Liquid Staging Olympiacos FC Asteris Kutulas

Liquid Staging Top Story (pma Magazin)

production manager Magazin – Sonderheft 2021 | Liquid Staging Top Story

Liebe Leserinnen und Leser,
 … In dieser Ausgabe der pma, die sich wie gewohnt ausgiebig dem Thema der Theaterwelt widmet, stellen wir Ihnen die Wirklichkeit gewordene Vision eines Liquiden Bühnenbildes, des interdisziplinären Kreativschaffenden Asteris Kutulas vor. Der einstige Weggefährte der 2012 verstorbenen Lichtgestalt Gert Hof hat das seiner Zeit gemeinsam begonnene Konzept des Liquid Staging weiterentwickelt und gibt der pma als erster Fachpublikation Einblicke in die Materie …
Ihre pma-Redaktion | Prisca Roß  & Ray Finkenberger-Lewin

Bühnenbild 4.0 Asteris Kutulas
pma Magazin – Liquid Staging Top Story

TOP-STORY Liquid Staging – Bühnenbild 4.0 (Einleitung der Redaktion)

„Das Liquide Bühnenbild ist ein alle gestalterischen Komponenten vereinigendes hybrides Medium.“ Was sich hinter dieser formelhaften Erklärung verbirgt, präsentiert Asteris Kutulas, seit vielen Jahren erfolgreich interdisziplinär und weltweit Kreativschaffender und langjähriger Weggefährte des Lichtkünstlers Gert Hof.

Wer sich mit der Thematik des Liquid Staging befassen will, kommt an Event- und Musikproduzent, Publizist, Filmemacher und Autor Asteris Kutulas nicht vorbei. Der gebürtige Grieche arbeitet seit mehr als 15 Jahren an der Entwicklung zukunftsweisender Darstellungsformen für Veranstaltungsformate.

Geprägt von den Einflüssen und Erfahrungen, die er auf seinem Wege mit der Lichtgestalt Gert Hof auf internationalen Großprojekten, Events und nicht zuletzt der langjährigen Zusammenarbeit mit dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis erlebt hat, weiß Asteris Kutulas um die technischen Möglichkeiten und das Potential des Machbaren, die er über die letzten Jahre in sein Konzept des Liquid Staging integriert hat.

Zu diesen Komponenten gehören Film, Bühne, Schauspiel, Tanz, Gaming, Musik, Sound, Licht, Design, Architektur, digitale Kunst und die virtuelle Realität.

Das „Liquide Bühnenbild“ ist ein sich ständig wandelndes und unablässig seine Rolle wechselndes „Medium“. Es ist ein von der ersten bis zur letzten Sekunde der Show, des Events durchkomponierter „Film“. Das „Liquide Bühnenbild“ bespielt nicht nur den Bühnenhintergrund, sondern auch die gesamte Bodenfläche, die Bühnenraum-Deckenfläche, die Seitenwände und, je nach Storyboard, auch den gesamten Zuschauerraum.

Das „Liquide Bühnenbild“ bezieht dabei die komplette Innenarchitektur des Theaterbaus mit ein, kann darüber hinaus, je nach Inszenierung, auch Außenfassade des Gebäudes einbeziehen.

Mit dem „Liquiden Bühnenbild“ entsteht ein hybrider – unauflösbarer Verbund filmisch-visueller und realer Handlung – Erlebnisraum, in dem sich eine neue „osmotische“ Aufführungsform mit den technisch-digitalen Möglichkeiten des 21.Jahrhunderts realisieren lässt.

Asteris Kutulas, der in wenigen Tagen den renommierten Hans-Vogt-Filmpreis, anlässlich der Hofer Filmfestspiele verliehen bekommen wird, leitet aus besagtem Anlass zur Thematik Liquid Staging eine Masterclass und erwartet wenige Tage später die Weltpremiere seines Werkes „Electra 21“, einer Liquid Staging-Installation. Kurz vor diesen Ereignissen hatten wir Gelegenheit ausgiebig mit ihm über seine Arbeit und Projekt zu sprechen. – Ray Finkenberger-Lewin

Liquid Staging by Asteris Kutulas
pma Magazin – Sonderheft 2021 | Liquid Staging Top Story (photo © by Ralph Larmann)

production manager (pma) Magazin | Liquid Staging Top Story (Interview mit Asteris Kutulas)

pma: Um das Konzept des Liquid Staging umsetzen zu können, müssen Bühnenbild und Projektion ineinandergreifen als bisweilen auch deckungsgleich funktionieren. Die Herausforderung dabei dürfte jedoch darin bestehen, diesen visuellen Eindruck von jedem Sitzplatz bzw. Standort des Zuschauers zu ermöglichen. Wie muss man das technisch verstehen?

