Asteris Kutulas: „Auch Statuen und Gedichte altern“ – Begegnungen mit Jannis Ritsos
[Im folgenden Text veröffentliche ich neben verstreuten Gedanken zur Persönlichkeit und zum Werk von Jannis Ritsos (1909-1990) auch einen Großteil meiner Notizen über unsere Begegnungen, die zwischen 1982 und 1989 zumeist während meinen Griechenland-Aufenthalten stattfanden. Ich habe meine ehemals flüchtigen Aufzeichnungen lediglich einer stilistischen Überarbeitung – ohne nachträgliche Hinzufügung oder inhaltliche Korrektur – unterzogen.]
18.3.1982, Athen | “Kommen Sie doch bitte zu mir!” Eine helle und klare Stimme aus dem Telefon. Trotz des Trubels, der allmittäglich die Kioske mit ihren zwei oder drei Telefonen im Zentrum Athens einhüllt, war sie deutlich zu hören; interessiert und höflich. “Kommen Sie doch bitte zu mir! Haben Sie meine Adresse? … Ich wohne Koraka-Straße Nummer 39. Kennen Sie den Weg hierher? … Nicht! Sie sind jetzt im Zentrum? … Gut. Dann steigen Sie am besten in die U-Bahn am Omoniaplatz, fahren aber nicht Richtung Piräus, sondern nehmen die Bahn nach Kifissia und steigen an der Haltestelle Heiliger Nikolaos aus. Könnten Sie um eins bei mir sein? … Also, ich erwarte Sie.”
Zwei Zimmer im vierten Stock eines Athener Mietshauses. Plebejisches Viertel. Vom Balkon schaut man auf eine Schule mit riesigem Hof, eingekeilt zwischen leergefegten Straßen und schlohweißen mehrstöckigen Häusern. Ein Brausen aus Motorgeräuschen, Rufen und Kindergeschrei hält sich hartnäckig in der Luft. Links das große Wohnzimmer, das sich durch eine offengehaltene Schiebetür teilen ließe. Rechts Küche und Bad, gegenüber das Schlafzimmer. Der Raum vollgestopft mit Büchern, Briefen, Gemälden, Andenken, Stoffbären in allen möglichen Farben und Variationen, Schallplatten (vorwiegend Bach), ein kleiner, nicht mehr neuer Recorder und die dazugehörigen Kassetten (vorwiegend Bach). Auf Fußboden, Stühlen und Tischen plaziert, in hierarchischer Ordnung, Hunderte von bemalten Steinen, Knochen, Wurzeln. Zwei Sessel für Besucher und zwei Stühle gegenüber seiner Couch, auf der sich links und rechts Briefe und Bücher stapeln.
12.11.1982, Athen | Von 12 bis etwa 4 Uhr nachmittags bei Ritsos. Ich hatte mich um zwanzig Minuten verspätet, worauf er mich freundlich aufmerksam machte. Ritsos pocht auf Pünktlichkeit, läßt nicht einmal die chaotische Verkehrssituation in Athen gelten. Eri, seine Tochter, ist zu Besuch. Sie hat in Großbritannien Anglistik studiert und kehrte vor kurzem nach Griechenland zurück.
Warum die Zahl 3 in seinen Gedichten so oft vorkommt, will ich wissen. Das war mir bei der Übersetzung der “Monochorde” aufgefallen. “Kommt die 3 oft vor, ja? … Tatsächlich, es sind 336 Monochorde… Warte mal! Ich habe noch zwei Reihen ‚Monochorde‘ geschrieben, die unveröffentlicht sind.” Er steht auf, geht zum schwarzen Schreibtisch, kommt zurück mit einem in Leder gebundenen Block. “Diese Reihe hier besteht aus 332 Monochorden, die andere kann ich jetzt nicht finden … Ja, die 3 scheint wirklich meine Lieblingszahl zu sein. Vielleicht, weil man von jeder anderen Zahl irgendwie auf die 3 kommt. Sie ist das Zeichen christlicher Dreieinigkeit und für vieles ein Symbol. Aber eigentlich liebe ich die 9 noch mehr. Ich weiß selbst nicht warum. Es hat aber nichts mit Mystik zu tun. Vielleicht, weil ich im Jahre 1909 geboren wurde. Wegen dieser 9? Natürlich mag ich auch den Klang dieser beiden Zahlen, TRIA, TRIA, ENEA, ENEA … Und das ist mir besonders wichtig.”
Bedächtig zündet er sich eine nächste Zigarette an. “Als ich mich vor kurzem mit einem französischen Freund darüber unterhielt – er stellte mir dieselbe Frage -, hatte er die Idee, meine Vorliebe für die 9 rühre vom soixante-neuf her, von Liebe auf Französisch, also vom gegenseitigen Oralverkehr.” Er lacht, nimmt eine Zigarettenschachtel und malt mir eine liegende 69 auf. “Das könnte auch der Grund sein, ich weiß es nicht.” Neugierig sieht er mich an und führt die Zigarette zum Mund.
17.9.1983, Athen | Gestern bei Avra Partsalidou gewesen. Alte Genossin der Kommunistischen Partei Griechenlands. Sie selbst wollte uns kein Interwiev über Ritsos gewähren. Sie kenne ihn zu wenig. Erzählte aber folgende Geschichte: “1968 wurde ich auf Jaros deportiert. Unter meinen Mitgefangenen befand sich auch Jannis Ritsos. Er lebte im Männertrakt, ich in der Frauenabteilung. Die Lagerleitung bestimmte die Belegung der Betten im Gefängnis. Ritsos durfte sich sein Bett nicht auswählen. Ihm wurde ein Bett direkt in der Mitte des Gefängnisraums zugewiesen. Das war eine bewußte Schikane. Man wollte ihn in die Mitte zwischen Dutzende andere Gefangene stellen, ins Zentrum des Lärms, um ihm das Nachdenken zu erschweren. Aber während der Stunden, da wir uns gegenseitig besuchen durften, fand ich ihn immer, auf dem Bett sitzend, mitten in dieser Unruhe, ruhig, still, schreiben oder malen. Ihn störte das alles nicht.”
26.9.1983, Athen | Dreharbeiten. Ritsos in bester Laune. Als ich ihn fragte, ob ihn Kritiken noch berühren, meinte er: “Ich habe einen Punkt erreicht, wo Lob und Tadel mich nicht mehr tangieren. Ich versuche, das zu machen, was den anderen ‘nützt’, und natürlich mir selbst.”
28.9.1983, Athen | Während eines unserer Interviews, fragte mich Ritsos eher beiläufig: “Übrigens, warum rauchst du nicht? … Du ignorierst diese heilige Handlung, die ein Drittel, ja, ein Viertel des Lebens ausmacht? … Kennst du nicht die Gier nach einer Zigarette nach dem Liebesakt? Wenn man das Streichholz anreißt und dabei die winzigen Funken schlagen und dann im flackernden Licht die Brüste der Frau und der Penis des Mannes sichtbar werden …” Den Einwand – das Zimmer wäre bald vollgesmokt, man müsse aufstehen, das Fenster öffnen und würde sich, der Kälte wegen, nicht mehr aus dem Bett trauen – ließ er nicht gelten: “Du vergißt, daß liebende Körper gegen Kälte gefeit sind. Außerdem: Denk an den herrlichen Akt des Fensteröffnens, wenn der ganze Himmel mit all seinen Sternen ins Zimmer tritt. Denk auch an Lady Chatterley von Lawrence. Wie ihr Liebhaber während ihrer ersten gemeinsamen Nacht nach dem Beischlaf aufsteht, zum Fenster geht, es öffnet – und als er zum Bett zurückkommt, ist er schon wieder erregt. Das überwältigt Lady Chatterley, die nach seinem Penis greift und nun mit ihrer Hymne auf Gott, auf ihr Ein und Alles beginnt.”
Rauchen mache aber krank, versuchte ich dagegenzuhalten. Er zeigte auf die Zigarette zwischen seinen gelblichen Fingern und fuhr fort, ohne meinen Einwand zu beachten: “Oft ist es ja so, daß die Gedanken so schnell ablaufen, daß die Hand gar nicht mit dem Schreiben nachkommt. Erinnerungen, die sich beim Schreiben einstellen – Erlebnisse aus der Kindheit, verloren geglaubte Räume und Landschaften, alltägliche Ereignisse – kannst du gar nicht schreibend einholen … Aber dann greifst du zur Zigarette, bläst den Rauch aus, immer schneller, hastiger, als wärst du eine große Lokomotive, deren Räder sich immer schneller drehen – so hast du durchs Rauchen den Eindruck, schneller zu werden, Gedanken und Schreiben in Einklang zu bringen.” Er nahm die flache Zigarettenschachtel in die Hand, drehte sie um, betrachtete sie.
“Oft meine ich, ein unbändiges Feuer lodere in mir. Dann habe ich, wenn ich den Rauch ausblase, das Gefühl, ich würde etwas Dampf ablassen, was mich sehr erleichtert.” Und sofort fiel ihm noch etwas ein: “Klingelt es an der Tür oder das Telefon läutet, wird dein Gedankengang unterbrochen. Eigentlich müßtest du neu ansetzen oder das Angefangene vernichten. Doch die Zigarrette wird zu einer Brücke, zu einer weißen Brücke vom unterbrochenen Gedanken zu einem neuen. Du stellst dir einfach vor, die Unterbrechung geschah nur, um eine neue Zigarette anzuzünden – ein Streichholz anzureißen, die Zigarette zum Mund zu führen.” Er öffnete die Schachtel mit den Papastratos-Zigaretten und bot mir eine an. Ich lehnte dankend ab und sagte, in diesem Augenblick wirklich verärgert über seine Argumentation, ich würde das Rauchen verbieten. Seine lakonische Antwort beendete unsere Zigaretten-Debatte: “Die Revolution gegen alle Verbote bedeutet wirkliche Freiheit.”
4.10.1983, Monemvassia | Die Insel Monemvassia, ganz in Licht gehüllt – ein Felsen, bizarr aus dem Meer ragend. Die Hitze lastet schon seit Tagen neblig-trüb auf den niedrigen Häusern.
Monemvassia hat eine viertausendjährige Geschichte, sagte der Wächter der Archäologischen Gesellschaft, als er uns zum Geburtshaus von Ritsos führte, hier finden Sie alles Mögliche: antike Säulen, klassizistische Mauerreste, byzantinische Kirchen, die venezianische Burg, türkische Bauten. Dann, betrübt, seine Sorgen: Wenn einige Touristen könnten, würden sie ganze Blöcke von Marmor mitnehmen.
