Athen, Tag eins nach der Wahl (26.1.15)

Eine Kolumne aus dem griechischen Niemandsland

Am Sonnabend hatte es geregnet in Athen. Am Sonntag gingen die Griechen (und ich auch) wählen, und heute, am Montag, ist das Land, das unter der Krise wie kaum ein anderes in Europa gelitten hat, nicht wiederzuerkennen. Ein spürbares ungläubiges Aufatmen liegt in der Luft. Eine Leichtigkeit des Seins ist zu spüren, und die Menschen sind irgendwie freundlicher und relaxter. Vielleicht ist das alles aber auch nur Einbildung. Jedenfalls sagen Taxifahrer Sätze wie: „Samaras konnte in den letzten zweieinhalb Jahren nicht einmal die Reformen, die ihm Merkel & Co. aufgetragen haben, umsetzen. Der hat zu nichts getaugt.“

Mir ist ein wenig so wie damals, als die Mauer fiel. Nicht ganz so schön, aber fast… Das jedenfalls, was viele heute hier in Athen denken, kommt dem nah, was wir im November 1989 gespürt haben. Zum Beispiel, dass diese Wahl in Griechenland die Demokratie wiederhergestellt hat. Bis 2012 verfügte das herrschende politische System der beiden Parteien Neue Demokratie und PASOK fast vierzig Jahre lang konstant über 80% der Stimmen. 2012 stürzten diese beiden Parteien auf etwas über 30% ab. Es gab in der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte keine deutlichere „Abwahl“ einer Politikerkaste, aber nicht nur, dass diese beiden Parteien – mit „Unterstützung Europas“ – weiter herrschten, auch ihre korrupten und klientelistisch strukturierten Führungen machten weiter, als wäre nichts passiert. Samaras, Papandreou, Venizelos, Bakojanni, Karamanlis, Kefalojannis etc. etc. – die alten Politikerfamilien, die zum Teil seit 100 Jahren Griechenland in ihren Besitz genommen hatten, dachten gar nicht daran, von der Macht zu lassen. Dadurch wurde die konservative Rechte und die Sozialdemokratie völlig diskreditiert und es offenbarte sich, dass PASOK und Neue Demokratie keine demokratischen Parteien, sondern hierarchisch strukturierte „Familienclans“ sind… Das zeigt sich sehr extrem am Beispiel der PASOK, die von 44% im Jahr 2009 auf jetzt 4% abgesackt ist, und deren Vorsitzender Venizelos (der noch amtierende Außenminister) vorhin im Fernsehen erklärt hat, dass er weitermachen will. Immerhin ist dadurch, dass die neue Partei von Giorgos Papandreou an der 3%-Hürde scheiterte, zum ersten Mal seit 92 Jahren keiner aus der Papandreou-Dynastie mehr im griechischen Parlament vertreten.

Diese Wahl hat aber in den Augen vieler Griechen nicht nur die Demokratie, sondern auch die Souveränität Griechenlands wieder hergestellt. Samaras & Co., die verantwortlich waren für diese größte Krise in der griechischen Nachkriegsgeschichte, hatten in den letzten Jahren nicht nur ihre politische Handlungsfähigkeit verloren – was immer offenbarer wurde –, sondern auch die Glaubwürdigkeit in jeder Hinsicht, vor allem aber ihre Fähigkeit, eine „griechische Politik“ für Griechenland zu gestalten. Das führte dazu, dass die „Troika“ für die Griechen zum Hassobjekt wurde, und die Samaras-Regierung erschien vielen als deren Handlanger, die es zuließen, dass Griechenland einerseits wie eine Bananenrepublik behandelt und andererseits die griechischen Bürger mit dem härtesten europäischen Austeritätsprogramm aller Zeiten für etwas bestraft wurden, wofür sie nicht verantwortlich waren.

Schließlich denken viele Griechen, unabhängig davon, ob sie rechts oder links sind, dass sie durch die Wahl von Tsipras ihre Würde wieder erlangt haben. Das ist vor allem als emotionale Reaktion auf ein noch nie dagewesenes Griechenland-Bashing in Europa vor allem in den Jahren 2010 bis 2012 anzusehen, angeheizt durch die Regierenden daheim. Und jetzt schicken die Griechen jene „Kollaborateure Europas“ in den Ruhestand, die keine einzige wirkliche Reform umgesetzt, sondern nur sozialen Kollateralschaden angerichtet, hunderte von Skandalen unter den Tisch gekehrt und täglich neue angehäuft haben.

Ich persönlich weiß nicht, ob die weichgespülten Linken der SYRIZA-Partei überhaupt etwas zustande bringen, zumal sie ein System zum Gegner haben, das sie nicht kennen und dem sie möglicherweise nicht gewachsen sind. Auf jeden Fall ist Herr Tsipras ein besserer Partner für die EU und auch für die Bundeskanzlerin, denn er will – im Gegensatz zu Herrn Samaras und seinen Vorgängern – tatsächlich etwas an diesem korrupten und heruntergewirtschaftetem „System Griechenland“ verändern. Und dies wäre endlich an der Zeit und völlig im Sinne Griechenlands und vor allem Europas.

Es ist kalt an diesem Montagabend in Athen, selbst im Restaurant „Tee“. Am Nebentisch sagt ein Mann zu seiner Frau, dass wir einen „historischen Tag“ erlebt und dass wir die erste linke Regierung in Europa haben. „Stell Dir vor“, sagt er, „ein kommunistischer Politiker verteilt Ministerposten. Unglaublich!“ Er zieht an seiner Zigarette, obwohl ein Schild ihm gegenüber anzeigt, dass hier Rauchen verboten ist. Dieses „unglaublich“ erinnert mich an die ersten beiden Anrufe von Tsipras gestern Abend, noch vor der Veröffentlichung der ersten offiziellen Hochrechnung, unmittelbar nach Bekanntgabe der exit polls. Sie gingen an den Chef der griechischen Polizei und den Oberbefehlshaber der Armee. Der Putsch von 1968 und die nachfolgende siebenjährige Diktatur steckt allen Griechen noch in den Knochen. Und Samaras hatte oft genug in seinen Wahlkampf die „kommunistische Gefahr“ heraufbeschworen. Einer seiner Minister hatte zwei Tage vor den Wahlen ausgesagt, dass er „alles notwendige“ unternehmen würde, um eine kommunistische Machtübernahme zu verhindern. Auch aus diesem Grund ist die Entscheidung, mit den Rechtspopulisten von ANEL ein Regierungskoalition zu bilden, vielleicht die strategisch weiseste innenpolitische Entscheidung von Tsipras: damit beendet er den 1944 bego097FotoClip-0003nnenen Bürgerkrieg.

Auf dem Nachhauseweg fliegen mir die Wahlplakate diverser Parteien entgegen, eines mit dem Slogan der Neuen Demokratie: „Wir sagen die Wahrheit“, eine Aussage die bereits heute, einen Tag nach der Wahl, sehr schräg und unwahr klingt. Und gleich danach kreuzt ein zerfetztes Plakat von SYRIZA meinen Weg: „Die Hoffnung kommt“, etwas, was die Griechen, offensichtlich sehr ungläubig, „hoffen“ wollen.

Asteris Kutulas, 26.1.2015