Asteris Kutulas: Bevor ich zu der technischen Herausforderung komme: „Liquid Staging“ ist zunächst einmal ein dramaturgischer Denkansatz, eine „Methode“, mit deren Hilfe man neue Showformate entwickeln kann. Zum andern kann man Liquid Staging auch als eine Art praktischer Anleitung benutzen, als eine theoretische Blaupause, um „Bühnenbild“ in unserem hybriden Zeitalter völlig neu zu denken.

Diese Klarstellung ist wichtig, weil die Anwendung von Liquid Staging nicht zwangsläufig zu der von Ihnen genannten „Herausforderung“ führt, wie zwei völlig gegensätzliche Beispiele zeigen: Weder beim Olympiacos Stadion-Event (2020) noch beim Electra-Ballett (2018) war diese Fragestellung relevant. Im ersten Fall habe ich die Liquid-Staging-Ästhetik benutzt, um quasi drei parallellaufende „Filme“ in einem spannenden Gesamtbild für die TV-Ausstrahlung zusammenzufassen.

Liquid Staging Olympiacos FC Asteris Kutulas
Olympiacos FC Liquid Staging Event (photo © by Ralph Larmann)

Und beim Electra-Ballett verhalf mir der Liquid-Staging-Ansatz, eine visuelle Lösung für den inneren Disput zu finden, den Elektra mit sich selbst führt – ob sie ihre Mutter töten soll oder nicht – durch ein Pas de deux mit ihrer eigenen Person. Ich filmte zunächst die Tänzerin und projizierte diese Aufnahmen dann zum Zeitpunkt der Aufführung auf eine Schleiernessel-Leinwand. So konnte die Elektra-Figur dort live „mit sich selbst“ nach der festgelegten Choreografie von Renato Zanella tanzen. 

Übrigens: Die Produktion für Olympiacos FC wurde in einem riesigen Fußballstadion realisiert, aber schnell, effektiv und mit einem sehr überschaubaren Budget, das Electra-Ballett dagegen in einem kleinen Theater, fast ohne Budget.

Electra 21 Liquid Staging Asteris Kutulas
Electra Liquid Staging Ballet-Szene (photo with Tamara Alves Dornelas Souza © by Maria Hiliopoulou)

Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das Problem mit den unterschiedlichen Sichtachsen tritt immer dann auf, wenn eine Liquid-Staging-Show in einem mehr oder weniger konventionellen Theater umgesetzt werden soll. Das betraf zum Beispiel die „Traum“-Produktion für den Show-Palast München, die wir 2016/17 im Auftrag der Apassionata World GmbH produzierten. Auf der Grundlage einer Storyidee von Holger Ehlers konzipierte ich auf über 130 Seiten eine umfassende Liquid-Staging-Dramaturgie, die den Video-Content – also das „Bewegte Bühnenbild“ –, die Motion Grafik, die Choreografie, das Lichtdesign, die Soundeffekte etc. sekundengenau definierte. Wir entwickelten gemeinsam mit Thilo Ewers, Felix Haas und Sebastian Meszmann von „Pixomondo“ (Stuttgart) in mehrmonatiger Arbeit die Bildwelt für das „Liquide Bühnenbild“.

Liquid Staging Asteris Kutulas
Liquid Staging Bühnendesign von Asteris Kutulas & Pixomondo für die Apassionata World GmbH, 2016

Die Realisierung der „bewegten Bühnenbilder“ im Raum erfolgte beim Kreativlabel BLACKSPACE in München durch das Team um Jens-Oliver Gasde, Marion Grünsteidl und Marc Ziegler, die ihrerseits den Oscarpreisträger Simone de Salvatore dazuholten. 