Wir passierten den Vorhof einer alten, halbzerfallenen Kirche. Zwischen zwei graugrünen Feigenbäumen blitzte das Mirtoische Meer. Bei gutem Wetter, sagte der Wächter, kann man Kreta erkennen, zweihundert Kilometer von hier entfernt. Mir fiel der Vers von Ritsos ein, seine Assoziation: “fern der Rauch der Schiffe die dunstgezeichnete Insel Kreta das Blau und das andere Blau”. Und seine Erklärung: “Der Dichter empfindet Geschichte vermittelt über konkrete Erlebnisse, gegenständliche Eindrücke, Kindheitserinnerungen.”
15.11.1983, Dresden | … Und zu warten (worauf nur?) ist so trostlos. Letzteres Wort scheine ich sehr zu “lieben”, jedenfalls in letzter Zeit. Stammt irgendwie von Ritsos, aber doch auch von mir.
22.11.1983, nachts, Leipzig | Arbeit am Szenarium. Langes Gespräch mit Uwe. Mein Grundgedanke: Ritsos verwendet in seiner Poesie Dinge/Gegenstände (Tisch, Baum, Spinne, Schlüssel, Statue usw.), die ihn an sich interessieren, in ihrer scheinbar bedeutungslosen Alltäglichkeit. Dieses Ansich verwandelt sich jedoch sofort in ein Fürsich, nämlich in dem Augenblick, da über diese Gegenstände eine Begegnung mit dem/einem ANDERN und dadurch wiederum mit SICH SELBST möglich wird. Eine seltsame Kausalität entsteht: Die Vergegenständlichung der “Welt” führt zu einer Verwirklichung des “Menschen”, zu einem Sich-Auflösen der Entfremdung durch ein “Treffen”, eine “Begegnung”. So entwickeln sich poetische Gegenstände=Archetype (keine Metaphern), die wiederum in Momenten, da sich Ästhetik im Widerstand befindet, zu einfachen, elemantaren Haltepunkten werden.
23.11.1983, Leipzig | Uwes zentrale Frage: Wie machen/schaffen es bestimmte Leute, sich eine Ideal anzueignen und es dann – allen Widrigkeiten und Anfechtungen zum Trotz – ein Leben lang aufrechtzuerhalten? Ich weiß nicht, ob er das positiv meinte, aber vielleicht ist es gar nicht so positiv. Außerdem merke ich, wie die Begriffe nicht zutreffen, nichts erfassen, ins Bodenlose weisen.
Ritsos hatte, bevor ich ihn im September besuchte, die Geschichte der Mutter eines Mithäftlings von Makronissos erfahren und mir mit Anteilnahme weitererzählt: Als ihr Mann Ende der vierziger Jahre hingerichtet wurde, blieb sie, die blind war, allein mit ihren Kindern, völlig mittellos. Um ihren Mann begraben zu können, mußte sie zu einem Tischler außerhalb der Stadt gehen, der ihr einen Sarg zimmern würde. Sie bat eine Nachbarin, sie zu ihm zu führen. Die beiden Frauen zogen los, die Greisin führte die junge Blinde. Der Tischler machte ihr den Sarg, und sie schleppte ihn auf dem Rücken nach Hause. Die Nachbarin konnte ihr beim Tragen nicht helfen, konnte sie nur führen. Inzwischen war es Nacht.
Ritsos machte eine Pause und schaute mich an: Stell Dir dieses Bild vor, es läßt mich nicht los. Ist schon zu einem Gedicht geworden. Diese Frau nun ließ sich zu jedem 1.Mai die Fahne beschreiben, die aus ihrem Fenster hing. Als ihr Sohn dafür eine Metallstange nahm, wurde sie zornig: Die Fahnenstange, rief sie, muß aus Holz sein, ans Holz wurde auch Christus geschlagen. Und das Tuch muß lang sein, bis auf die Straße muß es reichen, daß es jedem Passanten gegen die Schulter schlägt.
Das erzählte Ritsos voller Bewunderung, und mir wurde klar, wie unterschiedlich wir gleiche Sachen bewundern. Und das nicht nur auf poetischer Ebene. Seine Voraussetzungen: Erlittenes Unrecht, erlebte Utopie. Meine?
24.11.1983. Leipzig, nachmittags | Ein “Gesprächsfilm” mit Ritsos ist fast unmöglich. Wir machten die Erfahrung, daß er immer wieder bemerkte: “Das habe ich aber schon in einem Gedicht gesagt.” Er zitierte auch wiederholt Gedichte, um das (seiner Meinung nach) Eigentliche auszudrücken. Oder solche Bemerkungen: “Aber wie Du merkst, ist das Gedicht viel präziser als meine Interpretation”.
Zweitens, die Aussage von Ritsos, seine Biografie spiele keine Rolle, um seine poetische Gedankenwelt zu erfassen.
Drittens, der “medienscheue” Ritsos. Interessant. Und ein Klischee. Was mir auffällt: So sehr er die große Öffentlichkeit liebt, gibt er doch wenig Interviews. Nicht die Medien. Sein Medium ist die Poesie. Und zur Poesie – der Kreis schließt sich wieder – gehört für ihn das “Volk” … (Wie unterschiedlich dieses Wort im Deutschen klingt. Wenn man schon den Unterschied bedenkt, den das Wort im Griechischen in einem Vers von Ritsos und im Mund eines Politikers bedeutet, dann verlischt jegliche “griechische” Bedeutung dieses Wortes im Deutschen.)
Auf jeden Fall irrig die Annahme, man könne Ritsos “packen”, indem man bestimmte historische Ereignisse der griechischen Geschichte darstellt, und die Dichtung Ritsos’ daraus “deduziert”. Reinster Soziologismus. (Kunert macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die Konsequenz dieser Ansicht wäre, daß man Leid und Not erfahren müsse, um ein großer Dichter zu werden.) Nur wenn man über seine Gedichte spricht, spricht man über ihn. Oder andersherum. Nur wenn man (wirklich) über ihn spricht, spricht man über seine Gedichte. Dieses “(wirklich)” hats in sich. Er selbst meinte, sich zum Marxisten erklärend, daß sich durch Übernahme/Verarbeitung marxistischen Ideengutes keinesfalls automatisch eine andere künstlerische Verarbeitung ergäbe. Den “Marxismus” nehme er als Künstler auf, nämlich durch individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen … Seine aristokratische Mutter, die 1918 durch das Haus lief, einen roten Schal um den Hals, und rief: “Ich bin Bolschewikin! Ich bin Bolschewikin!”
Völlig uninteressant erscheint mir heute, an seiner Person die Einheit von Künstler und “Politiker” exemplifizieren zu wollen. Er hält an einem politischen Ideal fest. Das machen aber viele andere auch. Nur oft entgegengesetzter “Tendenz” …
19.1.1984, Leipzig | Traf heute Quang, der gerade die “Mondscheinsonate” ins Vietnamesische übersetzt. Konfuses Gespräch über die volksfront-poetische Potenz in Ritsos’ Iphigenie-Gestalt. Und: Was interessierte Goethe an Iphigienie? Die Bewahrung, Erhaltung, Ausstrahlung einer elementaren Humanität in einer sie bedrohenden (und damit die Humanität an sich bedrohenden) Umwelt. In solch einer Lage sah sich wohl auch Goethe selbst befangen, zumindest dürfte er das aus der italienischen Distanz so reflektiert haben. Man braucht nur die Tagebücher und Briefe von Anfang 1779 lesen. Tasso ist der andere direktere Verweis auf das existenzielle (geistige) Problem eines humanistischen Künstlertums, das die politische Emanzipation als menschliche postulieren muß … Ausdruck dieses poetischen Konzepts ist Fürstenerziehung einerseits und Hinwendung zum Volk andererseits. Die Seele eines Menschen zu treffen und den Humanismus in ihm zu stärken, unabhängig davon, ob er Bauer oder Fürst ist, Linker oder Faschist. Iphigenie als Symbol, den Humanismus innerhalb einer inhumanen Welt bewahren und behaupten zu können! Das ist wohl schon bei Euripides angelegt. Also “Iphigenie” nicht als Problem der UTOPIE, sondern als reales “politisches” Problem des Dichters.
Im Zug nach Magdeburg | Ritsos läßt einen gewöhnlichen Menschen sprechen, allerdings einen Menschen, der eine Etikette bekommen hat, z.B. die Maske Iphigenies oder Orests oder Elektras usw. Dieser gewöhnliche Mensch spricht nun über seinen Alltag, aber auch über seinen “Nachruhm”, über den er eigentlich nicht sprechen könnte, über seine von der Nachwelt bestimmte Geschichte. Damit weist Ritsos darauf hin, daß diese in der Mythologie verschlüsselten Konstellationen heute ebenso bestehen, nur unscheinbarer. Zum anderen wird der Mythos selbst kritisch beleuchtet: seine Beständigkeit gegenüber einer anderen – modernen – Umwelt, dem Griechenland der faschistischen Junta beispielsweise.
19.4.1984, Athen | Gestern unterhielt ich mich mit Ritsos über die geschichtsphilosophischen Wurzeln des Pessimismus. So kamen wir auf Schopenhauer zu sprechen. “Schopenhauer war Pessimist”, sagte Ritsos, “weil er der erste desillusionierte Realpolitiker auf philosophischem Gebiet war. Trotzdem suchte auch er, möglicherweise unbewußt, nach dem Prinzip Hoffnung. Ich erinnere mich an eine Stelle in seinen ‚Parerga und Paralipomena‘, wo er dem Gedanken nachgeht, ob es auf anderen Planeten Zivilisationen gäbe, die ihr Leben anders gestalteten als die Menschheit.”
Später befragte ich ihn zu seinem Iphigenie-Monolog. Goethes Iphigenie habe er nicht gelesen. “Ich wollte die Geschichte einer Frau schreiben. Jenseits vom ‚Mythos‘. Sie spricht über ihre alltäglichen Sorgen und Probleme. Sie erinnert sich ihres ganzen normalen Lebens, das das Schicksal der Atriden natürlich einschließt.”
