnahme ausgewichen war, wendete er sich im März 1969 mit einer offenen Erklärung gegen das Militärregime: „Zwei Jahre sind bereits vergangen, seitdem uns ein System aufgezwungen wird, das im krassen Gegensatz zu den Idealen steht, für die unsere Welt, für die so aufopferungsvoll auch unser Volk im letzten Weltkrieg gekämpft hat.“
Diesen Zwiespalt ist er niemals losgeworden: Die Achtung vor dem „Volk“, dessen Kultur ihm als lebendige Quelle für die künstlerische Inspiration gilt und zum andern das Wissen um das manipulatorische, skrupellose Funktionieren der Macht in Griechenland, die er aus nächster Anschauung als Angehöriger des Diplomatischen Korps (1926-1962) kennengelernt hatte. Seine Erfahrung mit der praktischen Politik erzeugt in ihm eine tiefe Abscheu ihr gegenüber – zusammen mit der Illusion, Politik an sich sei, unter der Voraussetzung, man habe als Regierender das richtige Verantwortungsbewusstsein, moralisch unanfechtbar zu praktizieren – und führte zu einer ihn quälenden Resignation und zum Glauben, auch das „Volk“ sei korrumpierbar. Natürlich, Seferis war Empiriker; für ihn sind die weltanschaulichen Ideen, egal ob bürgerliche oder kommunistische, und ihre politischen Vertreter, einzelne Politiker oder Parteien, abgeschlossene ideelle Phänomene, die er nicht nach den sie treibenden wirtschaftlichen oder sozialen Interessen beziehungsweise Kräften hinterfragt. Um es einfach zu sagen: Er hat sicher, wie Thomas Mann, in der geistigen Wirklichkeit die primäre gesehen.
Hinzu kommt seine Einsamkeit. Er, der mit unserem „tyrannisierten und zerstückelten Jahrhundert“ in der kleinasiatischen Stadt Smyrna als Sohn eines Rechtsanwalts und Dichters Geborene, der nach Abschluss eines Athener Gymnasiums mit seiner Mutter und seinen beiden andern Geschwistern 1918 dem Vater nach Paris folgt, in der französischen Hauptstadt von 1919 bis 1924 Jura studiert und anschließend London seine Englischkenntnisse verbessert, kehrt 1925 nach Athen zurück und versucht – vergeblich, wie man seinen Tagebüchern entnehmen kann -, Griechenland als geistige Heimat zu finden. Noch 1936 ist Griechenland für ihn „ein Alptraum mit wenigen lichten Augenblicken voller schwerer Sehnsucht. Sehnsucht haben nach deinem Land, da du in deinem Land lebst; es gibt nichts, was bitterer ist“.
Solche Sätze kann man immer wieder finden. Dieses Allein-Sein hat ihm schwer zu schaffen gemacht, denn Seferis, der zu allen politischen Parteien ein gebrochenes Verhältnis hat, der schon früh die Fatalität erahnt, die Europa in den zweiten Weltkrieg treibt, dient ab 1926 als Attaché, Pressesprecher und, später, Botschafter diesem Staat, mit dem keine Identifikation möglich, und in einem politischen System, dessen verbrecherische Verantwortungslosigkeit er sarkastisch umschreibt: „Es ist einfacher, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr paßt, als dass ein griechischer Politiker Griechenland begreift“. Das notierte er im Dezember 1937, zu einer Zeit, da er bemüht ist, durch die Loslösung der Idee des „Hellenismus“ vom realen Hellas, sich einen neuen theoretischen Zugang zu seinem Griechenland zu verschaffen. Und um jedes Missverständnis von vornherein auszuräumen, erklärt er: „Hellenismus – als Idee der menschlichen Würde und Freiheit, nicht als archäologische Idee.“
Doch die politische Realität hatte ihn längst wieder eingeholt: Bereits 1936 war der faschistische General Metaxas durch einen Putsch an die Macht gekommen und beschwor die „Dritte Hellenische Zivilisation“, das „Neue Perikleische Zeitalter“. Die herrschende Morbidität, ein Wort, das Seferis selbst verwendet, begleitet ihn sein ganzes Leben: 1941 die Zusammenarbeit vieler ehemaliger Regierungsbeamter mit der deutschen Besatzungsmacht, ab Dezember 1944 der „organisierte“ Bürgerkrieg, Mitte der fünfziger Jahre die englische Zypernpolitik, 1967 der Militärputsch der Obristen – und gibt dem bekannten (ironisch gefärbten) Vers von 1937 eine gleichsam prophetische Bedeutung:
Wohin ich auch reise, Griechenland verwundet mich.
Man muss dieses Leiden an Griechenland nicht unbedingt als strukturbestimmend für seine Lyrik annehmen, es übt aber einen großen Einfluss auf sie aus; sein Schreiben erhält einen zunehmend autobiografischen Charakter, bis hin zur Konsequenz, drei seiner Gedichtbände Logbücher zu nennen. Man könnte Giorgos Seferis als einen eigenwilligen Chronisten bezeichnen, der die im Athen der dreißiger Jahre verbreitete Poesie pure ebenso wie die aus dem konsequenten Surrealismus stammende automatische Schreibweise als für seine Zwecke ungeeignet ablehnt, jedoch ihre Errungenschaften systematisch ausbeutet. So drängt authentische Erfahrung immer stärker ins Gedicht, ganz im Gegensatz zu den Produktionen der literarischen Mode-Bewegung des „Karyotakismus“, die besonders seit dem Ende der zwanziger Jahre noch einmal voller Weltschmerz und Dekadenz sind.
Die bohrende Suche nach Griechenland, nachzulesen in Seferis‘ Gedichten und Essays, die für ihn etwas Notwendiges war, ein Orientierungspunkt in einer für ihn undurchschaubaren Welt, führt zu einem Pessimismus, der keinen Augenblick des Nicht-Schmerzes oder – gefühlsmäßig – des Nicht-Verlustes zuläßt. Wir werden in keinem seiner Gedichte den hymnischen Ton eines Palamas, Sikelianos oder Varnalis finden, aber auch nicht Momente einer fast mystischen Entfremdungslosigkeit wie zum Teil in der Lyrik von Giorgos Sarandaris oder die pantheistische Übereinstimmung mit der Natur wie in bestimmten Gedichten Ende der dreißiger Jahre zweier so unterschiedlicher Dichter wie Odysseas Elytis und Jannis Ritsos. Man stößt wohl bei Seferis auf kaum eine Zeile, die seelische Ruhe oder unbedrohte Freude vermittelt – und wenn, dann nur als Ausdruck eines längst entschwundenen Zustands der Kindheit.
Seferis – ein kritischer Realist also, dem es stets um die größtmögliche Genauigkeit des Ausdrucks geht, doch nicht um des Ausdrucks willen. Seine Texte charakterisiert – anders als die seines berühmten Zeitgenossen und Freundes T.S. Eliot –, trotz Pessimismus und Resignation, ein idealistischer Glaube an das Gute oder, anders ausgedrückt, ein Moment des Utopischen, das 1963 während der Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur ausformuliert wird: „Wir müssen den Menschen suchen, wo er sich auch befindet.“ Und genau diese Suche, die Hoffnung, im Menschen (bzw. Leser) vielleicht oder gerade durch die Kunst einen Widerstand gegen alles Unmenschliche (das Nicht-Leben im weitesten Sinn) aufzubauen, ist der Punkt, worauf die Anstrengung des Dichters abzielen soll. Möglicherweise ist das Bild vom – historisch belegten – Kampf der Katzen gegen die Schlangen in dem Gedicht von 1969, unmittelbar nach jener andern „Verwitterten Inschrift“ entstanden, eine Metapher für das bürgerliche Ringen eines Mannes, der in seinen Gedichten versucht, das Prinzip des Bösen mit den zwar beschränkten, angeschlagenen, aber ehrlichen Mitteln zu bekämpfen, die ihm zur Verfügung stehen.
Hinter den geschliffenen, gleich Marmorblöcken hingesetzten Worten schon seines ersten Gedichtbandes Wende (1930) verbirgt sich eine selbständige, an Verlaine, Poe und Valéry geschulte Stimme, aber eine Stimme, die unverbrauchte Bilder mit den für die sprachliche Intensität wichtigen Möglichkeiten der griechischen poetischen Tradition verbindet. Doch nicht das macht einen Dichter aus, jedenfalls nicht nur das. Eher die Gestaltung, die Verdichtung seiner skeptischen Sicht auf die Welt, an deren Sinnhaftigkeit Seferis seit dem ersten Weltkrieg nicht mehr glaubt. Und so antwortet er auf die Aufforderung von Paul Valéry, den Elfenbeinturm wieder aufzubauen, unmissverständlich:
„In einer Epoche, in der sogar die Götter orthodox geworden sind und eine lebendige Blutspur hinterlassen, bin ich sehr neugierig zu erfahren, was wir in diesem Gebäude überhaupt machen sollen.“
Giorgos Seferis schlägt vor, dem Elfenbeinturm einen anderen Namen zu geben: den der „Werkstatt“ – einer Werkstatt, wo der Dichter anständig seine Arbeit machen könne.