Simone De Salvatore Liquid Staging Asteris Kutulas
Liquid Staging Bühnendesign von Simone De Salvatore/Blackspace & Asteris Kutulas für die Apassionata World GmbH, 2016

Insgesamt wurden über 4 Terabyte an Projekdaten mit filmischen Sequenzen in einer 12K-Auflösung für das „Liquide Bühnenbild“ verwendet. Das BLACKSPACE-Team arbeitete von Anfang an „im Raum“ und übertrug die zweidimensionalen Bildwelten in eine „räumliche Inszenierung“.

Um eine Simulierung dieser neuartigen Theater-Illusion zu ermöglichen, wurden u.a. auch VR-Headsets verwendet, so dass wir die Show von jedem Sitz des Theaters aus „sehen“ und kontrollieren konnten. Dadurch war es möglich, unseren Content für jeden Zuschauer perfekt abzustimmen – was einfach klingt, aber eine Meisterleistung darstellte, sowohl hinsichtlich der audiovisuellen Produktion als auch der technischen Umsetzung.

Die technische Planung lag in den Händen unseres langjährigen Partners PRG unter der Leitung von Gerd Helinski: Der Videocontent von BLACKSPACE wurde speziell für die 9 Projektionsebenen eines ca. 4.000 Quadratmeter großen „Screen-Universums“ per Video-Mapping programmiert. Um auch das von Ihnen beschriebene Problem zu lösen, mussten wir die 17 animierten Bühnenbild-Sequenzen über 62 Video-Beamer verteilen. Das Ganze war eine Pionierleistung.

Allerdings haben mich damals die technischen Details bei der Entwicklung dieser Liquid-Staging-Show nicht so sehr interessiert, einerseits weil ich rein schöpferisch als Künstler und Filmemacher funktionierte, und andererseits, weil ich mit dem PRG-Team um Gerd Helinski und dem Blackspace-Team um Jens-Oliver Gasde und Marc Ziegler Partner hatte, die von diesem neuen Show-Format so begeistert waren, dass sie mich immerzu drängten, weiterzumachen … und sie kümmerten sich um die Umsetzung und die technischen Details.

Aber Ihre Frage zielt auch auf einen anderen – für mich äußerst spannenden – Aspekt: In der Konsequenz verlangen die veränderte hybride Welt und das neue Publikum von heute und von morgen nicht nur neue Denkansätze, neue Ideen und neue Showformate, sondern tatsächlich auch eine neue Art von Location bzw. von „Theater“. Das neue „digitale Zeitalter“ verlangt also auch nach neuen Formen, nach neuen „Hüllen“. Das ist die eigentliche Herausforderung.

Liquid Staging by Asteris Kutulas
pma Magazin – Sonderheft 2021 | Liquid Staging Top Story

pma: Untrennbar mit dem visuellen Eindruck ist auch die akustische Wahrnehmung verbunden, die dabei nicht zurückstehen darf. Bei vielen klassischen Werken (wie beispielsweise „Elektra“) halten die Puristen unter den Regisseuren, Intendanten und vor allem auch unter den Zuschauern den unverstärkten Gesang für das einzig Wahre. Ist Liquid Staging somit nur etwas für das neue Zeitalter?

Asteris Kutulas: Klar, den „Puristen“ gehören die Tempel der Vergangenheit, und wir kümmern uns um die Bedürfnisse der Menschen von heute und von morgen. Spaß beiseite: Liquid Staging ist ein möglicher Denkansatz, der durch meine „Kodifizierung“ zu einem Instrument wird, das man neben allen anderen Instrumenten, die uns heute für die Konzeptionierung und Produktion von Shows und Events zur Verfügung stehen, benutzen kann.

Desweiteren kann Liquid Staging als eine Art „Gebrauchsanweisung“ verwendet werden, um neue Live-Show-Formate zu entwickeln, die allerdings in ihrer Mehrzahl – da haben Sie Recht – Musik zur Grundlage haben bzw. Musik als ein wichtiges Element beinhalten. In den meisten Fällen holen sich die meisten Shows einen Großteil ihrer Emotionalität aus der Musik bzw. dem Klangerlebnis – insofern spielt die Einheit von Visuellem und Akustischem, also z.B. die sekundengenaue Synchronität der Inszenierung eine ausschlaggebende Rolle.