Ritsos schenkte mir ein Exemplar seines soeben erschienen Romans “Mit dem Stoß des Ellenbogens”. Dann las er ein Kapitel aus dem gerade abgeschlossenen Manuskript “Der Alte mit dem Papierdrachen”. Die Geschichte ist einfach: Ein alter Mann beobachtet im Frühling ein paar Jungen, die Drachen steigen lassen. Er beneidet sie und würde am liebsten mitmachen. Aber er schämt sich, zu den Kindern auf die Wiese zu laufen und es ihnen gleichzutun. Eines Abends geht er auf das Flachdach seines Hauses und läßt einen selbstgebauten Drachen steigen. Zwei Kinder von nebenan entdecken ihn und fragen: “Opa, was machst du da, läßt du etwa einen Drachen fliegen?” Der Alte fühlt sich ertappt und beschwichtigt: “Nicht doch, Kinder, ich habe diesen Drachen gerade gefunden. Er wird irgendeinem Kind gehören und hat sich in meiner Veranda verfangen.” – “Dann gib ihn uns!” Darauf der alte Mann: “Das geht nicht, ich muß herausfinden, welchem Kind der Drachen gehört, und ihn zurückgeben.” Er packt den Drachen ein und geht schnell ins Haus.
21.4.1984, Sernikaki | Noch im Gespräch mit Ritsos: Längere Unterhaltung über den Ausschluß des Komponisten Thanos Mikrutsikos aus der Kommunistischen Partei. Diese Entscheidung scheint ihn zu beschäftigen. Ritsos meinte dazu, daß die kommunistische Bewegung in Griechenland nur dann eine Chance habe, wenn jeder auf seinem Gebiet das Beste gibt und vor allem: geben kann, um diese Bewegung zu stärken. Aber dem stehe natürlich die Anmaßung bestimmter Funktionäre entgegen, die glauben, auch auf Spezialgebieten “eine Linie” vorgeben zu müssen. (Er habe Mikroutsikos angerufen und ihm gesagt, er soll sich das nicht zu Herzen nehmen und, seinem Gewissen folgend, weitermachen.) Und erzählte folgende Geschichte:
“Als wir im Dezember 1944 die Schlacht um Athen gegen die britischen Truppen verloren hatten, erhielten die Partisanenabteilungen den Befehl, sich aus der Hauptstadt zurückzuziehen und im Norden Griechenlands eine zweite Republik zu gründen. In der Stadt Lamia wurde der Befehl erlassen, ein Theater aufzubauen. Wir stellten in kürzester Zeit zwei Theatergruppen mit sehr erfahrenen und begabten Schauspielern und Regisseuren zusammen. Da keine Stücke für ein Repertoire existierten, mußten wir selbst welche schreiben. So entstand damals mein lyrisches Drama ‘Die Mutter’, um das eine harte Diskussion entbrannte, weil die Politkomissare die Meinung vertraten, es sei zu schwer für die Soldaten, die oft erschöpft von der Front direkt ins Theater kamen. Ich hatte nämlich längere Monologe verfaßt und, der antiken Tradition folgend, Chorpartien eingeschoben. Die Monologe sollten als ‘subjektivistisches Element’ eliminiert werden, wogegen ich aber protesierte: ‘Kameraden, ich verstehe Eure Bedenken, aber ich werde keine Zeile ändern. Dann wird das Stück eben nicht gespielt. Und ich glaube, daß ihr die Menschen unterschätzt. Auch ohne umfassende Bildung besitzen sie doch einen Instinkt für das Schöne. Und außerdem verstehe ich mehr von künstlerischen Dingen als ihr. Ich mische mich auch nicht in eure Belange ein, für die ihr die Verantwortung tragt – und dasselbe nehme ich für mich in Anspruch. Sollte das Stück ein Mißerfolg werden, so können wir es immernoch absetzen. Gebt aber dem Publikum die Chance, selbst zu entscheiden. Das Stück wurde ein großer Erfolg, und gerade die Monologe kamen sehr gut an.”
Mit Nachdruck beharrte er darauf, daß man nur so, innerhalb der eigenen Reihen, etwas unternehmen könne. Und fast beschwörerisch: “Wir haben alle von den eigenen Genossen so viel einstecken müssen, daß wir wissen, wie schwer das ist. Aber nur so kann sich etwas entwickeln.” Mein Gott!
23.5.1984, Dresden | Heute flogen Mikis, Mirto, Eri und Ritsos nach Moskau. Gestern Gespräch mit Ritsos über einen “Ritsosfilm”. Ein solcher Film, so Ritsos, müsse die Verwurzelung seines Werks in der Antike deutlich machen. Seine Beziehung zur Antike sei keine “philologische”. Sie bestimme in großem Maße sein Schreiben und in gewisser Hinsicht auch sein Leben. Der Geist seiner Dichtung ließe sich viel präziser in einer Filmszene mit einer Statue einfangen, als durch alle möglichen theoretischen Abhandlungen.
Dann wäre ja dieser Film, meinte ich, schon formal, kompositorisch eine Abstraktion … Ja, erwiderte Ritsos, Fakten könne jede Biographie liefern. Der Film aber solle von Phantastik durchdrungen sein – wie seine Poesie. Er stelle sich Szenen mit Schlüsseln vor, mit nackten Frauen und Männern, und immer wieder mit Statuen.
Vorgestern in Leipzig Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ritsos, den Eri begleitet. In seiner kurzen Ansprache machte er auf einen merkwürdigen Zufall aufmerksam: “Die Leipziger Universität wurde 1409 gegründet, und ich wurde 1909 geboren, also genau 500 Jahre später. Sie feierten in diesem Jahr Ihr 575. und ich meinen 75. Geburtstag. Ich bin in gewisser Weise ein Altersgenosse Ihrer Universität, nur 500 Jahre jünger. Rechnet man mir die griechische Tradition zugute, die in meinen Adern kreist, bin ich natürlich ein paar Tausend Jahre älter. Auf jeden Fall bin ich stolz darauf, Ehrendoktor einer Universität zu sein, an der ein Lessing, ein Leibniz und ein großer, ein sehr großer Autor, nämlich Goethe, studiert haben. Und auch weil mein Freund Pablo Neruda den Titel eines Ehrendoktors hier erhalten hat.”
6.9.1984, Athen | Ich erzählte Ritsos, daß mir die “Perser”-Aufführung im Herodes-Attikus-Theater nicht gefallen habe, ich aber den Text als äußerst modern empfände. “Das Interessante im Stück”, sagte Ritsos, “ist die deutlich artikulierte Liebe des Aischylos zu den Persern. Dieses Werk ist ein Antikriegsstück, weil Aischylos mehr die Niederlage und den Schmerz des persischen Volkes besingt, als den Sieg der Griechen. Man fühlt: Er klagt mit den Persern. Seine Überwindung des ‘hellenischen Nationalismus’ war äußerst wichtig für die gesamte antike Kultur.”
Ich sprach mit ihm über moderne Adaptionen des Mythos. Ritsos: “Gestalten aus der antiken Mythologie wie Orest, Iphigenie, Ismene konzentrieren in sich ganze Welten, deren Ursprünglichkeit und Wesenhaftigkeit durch den Umstand bewiesen werden, daß sie elementar in andere Literaturen Eingang fanden und deren Ausgestaltung mitbestimmten. Schon Platon und Aristoteles sind in ihrer Wirkung für die Literatur insgesamt nicht zu überschätzen. Was wäre ein Goethe ohne die Antike und um wieviel ärmer wäre die deutsche Literatur ohne die Gestalt von Hölderlins Diotima. Was wäre ein Brecht ohne Mythologie, obwohl bei ihm Anknüpfung und Entgegenung Hand in Hand gehen. Ich meine das alles nicht nationalistisch, aber gerade weil die Konstellationen, die die mytholgischen Gestalten repräsentieren, in ihrem Wesen allgemeinmenschlich sind und alle Grundmuster menschlichen Verhaltens in sich bergen, hatten sie diese internationale und diachronische Ausstrahlung.”
Warum er immer einen Bogen um zwei zentrale antike Figuren mache, fragte ich ihn, Ödipus und Klytämnestra treten in seinen Dichtungen nie als Protagonisten auf. “Du hast recht”, antwortete Ritsos, dieses Ausgeliefert-Sein des Ödipus behagt mir nicht. Daß er, ohne es zu wissen, seinen Vater Laios erschlägt und seine Mutter Iokaste heiratet. Alles bei Ödipus ist im voraus bestimmt. Er hat keine Chance. Sogar seine Blindheit ist schicksalsgegeben. Sein Name taucht zwar in vielen meiner Gedichte auf, aber ich gab ihm nie die poetische Eigenständigkeit eines Orest, Agamemnon, Ajax oder einer Chrysothemis. Bei Klytämnestra ist es anders. Auch sie tritt in keinem Gedicht als Protagonistin auf, ist aber in allen den Atridenmythos tangierenden Gedichten anwesend. Diese Frau ist allgegenwärtig; so, wie sie jeder sehen kann – mit ihren Sorgen und befangen in einem verzweifelten Kampf.”
Ritsos erzählte, daß er eine Einladung zu einer Vortragsreihe in die USA mit Poetik-Vorlesungen abgelehnt habe. Es lohne nicht den Aufwand, meinte er.
“Außerdem”, fügte er hinzu, “ich bin nicht stolz darauf, ein ‘Künstler’ zu sein, sondern wäre stolz, als Wort-Arbeiter zu gelten, als Be-Arbeiter des Logos.”
13.10.1984, Athen | Mit Hans und Barbara auf der Akropolis, einer belagerten Hohen Burg; schon Trümmerhaufen oder erst im Evakuierungszustand? Man wartet vergeblich auf Momente, in denen sich “ehrfürchtiges Erschauern” einstellt. Anschließend mit den beiden Ritsos besucht. Hans sprach von der entblößenden Helligkeit des griechischen Lichts. “Das ist richtig”, erwiderte Ritsos, “und für die spezifischen – klimatischen und landschaftlichen – Bedingungen, unter denen in Griechenland Kunst entsteht, ist das sehr wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, daß immer nur aus Antinomien heraus große Kunstwerke entstehen. Aus dieser lichtüberfluteten Mittelmeerlandschaft mit ihrer stechenden Helle erwuchs die psychologisch düstre Welt der Tragödie. Die Griechen haben eine impulsive, widersprüchliche Mentalität. Um diese zu kompensieren, wenigstens ein geistiges Gleichgewicht herzustellen, entwickelten sie in der Antike das vernunftgemäße Denken (orthos logos): Ein Offenlegen der Abgründe des menschlichen Geistes durch das überall eindringende und das alles durchdringende griechische Licht, ein oft gelungener Versuch, die Gegensätze auszugleichen, ein immer tieferes Erfassen der sich offenbarenden Antinomien. Auch die Liebe basiert auf diesem Prinzip, das Platon als erster beschrieb: Nicht von Anfang an existiert, sondern nach einer Reihe von Berührungen und geschlechtlichen Vereinigungen, am Ende einer Kette von Liebesbeziehungen, entsteht Diotima als Inkarnation der liebens-würdigen Frau. Bei Shakespeare finden wir dasselbe: Julia ist nicht die erste Liebesbeziehung von Romeo, sondern steht am Schluß vieler Liebschaften.”