Die parnassische Ataraxie ebenso wie die schwelgende Sentimentalität haben keinen Platz für den Hass auf die Welt und für die Liebe zu ihr, keinen Platz für die Zerrissenheit und das Fragmentarische der menschlichen Erkenntnis, keinen Platz für eine elementare Kommunikation und Verständigung mit den andern. Um aber diesen mehr stillen Räumen eine gültige poetische Aussage zu entreißen, bedarf es einer riesigen Anstrengung, die Giorgos Seferis mit „Präzision“ umschreibt. Denn unter den Bedingungen des Verfalls der Zivilisation „in einer sehr dunklen, unerträglichen Zeit“ scheint dem Dichter die Präsentation des Gedichts als formale oder inhaltliche Totalität, als ein lyrisch intaktes Weltbild, äußerst demagogisch und verantwortungslos zu sein. Die „Werkstatt“ wird zur „Poetik“ ausgebaut: Seferis arbeitet nicht nur Verse und andere Notizen aus seinen Tagebüchern in entstehende Gedichte mit ein, sondern auch seine Schwierigkeiten mit dem Text selbst; das Metrum wird immer freier und zerfasert, der Reim taugt nur noch in Einzelfällen zur formalen Klammer für die scheinbar oder tatsächlich zusammenhanglosen Momente des zerfließenden, sinnentleerten Lebens.
„Was suchen denn unsere Seelen reisend?“ – Ein Essay über Giorgos Seferis
Giorgos Seferiadis, der sich später Seferis nannte, wurde am 13. März 1900 in Smyrna geboren, einer kleinasiatischen Stadt, die, größtenteils noch von Griechen bewohnt, zum türkischen Reich gehörte. Sein Vater, Stelios Seferiadis (1873-1951), arbeitete dort als Jurist, nachdem er in Frankreich studiert hatte und Dozent an der Juristischen Fakultät in Paris gewesen war. Nebenher beschäftigte er sich mit Dichtung und übersetzte vor allem Gedichte und Stücke aus dem Altgriechischen und Französischen ins Neugriechische. 1902 wurde Seferis‘ Schwester Ioanna geboren und 1905 sein Bruder Angelos.
In Smyrnas Vorort Skala, wo die Familie die Sommerferien verbrachte, wuchs Seferis‘ Leidenschaft für das Meer, das später zum wichtigsten Topos seiner Lyrik wurde. In Seferis’ Erinnerung verband sich Skala – „der einzige Ort, den ich Heimat nennen kann“ – mit einer Harmonie, die sich niemals wieder einstellen sollte. Als Seferis 1951, also fast vierzig Jahre später, diese Gegend besuchte, hielt er in seinem Tagebuch fest: „Das Gedächtnis arbeitet mit absoluter Präzision: Ich habe das Gefühl, erst vor einem Jahr hier gewesen zu sein…“
1914, kurz nach Ausbruch des 1.Weltkriegs, zog die Familie nach Athen. Der Ehrgeiz des Vaters, sein Sohn möge in der Schule und im Studium der Erste sein, und der daraus erwachsende Druck überschatteten die nächsten Jahre des jungen Seferis. Die aufflammende Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Königs, der an einen Sieg der Deutschen glaubte, und den Anhängern des republikanischen Politikers und mehrmaligen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos, der zur Entente hielt, spaltete die griechische Gesellschaft. Dieser Streit bestimmte die griechische Politik bis Mitte der dreißiger Jahre. Seferis – wie sein Vater Venizelos-Anhänger – war in zunehmendem Maße bestrebt, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, welche ihm allerdings bereits die Ansätze für seine spätere Theorie von den „politischen Orthodoxien“ lieferte, die in vielen Essays durchschimmert: Für eine allein von Rhetorik und Egoismus getragene politische Kultur, die für ihn mehr mit Fanatismus als mit Vernunft zu tun hatte, empfand schon der junge Seferis nur Abscheu. Als 1935 nach einem Putsch von Venizelos-Anhängern die demokratischen Strukturen in Griechenland für Jahrzehnte beschädigt worden waren, wandte er sich endgültig vom „politischen Spiel der Parteien“ ab. Aus Seferis’ Ablehnung jeglicher Ideologisierung von Kunst erklärt sich auch seine These: „Die Autonomie der Kunst ist ein Axiom“, die ihn aber nicht zum Anhänger der l’art pour l’art-Bewegung macht.
Der Vater, der in Paris als Rechtsanwalt großen Erfolg hatte, holte die Familie 1918 nach. Seferis blieb in der französischen Hauptstadt und studierte bis 1924 an der Sorbonne Jura, während seine Familie 1919 nach Athen zurückkehrte. Sehr bald entdeckte er die Dichtung von Jules Laforgue, den er einen „zehn Jahre älteren Bruder“ nannte. In dieser Zeit kam in Paris der Surrealismus auf. Seferis, der diese literarische Entwicklung in Frankreich und in Griechenland – von wo er sich regelmäßig Bücher und Zeitschriften kommen ließ – genau verfolgte, bewunderte die Dichtung Paul Valerys, die von den Surrealisten abgelehnt wurde, stimmte aber nicht mit dessen Theorie der reinen Poesie überein. Seine Skepsis gegenüber der automatischen Schreibweise und der Hegemonie des Unbewußten bewahrte Seferis sich bis in die dreißiger Jahre, als er sich im „Dialog“ und im „Monolog über die Dichtung“ von der konsequenten Methode auch des griechischen Surrealismus distanzierte. Doch im literarischen Griechenland der zwanziger Jahre, wo uneingeschränkt Kostis Palamas herrschte – der 1931 in einem Brief sein Unverständnis im Hinblick auf Seferis‘ Dichtung artikulierte –, gab es noch keine avantgardistische Bewegung. Seferis, für den bereits um 1920 feststand, daß er Dichter werden wollte – was für ihn mit Sprach-Arbeit zu tun hatte –, stellte sehr bald desillusioniert fest: „Um sich der Sprache widmen zu können, braucht man Geld“. Sein Broterwerb war fortan die Diplomatie.
Dieser Zwiespalt und ein Gefühl tiefer Einsamkeit, das Seferis nie mehr verließ, versetzten ihn in einen derart melancholischen Zustand, dass dieser auch in seinen ersten poetischen Versuchen und in den Briefen, die er in jenen Jahren schrieb, sehr deutlich wahrzunehmen war. In seinen Tagebüchern ist diese Grundstimmung sogar später noch vorherrschend: „Absoluter Punkt: meine Einsamkeit“ (8.8.25). Seferis’ Hoffnung, mit Hilfe der Literatur aus „dieser schrecklichen Isolation, dieser Verlassenheit, die Selbstmord in kleinen Raten bedeutet“, ausbrechen zu können, erfüllte sich nicht. Er übersetzte John Keats und Theodore de Banville, las Homer, Rimbaud, Apollinaire, Lautréamont, Poe, Verlaine, Barbey d’Aurevilly und Jean Moreas, über den er 1921 seinen ersten Vortrag im Klub griechischer Studenten hielt. Er begann, auf Französisch zu schreiben – wofür er sich in einem Brief selbst verdammte – und war bestrebt, alles, was in seiner Dichtung romantisch angehaucht wirken könnte, auszumerzen, weshalb er Dutzende seiner griechischen Texte vernichtete: Von den Gedichten, die er zwischen 1924 und 1930 geschrieben hatte, nahm er nur siebzehn in seinen ersten Band „Wende“ (1931) auf. Seferis beschäftigte sich ausgiebig mit der französischen Literatur – von Racine und Malherbe bis Baudelaire und Proust –, in der er sich immer mehr heimisch fühlte, was ihn in seiner poetischen Entwicklung nachhaltig beeinflußte und ihm später eine besondere Stellung innerhalb der griechischen Dichtung verschaffte. Die europäische Tradition gehörte seitdem in Seferis‘ Selbstverständnis zum unabdingbaren Erbe eines jeden griechischen Schriftstellers, genauso wie die antike Tradition und wie jene Tradition, die mit den Evangelien begonnen hatte und in die demotische Literatur mündete. Angeregt durch seine Auseinandersetzung mit der französischen Lyrik setzte er sich mit dem Problem der „musikalischen Dichtung“ auseinander, entwickelte eine meditative Beziehung zur Musik – vor allem zu Bach, Debussy, Strawinsky, zum späten Beethoven –, aus der er bis in die dreißiger Jahre hinein zeitweise mehr schöpfte als aus der Dichtung. In einem Brief an die Schwester vom 4.1.1921 beschrieb er seine Verfassung wie folgt:
„Alles, was ich sehe, wird in mir zu einem Thema, zu einer tragischen Konstellation, die ich ausdrücken möchte. Leider bringe ich nur meine Ideen aufs Papier und wiege sie womöglich in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt. Mein Schubfach ist zu einem Friedhof geworden … Von früh bis abends denke ich nur an die Kunst, alles andere ist für mich nebensächlich, und trotzdem sind die Resultate nichts, nichts, nichts. Denk dir, wie schön ich schreiben würde, wenn ich ein Dichter wäre“.
Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Unterdrückung der Griechen durch den türkischen Staat bedrohliche Ausmaße an, zumal sich immer mehr griechische Gebiete gegen das osmanische Reich auflehnten und nacheinander von ihm abfielen. Der nicht-chauvinistische Gedanke an ein Griechenland, zu dem – wie in der Antike – auch Kleinasien gezählt wurde, wurzelte tief im Denken aller kleinasiatischen Griechen.
