Corvus Corax Interview, reloaded

„Eigentlich sehnen wir den Tag herbei, an dem es mal keinen Strom gibt …“

Corvus Corax Interview mit Castus und Wim von Asteris Kutulas

Asteris Kutulas: Fangen wir mit dem Anfang an, mit der DDR, mit diesem seltsamen Niemandsland, in das ihr hinein geboren wurdet – und in den Achtzigern zum „Kulturbetrieb“ gehörtet, mit dem „Einstufungs-Schein“ und allem, was dazu gehörte …

Der Anfang in der DDR

Castus: In der DDR gab es immer diese Kulturveranstaltungen, unter anderem auch diese Bezirksfolklore-Werkstatt. Da hat man dann als Band seine Einstufung bekommen. Wir waren bereits „Solisten der ausgezeichneten Qualität im künstlerischen Volksschaffen der Deutschen Demokratischen Republik“, hatten also die höchste Einstufung als Amateurmusiker, und bekamen dazu auch noch ’ne Amortisationspauschale.

Asteris: Das war sozusagen die Ehrennadel …

Castus: Na, wir haben uns da immer freiwillig einstufen lassen, damit wir musizieren und von der Musik leben konnten. Pro Auftritt durften wir 70 Mark nehmen: 30 Mark für die Einstufung, 40 Mark für die Amortisation der Instrumente. Und dann haben wir zu den Veranstaltern gesagt: „Drei bis Vier Auftritte müsst ihr uns mindestens verschaffen …“

Wim: Zwischen zwei Auftritten haben wir ’ne Pause gemacht. Das war das Höchste, was man am Abend herausholen konnte. Da haben wir dann praktisch zwei- oder dreimal dieselbe Pauschale abkassiert, damit sich das lohnte.

Castus: Und für diese Werkstatt ’89, wo wieder diese Einstufung anstand, da hatten wir uns was ausgedacht. Jörg Foth, der in der DDR auch Dokfilme gedreht hat, der meinte: „Lasst uns da mal was zusammen machen.“ Also haben wir zu den Bonzen von der Werkstatt gesagt: „Wir machen ein mittelalterliches Programm.“

Wim: Mittelalterliche Seemannslieder …

Castus: … und Tänze …

Wim: … was sowieso der allergrößte Quatsch ist. Es gibt keine mittelalterlichen Seemannslieder. Aber die haben das ernst genommen.

Asteris: Die haben das immer alles ernst genommen. „Humor“ war eine unbekannte Kategorie bei denen …

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Castus: Wir wollten einfach mal was Surreales machen. Das waren ja alles Idioten. Die saßen da im FDJ-Blauhemd, und dann wurde über Folklore geredet …

Wim: Und es gab ganz viel Reglementierung. Zum Beispiel, dass man auf der Bühne keinen Alkohol trinken durfte, dass man dies und jenes nicht tun sollte, sonst war man kein „vernünftiger Kulturschaffender …

Castus: … der Deutschen Demokratischen Republik“ oder so was. Und da haben wir beschlossen: Jetzt machen wir erst recht genau das Gegenteil. Dann ging’s los. 14 Tage vorher ist Wim in einen Fischladen gegangen. Denn wenn man Seemannslieder macht, muss es ja auch ein bisschen nach Fisch riechen … Hat er 14 Tage vorher Fisch geholt. Kardinalsfisch.

Wim: Bin ich in den Fischladen: „Sagen Sie mal, welcher Fisch vergammelt denn am schnellsten?“ – „Na hören Sie mal, wir haben nur frischen Fisch hier!“ Ich sag: „Na, was geht denn am schnellsten? Wir haben da so was vor …“ – „Na hier, der Kardinalsfisch. Da sollte man schon vorsichtig sein. Der verdirbt schnell.“ Sag ich: „Na, dann nehme ich ein Kilo.“ Das wurde in Tüten eingepackt, und dann haben wir das noch in den Ofen gelegt und zwei Wochen da drin gelassen. Das war dann bei der Veranstaltung unser Entree, wo wir mit einem Fischernetz, in dem dieser „Fisch“ lag, in den Saal rein gegangen sind. Aber vorher musste einer von uns den ja erstmal aus dem Ofen holen. Ich weiß nicht … Drei oder vier Leute von uns haben das versucht. Die haben alle erstmal gekotzt. Das hat so gestunken! Das war ja inzwischen flüssig geworden. Mörderisch. Und dazu dann der Geruch von Kölnisch Wasser …