Liquid Staging Showformate

Wenn Richard Wagner das Medium Film zur Verfügung gehabt hätte, dann hätte er zweifellos zur Realisierung seiner Gesamtkunstwerke die modernste Timecode-gesteuerte audiovisuelle Technologie benutzt, inklusive High Fidelity und Atmos. Insofern würde ich Ihre Frage so beantworten, dass Oper und Theater Showformate des 19. Jahrhunderts sind, also ins „Museum“ gehören, das wir allerdings hegen und pflegen sollten. Liquid Staging ist ein Instrument zur Entwicklung von Show-Formaten für die heute agierenden postmodernen Generationen, die mit Spotify, TikTok und Netflix aufwachsen.

TON & SOUND | Aber natürlich hat Liquid Staging auch auf die Kreation von Ton und Sound bedeutende Auswirkungen. Für die Umsetzung des oben beschriebenen Apassionata-Projekts im Showpalast München z.B. hatte Martin Hildebrand von PRG ein Tonsystem entwickelt, das die filmische Verräumlichung des „Bildes“ mit einer entsprechenden Verräumlichung des Klanges verband. Musik und Sound sollten dadurch „im Raum“, aus allen Richtungen kommend, wahrnehmbar sein, damit sich der Zuschauer als ein in das Klanggeschehen einbezogenes Individuum empfinden kann. Das Soundkonzept von Martin ermöglichte es in idealer Weise, Musik, Effekte, Licht, Videocontent und Szene miteinander zu verschmelzen. Das gesamte Beschallungssystem wurde durch ein spezielles Audio-Playbacksystem mit über 80 Ausspielwegen gemanagt, welches jeden der 80 im Theater-Zuschauerraum angeordneten Meyer-Sound-Lautsprecher individuell ansteuern konnte. Das System war über ein Netzwerk mit den 10 Video-Medienservern verbunden, die über Timecode synchronisiert wurden.

pma: Ein derart enormer technischer und personeller Aufwand verlangt nach entsprechend hohen Investitionen. Kann sich der geneigte Zuschauer eine Eintrittskarte zu einem derart aufwändigen Event überhaupt noch leisten?

Asteris Kutulas: Die Show „O“ von Cirque du Soleil (Las Vegas) hat ungefähr 180 Millionen gekostet und „Ka“ etwas weniger. In beiden Fällen, weil hierfür eine neue Art von „Bühne“ gebaut werden musste. Aber auch die laufenden Tour-Shows von Cirque du Soleil kosten etwa 60 Millionen. Selbst die Show-Produktion im neuen mehr!-Theater in Hamburg, in deren Story es um den Sohn von Harry Potter geht, hat laut „Spiegel“ über 45 Millionen Euro gekostet. Mit all diesen Shows wird Gewinn gemacht. Bei den von mir konzipierten Liquid Staging Produktionen sprechen wir von einem Bruchteil dieser Kosten.

Liquid Staging Bühnenräume

Ich wiederhole nochmal: Es geht bei der Anwendung von Liquid Staging nicht ums Geld, sondern um Ideen. Es geht darum, wie wir den neuen Lebens- und Sehgewohnheiten der jüngeren Generation entgegenkommen, die fast ausschließlich Bewegtbilder konsumiert, und was wir dieser Generation an neuen Showformaten für die Zukunft anbieten. Man kann „Liquid Staging“ in einem kleinen Theater oder als Outdoor-Show, auf einer Konzert-Tour, bei Ausstellungsprojekten etc. anwenden. Wenn man Liquid Staging als eine Möglichkeit sieht, Shows zu entwickeln und diese Möglichkeit mit anderen dramaturgischen Instrumenten verbindet, dann kann man zielgenau auf jedes Budget hin neue – und im besten Fall unikale – Show-Ideen entwickeln und umsetzen.

Ein Beispiel: Als ich 2010 Executive Producer bei der Family-Entertainment-Show „Apassionata“ wurde, befasste ich mich intensivst mit der Frage, wie man den „Bühnenraum“ erheblich erweitern und „spannender“ gestalten kann. Denn bei „Bühnenräumen“, wie es Arena-Locations sind, handelt es sich um nüchterne Zweckbauten für Sport- und Großveranstaltungen, wo man es zunächst mit einer sehr „kalten“ Atmosphäre zu tun hat, die völlig verändert werden muss. Zur Apassionata-Show kamen vor allem Kinder, also das härteste und gnadenloseste Publikum überhaupt, mit ihren Eltern und Großeltern – Menschen im Alter zwischen 6 und 80.