Seferis erfuhr im Sommer 1922 von der Kleinasiatischen Katastrophe – einem Ereignis, das, nach eigener Aussage, wie kaum ein anderes seine psychische Struktur und seine Geisteswelt erschüttert und geprägt hat. Die griechische Armee, ausgezogen, um die „Große Idee“ zu verwirklichen und Kleinasien wieder nach Griechenland „zu holen“, wurde in der Türkei von den Truppen des Kemal Atatürk vernichtend geschlagen. Der Friedens-Vertrag von Lausanne, 1922 unterzeichnet, zementierte die noch heute gültigen Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei und vereinbarte einen Bevölkerungsaustausch, der 1,5 Millionen Griechen zwang, ihre kleinasiatische Heimat zu verlassen und sich in Griechenland niederzulassen (und fast eine Million Türken aus Griechenland in die Türkei überzusiedeln). Für Seferis bedeutete dieses Ereignis den tiefsten Einschnitt in der Jahrtausende alten Geschichte des griechischen Volkes: „Das, was man für gewöhnlich als ‚griechische Diaspora’ bezeichnete und wir das „Genos der Hellenen“ nannten, war verschwunden. Zum ersten Mal war das gesamte Griechentum, von einigen Ablegern abgesehen, innerhalb der Grenzen des griechischen Staates konzentriert.“ Noch 1947 schrieb Seferis, auf dieses Phänomen zurückkommend: „Wir sind uns dieses Ereignisses und seiner Auswirkungen noch immer nicht ganz bewußt“.
So begriff Seferis die Kleinasiatische Katastrophe als eine nationale Wunde, die Folgen auch für das schöpferische Denken und das Schreiben zeitigen mußte. Für die Politiker, so meinte er, leite sich ohnehin eine größere Verantwortung ab. Nur aus dieser Überlegung heraus läßt sich Seferis‘ Einsatz für Zypern in den fünfziger Jahren erklären, als er in seiner Funktion eines Sonderbotschafters maßgeblich an der Lösung des Zypern-Konflikts beteiligt war. Auf Zypern – „wo die Wunder noch funktionieren“ – „empfindet man (plötzlich) Griechenland weiter, größer. Das Gefühl, daß es eine Welt gibt, die griechisch spricht; griechisch ist. Die nicht von der Griechischen Regierung abhängt, was dieses Gefühl der Weite überhaupt erst ermöglicht.“ (6.11.53) Der Zypern gewidmete Gedichtband „Logbuch III“ – der zwei der schönsten Gedichte von Seferis enthält: „Helena“ und „Gedächtnis II“ – und der Briefwechsel mit dem zypriotischen Maler Adamandios Diamandis zeugen vom Stellenwert dieser Insel in Seferis‘ „Griechenland“-Verständnis.
Auch der als schicksalhaft empfundene 2.Weltkrieg und der diesem folgende griechische Bürgerkrieg – der im Dezember 1944 zwischen der linken Einheitsfrontbewegung EAM und den von englischen Truppen unterstützten profaschistischen Bataillonen offen ausbricht und den Seferis im Exil vorausgesehen hatte – reihten sich für den Dichter ein in seine „tragischen Visionen“, um eine Formulierung von Giorgos Savidis zu gebrauchen. Nach den wiederholten Enttäuschungen im Außenministerium, dem für Seferis schmerzlichen Tod von Venizelos 1935, dem Putsch des Generals Metaxas 1936 und der Erfahrung von der Unfähigkeit der griechischen Regierung, im Verlauf des 2.Weltkriegs Entscheidungen im nationalen Sinne zu treffen, löste der Bürgerkrieg bei ihm eine große persönliche Krise aus. „Griechenland: ein gekreuzigter Körper, den alle tollwütig ans Kreuz nageln“, notierte er am 21.12.1944 und am 1.1.1945: „Nichts Schrecklicheres als die letzten zwei Monate“. Selbst ein Jahr später verfolgte ihn der Alptraum des Dezember: „Besser sterben, als das noch einmal sehen müssen“. (6.12.46)
In dieser „dunklen und mysteriösen Welt“ (6.7.42), deren herausragendes Merkmal die sinnlos verstrichene Zeit war, konnte auch die Literatur nicht mehr als totalitäres, in sich abgeschlossenes, ästhetisches System aufgefaßt werden. Seferis versuchte, vielleicht, um sich zur komplexen Realität poetisch in Beziehung setzen zu können, in seinen Gedichten eine „körperliche Haltung“, die „Anwesenheit des menschlichen Körpers“, wie er es ausdrückte, zu bewahren: „Wenn sie mich einst verurteilen werden, dann wegen meiner Sensualité“ – dieser Satz aus den Tagebüchern könnte das Credo seines dichterischen Konzepts der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sein. Im modernen Ausdruckstanz fand Seferis das verwirklicht, was seiner Meinung nach ein ideales Kunstwerk ausmachen müßte: Bewegung und Bewegtsein. Nach einem Besuch des Balletts „Frühlingsopfer“ von Strawinsky, in der kargen und präzisen Choreographie von Vaslav Nijinski, schrieb Seferis 1932 das Gedicht „Nijinski“, in dem die Figur des Tänzers mit der des Dichters verschmilzt. Diese Sehnsucht nach einem wirklichen Bewegtsein, poetisch verarbeitet u.a. in den Gedichten „Raven“ und „König von Asine“, beherrschte ihn bis zu seinem Tod. Doch auch in seinem letzten Gedichtband „Drei geheime Gedichte“ (1966) blieb diese Sehnsucht ungestillt – blieb Sehnsucht:
Du musst diesem Schlaf entkommen; dieser gepeinigten Haut.
In diesem Sinne sind Seferis‘ Gedichte und Texte, die er seit Anfang der zwanziger Jahre bis zu seinem Tod schrieb, als „work in progress“ zu sehen, Variationen zu einem Thema, das als Konstante seines Schaffens verstanden werden kann: zum Thema der Verantwortung des Dichters, die sich in dessen Verantwortung gegenüber der Sprache zeigt. Die Konzentration auf die Sprache, bei Seferis wegen der äußeren Umstände und seiner psychischen Befindlichkeit vor allem Anfang der zwanziger Jahre zwingend notwendig, führte zu einer neuen poetischen Ausdrucksweise und befähigte die neugriechische Lyrik – wenn man an so unterschiedliche Dichter wie Ritsos, Elytis und Gatsos denkt – neue Sachverhalte auf originäre Weise zu verarbeiten. Nicht zuletzt profitierten auch oder gerade die Nachkriegsautoren (wie z.B. Takis Sinopulos, Manolis Anagnostakis und Nasos Vagenas) mit ihrer desillusionierten Weltsicht von der Präzision einer anti-rhetorischen Sprache, in der ein jedes Wort seiner Gewichtigkeit zwischen den anderen Wörtern gerecht werden muss – was vor Kavafis und Seferis nicht der Fall war.
Bei Giorgos Seferis’ Beerdigung am 22. September 1971, zwei Tage nach seinem Tod, nahmen Hunderttausende Athener an der Prozession teil, die zu einer Kundgebung gegen die damals herrschende Junta wurde: offenbar lag hier ein Mißverständnis vor. Die wenigsten nämlich kannten den, den man gerade zu Grabe trug, als Dichter oder gar dessen Bedeutung für die neugriechische Literatur im 20. Jahrhundert – obwohl ihm 1963 der Literaturnobelpreis verliehen worden war; immerhin erschienen in den dreißiger Jahren die ersten fünf Gedichtbände von Seferis in einer Auflage von jeweils nur 50 bis 356 Exemplaren, die erst nach Jahren verkauft werden konnten, woran sich auch später nur graduell etwas änderte. Und auch als Politiker war er niemals durch irgendetwas in Erscheinung getreten, was solchen Zulauf hätte rechtfertigen können. Die Teilnehmer der Kundgebung sangen die 1932 geschriebenen Verse eines Mannes, den sie bis dahin kaum dem Namen gekannt hatten:
Nicht mehr lang und wir werden die Mandelbäume blühen sehen die Marmorsteine leuchten in der Sonne des Meeres schäumende Wellen Nicht mehr lang – richten wir uns noch etwas weiter auf.