Und auf seine eigene Beziehung zu Licht und Dunkelheit befragt: “Ich selbst bin so: brauche Licht, viel Licht überall, und auch beim Lieben. Ich bin ein Mensch des Sehens, nicht so sehr des Hörens. Darum liebe ich offene Fenster. Dunkelheit oder Halbdunkel mag ich nicht. Mein Gehör ist eigentlich nur für eins wirklich geschult: für Musik …”
Zum Abschied gab uns Ritsos den Rat, unbedingt Delfi zu besuchen. Dann verstünden wir seine Worte besser.
15.10.1984, Athen | Heute von Delfi nach Athen zurückgekehrt. Ich erzählte Ritsos am Telefon, daß wir dort spontan beschlossen hätten, ein Buch über den antiken Ort Delfi zu machen. Ritsos‘ Antwort: “Wenn ihr nach Mykene fahrt, beschließt ihr, über Mykene ein Buch zu schreiben, und das gleiche wird euch auf Kreta und an jedem Ort in Griechenland widerfahren.”
26.10.1984, Athen | Die Zeichnungen, die uns Ritsos heute für unsere Ausgabe gab, entstanden zu verschiedenen Zeiten. Die meisten aber während eines Krankenhausaufenthaltes 1975. Wir schilderten ihm unsere letzten Eindrücke von Griechenland. Sprachen auch über die antiken Überbleibsel in der griechischen Landschaft. Hans schwärmte von Delfi, von Delfi im Abendlicht, dieser einzigartigen Symbiose von Bauwerk, Landschaft und Licht. Daraufhin Ritsos: “Ich bin ein absolut visueller Mensch. Man kann sicher viele archäologische, historische und soziologische Bücher lesen, aber entscheidend ist, eine kleine Säule in einer bestimmten – ihr zugehörigen – Landschaft zu sehen. Was natürlich die Sensibilität des Betrachters voraussetzt.”
1.4.1985, Athen | Arbeit in Ritsos’ Archiv. Während ich einige seiner unveröffentlichten Manuskripte durchlas, kam plötzlich Frau Miranda in die Wohnung und brachte für Ritsos einen Teller mit Klößchen aus Reis und Hackfleisch. Er lud mich so beharrlich zum Essen ein, daß ich meine Ablehnung nicht aufrechterhalten konnte …
“Ich bin gebeten worden”, erzählte er kauend, “René Char ein Gedicht zu widmen. Ich habe aus diesem Anlaß wieder Gedichte von ihm gelesen, die mir sehr gefallen. Aber weißt du, was mir dabei auffiel? Daß ich einen bedeutenderen Dichter als Char kenne. Weißt du, wen ich meine?” – “Ich glaube schon.” – “Natürlich kennst Du ihn”, erwiderte er lächelnd. “Jannis Ritsos.”
Dann: “Das Mysterium besteht in der Nacktheit”. Er kenne wirklich nichts Geheimnisvolleres. Und auch nichts Unerschöpflicheres.
17.4.1985, Griechenland | Ich wollte seine Meinung zu den aktuellen Diskussionen wissen, die über sein Werk insgesamt und seine Romane insbesondere geführt werden. Zur Kritik einiger jüngerer Kollegen. “Die jungen Leute hassen mich, und das verstehe ich auch. Sie werfen mir vor, ich hätte in meiner Dichtung keine Idee ausgelassen, keinen Gegenstand, keine Form. Aber sie haben unrecht, denn ich glaube, daß es noch so viel gibt. Das Schreiben ist außerdem nicht nur eine Sache von Talent, auch nicht nur von Arbeit. Sondern es spielt auch eine Rolle, ob dein Leben verbunden ist oder in Beziehung steht mit dem allgemeinen Leben der Gesellschaft. Wenn also was passiert um dich herum, und du bist ein introvertierter Typ und lebst in deiner Stube vor dich hin, dann kriegst du das alles nicht mit. Diese soziale Beziehung ist also sehr wichtig.
In der für mich ruhigen Zeit der 50er und 60er Jahre erreichte ich eine ausgewogene Poetik, einen stabilen Stil. Doch hätte ich “Chrysothemis”, “Graganda” oder gar “Milos geschleift” geschrieben, wenn nicht die Junta gekommen wäre? Sicher nicht. Oder nimm den “Sondeur” – einen der wichtigsten Texte der letzten fünfzehn Jahre. Hätte ich die “Viertel der Welt” geschrieben, wenn nicht der Bürgerkrieg gekommen wäre, wenn ich nicht Makronissos, Agios Efstratios, Kondopuli auf Limnos kennengelernt hätte? Sicher nicht. Ich hatte dieses Gedicht während der Besatzungszeit begonnen, ahnte, was ich machen wollte. Aber ich hätte es niemals zuende gebracht, ohne diese konkreten Erlebnisse.”
28.8.1985, Vrachati | Ritsos auf Samos angerufen. Er sagte, er befände sich in einem Zustand von Entrückung. Er habe in 19 Tagen einen Roman und in weiteren 15 einen zweiten geschrieben. Er schlafe kaum, könne fast nichts essen, arbeite ununterbrochen, zwanzig Stunden am Tag. “Roman” – natürlich, was er darunter versteht.
21.11.1985, Berlin-Pankow | Nocheinmal den “Ariost”-Roman gelesen, der 1942 den meiner Meinung nach zutreffenderen Titel “Übungen in Ehrlichkeit” hatte. Ich mußte an Monsieur Teste denken: “Ich hatte mir eine innere Insel geschaffen, die auszukundschaften und zu befestigen ich meine Zeit verlor …”
“Kleine Einzelheiten, unnütz, ohne jedes Zentrum” – diese Zeile aus dem Gedicht “Das Begräbnis von Orgaz” könnte als Motto dem Buch “Ariost der Vorsichtige berichtet Augenblicke seines Lebens und seines Schlafes” von Jannis Ritsos vorangestellt werden. Beide entstanden zur gleichen Zeit, im Oktober 1942, wobei der aus 49 kurzen Kapiteln bestehende “Ariost” die erste Prosa-Arbeit des Lyrikers Ritsos war.
Der Verfasser des Buches berichtet im ersten Kapitel, er habe sich selbst den Namen Ariost zugelegt, wann und warum wisse er nicht mehr, aber der Name gefalle ihm jetzt, weil er durch eine einfache Buchstabenverschiebung zum Aorist, zum Unsichtbaren werden kann; das Versteckspiel, der Ernst des Lebens, kann beginnen. Der Leser ahnt kaum etwas von der permanenten Bedrohung – so sehr ist alles hinter einem Schmunzeln verborgen.
“Ariost der Vorsichtige”, der Mensch, der sich beobachtet fühlt, obwohl er unbeobachtet ist und eigentlich doch beobachtet wird, versucht durch Ironie, gleichsam lachend, seine Neurosen und Komplexe zu bewältigen. Seine Sucht nach Sauberkeit, moralischer wie körperlicher, läßt den Verdacht aufkommen, er müsse sich wehren gegen die jenseits von ihm okkupierte Wirklichkeit; die wurde allerdings in der Enstehungszeit des Buches von deutschem Faschismus, Hunger, Kälte und Tuberkulose bestimmt.
Doch davon selten ein Wort. In diesem Buch, dessen Kapitel wie aneinandergereihte lyrische Fotos wirken, wird die den Dichter durchströmende Wirklichkeit surrealistisch seziert in verschiedene Augenblicke des Lebens und des Schlafes, die stets von Träumen, Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten durchzogen sind. Und gerade darüber berichtet “Ariost der Vorsichtige” und offenbart dem Leser die Struktur seiner Psyche: ein scheinbar unnützer, sinnloser und kleiner Akt des Widerstands: Seht her, ich bin verrückt! Man schaut hin, und das Lachen bleibt einem im Halse stecken.
Und immer wieder: “Kleine Einzelheiten, unnütz, ohne jedes Zentrum” – Menschen, die ihr Tagwerk verrichten, nach Hause gehn, einsam sind. Handbewegungen, kurze, abgehackte Sätze. Menschen, die nichts Genaues wissen, wissen wollen, Vorsicht walten lassen, gegenüber sich selbst, der sie umgebenden Welt, den andern. Eine Atmosphäre, in der die Wirklichkeit und die andre Wirklichkeit des Traums, auch des Tagtraums, besonders diese, ineinander greifen, sich verdichten zu poetischen Bildern.
Die Konzentration auf die “kleinen Einzelheiten” ist gewaltig; ihr entspringt, scheinbar unwillkürlich, so etwas wie eine automatische Schreibweise – doch wird der Bilder-Strom aus dem Unterbewußtsein noch reguliert, denn die ungeteilte Aufmerksamkeit gilt den sinnlichen Gegenständen, die gerade im Blick sind, alles andre wäre zu gefährlich; und mit den konkreten Dingen hat man schon genug zu kämpfen. Ariost legt Zeugnis ab von diesem Kampf, von diesem Festhalten – von diesem Seiltanz über den Abgrund.
Juni 1986, Berlin-Pankow | Das ähnelt sich sehr: Pasolinis Foto-Essay “Vergilbte Ikonographie” und Ritsos’ Romanfolge “Ikonostasion anonymer Heiliger”. Nicht nur die Verwandtschaft im Namen, sondern auch die ästhetische. Und die inhaltliche zu Peter Weiss: “Wer aber, fragte ich, vermittelt die Geduld, mit der die meisten hier leben, da es doch grade zum Wesen dieser Geduldigen gehört, alles, was den eignen Zustand betrifft, als der Mitteilung für nicht wert zu erachten …”
Nicht mehr der esoterische Raum, jene “innere Isel”, eines Ariost, nicht mehr die öffentliche Verwandlung, das Hineinschlüpfen – vor den Augen aller – in eine fremde Haut, keine Indizien mehr, die der “Autor” seinem irregeleiteten Fotografen “schier mit Sinn” und wie zufällig hinterläßt, eine farbige Feder etwa oder ein Stück Zeitung, “die über Lodovico Ariosto, den diplomatischen Agenten des Kardinals Ippolito d’Este” schrieb; nichts von alledem im 1983 geschriebenen Prosaband “Was für seltsame Dinge. Roman?”