Das iPhone war 2007 auf den Markt gekommen und verbreitete sich damals rasant. Mir war klar, dass wir bald mit dieser größten Bühne des 21. Jahrhunderts, die in jede Hosentasche passte und 24 Stunden verfügbar war, konkurrieren mussten. Strategisch gesehen waren wir also gezwungen, das visuelle Erlebnis immer spannender und emotionaler zu gestalten. Gert Hof hatte sich in der Apassionata „Sehnsucht“-Show von 2008 die Arena mit einer Armada von Lichtequipment erobert – aber zu einem zu hohen Preis für diese Produktion. 

Liquid Staging Apassionata
Apassionata Show „Sehnsucht“ von Gert Hof  (photo © by Ralph Larmann)

Ich wollte es anders und Budget-gerechter machen, und so entwickelte ich mit meinen Partnern von PRG in Hamburg 2010 das Konzept der Bodenprojektion für den ganzen Arena-Boden. Es gab also nicht mehr nur die Darsteller in der Arena und einen großen Screen hinten, auf dem Filmeinspielungen zu sehen waren, sondern es gab auch Projektionen, die über das Backdrop hinausgingen und den Arena-Boden und teilweise auch Zuschauerreihen und Publikum mit einbezogen. Der zu produzierende Liquid-Staging-Film – der sekundengenau der Bühnenhandlung folgte und mit dieser interagierte – sollte live eine visuelle „Fließ-Situation“ erzeugen und der „Kälte der Halle“ optisch entgegenwirken. Es wäre zu der Zeit etwas vollkommen Neues zu einem fantastischen Preis-Leistungsverhältnis gewesen. 2019, also neun Jahre später, habe ich dieses Konzept der liquiden Arena-Bühne mit so einer Bodenprojektion sehr konsequent umgesetzt gesehen in der „Toruk“-Show von Cirque du Soleil. Das war sehr beeindruckend.

Liquid Staging by Asteris Kutulas
pma Magazin – Sonderheft 2021 | Liquid Staging Top Story

pma: Einer der Vorteile des Liquid Staging ist u.a. die freie Wahl der Veranstaltungslocation, da es die Technik ermöglicht, sich der Kulturstätte beliebig anzupassen. Ist damit zu rechnen, dass man aus wirtschaftlicher Sicht dann vorwiegend auf Venues mit hohem Zuschauerpotential setzt, um bei gestiegenen Investitionen auch den finanziellen Erfolg zu steigern?

Die Anpassungsfähigkeit einer Show durch Liquid Staging ist sicher ein sehr großer Vorteil. Ihre Feststellung führt uns jedoch zu einer für mich zentralen Frage, nämlich inwiefern die traditionellen Locations für Live-Shows mit den neuen Lebens- und Sehgewohnheiten unserer digitalen Welt noch konform gehen. Bereits Richard Wagner war mit den Guckkasten-Theaterbühnen des 19. Jahrhunderts, die zum Teil bis heute die Theater-, Konzert- und Opernwelt beherrschen, nicht mehr zufrieden und baute mit dem Bayreuther Festspielhaus eine neue revolutionäre amphitheatralische Bühne, die seinen Visionen entsprach. Ein anderes Beispiel für die Entstehung eines neuen Showformats ist das Live-Konzert aus der Rock- und Pop-Branche, das sich Mitte der 1960er Jahre entwickelte. Oder das der Festivals, das mit Woodstock 1969 entstand und eine Hervorbringung der Flower-Power-Jugendbewegung war.

Polydimensionales Totaltheater

Wir erkennen an diesen Beispielen, dass bestehende Showformate sich überleben und von neuen Formaten abgelöst werden. Wir sollten uns also die Frage stellen, wie die Showformate und auch, wie die Locations des 21. Jahrhunderts aussehen könnten. Beides hängt zusammen, und ich erinnere an Friedrich Schiller, der es auf den Punkt brachte: „Die Form verschlingt den Inhalt“. Das ist absolut so. Das Ideal wäre für mich also eine Liquid-Staging-Show in einem Totaltheater-Bau, wo es möglich sein müsste, das „eindimensionale Sehen“ des 19. Jahrhunderts durch das „polydimensionale Sehen“ unseres hybriden Zeitalters zu ersetzen. Es müsste zweitens möglich sein, sich auf der Basis der neusten technologischen Errungenschaften von den baulichen und technischen Fesseln, die heute existieren, zu befreien und uns Regisseuren, Produzenten, Kreativdirektoren, Dramaturgen und Autoren der Show- und Werbebranche neue Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen und uns absolute Freiheit für die Verwirklichung all unserer Visionen zu geben. Um es ganz banal auszudrücken: Eine Location, die mobil und modular ist und bei der ich die Rigging Points, die ich brauche, selbst festlegen kann. Diesen Traum haben wir uns dank Liquid Staging erfüllt.