Dieses und einige andere von Mikis Theodorakis Anfang der sechziger Jahre vertonte Gedichte, sowie Seferis‘ 1969 verfaßte „Erklärung“ gegen die Obristendiktatur hatten ihm unverhofft Popularität eingebracht. Dabei waren dieser „Erklärung“, der ersten und letzten öffentlichen „politischen“ Stellungnahme in seinem Leben, etwa vierzig Jahre Loyalität als Diplomat gegenüber allen – auch monarchistischen, faschistischen und ultrarechten – Regierungen von 1926 bis 1962 vorausgegangen, trotz seiner persönlichen Ablehnung einiger dieser Machtstrukturen. Wäre Seferis kein Dichter gewesen, der die „großen Ideen“ (gemeint sind: Dogmen) von seinem Werk fernhalten wollte, „um nicht als Künstler zerstört zu werden“ (13.5. 33) Seferis lebte in dieser Wirklichkeit als Diener „zweier Herren“ (1.3.27), wie er sich selbst ausdrückte: Diener sowohl des Berufs (die „äußere Unterwerfung, die mich mein Leben lang verwunden wird“) als auch seiner Berufung als Dichter, und er achtete auf die sorgsame Trennung von diplomatischem Beruf einerseits und Privatleben und Dichtung andererseits. Zu vergleichen eher mit dem Reformator Goethe als mit dem Rebellen Beethoven – ein vereinfachtes (nicht ganz stimmiges) Bild, das Seferis selbst in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Giorgos Theotokas, benutzte. Seferis bewegte sich Zeit seines Lebens, wie der Weimarer Dichter Goethe, fast ausschließlich im Umkreis des „Hofes“, huldigte dessen Ritualen und genoß dessen Privilegien, was Theotokas im Vorwort zu seinem Briefwechsel mit Seferis sehr umsichtig beschreibt; Seferis’ „Rebellion“ (oder wie er es sah: sein Schmerz) – mächtig für die einen, dürftig für die anderen, da sie sich in suggestiven dunklen Versen aussprach, wenn man an Texte wie „Drei geheime Gedichte“ oder „Drossel“ denkt – fand in seiner Kunst statt. Denn sein moralischer und patriotischer Anspruch war in keinem Augenblick seiner vierzigjährigen Beamtenlaufbahn mit der von der jeweiligen Regierung betriebenen Politik in Übereinstimmung zu bringen. Seferis blieb der Diplomatie verhaftet, was seine soziale wie poetische Optik beeinflußte, einengte und zugleich, im Bestreben aus dieser Enge auszubrechen, in andere – existentielle – Bereiche weitete. Seferis bezeichnete die Regierenden, seine Vorgesetzten, in Tagebüchern und Briefen gelegentlich als psychopathisch, verantwortungslos, verkrüppelt, engstirnig, durchtrieben und korrupt, bis er zur Schlußfolgerung kommt:
„Du mußt zu einer Mumie werden, um das alles auszuhalten… Das Gefühl, in Schlamm zu waten… Ich muß ein für allemal begreifen: Ernsthaftigkeit und Politik sind zwei ihrem Wesen nach voneinander verschiedene Dinge.“ (18.11.1942)
Doch Seferis‘ Beamtentum provozierte nicht nur solchen Widerspruch, über den er sich wiederholt in seinen Tagebüchern und Briefen – in gewisser Weise selbstquälerisch – äußerte, sondern dieses Beamtentum bedeutete zugleich die ständige Versetzung von einem Ort zum anderen. London, Koritsa, Alexandria, Kairo, Johannesburg, Ankara, Beirut, London sind einige Stationen seiner diplomatischen Laufbahn zwischen 1931 und 1962. Nicht verwunderlich scheint daher, daß das Bild der „Reise“ und das der „neugriechischen Diaspora“ nach Ausbruch des 2.Weltkrieges den durchschimmernden Hintergrund für seine Gedichte und Essays abgeben. Positiv, nämlich wenn man das als einen wichtigen poetologischen Ansatz versteht, hat es am ehesten noch Henry Miller beschrieben, der Ende der dreißiger Jahre mit Seferis befreundet war; in seinem Buch „Der Koloß von Marussi“ ist zu lesen: „Alles, was er betrachtete, war griechisch in einer Art und Weise, die ihm nicht vertraut gewesen war, als er sein Land noch nicht verlassen hatte.“
Seferis‘ Suche nach „Griechenland“ – „diese unentrinnbare Verlockung“ (16.2. 1925) –, die 1931 mit seiner Versetzung als Botschaftsrat nach London begann, bestimmte bis zu seinem Tod Inhalt und Struktur fast aller seiner Gedichte und Essays. Da ihm aber eine Identifikation mit dem Staat, dem er diente, zu keinem Zeitpunkt möglich war, schien ihm auch eine Identifikation mit seinem Land unmöglich, das er nur durch das Raster seines vom Beruf okkupierten Alltags oder seiner theoretischen Studien zur Kulturentwicklung sah und in dem das Volk genauso korrumpierbar wie seine politischen Führer zu sein schien. Bei Seferis tritt das „Volk“ nur zweimal als selbstbewußte Kraft in der neueren griechischen Geschichte auf: 1821, während des Aufstandes gegen die türkische Herrschaft, und im nationalen Befreiungskampf während des 2.Weltkriegs. Damit ist nicht gemeint, daß sich Seferis nicht als Grieche fühlte; er fühlte sich eher als einer der letzten „Menschen des Griechentums“, die in Verbindung mit der „ewigen und vielgestaltigen griechischen Idee stehen“, wie er Theotokas am 20.8.1932 schrieb. Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins steigerte sich ins schier Unermeßliche: „Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das „Griechentum“ denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen“, notierte er am 5.1.1938 in seinem Tagebuch, und etwas später, während Thomas Mann in den USA in seiner Rede über Arthur Schopenhauer der pessimistischen Gesinnung eine große Zukunft voraussagte, poetisierte Seferis eben diese Grundhaltung im Gedicht „Der letzte Tag“ oder in der folgenden Tagebucheintragung:
„Das, was sich am massivsten bemerkbar macht, ist dieses Faulende, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen, raushängende Zunge, schlaue erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe es sich noch leben?“ (27.11.39)
Um dieses Gefühl von realer „Heimatlosigkeit“ – also die Sehnsucht nach dem realen Griechenland – verdrängen zu können, um eine wenigstens geistige Heimat zu finden, entwickelte Seferis Mitte der dreißiger Jahre das „Dogma des Griechentums“, das losgelöst von den konkreten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen gedacht wurde, und die Vorstellung von einem „griechischen Volk“, das es so wohl nur in der Anschauung des Dichters gegeben hat. „Hellenismus“ nämlich, verstanden als „Auffassung von der menschlichen Würde und Freiheit, nicht als historischer Begriff“. (5.1.38) Aus solch einem Impuls heraus – das spezifisch „griechische Element“ in der neueren Literatur zu entdecken – entstanden vermutlich auch seine Reden zu Kostis Palamas und Angelos Sikelianos sowie der Essay zu Andreas Kalvos.
Der naive Maler Theophilos, auf den Seferis 1934 durch den Psychoanalytiker und surrealistischen Dichter Andreas Embirikos aufmerksam gemacht wurde, und General Makrijannis, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine „Memoiren“ verfaßt hatte, galten dem Dichter als Bürgen und DNA-Träger dieses „Dogmas“. In ihren Werken – die für Seferis in einer Traditionslinie mit der antiken Klassik und dem, was er selbst noch schreiben würde, standen – nahm er echte Ergriffenheit wahr und unverfälschte künstlerische Vollkommenheit. Diese beiden Künstler erreichten seiner Meinung nach das, was für den Sensualisten Seferis die größte Aufgabe des Dichters darstellte: die Seele des Menschen zu berühren, ihn zu sensibilisieren. „Ich schreibe wie jemand, der sich die Pulsadern aufschneidet“, steht am 7.9.1926 in seinem Tagebuch – was zumindest eine pathetische Umschreibung für den „existentiellen“ Wert der Dichtung in seinem Leben ist.
Auf der anderen Seite – und auf einer anderen, d.h. literarischen Ebene – standen für Seferis jene drei Dichter, die den künstlerischen Anspruch in die neugriechische Literatur eingebracht hatten: Dionissis Solomos, Andreas Kalvos und Konstantin Kavafis – „unsere drei toten Dichter, die kein Griechisch sprachen“ (Essays I, 63f.), mit denen Seferis sich zum Teil identifizieren konnte und mit deren Gedichten er sich sein Leben lang auseinandersetzte. Über Solomos hat Seferis zwar keine eigenständige Arbeit geschrieben, aber in fast jedem seiner Essays bezieht er sich auf ihn. Wie diese drei Dichter sprach auch Seferis zunächst „kein“ Griechisch und lebte wie sie jahrzehntelang außerhalb Griechenlands. Vor allem Solomos und Kavafis hatten einen ähnlichen Prozeß der Suche und des Forschens nach einem ihrer Epoche adäquaten poetischen Ausdruck durchgemacht. Bereits 1925, nachdem Seferis fast sechs Jahre in Frankreich und England gewesen war, stellte er, kaum in Athen angekommen, fest, daß „die Aufgabe der Jüngeren“ darin bestehe, „eine neue Sprache zu entwickeln“ (25.7.25), und wiederholt verglich er sich selbst mit einem Handwerker. In der 1935 gegründeten Zeitschrift „Nea Grammata“ veröffentlichte Seferis eine Reihe von Essays, in denen er sich einsetzte für: die gesprochene Sprache Dimotiki; einige Schriftsteller der älteren Generation wie Palamas und Sikelianos, die von manchen Kritikern als „überholt“ bezeichnet wurden; die Präsentation von jüngeren griechischen Autoren wie Elytis und Andoniou, die sonst keine Artikulationsmöglichkeit gehabt hätten.