Hier flaniert der Ich-Erzähler nicht mehr durch die geistigen Passagen Ariosts, sondern bewegt sich im sozialen und historischen Umfeld seiner Biografie, ohne fremden Namen; er heißt Ion. Durch die tagebuchartige Struktur des Schreibens schrumpft die Distanz zwischen ihm und Ion auf einen hauchdünnen Unterschied zusammen: Ion ist nur das veräußerlichte Medium des Dichters. Der “Roman?” der ebenso zufälligen wie notwendigen Tagebuch-Aufzeichnungen, der Reflektion, dahinter sich der neue Ariost, der bei weitem unvorsichtigere, verbergen kann.
Unwillkürlich assoziert man den von Platon verspotteten “Rhapsoden” Ion, den, wie ihn der Philosoph verächtlich nennt, “Sprecher der Sprecher”. Und darum geht es allemal: Wie die Sprachlosen durch den Dichter ihre eigne Sprache finden, wie der Dichter zum Chronisten wird für das alltägliche unheroisch-heroische Leben der andern: “Würde Lefteris Gedichte schreiben und die Technik des Schreibens beherrschen, könnte er Rimbaud und Lautreamont in seine kleine Westentasche stecken”. Denn die Wunden der Geduldigen, der anonymen Heiligen, klaffen weit auseinander; gleich dem von Pfeilen aufgerissnen, aber entrückten Blickes, nichtleidend-leidenden Heiligen Sebastian auf dem Bild von Jannis Zaruchis, das in Ritsos’ Wohnung hängt. Aber Lefteris kann nicht schreiben.
Die ehemals kleinen, unbedeutenden Gegenstände erhalten eine neue Gewichtigkeit, ein “Zentrum”. Ebenso die Vielzahl der Bilder, Erinnerungen, Gespräche, philosophischen und ästhetischen Exkurse, eingeschobenen Zitate und Gedichte. Ein Experimentierfeld des poetischen Bewußtseins. Eine surrealistische Verarbeitung der Kindheit, ein assoziativ-anarchisches Sich-Ausleben, in einer bedingungslos erfahrenen Welt. Eine offene Konzeption, die sich aus der Notwendigkeit des “uneingeschränkten Sprechens” ergibt. Bislang noch nicht Aussprechbares, so die Alpträume eines Freundes auf Makronissos, in denen er eine von den Engländern erhängte Partisanin am Galgen vergewaltigt, kann artikuliert werden, das einst aus politischen und moralischen Gründen Verdrängte strömt heraus, es gleicht einer Befreiung – dieser rhapsodische Fluß.
Nicht zufällig also dieser augenzwinkernde Ion, der sich bei Platon allein der homerischen Tradition verpflichtet fühlt, nicht zufällig die Form dieser Gedichte in Prosa, auch hier Übungen in Ehrlichkeit.
18.8.1986, Karlovassi, mittags | Ritsos erzählte gestern: “Als die Zeitschrift ‘Nea Grammata’ 1936 einige Gedichte von mir veröffentlichte, wußten die Redakteure nicht, daß sie von mir sind. Da mich dieser Kreis, zu dem auch Katsimbalis, Karandonis und Seferis gehörten, ständig bekämpfte und boykottierte, wollte ich wissen, ob die Gründe hierfür mehr künstlerischer oder eher weltanschaulicher Natur waren. Ich schickte also der Zeitschrift einige Gedichte unter dem Pseudonym Kostas Eleftheriou. Die Redaktion war begeistert und druckte sofort meine Texte ab. Als bekannt wurde, daß sie von Ritsos stammen, waren sie dort außer sich.”
Nachmittags | Die beiden Hauptgestalten seiner neun Kurzromane Ariost und Ion seien zwei Seiten einer Medaille. Schließlich gäbe es ein Zusammentreffen der beiden im letzten, dem neunten Roman, wo sich Ariost weigere, heiliggesprochen zu werden. Diese Weigerung bedeute seine Heilung. Ariost ist der nach Innen gewandte, während Ion eher eine äußere Beziehung zur Welt habe. Nach einer diesbezüglichen Frage meinte Ritsos, daß natürlich gewisse Beziehungen zum Ion von Euripides bestünden. Genauso habe er einige Anspielungen auf philosophische Exkurse von Platos Ion gemacht. Dieser Name habe jedoch am meisten mit ihm selbst zu tun: Ioannis Ritsos: Ion. Eine andere wichtige Roman-Gestalt, Petros, habe er als das reine kommunistische Prinzip aufgebaut.
Als ich ihn fragte, wie er Anfang der achtziger Jahre darauf gekommen sei, Romane zu schreiben, erzählte Ritsos: Er hatte einen wunderbaren Traum, den er unbedingt aufschreiben wollte, der aber keine lyrische Form zuließ. So mußte er eine andere Form wählen: Prosa. Als er zu schreiben begann, konnte er nicht mehr aufhören. Er schrieb wie in einer Zwischenwelt. Nach dem fünften Band wurde ihm klar, daß er neun Romane schreiben müsse. “Je älter ich werde, desto mehr beschäftigt mich, woher ich komme, die Erinnerung an meine Kindheit und an die Träume meiner Kindheit. Im ‘Ungeheuren Meisterwerk’ sind übrigens die meisten autobiographischen Angaben enthalten, die ich je in einem meiner Werke mitteilte.”
Nachts. Im Hotel mit Blick aufs dunkle Meer | Allgemein zu den Romanen: “Einen solchen Ton in der Prosa gibt es in der Weltliteratur bis heute nicht. Ich sage das, weil ich weder im französichen Nouveau Roman, noch in verschiedenen Anti-Romanen, die ich gelesen habe, noch im amerikanischen Romanschaffen eines Updike, Kerouac, Baldwin usw. solch eine dichte Sprache entdecken konnte. In meinen Romanen kann jede Seite, jedes Kapitel auch als eigenständiges Gedicht gelesen werden. Ich meine das im übertragenen Sinn. Alle Figuren wie Petros, Kiparissis, die Tante Alexandra usw. haben ihre eigene Gewichtigkeit und sind keiner Hauptfigur oder irgendeiner Handlung untergeordnet.”
Gestern und heute mit Ritsos lange über Surrealismus gesprochen. Diese Richtung, sagte er, habe vielen Schriftstellern viele Türen geöffnet und besonders jenen geholfen, die sich seine Technik nutzbar machen konnten, aber dabei eins der wichtigsten Elemente des menschlichen Daseins, die Logik – entgegen dem surrealistischen Kanon – nicht ausklammerten, sondern als Denk-Möglichkeit akzeptierten. Denn die Dichtung sei eine komplexe Angelegenheit, und man könne nicht einen wichtigen Teil dieser Komplexität, nämlich die Logik, eliminieren. Zudem stelle sich das für ihn auch anders dar: Durch die strenge Ausklammerung von Logik entstünde eine noch strengere Logik, die ihrerseits jede Nichtlogik ausschließe.
Irgendwie so kamen wir auf die Neue Musik: “Experimente”, sagte Ritsos, “sind immer gut, weil sie die Technik der Kunst vorantreiben. Aber was von dieser Neuen Musik wirklich Bestand haben wird, weiß man nicht. Mir gefällt das alles nicht besonders. Natürlich, einzelne Werke liebe ich sehr, beispielsweise ein, zwei von Stockhausen … Aber allgemein würde ich sagen, eine Musik, die gänzlich der Berechnung von Computern oder anderen Zufallsfaktoren überlassen ist, ist für mich kein künstlerischer Ausdruck, weil sie eines der wichtigsten Elemente des menschlichen Daseins, das Gefühl, ausklammert und programmatisch ausklammern will.” Bach sei für ihn der höchste Ausdruck der Ausgewogenheit. Überhaupt seien Bach, Picasso und Ritsos darum die drei größten Künstler aller Zeiten, weil sie diese Ausgewogenheit zwischen Gefühl und Denken in ihren Werken erreichten. Er lachte.
Gestern schon: “Fortschritt in der Kunst” bedeute seiner Meinung nach niemals Bruch mit der Tradition. Große Werke entstehen nur, wenn der Künstler die Tradition ausgezeichnet kennt. “Fortschritt ist die Fortführung und Fortsetzung, keine Nachahmung oder Wiederholung, dessen, was bereits existiert. Unsere eigene Generaton der dreißiger Jahre hat doch genau das gemacht. Und zwar in einer Situation, da es schien, daß gar keine neuen Ausdrucksmöglichkeiten möglich wären. Da ‘herrschten’ Kavafis, Sikelianos, Varnalis, Palamas. Und trotzdem erreichten viele von uns eine erstaunliche und eine erstaunlich neue poetische Qualität.”
Ina fragte ihn heute, ob er jemals das Gefühl hatte, nicht mehr schreiben zu können. Seine Antwort: Nein. Niemals. Inas zweite Frage: Ob ihm schon mal vorgeworfen wurde, daß seine Gedichte zu schwierig wären und nicht verstanden werden könnten. Seine Antwort: Ja, schon oft, aber er hatte niemals Probleme damit, weil er genau wußte, daß alle seine Gedichte “verstehen” würden. Dieser Vorwurf sei vor allem von Links gekommen. Aber in letzter Instanz haben solche Leute wie er und Theodorakis die linke Kultur in Griechenland gerettet und das, “weil wir, zumindest in Kunstdingen, niemals dogmatisch waren”.
Ob es ihn sehr gestört habe, wollte ich wissen, daß ihm niemals, obwohl er oft vorgeschlagen worden sei, u.a. von Aragon und Sartre, der Literaturnobelpreis verliehen wurde. “Den Literaturnobelpreis möchte ich nur aus einem Grund bekommen: um ihn abzulehnen. So habe ich zwar den Poesie-Preis von Knooke-le-Zoot verliehen bekommen, bin aber niemals hingereist, um ihn in Empfang zu nehmen, weil er durch die belgische Königin verliehen wird. So habe ich weder Urkunde noch Geld bis zum heutigen Tag. Übrigens haben mir bestimmte Erklärungen von Neruda nach seiner Literatur-Nobelpreis-Verleihung nicht gefallen. So hat er beispielweise erklärt: ‘Endlich ist das Wunder geschehen, und ich habe den Nobelpreis bekommen.’ Er ist nämlich vierzehn Mal – ich elf Mal – vorgeschlagen worden. Als hätte ein Neruda den Nobelpreis nötig! Das hat mir nicht gefallen.”