Zusammen mit Alexander Strizhak aus Riga habe ich in den letzten Jahren so ein Gebäude entwickelt, dem wir den Namen „Flexodrom“ gegeben haben und das genau diese Möglichkeiten bietet. Die Notwendigkeit dafür erwuchs aus einem Projekt, das wir 2009 zusammen mit Gert Hof unter dem Namen „Metropolis“ begonnen hatten und mit dem ich mich 2013 wieder zu beschäftigen begann. Es war damals unmöglich, eine passende Location für das neuartige Liquid-Staging-Konzept zu finden, zumal ich eine Location mit drei unterschiedlichen Bühnen brauchte, auf denen drei parallellaufende Handlungsstränge spielen. Also eine Location für das räumliche Produzieren von Shows und Events.

Liquid Staging Metropolis Flexodrom Asteris Kutulas
Liquid Staging Metropolis Projekt 2022 © Asteris Kutulas/Achilleas Gatsopoulos
Liquid Staging Flexodrom Asteris Kutulas
Flexodrom Projekt 2022 © Asteris Kutulas/GRAFT

Außerdem sollte der gesamte Show-Raum aus mehreren „bewegten Bühnenbildern“ bestehen und eine Kapazität von ca. 3.000 Zuschauern haben. Zusammen mit Alexander Strizhak, Lars Krückeberg von GRAFT Architects und mit dem Grafiker und Filmemacher Achilleas Gatsopoulos haben wir mit unserem Metropolis-Projekt sowohl künstlerisch als auch baulich eine fantastische und innovative Lösung gefunden, die wir bald dem Markt präsentieren werden.

Liquid Staging by Asteris Kutulas
pma Magazin – Sonderheft 2021 | Liquid Staging Top Story

pma: Wie sehr ist eine solche Produktionsweise tourtauglich, bzw. dürfte der Vorproduktionsaufwand nicht deutlich höher werden? Gilt es doch, die Veranstaltungshäuser bereits im Vorfeld genauestens zu vermessen. Gibt es dazu bereits Erfahrungswerte?

Asteris Kutulas: Ein wichtiger Grund, Liquid Staging einzusetzen, ist der, dass dieser innovative Denkansatz inhaltlich neue Ideen und optisch neue Resultate hervorbringen kann – und das zu einem sehr guten Preis-Leistungsverhältnis. Ein Beispiel: Als Künstler habe ich ein Problem mit der Starrheit und Künstlichkeit von LEDs, aber auch von geriggten Plastik-Screens. Die Lösung fand ich in den „natürlichen“ Schleiernessel-Projektionsstoffen, die leicht, preiswert, brandschutzkonform und überall relativ einfach anzubringen sind. Außerdem kann man Projektoren inzwischen unkompliziert und schnell installieren, und sie bieten Kino-Qualität. Der andere riesengroße Vorteil einer solchen Lösung ist, dass man z.B. ganze Arenen durch Liquid Staging in phantasmagorische Bühnen verwandeln kann. Dafür muss man natürlich den dafür notwendigen Inhalt generieren.

Voraussetzung dafür ist, wie in meinem Liquid Staging Manifest ausgeführt, „Show“ neu zu denken, das Publikum stets in seine Überlegung mit einzubeziehen und Emotionen zu produzieren. Man muss also Film, Bühnenregie, Design und Choreografie zusammenbringen, sie von Anfang an zusammen denken, damit etwas wunderbar Neues entstehen kann.

pma: Wäre mit Liquid Staging auch ein 360° Event denkbar, in welchem der Zuschauer mit im Zentrum des Bühnengeschehens sitzt?