Dieses praktische und theoretische Ringen um eine neue dichterische Sprache ging einher mit einem ausgiebigen Studium der englischen und vor allem der französischen Moderne. Seine Schwester Ioanna Tsatsou berichtete, mit welcher Ausdauer und Beharrlichkeit Seferis 1927/28 ein Kapitel aus Valerys’ „Monsieur Teste“ übersetzte und dabei an seinem eigenen Stil feilte, „einem einfachen Stil“ – so schrieb sie – in der Dimotiki (der gesprochenen Volkssprache), neben sich die Bücher von Solomos und Makrijannis. Seferis, nach dessen Auffassung der Mensch sich im Stil offenbart, entdeckte sein Griechenland zunehmend im griechischen Wort. Als er 1931 bzw. 1935 seine Gedichtbände „Wende“ (1931) und „Mythistorima“ (1935) herausbrachte, hatte er die Erneuerung der dichterischen Sprache nicht nur angestrebt, sondern sie auch erreicht. Der Pomp, das Pathetische und Überschwängliche, das es in den Texten der bis dahin maßgeblichen Dichter Palamas, Sikelianos und ihrer Epigonen gegeben hatte, war einem prosaischen, kompakten, gestischen Ausdruck gewichen. Im Gegensatz zur Manier der Neo-Symbolisten Uranis, Agras, Lapathiotis und den Anhängern der Strömung des Kariotakismus, die vor allem 1928, nach dem Selbstmord von Kostas Kariotakis dessen Weltverneinung als poetisches Lebensgefühl übernahmen, nicht aber dessen literarische Qualität, befreite Seferis seine Dichtung von jedem unnötigen Ballast und reinigte sie von jedweder „Ästhetisierung“. An die Stelle der bis dahin üblichen Dithyramben auf Liebe, Natur und Nation trat eine pessimistische Grundstimmung, die das, was man „Modernes Bewußtsein“ oder „Tragische Weltanschauung“ nennt, in poetischen Bildern verdichtete. Eingang ins Gedicht fanden Tagebuchaufzeichnungen, Zitate, Träume, Schilderungen der Probleme des Dichters beim Verfassen des Gedichts, Fragmente aus anderen Gedichten. Ähnlich assoziativ entstanden auch viele Essays, von denen einige aus Tagebüchern kompiliert wurden. Und nur, weil Seferis sich nicht an die (auch eigene) theoretische Forderung nach dem spezifisch „griechischen Element“ in der Dichtung gehalten hat, sondern sich nach den Standarts der „Weltpoesie“ richtete, blieb seine Dichtung auch nach 1940 substantiell, als sich jüngere Dichter wie Sinopulos und Anagnostakis zunehmend gegen das „Dogma des Griechentums“ auflehnten, weil sie für ein solches keine Notwendigkeit sahen.
Der große Unterschied zur bisherigen poetischen Praxis in Griechenland – mit Ausnahme von Kavafis‘, der aber in Ägypten gelebt hatte und in Griechenland aus mehreren Gründen noch unbekannt war – zeigt sich auch darin, daß Seferis bei keinem zeitgenössischen griechischen Dichter Anfang der dreißiger Jahre ähnliche Bestrebungen oder Tendenzen wie in seinen Schaffen erkennen konnte, wohl aber bei T.S. Eliot, dessen Gedichte er 1931 kennenlernte, was ihn zu der Feststellung veranlaßte, Eliot sei der erste Dichter, den er beeinflußt habe. Und während Eliot seine apokalyptischen Bilder im „Wüsten Land“ der Großstädte angesiedelt hatte, beschrieb Seferis im Gedicht „Argonauten“ die als utopielos empfundene Welt mit der Metapher des auf den uferlosen Meeren umhertreibenden modernen Ulysses:
Was suchen denn unsere Seelen reisend auf verfaultem Meergehölz von Hafen zu Hafen?
– um vielleicht damit über sein eigenes Unterwegs-Sein zu reflektieren. „So verbringen wir unser gesamtes Leben, an ein paar Planken geklammert, die früher zu unserem schönen Schiff gehörten“, steht in einem Brief von 1923 an seine Schwester Ioanna, und die einzige Hoffnung, die Seferis sein Leben lang nährte – „den Menschen zu finden, wo er auch ist“, so formuliert in seiner Nobelpreisrede von 1963 –, versuchte er sich durch das Auswerfen der „Flaschenpost“, in die er seine Gedichte steckte, zu bewahren.
So wäre also – im besten Fall – die zunehmende Anerkennung seiner Dichtung und jene Manifestation anläßlich seiner Beerdigung doch kein Mißverständnis gewesen, sondern die Konsequenz seiner Suche nach „Griechenland“, bis ihn Griechenland zur Stunde des Todes selbst fand. Daß er die Obristen ebenso wenig wie die Regierungen zuvor in Übereinstimmung mit seiner Auffassung von „Griechenland“ sah, machte er nicht nur mit seiner „Erklärung“ von 1969 deutlich: Aus Protest gegen die Junta veröffentlichte Seferis seit dem Putsch 1967 nichts mehr in Griechenland und lehnte am 27.12.1967 in einem (nicht-offenen) Brief an Franklin Ford von der Harvard-Universität das Angebot zu den berühmten Poetik-Vorlesungen für das akademische Jahr 1969/70 mit einer Begründung ab, die seinen Standpunkt und seine Tragik eindeutig umreißt: „Ich gehöre keiner Partei an, weder der Rechten noch der Linken. Ich beschäftige mich ausschließlich mit schöpferischer Arbeit; und genau hier beginnen die Probleme. Wie Sie wissen, ist seit dem vergangenen Frühling in meinem Land eine Zensur verhängt; und ich denke, daß das geschriebene Wort ohne die Freiheit des Ausdrucks nicht gedeihen kann; ich meine nicht nur meine eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit eines jeden andern, meine Ideen zu bekämpfen (…) Wenn es im eigenen Land keine Freiheit des Ausdrucks gibt, dann gibt es sie nirgendwo auf der Welt. Der Zustand des Selbstexilierten gefällt mir nicht; ich will aber bei meinem Volk bleiben und sein Schicksal teilen.“
Mit Seferis, dem Literatur-Nobelpreisträger von 1963, habe ich mich Ende der 1980er Jahre beschäftigt, seine Texte jedoch sehr gemocht, vor allem seine Essays und seinen wunderbaren Roman „Sechs Nächte auf der Akropolis“. Folgend die Ausbeute meiner diesbezüglichen Beschäftigung in Buchform. A.K.
Giorgos Seferis. Poesiealbum, Auswahl von Asteris Kutulas, Übertragen von Asteris Kutulas und Steffen Mensching, Verlag Neues Leben, Berlin 1988
Giorgos Seferis. Alles voller Götter. Essays, Herausgegeben, Übersetzt, mit Nachwort, Anmerkungen und Register von Asteris Kutulas; Reclam-Verlag, Leipzig 1989
Dieses Buch ist ein 1990 als Lizenzausgabe bei Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M. 1990) erschienen.
Giorgos Seferis. „Drossel“. Mit Original-Illustrationen von Gottfried Bräunling, Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas; editions phi, Echternach 1990
Giorgos Seferis, Sechs Nächte auf der Akropolis, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übersetzt von Asteris und Ina Kutulas; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1995 (Neuausgabe: 2020)
Rebetiko Subkultur – Gedanken zu einer alternativen Musikrichtung
I Der Zeibekiko-Tanz
„1934 sah ich zum erstenmal in meinem Leben echte Zebekes. Sie stiegen in Smyrna aufs Schiff, mit dem ich nach Konstantinopel reisen wollte. Sie trugen die alten Trachten der Zebekes. Einer von ihnen, ein Fünfunddreißigjähriger, sprach etwas Griechisch, und so konnten wir uns unterhalten. Er berichtete voller Bewunderung von einem seiner Kameraden, der so hervorragend tanzen könnte, daß ihm keiner darin nachkomme. Als die Sonne unterging, verließ das Schiff mit Ziel Konstantinopel den Hafen. Und in diesem Augenblick begann besagter junger Mann tatsächlich auf dem Deck zu tanzen. Er war klein und gedrungen, veränderte sich aber sofort bei den ersten Schritten. Er war nicht mehr derselbe. Seine fast wilde Männlichkeit wurde seltsamerweise von etwas wie Demut und Dankbarkeit unterstrichen, einer Dankbarkeit, von der man nicht wußte, wem sie galt. Mir schien es, als danke er voll Ergebenheit einem Gott für das Wunder, das das Leben ist. Der Tanz wurde von einem Tumbeleki begleitet, einer türkischen Trommel, die den magischen 9/8-Takt vorgab. Ich spürte Erotik und Männlichkeit und gleichzeitig den entfernten Hauch des Todes.“
Der Maler Jannis Zaruchis, von dem diese Zeilen stammen, hat in Hunderten von Skizzen und Bildern verschiedene Motive von Zebekiko-Tänzern festgehalten. Für viele griechische Maler, Komponisten und Dichter ging seit den dreißiger Jahren von diesem Tanz und von dieser Musik eine seltsame Faszination aus. Möglich, daß sie im Neid auf solch elementare Wirkung von Kunst wurzelte, möglich auch, daß sie das Erstaunen über diese spontane, noch mitten im 20. Jahrhundert existente Identifikation mit einer Kunstform ausdrückte. Zaruchis verdeutlicht zumindest eine Ursache dieser Faszination: Der Zebekiko-Tanz gilt ihm als Sinnbild, ja als Hervorkehrung des ewigen Kampfes des Menschen gegen den Tod, also gegen sich selbst. Der Tänzer verwandelt sich, ist nicht mehr der, der er vorher war und der er danach wieder sein wird.