Ich lenkte das Gespräch wieder auf die Beziehung zwischen Künstlern. Ritsos: “Die großen Dichter haben niemals das Problem, frei nach ihrem Gewissen zu loben und ihre Meinung zu sagen. So hat mich Palamas 1938 gelobt. Und der Literaten-Kreis der Zeitschrift ‘Nea Grammata’ schäumte vor Wut, als Palamas sein Gedicht auf mich verfaßte. Und einige Autoren von ‘Nea Grammata’ wandten sich gegen ihn. Aber auch Kazantzakis und Sikelianos schickten mir ihre Bücher und Widmungen. Und natürlich: Das, was Aragon für mich getan und wie er über mich geschrieben hat, ist phantastisch. Er hat mich in Frankreich erst bekannt gemacht. Aber er verhalf auch anderen Autoren, Hikmet zum Beispiel, zu Ansehen und setzte sich für sie ein. Unter großen und bedeutenden Dichtern ist das üblich. Nur die kleinmütigen und mittelmäßigen Dichter sind sich untereinander feind und neiden einander alles. Die großen nämlich wissen sehr gut, daß der dichterische Ausdruck so unendlich ist, daß hundert weitere neben ihnen Platz haben und sie trotzdem nicht eingeengt werden.”
Er schwärmte von Oshimas Film “Im Reich der Sinne”. Dieser Streifen sei ein einziges Gedicht. Er habe ihn sehr beeindruckt. Ritsos erzählte ganze Szenen daraus.
Heute. Abends: Wir – Ina, Falitsa, Ritsos, Fereidun – fuhren gegen 21 Uhr zur Kirche des Heiligen Nikolaos. Bis zum Horizont das Meer, in dem sich die untergehende Sonne spiegelte. Wir zündeten Kerzen für die Seefahrer an, die der Heilige auf ihren Reisen beschützt. Ritsos zitierte mit singender Stimme aus dem “Lacrimae rerum” von Lambros Porfiras und der “Alten Violine” von Ioannis Polemis. “Im ‘Ungeheuren Meisterwerk’ spreche ich mit Ironie über die ‘Alte Violine’ von Polemis, der kein so bedeutender Dichter war, obwohl ihn damals alle bewunderten. Während das ‘Lacrimae rerum’ von Porfiras tatsächlich ein großes Gedicht ist.”
19.8.1986, Karlovassi | Er liest gerade die Novellen von Kleist, die ihm aber zu überladen mit Tragik sind und ihm nicht gefallen (Erdbeben von Chili, Marquise von O). “Mich interessiert der traditionelle Roman, der eine Handlung verfolgt oder auf ‘Helden’ setzt, eigentlich gar nicht mehr. In meiner Prosa wechseln ständig die Personen, und alle werden so behandelt, als seien sie Hauptfiguren.”
Max Frisch habe als erster über die Schlüssel in seiner Dichtung geschrieben. “Und sie sind tatsächlich einer der wichtigsten Topoi in meiner Dichtung.”
Wir fahren jeden Tag mit Ritsos baden. Falitsa fährt uns mit dem Auto zum Strand und holt uns nach einer Stunde wieder ab. Ritsos schwimmt eine Weile, dann raucht er mehrere Zigaretten. Die Leute versuchen, in Kontakt mit ihm zu kommen. Touristen aus Athen baten ihn, ihre elfjährige Tochter mit ihm fotografieren zu dürfen. Ritsos setzte einen Strohhut auf, legte sich ein Badetuch um die Schultern, zündete sich eine neue Zigarette an und stellte sich zum Fotografieren neben das Mädchen.
20.8.1986, Karlovassi | Nach Fragen von mir zu seiner Biografie gab Ritsos gestern folgende Antworten: “Als Kalligraph habe ich in einem Anwaltsbüro gearbeitet, gleich nach meiner Ankunft in Athen Ende der zwanziger Jahre. Ein Jahr lang. Dann erkrankte ich und mußte ins Krankenhaus und anschließend ins Tbc-Asyl ‘Sotiria’. Von 1934 bis 1944 und dann wieder nach 1952 habe ich als Korrektor und Lektor beim Govosti-Verlag gearbeitet. Ich habe sämtliche Dostojewski-Werke lektoriert, so ‘Schuld und Sühne’, ‘Die Karamassows’, den ‘Idioten’ oder Romain Rollands ‘Jean Christoph’, aber auch viele Werke von Stendhal, Lew Tolstoi und Alexej Tolstoi, zum Beispiel ‘Der Leidensweg’. Ich nahm mir die verschiedenen Übersetzungen vor und ging sie zusammen mit einem ehemaligen Russen, der viele Sprachen beherrschte, durch.”
Nachts | Heute Mittag ein langes Gespräch zwischen Ritsos und Ina über’s Gedichteschreiben. Anlaß: ein Gedicht von Ina. Ein Vers mußte heraus. Ritsos erzählte: “1945/46 leitete ich einen Bildungskurs bei der EPON. Zu den Teilnehmern gehörten u.a. Livaditis und Argiriou. Ich behandelte ästhetische Probleme, beschäftigte mich aber auch mit Poetologie. So mußten alle ihre Gedichte vortragen und untereinander kritisieren. Dann analysierte ich die Kritiken und sprach auch über Poesie. Oder ich las ihnen Übersetzungen von Gedichten Aragons, Eluards, Lautreamonts und anderen vor und ließ sie darüber sprechen. Sie sollten auf diese Weise herausfinden, was das Eigentliche in der Dichtung ist: nämlich die Genauigkeit des Ausdrucks. Ich erklärte ihnen, daß es Schönes und Schlechtes in der Dichtung nicht gibt. Es gibt Notwendiges und Überflüssiges. Entweder es gibt Verse, die dem Gedicht helfen, ein Gedicht zu sein, oder sie müssen gestrichen werden. So schön ein Vers auch sein mag, wenn er nicht notwendig ist, muß er gestrichen werden.”
21.8.1986, Karlovassi auf Samos, morgens | Sprach gestern mit Ritsos über Computer und die fortschreitende Technisierung der Welt. Er: “Die Welt ist so schnellebig geworden, die Bilder wechseln einander so rasch ab, eine Stunde jagt die andere, ein Tag den anderen. Die große Gefahr besteht heute darin, daß keine großen Kunstwerke mehr geschaffen werden, die dieser modernen Geschwindigkeit eine neue Langsamkeit entgegenstellen, der Langsamkeit eine neue Gewichtigkeit geben. Denn die Kunst gibt dem Augenblick ein solches Gewicht, das wieder eine Verwirklichung des Menschen, der ja nur im Augenblick lebt und nicht in der Unendlichkeit, möglich macht.”
Heute ein ausgelassener, fratzenziehender Ritsos, ein Ritsos, der Unfug macht und sich vor Lachen nicht halten kann. Der vom Tod spricht, wie von einem alten bekannten Gefährten, aber immerhin.
Ich fragte ihn zur Begebenheit aus dem “Ungeheuren Meisterwerk” (“damals übertrug ich die Chorpartien aus der Antigone des Sophokles ins volkstümliche Hochgriechisch”). “Unser Gymnasialdirektor war ein fanatischer Anhänger des antikisierenden Neugriechisch (Katharevussa). Als ich die Chorstücke der ‘Antigone’ aus dem Altgriechischen in die Umgangssprache (Dimotiki) übersetzte, wurde ich von ihm hart bestraft. Und ich hatte sogar eine Rede über meine Übersetzung gehalten.”
“Mit 4 Jahren ging ich in die Schule, mit 12 ins Gymnasium. Damals gab es keine Altersbegrenzung. Mit 16 beendete ich das Gymnasium.”
Gestern abend: Über Beziehung von Kunst und Politik, von Künstler und bürokratischer Machtstruktur. Er präzisierte auch etwas, scheint mir, eine alte Antwort zur Chance der Jugend. Während er damals, vor vier Jahren, die Antwort auf eine subjektive Ebene, des individuellen Kampfes gegen den Tod, stellte, antwortet er jetzt konkreter: “In den Augenblicken, wo es diese Widerstände und Widersprüche gibt, die du mir jetzt genannt hast (Unfreiheit und Machtmißbrauch in den sozialistischen Ländern usw.), bedeutet Kunst die Überwindung genau dieser Widerstände. Zusammen mit den täglichen Erfahrungen, dem Reisen, Musikhören, Bildersehen usw. hat man so viel zu geben, so viel zu schaffen, zu erleben.”
Er regte sich auf (Falitsa versuchte zu schlichten) – über meine desillusionierte Sicht auf die Verhältnisse in der DDR. Er war rigoros: “Du hast kein Recht auf Pessimissmus. Der künstlerisch Tätige hat die verdammte Pflicht, sich mit der praktischen Ausübung und dem Mechanismus der Machtausübung auseinanderzusetzen und diese zu begreifen. Erst wenn man diese Dialektik richtig erfaßt hat, kann man bestimmte Phänomene verstehen, die sonst nur moralisch und idealistisch gedeutet werden können. Alle progressiven Kräfte unseres Jahrhunderts haben sich als Machtstruktur und Parteiapparat in Momenten der äußeren Bedrängung konstituiert. Zum Beispiel die EAM-Führer der verschiedenen Stadtbezirke in Athen vor den Dezemberereignissen oder später in Nordgriechenland. Das waren gute und kluge Köpfe während der Kriegshandlungen, hatten eine ausgezeichnete Partisanentaktik bewiesen. Dann, in den ruhigen Zeiten, bekamen sie natürlich andere Aufgaben, denen sie möglicherweise intellektuell nicht gewachsen waren. Sie waren ja einfache Bauern, Fischer usw., zum größten Teil ungebildet, einige sogar Analphabeten.
Das zweite sind die Künstler selbst, die auf bestimmte Ereignisse ganz bestimmt reagieren. Du kennst vielleicht die Schrift von Gorki gegen die Bolschewiki und gegen Lenin gleich nach der Revolution. Lenin riet Gorki daraufhin, nach Italien zu reisen, um sich ein distanziertes Bild von der Revolution zu machen. Als er wieder zurückkehrte, holte ihn Lenin persönlich vom Flughafen ab. Solche Reaktionen von Künstlern gibt es viele.