Asteris Kutulas: 360-Grad-Erlebnisse gibt es schon seit Jahrzehnten, und sie gehören inzwischen – durch Virtual Reality, Mixed Reality und durch Gaming – zum Alltag. Das wird sich auch dank der neuen Brillen-Technologie von Apple weiterentwickeln – wir müssen jene Elemente aus diesen Trends für uns nutzen, die bei Live-Shows Sinn machen und unser jeweiliges Zielpublikum begeistern.

Electra 21

Ein Liquid-Staging-Projekt, mit dem ich so einen anderen Weg gehe, ist ELECTRA 21, das – pandemiebedingt zunächst in kleinerem Rahmen – bei den 55. Internationalen Hofer Filmfesttagen am 30. Oktober 2021 Premiere hatte. Bei diesem Projekt laufen vier unterschiedliche Filme – vorn, links, rechts, hinten – absolut synchron zu einem einzigen Soundtrack. Der Zuschauer entscheidet jeden Augenblick, was er sieht bzw. in welchem Wechsel er welche Filmkonstellation im Blickfeld hat. Damit erreiche ich zwei Dinge: Erstens, ich offeriere dem Zuschauer die Möglichkeit zum polydimensionalen Sehen, und zweitens hebe ich das Partizipationslevel des Zuschauers auf eine extrem hohe Stufe.

Dieses modulare Projekt ELECTRA 21 lässt sich auch in kleinen Räumen umsetzen, ist aber eigentlich konzipiert als Outdoor-Showformat, bei dem diese vier Filme gekoppelt werden mit der Aktion zweier Live-Percussionisten und einer Tänzerin – in dieser Form soll es im Jahr 2023 in Athen und später weltweit aufgeführt werden.  

Wenn man die Möglichkeiten erkennt, die sich aus diesem und den anderen Beispielen ergeben, dann wird einem, glaube ich, sehr schnell klar, was für eine unendliche Vielfalt an Gestaltungsformen durch Liquid Staging möglich ist – und zwar unabhängig davon, ob es sich um klassische Musik, eine Modenschau, ein Musical, eine Produktpräsentation oder ein Konzerterlebnis handelt.

Liquid Staging by Asteris Kutulas
pma Magazin – Sonderheft 2021 | Liquid Staging Top Story

pma: Bis dato haben wir jetzt vorwiegend über einzelne klassische Aufführungen und Entertainment Shows gesprochen. Wie sehr ist Liquid Staging in seinem ganzen Potential bereits für alle Live-Unterhaltungsformate geeignet und wie intensiv sind Sie persönlich bereits in die Verbreitung dieses Formates involviert?

Asteris Kutulas: Die erste Idee zur „Verräumlichung des Films“ hatte ich um die Jahrtausendwende, als ich mit Gert Hof unsere Mega- und Special-Events weltweit realisierte. Dabei arbeiteten wir auch mehrmals mit dem Projektions-Künstler Ross Ashton aus London. 2007 entwickelte ich dann zusammen mit Ross, mit dem Filmemacher James Chressanthis aus Los Angeles sowie dem Bühnendesigner Michalis Argyrou aus Athen die „Paths of Passion“-Produktion für das Epidaurus-Theater. Das war die erste Liquid-Staging-Show, an der ich mitwirkte.

Liquid Staging Asteris Kutulas
Liquid Staging Epidaurus Entwurf von James Chressanthis, Ross Ashton & Asteris Kutulas, 2009
Liquid Staging Epidaurus Entwurf von Michalis Argyrou, 2009

Zwei Jahre später arbeitete ich im Auftrag von Apassionata an einem Theaterbau für eine Pferdeshow in Dubai zusammen mit Lars Krückeberg von Graft Architects. Lars und sein Team setzten den Liquid-Staging-Theaterinnenraum, den ich konzipiert hatte, in großartiger Art und Weise um.

Liquid Staging Asteris Kutulas
Hippodrom Arabia Entwurf von GRAFT & Asteris Kutulas
Liquid Staging & Asteris Kutulas
Hippodrom Arabia Querschnitt von GRAFT & Asteris Kutulas
Liquid Staging Asteris Kutulas GRAFT
Hippodrom Arabia Theater (Entwurf) von Asteris Kutulas und GRAFT

Damals benutzte ich auch zum ersten Mal den Namen „Liquid Staging“ für dieses Konzept. 2016 schrieb ich das Liquid-Staging-Manifest und entwickelte zusammen mit Ina und mit Achilleas Gatsopoulos während der Corona-Zeit mehrere Liquid-Staging-Projekte, die wir jetzt nach und nach diversen Produzenten anbieten werden.