Die Zebekes, über die Zaruchis schrieb, gaben dem Tanz den Namen. So bezeichneten sich die Krieger eines Stamms, der in Kleinasien und Thrakien ansässig war, jedoch nicht die muslimische Religion angenommen hatte. Der Zebekiko, der Kriegstanz dieses Stamms, wurde später, von der griechischen Rebetiko-Kultur assimiliert, zum wichtigsten Tanz der rebetischen Musik. Das rhythmische Kennzeichen des Zebekiko ist der unregelmäßige 9/8-Takt, der durch den überhängenden Schlag Unruhe und Schwermut erzeugt – typisch für die Atmosphäre des Rebetiko. Eines der klassischen Rebetika, das auch textlich zu den interessantesten gehört, ist das Lied „Mondlose Nacht“ des Komponisten Apostolos Kaldaras aus dem Jahre 1947. Der, wie so oft, mehr allegorische Inhalt setzt sich mit der Situation während des griechischen Bürgerkriegs auseinander. Dieser Zebekiko wurde so bekannt, daß er von der griechischen Militärregierung 1947 verboten wurde.
Es ist mondlose Nacht und die Dunkelheit tief; und doch kann der junge Mann nicht schlafen. Was wartet er die ganze Nacht, bis der Tag anbricht, am schmalen Fenster, durch das Licht in die Zelle fällt? Die Tür geht auf, die Tür geht zu, doch doppelt ist das Schloß; was hat der Junge nur getan, daß sie ihn ins Gefängnis sperrten? Die Tür geht auf, die Tür geht zu, mit lautem Stöhnen; ich wollt, ich könnt erfahren, was sein Herz ersehnt.
II Ursprünge des Rebetiko
Die Ursprünge rebetischer Musik, zu der auch der Zebekiko gehört, verlieren sich im 19. Jahrhundert, in der Zeit nach der Befreiung Griechenlands von türkischer Herrschaft um 1830 und der Konstituierung eines griechischen Nationalstaats. Der erste von den Schutzmächten England, Frankreich und Russland eingesetzte griechische König – Otto I. von Bayern – sorgte dafür, daß sich weder eine selbstbewußte nationale Bourgeoisie entwickeln konnte, noch daß die wichtigsten nationalen Probleme gelöst wurden. Der neue griechische Staat entstand als Mißgeburt mit großen Identitätsproblemen. Die ehemaligen Angehörigen der griechischen Befreiungsarmee, die vorher meist leibeigene Bauern der griechischen und türkischen Großgrundbesitzer waren, hatten die osmanischen Okkupanten nach jahrelangem Kampf zwar besiegt, wurden dafür aber weder mit demokratischen Rechten, noch mit der geforderten bürgerlichen Bodenreform belohnt. Viele von ihnen, genauso wie ehemalige Generäle (wie Makrijannis und Kolokotronis), wurden, weil sie gegen die neuen Machtverhältnisse protestierten, zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, die sie zumeist in den eigens dafür erbauten Gefängnissen der damaligen Haupstadt Nafplion verbüßen mußten. Hier entstanden viele Lieder, die später eine wichtige Quelle für die Rebetika waren. Die Gefangenen begleiteten ihren Gesang mit einem selbstgebauten Instrument, dem Baglamas, einer kleineren Version des Buzukis, das besser unter dem Mantel zu verstecken war und sich sehr leicht anfertigen ließ. Markos Vamvakaris, ein klassischer Vertreter des Rebetiko, schrieb 1936 den Zebekiko „Die Gefängnisse hallen wider“ – eine Adaption des Mitte des 19. Jahrhunderts in Nafplion entstandenen Liedes „Es hallt in zwei Gefängnissen wider“ – und stellte sich damit thematisch wie musikalisch bewußt in die Tradition der alten Gefangenenlieder:
Die Gefängnisse von Nafplion hallen wider. Die Glockenschläge hallen auch. Bist du eine Mutter und fühlst Schmerz, komm eines Tags und besuch mich. Komm, bevor sie mich verurteilen, weine, daß sie mich freisprechen mögen.
Zwar wurde der bayerische König 1862 abgesetzt, doch zu einer eigenständigen ökonomischen Politik, die auch zu einer Industrialisierung hätte führen können, kam es nicht. Trotzdem spielte sich das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben, bedingt durch Handel und Seefahrt, zunehmend in der Stadt ab. Große Häfen entstanden, in denen ein reger – auch kultureller – Austausch stattfand. Vor allem mit der griechischen Küste Kleinasiens, die sich natürlich jahrhundertelang die orientalische Kultur einverleibt hatte. Die Rebetiko-Musik entwickelte sich als neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeit einer gerade im Entstehen begriffenen Bevölkerungsschicht, die nicht mehr einer bestimmten und intakten Dorfgemeinschaft angehörte, sondern sich vielmehr aus Entwurzelten zusammensetzte, deren neue Heimat die schnell wachsenden Städte waren. Ihre kulturellen Bedürfnisse wurden in einer Übergangsphase vorwiegend durch orientalische bzw. orientalisierende Musik befriedigt, angefangen beim Tsifteteli, dem Bauchtanz, bis hin zum Zebekiko. Die Assimilation dieser ganzen Kultur durch griechische Sänger und Instrumentalisten erfolgte langsam, konnte aber durch nichts aufgehalten werden, da die neue Musik die Sehnsüchte und Ängste der Matrosen, Händler, Handwerker und vieler verarmter Bauern, die in der Stadt nach Arbeit suchten, am besten auszudrücken vermochte. Etliche von ihnen entschlossen sich, den Ozean zu überqueren und in Amerika ihr Glück zu versuchen. Diese Gastarbeiter machten Aufnahmen von Rebetiko-Liedern und produzierten die ersten Schallplatten mit Rebetiko-Musik. Die Ferne zur Heimat und Schwierigkeiten mit der neuen Umgebung führten zur intensiven Suche nach der eigenen Identität und damit zu einer kulturellen Blüte in Übersee. Ein historisches Dokument ist das Rebetiko-Lied „Schätzchen“, das um 1910 in den USA entstand:
Mein Schätzchen, der Kopf tut mir weh. Mein Schätzchen, wo sonst findest du so einen wie mich? Was schaust du mich so an, denkst du, ich hab Angst vor dir? Ich hab meinen Mantel verloren, ich hab nicht aufgepaßt.
III Die Rebetiko-Lieder
Dieser bruchstückhafte, banale Inhalt ist für die Anfangsphase des Rebetiko charakteristisch und blieb es, abgesehen von einigen Ausnahmen, bis zu seiner Endphase. Ganz anders als die episch angelegte demotische Dichtung der dörflichen Volkslieder, entwickelte sich die rebetische Musik als textliche und musikalische Improvisationskunst. Bei ihr kam es darauf an, eine momentane Befindlichkeit musikalisch und textlich festzuhalten, wobei melodische Phrasen und eine feste Rhythmik als Grundgerüst natürlich existierten.
Das Anfang des Jahrhunderts in den kleinasiatischen griechischen Hafenstädten gegründete Cafe-Aman war der Ort, an dem Musiker und zumeist eine Sängerin und eine Tänzerin solche auf festen Metren basierende Improvisationen, oft war es der Bauchtanz, darboten. Diese Musizierweise hatte einen gewissen Einfluß auf die Rebetiko-Musiker, die zunächst – in enger Anlehnung an die orientalische Tradition – ihre Lieder weder in Moll noch in Dur komponierten, sondern türkische Skalen benutzten. Später gelangten sie zu einer Annäherung und Verschmelzung mit den westlichen Dur-Moll-Tonleitern – das eigentlich Interessante an dieser Musik.
Im Cafe-Aman sang die Sängerin, wenn ihr kein Text mehr einfiel, das Wort „Aman“, das sie solange wiederholte, wie sie brauchte, um sich eine neue Strophe auszudenken. In der späteren Phase des Rebetiko wurde dieser Ausruf, der so viel wie „o weh“ heißt, als feste Floskel in vielen Liedern benutzt.
Die allmähliche Verschmelzung orientalischer und griechischer, auch demotischer Tradition zur neugriechischen Musikkultur des Rebetiko führte zu einem neuen Klang-Ergebnis, das eine gänzlich neue Tradition begründete und all seine Quellen absorbierte. Das führte dazu, daß die griechischen Rebeten Lieder im orientalischen bzw. anatolischen Stil komponierten und sie als solche auswiesen. Dabei benutzten und verarbeiteten sie das orientalische musikalische Material nach eigenen Kriterien, was sich auf die Instrumentierung als auch auf Melodik und Rhythmik auswirkte.
Das Moment der Improvisation in der rebetischen Musik, das auch in ihrer Blütezeit als Buzuki-Improvisation (Taximi) die Virtuosität des Solisten zu Beginn des jeweiligen Liedes unter Beweis stellte, gab Anlaß zum Vergleich von Rebetiko und Jazz-Musik. Neben musikalischen Aspekten war es vor allem das soziale Umfeld, in dem diese Musik entstand, das zu diesem Vergleich anregte.