Drittens ist natürlich die Machtstruktur an sich das Wichtigste: die konkrete Machtstruktur zum Beispiel in den sozialistischen Ländern hat sich in einem ganz bestimmten historischen Moment nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Diese Struktur, die allerdings fast unverändert weiterbesteht, ist längst von der Entwicklung überholt worden, wahrscheinlich bereits zwei, drei Jahre nach ihrer Konstituierung. Es gibt die starke Tendenz zur Verfestigung, so daß man neuen Situationen nicht mehr gewachsen ist. Und es ist bezeichnend, daß genau dieselben Fehler ständig reproduziert werden, genau weil das mit der Natur der Sache an sich zu tun hat.
Das muß man begreifen, und versuchen, aus der Partei heraus sein ganzes Wissen einzubringen und zur Veränderung beizutragen. Man darf allerdings niemals sein Wissen über das der anderen stellen, niemals einer Arroganz verfallen. Zum andern muß man das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt haben, wann man etwas durchsetzen kann und wann es sinnlos ist, es zu versuchen. Natürlich ist das Ganze, was in der Sowjetunion z.B. mit Pasternak und Achmatowa passierte, verbrecherisch. Das ist klar. Ich sage nicht, das es notwendig, sondern daß es unter den gegeben Umständen unumgänglich war.”
23.8.1986, Patmos | Vorgestern mit Ritsos und Fereidun die letzten beiden Stunden unseres Samos-Aufenthaltes zusammen verbracht. Ich fragte Ritsos, ob er am Anfang eines Gedichts oder Romankapitels den Schluß desselben bereits wisse. “Nein, niemals. Ich fange an und lasse mich treiben von der erschaffenden Kraft der schreibenden Feder. Ich arbeite sehr assoziativ. Meine Technik läßt sich mit der moderner Filmemacher vergleichen. Als ich vor kurzem die Schriften von Sergej Eisenstein las, beeindruckte mich, wie fortschrittlich und aktuell seine Gedanken noch immer sind. Man kann sehr leicht viele meiner Gedichte verfilmen, sie als ein Filmszenarium ansehen. Ich habe einst auch einem Gedicht den Untertitel ‘Kleines Szenarium für einen Film’ gegeben.”
Er betonte noch einmal seine assoziative schöpferische Arbeitsweise. “Natürlich gibt es bei bestimmten Gedichten, z.B. den mytholgischen ‘Wiederholungen’, einen Unterschied, einfach weil sie einen inhaltlichen Punkt haben, auf den sie hinauslaufen und eine vorausbestimmte Handlung, auf die ich von heute aus hinlenke. Darum hat mich aber Ödipus niemals interessiert. Bei ihm ist nichts umzudeuten, alles ist von den Göttern vorausbestimmt. Ich verstehe nicht, warum er sich geblendet hat. Er konnte ja doch nichts gegen sein von anderen festgelegtes Schicksal tun. Er trug für nichts eine Verantwortung.”
Wir kamen auf Familiengeschichten zu sprechen. “Mein Onkel Nikos Ritsos, Offizier der Königlichen Marine, fiel 1912 während der Expedition zur Befreiung der Insel Chios von türkischer Okkupation. Als ich 6 oder 7 Jahre alt war fand in seiner Schule ein Programm zu Ehren meines Onkels statt, bei dem auch ich eines der zahlreichen meinem Onkel gewidmeten Gedichte zu rezitieren hatte – und das ich immer noch auswendig kann. Während der Veranstaltung saß ich neben meiner Mutter. Doch plötzlich hatte ich überhaupt keine Lust mehr, das Gedicht aufzusagen und flehte meine Mutter an, das Gedicht nicht aufsagen zu müssen. Sie flüsterte mir zu, ich solle mich zusammenreißen, ich könne sie doch jetzt nicht im Stich lassen und blamieren, er sei immerhin mein Onkel. Ich aber: ‘Nein, ich will nicht’, schon ganz weinerlich. ‘Los, steh auf jetzt’, sagte meine Mutter und zwickte mir in die Schenkel. Ich ging vor und trug schluchzend das Gedicht über den tragischen Tod meines Onkels vor. Alle waren begeistert. Sie sagten: ‘So ein kleines Kind und begreift schon das Edle der Tat seines Onkels. Und meine Mutter, mit Tränen in den Augen: ‘Erst murrst du derart herum, und dann rezitierst du so teilnahmsvoll.’ Daraufhin erwiderte ich: ‘Mutter, es war nicht wegen des Gedichts, es war, weil Sie mir so wehgetan haben’.”
Dann erzählte er, wie er in der Verbannung Ende der vierziger Jahre lernte, Kaffe zu kochen, “eine Kunst, sag ich dir!”, Knöpfe anzunähen und Tomatensalat zu machen: “Zuerst die Zwiebeln kleinschneiden, diese dann in dem Saft von den geschnittenen Tomaten mit der Gabel zerdrücken, bis sie sich vollgesaugt haben. Und die Marinade mit den Tomatenstückchen vermischen, Salz und Pfeffer hinzugeben und erst am Schluß das Öl.”
Oktober 1986, Berlin-Pankow | “Das ungeheure Meisterwerk”: Ein Mann kehrt an altbekannte Orte seiner Kindheit und Jugend zurück, um sie fotografisch festzuhalten, stellt jedoch fest, daß sich die Bilder ständig verändern. Nur Momentaufnahmen möglich. Das lyrische Gebilde zerfasert. Eine Splittersammlung, das Fotoalbum. Flanieren durch bekannte-unbekannte Orte. “Es wird zerschlagen, umgruppiert, aber nicht aufgelöst” (Adorno). Das Ziel: “Im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum entdecken” (W. Benjamin). Erfahrung, Erinnerung, Analyse, Vision, Traum vereint in einem rhapsodischen Bilderstrom, durchdrungen von einem pragmatisch-sokratischen Skeptizismus. Mit dem erweckten Anschein, mehr Objekt als Subjekt der Geschichte gewesen zu sein, wird eine Tabula-rasa-Welt vorgetäuscht, in der ein Unbeteiligter Eindrücke empfängt und sie als Chronist ordnet, verwaltet, wiedergibt.
5.11.1986, Athen | Ich befragte Ritsos zu seiner Essayistik. Warum gab er seinen Essays die Überschrift “Meletimata” (Betrachtungen)? Seine Antwort: “Voraussetzungen für ‘Dokimio’ (Essay) zu anderen Dichtern sind wissenschaftliche Arbeit, Bibliographie, Sekundärliteratur. Ich hab das alles nicht gemacht. Sondern ich stelle meine eigenen ‘Meletes’ vor, die ich aus Bescheidenheit ‘Meletimata’ nannte. Über Ehrenburg als Dichter z.B. hatte es in Griechenland noch nichts gegeben – und ich verglich ihn mit Solomos.” Warum habe er erst in den sechziger Jahren mit Essayistik begonnen?, wollte ich wissen. “Ich habe schon vor 1945 Essays geschrieben, z.B. über Kavafis und Papadiamandis, aber das alles verbrannte 1945. Ich verlor danach die Lust, wie bei der Prosa. Erst 40 Jahre später, Anfang der Achtziger, beschäftigte ich mich wieder mit dem Ariost-Roman. Der Majakowski-Essay entstand dann nach Aufforderung zur Zusammenarbeit mit der Zeitschrift ‘Probleme des Friedens und Sozialismus’. Das jedenfalls war der äußere Anstoß. In der Verbannung auf Ai Stratis hatte ich wieder Hikmet und Majakowski auf Französisch gelesen und einige Hikmet- sowie Majakowski-Gedichte übersetzt. Dort las ich auch das Buch von Elsa Triolet über Majakowski. Den Gedichtzyklus ‘Der Baum’ von Ehrenburg übersetzte ich aus dem Französischen. Beim Übersetzen kamen mir Gedanken über die Geschichte der Lyrik, die ich aufschrieb. So entstand der Essay über Ehrenburg, der mehr von Dichtung allgemein als von Ehrenburg handelt. Darin kannst du meine Gedanken zum eigenen Metier finden.
Der Besuch von Ehrenburg 1956 war übrigens der Anlaß, daß mir erstmals ein Paß gegeben wurde. Bei einem offiziellen Empfang für Ehrenburg, den Konstantin Karamanlis gab, wurde dieser vom sowjetischen Botschafter angesprochen, der ihm erklärte, daß doch die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern besser geworden seien, und daß es jetzt an der Zeit sei, daß einige griechische Künstler die Sowjetunion besuchen. Karamanlis stimmte dem zu. Daraufhin kam eine Einladung an verschiedene Leute aus Moskau. Der einzige kommunistische Künstler darunter war ich. Der damalige Außenminister Averof verweigerte mir aber den Paß, bis ihn EDA-Abgeordnete besuchten und ihn dazu bewegten, Karamanlis in dieser Sache anzurufen. Als Averof dies tat, gab Karamanlis sofort die Anweisung, mich fahren zu lassen. Zwanzig Tage später trat ich meine erste Auslandsreise an. Und zwar ging es mit dem Zug von Athen über Thessaloniki und Belgrad.
Der Majakowski-Essay war eine direkte Abrechnung mit der Shdanowschen Theorie, ohne dessen Namen zu erwähnen. Ohne in Frage stellen zu wollen, daß die Dichtung in gewisser Hinsicht eine Widerspiegelung der Realität und Historie darstellt, beschränkt sie sich doch keineswegs darauf! Sie behandelt genauso das gesamte literarische Erbe, die Ontologie und Psycholgie, den Traum und die Phantasie. Und ich vertrat immer die Meinung: Wenn man die Freiheit des Dichters einschränkt, schafft man die Dichtung ab.”
Ob er denn die Zusammenführung der Shdanowschen Theorie mit den verurteilten Katzen der Achmatowa im “Ungeheuren Meisterwerk” ironisch gemeint habe. “Natürlich ist das ironisch gemeint, aber auch so, wie ich es schon mal sagte: Ich akzeptiere das Verlangen nach einer kämpferischen, visionären, optimistischen Kunst, fühle mich aber zugleich solidarisch und stark angezogen von der Haltung der Achmatowa, die wunderschöne Gedichte geschrieben hat und ihrer wegen verurteilt wurde. Man warf ihr vor, sie verfasse Gedichte, in denen sie ihre Einsamkeit besingt, in denen sie beschreibe, wie sie auf ihren Geliebten wartet, während ‘draußen’ die Leute im Krieg umkommen. Aber das war ja gerade das Großartige, daß sie diese existenziellen Dinge tief empfand und so exzellent und präzise in poetische Bilder fassen konnte.”