Leider hat Corona im Jahr 2020 drei Liquid-Staging-Umsetzungen verhindert, nämlich die Inszenierung von Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ in Wien, das Opening-Event des Digital Summit der EU und der Balkanländer in Tirana und die Premiere des Antigone-Ballets in Trento, Italien. Das sind fertig konzipierte Projekte, von denen ich hoffe, dass sie in Zukunft nachgeholt werden. Aber ich konnte im Sommer 2020 den „Lights of Hope“ Stadion-Event als Liquid-Staging-Produktion fürs TV realisieren. Und mein „Electra 21“ Projekt, also meine Electra für das 21. Jahrhundert, wird am 11.12.2021 in Chania auf Kreta mit Hilfe des Goethe-Instituts griechische Premiere haben.

pma: Gibt es bereits Aufführung außerhalb Ihres Schaffenskreises, denen Sie den Status eines perfekt inszenierten Liquid Staging bescheinigen würden? Welche Events sind das und was genau zeichnet diese im konkreten Falle aus?

Asteris Kutulas: Eine perfekt inszenierte Liquid-Staging-Produktion ist die bereits von mir erwähnte „Toruk“-Show von Cirque du Soleil, wo der gesamte Arena-Boden vom ersten bis zum letzten Augenblick der Show mit Film bespielt wird, was absolut synchron mit dem Bühnengeschehen funktioniert. Eine andere großartige Liquid-Staging-Show war für mich „The Wall“ von Roger Waters, die ich 2013 im Olympia-Stadion gesehen hatte.

Es gibt viele fantastische Beispiele aus unserer Branche, vor allem aus dem Konzert- und Theaterbereich, aber was ich sehr spannend finde, ist auch, was seit einem Jahr in der Filmindustrie passiert. Bei der Produktion des „Mandalorian“-Films waren die meisten Hintergründe gefilmt und fungierten im Studio als realer Background für die Schauspieler. Auf diese Weise wurde 50 Prozent der Disney-Serie gedreht, wobei eine große LED-Wand am Set die verschiedenen Umgebungen in Echtzeit dargestellt hat. Innerhalb weniger Augenblicke konnte eine Wüsten- zu einer Stadtlandschaft werden etc.

Das Liquid-Staging-Produktionsprinzip (des „räumlichen Produzierens“) wird sich also nicht nur im Live-Entertainment und in der Event-Branche, sondern auch in der Filmindustrie immer mehr durchsetzen. Vor einem Monat habe ich wohl auch aus diesem Grund vom Lehrstuhlinhaber des Audiovisuellen Departments der Ionian University das Angebot bekommen, eine Dissertation zu meiner Liquid-Staging-Theorie zu schreiben, was ich tatsächlich in den nächsten Jahren sehr gern tun werde.

Fragen von Ray Finkenberger-Lewin (pma Magazin), Oktober 2021 (Liquid Staging Top Story)


Apassionata Bühnenbild Asteris Kutulas
Apassionata „Der Traum“ Liquid Staging Film von  Asteris Kutulas & BlackSpace für die Apassionata World GmbH, 2016

Statement von Marc Ziegler aus der Zeit der Zusammenarbeit bei der Apassionata-Showproduktion „Der Traum“ (2017)

„Normalerweise verhelfen wir Marken, emotional erlebbar zu werden. Bei Apassionata war es anders. Hier hat das Emotionale unsere Arbeit bestimmt. Bestehend aus Kulisse, Bühne, Schauspiel und Licht, bestimmt heute noch vorranging das Analoge die Theaterwelt. Doch durch Künstler wie Asteris Kutulas und durch Projekte wie Apassionata 2.0 hat ein Wandel eingesetzt. Und an genau diesem Wandel sind wir interessiert: Wie wird sich der Wandel auf die Architektur und den Raum im Theater auswirken? Das liquide Bühnenbild von Asteris Kutulas verändert alles. Vor allem das Raum- und Zeiterlebnis.“

Marc Ziegler, Kreativdirektor & GF Blackspace

Asteris Kutulas Electra 21
Plakatentwurf zu ELECTRA 21 von DomQuichotte