IV Zur Geschichte des Rebetiko
Nach den Balkankriegen und dem 1. Weltkrieg versuchten das griechische Königshaus und die griechische Oligarchie 1922 in einem Krieg gegen die Türkei, ihre Vorstellungen von einem Groß-Griechenland mit der Hauptstadt Konstantinopel militärisch durchzusetzen. Doch Konstantinopel blieb Istanbul, und die verheerende Niederlage der griechischen Armee gegen die Truppen des Kemal Atatürk 1923 ging als Kleinasiatische Katastrophe in die Geschichte ein. Der folgende Friedensvertrag von Lausanne sah einen Bevölkerungsaustausch vor, in dessen Folge 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien nach Griechenland strömten. Die meisten von ihnen gründeten um Athen neue Siedlungen, die ähnlich den Slums der amerikanischen Großstädte einen Gürtel um das Stadtzentrum bildeten. Die kleinasiatischen Emigranten kamen nicht nur mit ihrer Kultur nach Griechenland, sondern auch mit ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung über die verlorene Heimat. Viele der Entwurzelten – und das kennzeichnet eine ähnliche Situation wie die der ehemals auf Veranlassung des Königs gefangenen Soldaten der Befreiungsarmee 1830, nur betraf es diesmal eine viel größere Schicht der Bevölkerung – griffen nach dem in ihrer ehemaligen Heimat gebräuchlichen Haschisch, um ihre Lage wenigstens für einige Stunden vergessen zu können. Dieses sich mit den Emigranten rasch verbreitende Ritual wurde meist in unterirdischen Tavernen, den Tekedes, vollzogen, die nur Eingeweihten bekannt waren.
Einer der Raucher hatte ein Buzuki mit, und sobald es ihn, wie es im Jargon hieß, „überkam“, fing er mit einer Improvisation an. War einer der Zuhörer in Stimmung, stand er auf und gab sich einem wiegenden, ja meditativen Tanz hin, was den bislang auf dem Buzuki Improvisierenden veranlassen konnte, ein Lied zu singen, wie etwa Michalis Jenitsaris 1937 seinen klassischen Zebekiko „Ich sah aus wie ein Filou“, in dem die Befindlichkeit des Sängers durch Slang und Interpretationsweise besonders deutlich wird: diese Ihr-könnt-mich-mal-Haltung, gepaart mit einer hintergründigen Verletzlichkeit.
V Aussteigerkultur, Drogen und Revolution
„Es war bewundernswert, wie der Tanzende seine Lider mit einer süßen Unterwürfigkeit senkte, was ganz im Gegensatz zu der Kraft seines Körpers stand, denn zur gleichen Zeit trat er mit den Füßen, mit denen er die Erde traktierte, auf etwas Unsichtbares ein, das sich am Boden bewegte. Man hatte den Eindruck, daß, während er dem im Denkmal verewigten Krieger glich, der den Drachen bekämpft, er sich zugleich mit ihm vereinte – nicht aber durch sein unsichtbares Schwert, sondern mit seinem unsichtbaren Glied.“ Der Vergleich mit dem Erzengel Gabriel stammt ebenfalls von dem schon zu Beginn zitierten Maler Jannis Zaruchis. Die Verklärung des Rebetiko hat bei ihm rein künstlerische Gründe: Das erotische Moment, die übersteigerte und gleichzeitig rührselige, vom Schicksal gezeichnete Männlichkeit, war tatsächlich für die Rebetiko-Kultur sehr typisch. Der egoistische, sein Gefühlsleben kultivierende Mann. Doch der „Aussteiger“ offenbart sich nicht nur im Tanz oder beim Singen und Spielen; er mißachtet auch die gesellschaftlichen Normen. Mit Blick auf den Entstehungsprozeß des Rebetiko Mitte der zwanziger Jahre ist er nicht von der Subkultur und der Unterwelt getrennt zu sehen. Totschlag, Raub und andere Delikte waren in der Szene alltäglich, wovon auch viele Lieder berichten. Aber das betraf, sogar in ihrer Anfangsphase, nicht die ganze Rebetiko-Kultur als solche, sondern lediglich eine kleine Schicht der damals ohnehin nur in wenigen Städten bekannten Rebeten. Erstaunlich ist jedoch, daß zu einer Zeit, da in Deutschland Hermann Hesse seinen Steppenwolf von den Alternativen Narkotikum, Musik und meditativer Kult probieren ließ, zu einer Zeit, da in Frankreich eine Gruppe von Künstlern die surreale Revolution über den Umweg des Rausches und Schocks auszulösen suchte, daß also zur selben Zeit in Griechenland eine Gruppe von ungebildeten Leuten ihren blinden Protest gegen die Gesellschaft durch anderes Verhalten, Kleiden, Sprechen und besonders durch die Flucht in den Rausch der Droge und der Musik dokumentierte. Eines der berühmtesten Zebekika von Vasilis Tsitsanis aus dem Jahre 1942 besingt diesen Drang zur Flucht und das gleichzeitige Bewußtsein über die Vergeblichkeit dieses Versuchs. Denn für Tsitsanis, der zusammen mit Vamvakaris die Rebetiko-Musik auf eine neue qualitative Ebene erhob, spielte Drogenkonsum als Lebensinhalt keine Rolle mehr.
Herr Polizist, schlag mich nicht, ich Armer kann nichts dafür. Spiel, Christo, dein Buzuki,/ schlag den Takt; sobald mein Hirn benebelt ist,/ beginn den Zebekiko. Ich will tanzen in meinem Rausch,/ schön und voller Demut, mein Herz ist so schwarz/ vom vielen Leid. Spiel, Christo, noch ein Lied;/ schwarze Gedanken hab ich; eines Tags werd ich in der Gosse landen,/ wo man mich dann findet.
VI Markos Vamvakaris & Vassilis Tsitsanis
Ab 1890 stellten staatliche Gesetze den Drogenkonsum unter Strafe, doch wurden diese kaum befolgt. Darum verhägten die Gesetzgeber 1923 wesentlich härtere Strafen.
Aus der Haschisch-Szene kam auch der bedeutendste Vertreter des Rebetiko, der von der Insel Siros stammende Markos Vamvakaris, der seit Mitte der dreißiger Jahre durch seine rauhe Stimme, seine Kompositionsweise, die Orientalisches mit Griechischem und Europäischem verschmolz, und seine Texte, die den Alltag des einfachen Menschen besangen, zum Begründer des klassischen Rebetiko-Stils wurde. Vamvakaris lebte von 1905 bis 1971. Er begann seine Laufbahn in Athener Haschischkneipen, den Tekedes, die 1936 mit Errichtung der faschistischen Metaxas-Diktatur, schließen mußten. Seine legendären Konzerte gab er von 1936 bis Kriegsbeginn 1940 in einem Athener Vergnügungslokal. In einem seiner berŸhmten Lieder singt er:
Die Kränze deiner Wimpern lassen deine Augen strahlen wie Blumen auf den Wiesen. Deine Lider schlägst du nieder, das raubt mir die Vernunft und jeden klaren Gedanken.
Der zweite bedeutende Komponist, der ab 1945 in der Nachfolge von Vamvakaris seinen eigenen Stil herausbildete, war Vasilis Tsitsanis. Von ihm stammt das wohl bekannteste Lied des Rebetiko „Bewölkter Sonntag“. Es hat musikalisch wie inhaltlich eine neue Qualität, die sich zum einen als unbewußte Verarbeitung der gesamten griechischen Musiktradition – konkret eines byzantinischen Hymnus aus der Ostermesse sowie demotischer Motive – und zum andern in der textlichen Auseinandersetzung mit der faschistischen Okkupation Griechenlands im 2. Weltkrieg äußerte.
Bewölkter Sonntag, du bist so wie mein Herz, das immerzu bewölkt ist – o Christus und Mutter Gottes. Du bist wie der Tag, an dem ich all meine Freude verlor; bewölkter Sonntag, du verwundest mein Herz. Bist du so verregnet, find ich keine Ruhe; du machst mein Leben schwarz, daß ich immer stöhnen muß.
VII Die Kommerzialisierung des Rebetiko
Mitte der fünfziger Jahre war der Höhepunkt der Rebetiko-Musik überschritten, die dann massiv Einzug in die Vergnügungszentren verschiedener Coleur hielt und besonders von den Massenmedien vermarktet wurde. Es folgte die totale Kommerzialisierung dieser Musik, die durch ständige Nachahmung verflachte und ihre einst kathartische Wirkung, die den Maler Zaruchis so fasziniert hatte, einbüßte. Zum Modeprodukt verkommen, konnte sich das Rebetiko nur durch das Wirken weniger herausragender Persönlichkeiten wie Vamvakaris, Papaioannou, Tsitsanis und einiger anderer weiterhin als authentischer Ausdruck eines Lebensgefühls behaupten.
Die gesellschaftliche und musikästhetische Anerkennung erfuhr die Rebetiko-Musik allerdings erst durch Manos Hadjidakis und Mikis Theodorakis, die ihre Kompositionen seit Ende der vierziger Jahre immer mehr auf die nationale Tradition und besonders auf das Rebetiko stützten. Doch das wäre schon ein nächstes Kapitel.
Postskriptum
Wenn man akzeptieren kann, dass das Lied der Schlüssel zur Seele ist, erscheint der Gedanke nicht so abwegig, dass das Rebetiko den musikalischen Beweis für das ewige Streben des Liedes darstellt, über die Seele schließlich ins Denken des Menschen zu gelangen. Der Ausdruck des Willens nach Selbstlosigkeit, die Sehnsucht nach einer Liebe, die sich nach ungezählten melancholischen Augenaufschlägen erfüllt. Die nach Gegenliebe nicht fragen muss. Was fällt uns ein, wenn wir „Kellerlokal“ hören? Dass sich im Vollrausch der grundlegende Charakter eines Menschen offenbart. Nicht ganz sauber. Nicht ganz astrein. Aber sie alle brauchen Stoff Stoff Stoff. Ein Rebetiko ist ein One-Night-Stand. Es könnte dabei hässlich werden.