Januar 1987, Berlin | Beendete spät in der Nacht die Übersetzung von Ritsos’ “Delfi”.
Du fragtest mich, Was wird aus Delfi, in besseren Zeiten?, und ich konnte dir nicht antworten, in besseren Zeiten. Ostberlin kam mir in den Sinn.
Apollo tötete Pytho, die mythische Schlange, vertrieb die Göttin Gäa, die Herrin von Delfi, errichtete auf den Trümmern des alten Heiligtums seinen Tempel, ließ durch sieben ihm treu ergebene männliche Priester die Orakel der “außer sich geratenden” Pythia, die schon vor seiner Ankunft dieses Amt bekleidete, interpretieren, sie zu “vernünftigen”, zumeist gereimten Sprüchen machen und stellte später das Dogma auf, Am Anfang der eigentlichen Geschichte stünde das Wort, der Logos, also Er selbst. Am Anfang der Welt sei das Licht gewesen und nicht die Nacht.
Und Apollos hellenische Priesterschaft, Anhänger der delischen Weltauffassung, und die homerischen Sänger, besonders aber die an seiner Ideologie interessierten Seefahrer der ägäischen Inseln, die verständlicherweise nur an Koexistenz und Handel verdienten und erfolgreich die im Raum des Schwarzen Meeres herrschende, blutrünstige Geburtsgöttin Iphigenie zu einer Dienerin der eigenen aufgeklärten, jüngfräulichen Artemis degradierten – um nur das bekannteste Beispiel anzuführen -, sie alle also zusammen, sorgten für eine rasche Verbreitung der neuen olympischen Religion.
DIE INSEL TAURIS
würden wir uns anders vorstellen – sagte er -, konkreter, nicht so abgehoben in abgeschiedene Denkregionen, nein, die Insel, durch eine Gemeinschaft von Verrückten zum Gefängnis um- und ausgebaut, ist unser runder Erdball, eine zum Kreis abgebogene Spirale, denn die schlechten Unendlichkeiten sind uns abgewöhnt worden. Die Insel also, unser Ozean, in den hinein wir geworfen werden, Goethe hätte heute umsonst versucht, das lichte Hellas zu erreichen, unendliches Taurien, in das wir geworfen sind. Hellas, in unserem heutigen Denken die unauffindbare Insel, müßte neu geschaffen werden: in uns. Und sicher, kleine Kinder statt Ferkel verspeisen wir nicht mehr, dafür lauter kleine kreisförmige Gegenstände, deren Beschaffenheit uns ein Rätsel bleibt.
Theseus, König von Athen, erschlug die ihn über alle Maßen liebende Amazonenkönigin Antiope, die ihm Hippolytos geboren hatte. Theseus, der Repräsentant der neuen olympischen Religion, Antiope, das Sinnbild der alten matriarchalischen Gesellschaft. Alle Mythologie läßt sich in Symbolik auflösen. Die Athener Baumeister hielten diese Szene auf einer Metope in Delfi fest; lächelnd und fast entrückt gibt ihr Theseus den wohl plazierten Todesstoß. Apollo, dem diese marmornen Abbildungen auf dem Fries geweiht waren, hatte sich von klein auf an solche Paradoxa gewöhnt, ja sie, durch eine höhere Macht getrieben, gesucht; vor den Augen seiner Mutter Leto, der Erdgöttin, hatte er mit einem Pfeil Pytho getötet, die chthonische Ausgeburt der Nacht und sich damit von seinem Ursprung abgenabelt. Es folgte die jahrhundertlange systematische Verdrängung dieses Ursprungs; so die Überlieferung, wonach er, der Sonnengott Apollo, unter der Erde geboren wurde; Apollo Smintheus, “Mäuse-Apollo”, ist einer seiner frühesten Titel.
Das ist alles hinlänglich bekannt. Heute, da sich das apollinische Denkprinzip durchgesetzt hat, versuchen sich die Götter und ihre Zeichen, die Statuen, vergeblich vor dem Vergessen zu retten: in den Antike-Museen laufen strenge Wärter herum und fuchteln wild mit den Armen in der Luft, sobald sie einen Touristen entdecken, der sich zusammen mit den Statuen fotografieren will; “Keine Menschen!”, schreien sie, “Halt! Nur die Statuen!”: die Götter haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Und die Menschen, begierig, sich mit ihnen, mit ein wenig marmorner Luft, auf einem Stück Papier zu verewigen – blasphemisch sogar in den Augen der orthodoxen Kirche; was man mit dem einen Glauben macht, macht man auch mit jedem anderen. Aber schon seit dem Beginn des Neuen Zeitalters hatten sich fanatische Mönche und andere christliche Gläubige am modernen Aussehen der Statuen beteiligt; abgeschlagen wurden die Nasen der weiblichen Koren, abgetrümmert die Penisse der männlichen Statuen. Gleich die Gebärden mächtig werdender Religionen.
„Sagt es dem Herrscher: zerstört ist die kunstgesegnete Stätte
Phoibos hat kein Heim mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
Nicht mehr dient ihm die Quelle, verstummt ist das murmelnde Wasser.“
Der letzte Spruch der Priesterin aus dem Jahre 363, die letzte delfische Weissagung. Keine Andeutung mehr, keine Kraft mehr zur Andeutung: “Der Herrscher, dem das Orakel in Delfi gehört, verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an”, schreibt Heraklit.
14.8.1987, Samos-Stadt | Sahen uns im Archäologischen Museum den vier Meter hohen Kuros an. Er ist der bisher größte Kuros, der je gefunden wurde. Ritsos (gestern): “Ihr müßt ihn euch unbedingt ansehen. Er hat das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa, Jahrhunderte vor ihr. Und seine Hände, ähneln denen des David von Michelangelo, oder, besser, die Hände des David ähneln denen des Kuros. Ihr müßt ihn euch unbedingt auch von hinten ansehen, sein langes Haar, das ihm in Wellen bis auf die Schultern fällt.”
10.11.1989, Athen | Gestern bei Ritsos gewesen. Er war sehr niedergeschlagen wegen der allgemeinen politischen Situation. “Was habe ich mit all dem zu tun? Welche Beziehung habe ich zu einem Ceausescu, zu einem Breshnew, zu dem greisen Honecker, zu all diesen anderen Leuten und ihren Handlungen?”, fragte er mich. “Weißt Du, was die Sowjetunion für mich war? Als ich 1956 Moskau besuchte, ging ich ins GUM-Kaufhaus und wollte eine Tschaikowski-Schallplatte kaufen. Ich glaube, die 2.Sinfonie. Die Verkäuferin holte aus dem Regal eine Platte, die keine Hülle hatte, denn es gab damals noch keine Schallplattenhüllen in der Sowjetunion. Sie wickelte mir die Schallplatte in Packpapier ein, das man genauso für Fische oder Kleidung benutzte und band eine Schnur drumherum. Das war für mich kolossal: Die Kunst in den Alltagsgebrauch überführt, ohne weiteren Schnickschnack. Das war es. Der innere unentfremdete Wert.”
“Weißt du, was ich noch entdeckt habe? Sogar die Statuen und selbst die Gedichte werden älter.”
Als ich gestern abends in Berlin-Schönefeld landete, war das Land DDR, in das ich ankam, ein anderes, als in dem Augenblick, als ich losflog: die Mauer war „gefallen“.
Oktober 1990, Eggersdorf | Ritsos geht es schlecht. Ich habe erfahren, daß Theodorakis ihn besucht hat. Mikis: “Ich folge meinem Gewissen, dem ich allein Rechenschaft ablege. Ich denke, mein Gewissen ist rein”. Und Ritsos, wie zum Abschied: “Dein Gewissen ist rein und klar und du wirst immer voranschreiten und neue Wege eröffnen. Und ich bin mir sicher, daß all jene, die dich heute wegen deiner Ideen beschimpfen, sich eines Tages bei dir entschuldigen werden.”
Ich habe auch erfahren, daß Ritsos nichts mehr zu sich nimmt, nur noch Wasser trinkt, und das auch nur, weil Falitsa darauf besteht. Die geistige Wirklichkeit war für ihn immer primäre Wirklichkeit, nun wird sie von der Realität schwer mißhandelt. Ab einem bestimmten Punkt ist selbst der Glaube ein Schwieriges. “Der Untergang einer Epoche”, wie Ritsos 1956 in der “Mondscheinsonate” schrieb. Den Untergang seiner Epoche vermochte er nicht zu ertragen.
November 1990, Eggersdorf | Vor Tagen die Nachricht. Ritsos ist “erloschen”. Er hatte wochenlang das Essen verweigert. Als ich das Telegramm in den Händen hielt, erinnerte ich mich plötzlich an eine Geschichte, die er mir vor Jahren erzählt und die ich vergessen hatte: “Alle meine Gäste, nicht nur Freunde und Verwandte, sondern auch Leute, die mich zum ersten Mal besuchen, erzählen mir ihre Sorgen und Probleme mit Beruf, Familie, Politik. Es gab nur eine Ausnahme. Vor einigen Wochen bekam ich regelmäßig Anrufe, bei denen sich aber keiner meldete, wenn ich abhob. Eines Tages klingelte es an meiner Tür. Als ich aufmachte, stand ein junges langhaariges Mädchen davor. Ich hatte kaum geöffnet, da drehte es sich um und rannte die Treppen hinunter. Es nahm nichtmal den Fahrstuhl, obwohl ich im vierten Stock wohne. Einige Tage später stand es wieder vor der Tür, mit einer Umhängetasche über der Schulter. Diesmal ging das Mädchen, ohne eine Wort zu sagen, an mir vorbei ins Wohnzimmer. Ich folgte ihm, und als ich mich auf das Sofa hinsetzte, legte es sich auf den Fußboden hin und schloß die Augen, seine Umhängetasche mit verkrampften Händen festhaltend. Beim Hinlegen waren ihm Haarsträhnen ins Gesicht gefallen, die ich wegstreichen wollte. Bei dieser fast unmerklichen Berührung sprang das Mädchen auf und rannte aus der Wohnung. Seitdem hab ich nichts mehr von ihm gehört. Es rief mich nur einmal an und sagte: ‘Ich bin das Mädchen, das Sie besucht hat. Es ist gut, daß es Sie gibt.’ Sie war also der einzige Mensch, der mich je besucht hat, von dem ich nichts weiß. Vielleicht aber weiß ich darum alles über sie. Vielleicht ist das der Punkt, in dem wir uns gleichen, der uns eint in dieser Welt.”
© Asteris Kutulas, 2009