Tsarouchis Asteris Kutulas

Jannis Tsarouchis & der Heilige Sebastian

Jannis Tsarouchis, befragt von Asteris Kutulas, über den Heiligen Sebastian, Jannis Ritsos und über die „Ewigkeit des Menschen“

September 1983, Athen

Asteris Kutulas: Herr Tsarouchis, als wir bei Jannis Ritsos waren, haben wir ein Bild von Ihnen bei ihm hängen sehen, den „Heiligen Sebastian“. Können Sie uns dessen Geschichte erzählen?

Jannis Tsarouchis: Als ich vor vielen Jahren den Louvre besuchte, entdeckte ich das Bild eines deutschen Malers, auf dem der Heilige Sebastian nackt in der Mitte stand und links und rechts die beiden Soldaten in Kriegskleidung des 16. Jahrhunderts. Und ich fand, es wäre eine gute Idee, den Heiligen Sebastian mit zwei griechischen Soldaten zu malen, die ihn töten. Das war eine klare Botschaft, denn damals waren bei uns die Militärs an der Macht. Ich fand also einen griechischen Dichter, der im Pariser Exil wie ich lebte, und bat ihn, Modell zu stehen, und zwar für alle drei Figuren, sowohl für die beiden Soldaten als auch für den Heiligen Sebastian. Dadurch bekam das Werk von allein eine symbolische Bedeutung: Dass der Mensch den Menschen tötet. Und dass der Soldat, der den Heiligen Sebastian tötet, sich selbst tötet. Es war das erste Mal, das ich mich mit diesem Thema beschäftigte, das alle möglichen Maler seit der Renaissance in Bilder umgesetzt hatten.

St.Sebastian by Giannis Tsarouchis
San Sebastian by Giannis Tsarouchis

Asteris Kutulas: Was symbolisierte der Heilige Sebastian für Sie?

Jannis Tsarouchis: Der Heilige Sebastian war, geschichtlich gesehen, Polizeibeamter gewesen, und seine Arbeit bestand darin, die Christen davon zu überzeugen, eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie an die herrschenden Idole und natürlich auch an den Herrscher glaubten, der sich selbst zum Gott erhoben hatte. Dieser Sebastian aber ging, wie viele andere Heilige auch, wie der Heilige Giorgos oder Dimitris, zu denen, die er ob ihres Christentums verurteilte und riet ihnen, nicht zu unterschreiben. Die Herrschenden ließen die Familien zu den Gefängnissen bringen und drohten: unterschreibt! Was wird aus Euren Kindern, aus Euren Häusern … Und viele wurden wankelmütig und unterschrieben. Der Heilige Sebastian aber half ihnen. So wurde bekannt, dass er gegen die Anordnungen der Herrscher handelte und seine systemtreuen Kollegen probierten ihre Pfeile an seinem Körper, der von ihnen ganz übersät war. Wie eine griechische Version dieser Legende berichtet, war er zu einem Igel geworden. Er wurde bewusstlos, und alle dachten, er sei tot. Aber einige Jungfrauen gingen zu ihm, darunter die Heilige Irene. Sie brachten ihn in ein Haus und zogen alle Pfeile aus seinem Körper, und der Heilige Sebastian kam wieder zu sich. Die Römer erfuhren, was passiert war und kamen mit Keulen wie denen von Herakles und erschlugen ihn.

San Sebastian by Giannis Tsarouchis
San Sebastian by Giannis Tsarouchis

Asteris Kutulas: Wie kommt es, dass Ihr Bild bei Jannis Ritsos hängt? Warum haben Sie es ihm geschenkt?

Jannis Tsarouchis: Zu der Zeit, als mir der Dichter Modell stand, hatte ich meine Brille verlegt und kein Geld, eine neue zu kaufen. Ich beschloß deshalb, das kleinformatige Bild, das ich fertig hatte, zu vergrößern und das Bild dann Stück für Stück noch einmal großformatig zu malen. Für größere Formate brauchte ich nämlich keine Brille. Dieses Bild vollendete ich dann auch, in Übergröße, während das Original nur 1,30 m hoch und 90 cm breit ist. Es gibt dazu noch eine weitere Geschichte: Zusammen mit vielen meiner Skizzen und anderen Bildern wurde es von einem Griechen gestohlen. Der schnitt es in vier Teile. Das Werk ist also im Ganzen nicht mehr erhalten, sondern so nur auf einem Foto zu sehen. Und an den Teil, der gerettet wurde, klebte ich andere und malte das Bild neu.

Ritsos hatte den Leninfriedenspreis erhalten und besuchte mich. Das Bild mit dem Heiligen Sebastian gefiel ihm sehr. Es war mit Reißzwecken an die Wand geheftet, und man sah, daß es aus vier oder fünf Teilen bestand. Ein Spezialist klebte die Teile dann zusammen, und sie wurden zu einem Bild. Und weil es noch unfertig war und Jannis es schnellstens haben wollte, vollendete ich es bei ihm zuhause. Er hatte Angst, dass ich es behalten würde.

Asteris Kutulas: Warum war das Bild ihm so wichtig?

Jannis Tsarouchis: Seiner Meinung nach war es ein gutes Bild. Ich selbst behielt das kleinere, das Original, nach dem das große entstanden war. Es gibt noch eine weitere Studie. Ich habe unzählige Studien gemacht, oft die Modelle wechselnd. Aber jenen Griechen, der Gefahr lief, verurteilt zu werden, bevorzugte ich. Weil er dem Mythos näher war.

Asteris Kutulas: Ritsos sagte, daß ihm das Bild gefalle, weil der Heilige Sebastian, trotz der Bedrohung, ein schöner Mensch bleibt, der sich nicht fürchtet. Er steht über dem Tod, er ignoriert die blutigen Pfeile.