Das Phänomen „Rebetiko“ ist für jeden griechischen Intellektuellen ein Thema … Meine Auseinandersetzung mit der griechischen Variante des „Blues“ habe ich in meinem hier oben (in einer gekürzten Fassung) veröffentlichten Essay „Über Rebetika“ festgehalten, der zuerst abgedruckt wurde im Buch: Partitur der Träume. Über Musik und Klänge, konkursbuch Verlag, Tübingen 1990. A.K.
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[Mikis Theodorakis hat mir gestattet, seinen kleinen Text von 1984 über das Rebetiko hier abzudrucken, wofür ich ihm sehr danke:]
Mikis Theodorakis: Anmerkungen zum Rebetiko
Das rebetische Lied spielte eine ganz entscheidende Rolle bei der Entwicklung der griechischen Volksmusik. Im Gegensatz zum demotischen Lied, zur Kantate und auch zur bis dahin überlieferten Unterhaltungsmusik suchte das Rebetiko die Befindlichkeit des Volks, des „einfachen Mannes von der Straße“ auszudrücken, die Befindlichkeit von Menschen also, die in der jüngsten griechischen Geschichte der Denkweise eines neuen gesellschaftlichen Systems, dem des Kapitalismus, zu folgen begannen. Dieses System entwickelte sich zunächst in den Hinterhöfen, im Umfeld von Werkstätten und Fabriken, wobei sich zugleich eine neue gesellschaftliche Klasse, das Proletariat, herausbildete. Eine Randgruppe dieser neuen Klasse war das sogenannte Lumpenproletariat, das wegen der mannigfachen Unterdrückungsmechanismen, unter denen es zu leiden hatte, alsbald in Narkotika und damit in der Flucht aus der Wirklichkeit eine Lösung seiner Probleme suchte. Träume aber währen nicht länger als die Wirkung einer Droge, ein Lied, ein Tanz.
Die Musik Anatoliens bot ihrem Wesen nach die damals beste Entsprechung einer von Verzweiflung und Verbitterung beherrschten Stimmung. Mit Buzuki und Baglamas verfügte man über die geeigneten Instrumente, den seelischen Schmerz klanglich zu entäußern; im Chasapiko und vor allem im Zebekiko, dem Tanz der Einsamkeit, fand man den perfekten Ausdruck der Psychologie des Fatalismus. Die Entstehungsorte dieser Musik hatten wir sozusagen vor der Haustür: In Thessaloniki, Anatolien, in Ostmakedonien, Konstantinopel und Smirni lebten Griechen und Türken, existierten das türkische und das griechische Element gleichberechtigt nebeneinander. Wir können davon ausgehen, dass unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Kleinasiatischen Katastrophe alle, die im türkisch geprägten Umfeld lebten, vom Zauber der türkischen Musik angetan, ja davon ergriffen waren. Sicher ist, dass man türkische Lieder hörte, sang, zu ihnen tanzte. Später, in den fünfziger Jahren zeigte sich, dass das türkische Element in der Musik nach wie vor sehr viele ansprach. Und schließlich dominierte irgendwann jene Musik, bei der griechische Instrumentaltechnik und griechische Texte mit türkischen Melodien kombiniert wurden, man alles miteinander verschmolz. Bald schrieben die Instrumentalisten unter dem Einfluss des Türkischen auch erste eigene Lieder, um das, was sie unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen selbst erlebt hatten, künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Was sich darin aussprach, waren die Erfahrungen eben jener oben genannten Randgruppe, des Lumpenproletariats.
Wie gelang es aber den griechischen Musikern dieser Zeit, anatolische Einflüsse zu verarbeiten und daraus griechische Lieder zu machen? In welchem Maße wurden diese Lieder in den Jahren ihrer Blütezeit (1925-1945) vom griechischen Volk aufgenommen? Wie verhielten sich die Autoren – als Künstler und als Menschen – in der Phase der Okkupation und des nationalen Widerstands? Wenn man diesen Fragen nachgeht, sieht man, dass die Teilnahme am nationalen Widerstand sich deutlich im täglichen Kampf des Volkes um Überleben und Freiheit zeigte und dass sie nicht so sehr eine historische Tat als vielmehr eine moralische und gefühlsmäßige Entscheidung war.
Wie man weiß, gab es in dieser Phase eine Tendenz der starken Betonung des Griechentums. Vermutlich aber mangelte es damals an ausgeprägten Musikerpersönlichkeiten und an profunder musikalischer und Allgemeinbildung, so dass das Besondere jener Zeit, nämlich das Rebetiko, nicht zum Allgemeingut, dem Volkstümlich-Nationalen, werden konnte.
Erst mussten Vamvakaris und später Tsitsanis kommen, damit sich das als Rebetiko und dann als neues Volksliedgut etablierte, was zunächst Inspiration durch das neue musikalische Genre bedeutet und was sich dann verbunden hatte mit demotischen, byzantinischen und anderen Elementen, die gleichermaßen musikalischer als auch allgemein gesellschaftlicher Natur waren. Die Schaffung der neuartigen laizistischen Musik liegt also unzweifelhaft im Rebetiko begründet. Und ohne das laizistische Lied wäre andererseits das Rebetiko in der neugriechischen Kunstgeschichte ein Fundament geblieben, auf dem letztendlich doch kein Haus hätte gebaut werden können.
Genauso lässt sich sagen, dass die neuere volkstümliche Kunstmusik wiederum eine Weiterführung des laizistischen Liedes ist und dieses schließlich als festen Bestandteil in der Geschichte der griechischen Musikentwicklung verankert hat. Dabei wurden allerdings zwei qualitative Sprünge vollzogen: zum einen der der Verbindung der Poesie mit der Volksmusik und zum anderen der der Akzeptanz des Volkslieds als Ausdrucksmittel einer sozialen Bewegung.
Das ist der Entwicklungsweg, die Entstehungspyramide des griechischen Lieds. Anfang der achtziger Jahre habe ich zum erstenmal anatolische Skalen verwendet. Der Unterschied zwischen mir und den Musikern der zwanziger und dreißiger Jahre besteht darin, dass ich östliches und westliches musikalisches Material zwar ebenfalls nutzte, es aber weiter bearbeitete und dass das Ergebnis schließlich weder östlich noch westlich geprägt, sondern einfach nur griechisch ist. Nicht das Material an sich, sondern die Art und Weise seiner Verwendung ist entscheidend.
AsterisKutulas: Ist es richtig, dass es eine klare Traditionslinie von den „Tropen“ der antiken Musik bis hin zum Rebetiko gibt?
Mikis Theodorakis: Im antiken Griechenland gab es Tropen, sie werden in byzantinischer Zeit übernommen und Echoi genannt, und in der laizistischen Musik erscheinen sie als „Straßen“ (oder Läufe; A.K.). Diese tragen türkische Namen, zum Beispiel Sabah, Kiurdi, Niaved. Hier kann man gut die Beobachtung machen, wie die Türken und Araber die byzantinische Musik aufnahmen, verinnerlichten, ihr türkische Bezeichnungen gaben, bis wir griechische Komponisten die byzantinische Tradition über die türkischen „Straßen“ erneut rezipierten. Die „Straßen“ der laizistischen Musik – zwischen ihr und der Rebetiko-Musik besteht ein großer Unterschied – haben ihren Ursprung in der byzantinischen Musik und besitzen einen vollkommen eigenständigen harmonischen Kosmos.
Kutulas: In welcher Beziehung zur byzantinischen steht die demotische Musik?
Theodorakis: Die antike, byzantinsche, demotische und laizistische Musik beruhen auf den gleichen Tonarten. So entspricht die erste dorische Leiter dem ersten plagalen Echo usw. Wir haben es mit einer viermaligen Metamorphose zu tun. Dabei spielte die Türkei eine Mittlerrolle Die byzantinischen Echoi existierten als Tropen in der westlichen Musik – die Modi der modalen Musik. Die große Revolution in Europa, die durch Bach besiegelt wurde, war der Übergang vom modalen zum tonalen System. In Griechenland hingegen markiert erst das laizistische Lied diesen Übergang vom Modalen zum Tonalen. Vamvakaris und Tsitsanis stützten sich in ihren Liedern auf das modale wie auf das tonale System. Wir, die Griechen von heute, hatten in der Nachfolge von Vamvakaris ein tiefes Bedürfnis nach tonaler Musik. Darum ist auch mein Volksliedschaffen ausgesprochen tonal. In Zentraleuropa verlief diese Entwicklung ähnlich, wobei die Europäer immer noch fast ausschließlich tonale Musik hören. Das war über einen längeren Zeitraum notwendig, um die Phase der Atonalität zu erreichen. Das sind akustische Notwendigkeiten.
Meine Musik ist sehr stark von modalen Elementen beeinflußt worden, wobei ich das Modale ganz spontan der demotischen Musik entnahm, ohne das Modale der türkischen „Straßen“ zu kennen. Das verwendete ich erst in meinen zuletzt komponierten Liedern, zum Beispiel im Zyklus „Kariotakis“, nachdem ich es wissenschaftlich analysierte. Der Unterschied nämlich ist gewaltig. Die neuen harmonischen Horizonte, die durch die „Straßen “ der laizistischen Musik eröffnet werden, sind sehr groß. Eine Ursache für die erneute Hinwendung zum Rebetiko in Griechenland liegt sicher auch im Zauber des Modalen begründet, den die „Straßen“ in sich bergen.