Jannis Tsarouchis: Das ist der Zweck von Kunst: die Ewigkeit des Menschen zu offenbaren. Denn es gibt einige, die glauben, dass der Mensch eine Schöpfung des Teufels und Gott selbst der Teufel ist. Also verachten sie den Körper, denn, wenn er Teufels Werk ist, lohnt es nicht, ihm zu huldigen. Aber für jene, die glauben, dass der Mensch Gottes Sohn ist, hat dessen Korper etwas Göttliches, selbst wenn er leidet. Das symbolisiert auch die Kreuzigung. Die Schönheit und das Leben über den Tod hinaus. Das sind jedoch metaphysische Überlegungen, und wenn ich male, dann denke ich nur an die Organisation der Farben. Die Philosophie entsteht dann daraus und im Nachhinein, ich entwickle sie nicht vorher.

Asteris Kutulas: Es gibt ein konkretes Symbol in diesem Werk, den Polytechnikum-Aufstand, das Jahr 1973 …

Jannis Tsarouchis: Ja, wir lebten täglich mit diesen Ereignissen. Ich zeigte meinen Widerstand gegen die Folterungen und das Leid. Der Heilige Sebastian mußte schön sein, jung und ausgeglichen, damit das Verbrechen deutlicher zutage treten konnte. Ich habe kein expressionistisches Bild gemalt, weil das eine andere Aussage bedeutet hätte. Der Heilige Sebastian glaubte an den Schmerz, an das Unglück und daran, dass daraus Kraft zu schöpfen ist. Während die griechische Auffassung darin besteht, daß es kein Unglück gibt, wenn wir fest glauben. Die Geschichte hat doch sehr viel Heilige Sebastiane hervorgebracht. Wir sehen, wie die Byzantiner Christus dargestellt haben. Als würde er schlafen. Nicht aus Feigheit davor, den Tod zu zeigen, sondern weil sie an das Göttliche im Menschen glaubten.

Asteris Kutulas: Wann lernten Sie Ritsos kennen?

Jannis Tsarouchis: Ritsos lernte ich 1941 kennen. Alle Künstler, Schriftsteller und Musiker gingen ins Archäologische Museum, in den Saal, wo heute die mykenischen Goldschätze stehen. Damals war er voller Kopien von minoischen Wandmalereien. Heute ist er weiß getüncht. Und vor den Bildern teilte man Erbsensuppe aus, oder besser gesagt Wasser, in dem man Erbsen gekocht hatte. Dort sah ich auch Sikelianos, der zwei, drei mal dorthin kam. Viele ältere Leute wurden ohnmächtig vor Hunger. Oft gab es Streitereien, weil sie mehr Essen wollten. Es waren schwierige Zeiten. Nach dem Essen, das man uns in Konservenbüchsen reichte, gingen wir zu Ritsos in die Wohnung und unterhielten uns über verschiedene Dinge. Sowohl bei mir als auch bei ihm war das der Anfang von vielem, was wir später gemacht haben. Ob auf dem Gebiet des Theaters, des Kinos oder in der Dichtung. Wir sprachen viel über Theater, über Ballett.

Jannis Ritsos Asteris Kutulas
Jannis Ritsos & Peter Zacher, Dresden 1984 (Photo © by Asteris Kutulas)

Asteris Kutulas: In einem Essay, den Sie vor vier Jahren über Ritsos schrieben, stellen Sie fest, daß in seinen Werken ein tiefes Gefühl von Gerechtigkeit existiert …

Jannis Tsarouchis: Ja, in der Verbannung, wo er lange ausharren musste, hat er wie ein Asket gelebt, und zeigte Interesse für die nicht so bedeutenden Angelegenheiten der anderen. Einem kleinen Insekt, einem vom Wind aufgewirbelten Blatt begegnete er mit derselben Liebe, mit der die Humanisten den Menschen umfangen.

Alle Griechen, wenn sie in ihrem natürlichen Zustand verbleiben, sind Humanisten. Wenn sie sich von einer fremden Theorie beeinflussen lassen, verlieren sie im selben Maße ihr inneres Gleichgewicht. Kazantzakis wollte den Humanismus überwinden, um zum Nihilismus zu kommen. Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat. Wie der Afrikaner von Natur aus dunkel ist, so ist der Grieche Philosoph und Humanist, ohne diese Eigenschaften zwangsläufig ausgebildet zu haben, er hat aber die Voraussetzung dafür, dies zu tun.

© Interview by Asteris Kutulas

Jannis Tsarouchis war seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Maler Griechenlands. Ich besuchte ihn Anfang der achtziger Jahre mehrmals in seiner Villa in Maroussi. Es war das märchenhafte Haus eines alten, weißhaarigen Künstlers, mit einem Riesenspinnenweben im Eingangsbereich – dem größten Spinnenweben, das ich je in meinem Leben gesehen habe –, mit vielen schönen jungen Männern, die das ganze Haus bevölkerten, den Maler inspirierten und ihm Modell standen. Eine Lithographie („Der Eros gegen den Krieg“), die er mir schenkte, stellt mehrere nackte langhaarige Jünglinge dar, bekleidet nur mit schwarzen Stiefeln – nachdenkliche Wesen mit Schmetterlingsflügeln. Oft, wenn ich dieses Bild anschaue, muß ich an Jannis Tsarouchis denken, wie er zwischen seinen hunderten von Drucken, Büchern und Malereien verharrte und erzählte … Asteris Kutulas

Begegnungen mit Jannis Ritsos (Tagebücher 1982-1989)