Einstufungskommission

Castus: Jeder hat vorher ’ne Knolle Knoblauch gegessen und sich ’ne Flasche Kölnisch Wasser über’n Kopf gegossen. Wir wollten ja mit allen Sinnen arbeiten. Aber die sollten möglichst auch ein bisschen verwirrt sein. Dann hatten wir vorher auf der Straße Musik gemacht und dadurch ein bisschen Westgeld. Also kauften wir im Intershop zwei Flaschen Whisky. Allerdings haben wir dann ’ne Wette verloren gegen einen aus dem Publikum, der bekam die eine Flasche. Also hatten wir immerhin noch die zweite. Und dann gab’s noch mehrere Flaschen mit Tee. Die Bonzen von der Einstufungskommission dachten natürlich, dass das alles Whisky ist und wir uns die ganze Zeit besaufen. Dass wir also genau das machen, was verboten war und uns total die Kante geben.

Wim: Und das auch noch mit Whisky aus dem Westen.

Castus: Noch was, das auch nicht erlaubt war: Wir sind gleich ins Publikum rein. Kamen aus dem Backstage-Bereich in den Saal und haben erstmal Geld gesammelt. Das haben die Bonzen überhaupt nicht gern gesehen. Und am Ende des Programms, da war dann einer im Publikum, der hatte ’ne Kerze und ’ne Blechdose. Der war unser Leuchtturm. Da haben uns die Funktionäre dann später vorgeworfen …

Wim: … Genau: „Aufruf zur Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik“.

Castus: Wegen des Leuchtturms.

Wim: Es stand auch ’ne große Babybadewanne, gefüllt mit Sand auf der Bühne, wo ein kleiner Globus drin war. An dem haben wir immer gedreht, um Ferne zu symbolisieren. Das war natürlich auch ein Aufruf. Einer von uns stand in einer zweiten Badewanne. Da hatten wir ’ne Tüte Salz reingekippt und natürlich nicht dran gedacht, dass eine Tüte Salz auf so wenig Wasser … Also der hatte danach rote Füße vom Salz. Und dann haben wir uns noch was geleistet, was sehr schlimm war: „Instrumentenzerstörung.“ Man zerstört ja eigentlich keine Instrumente, denn das ist ja irgendwie etwas … Na, das würden wir jedenfalls normalerweise nie tun, aber weil die ganze Angelegenheit uns so auf 180 gebracht hatte, haben wir erst recht alles zerstört. Später hieß es dann, das wäre ein „Aufruf zur offenen Gewalt“ gewesen.

Castus: Wir hatten uns aber natürlich Instrumente besorgt, die bereits kaputt waren. In eine Gitarre haben wir zum Beispiel hinten ein Loch rein gebohrt und haben dann mit Geigenbögen geschossen …

Wim: In einer der Wannen schwamm ein Haifisch, ein aufblasbarer. Nur Blödsinn.

Castus: Ich weiß gar nicht mehr, wie das Haus hieß, in dem diese Veranstaltung stattfand. Wie viele Leute werden da reingepasst haben? Vielleicht 500. Wenn wir spielten, war es immer voll. Wir hatten ja auch schon einen gewissen Ruf weg. Die Leute wussten, dass da immer was passiert, wenn wir auftraten. Bei dieser Einstufungsveranstaltung haben wir dann jedenfalls Spielverbot auf Lebenszeit bekommen.

Tippelklimper

Asteris: Und unter welchem Namen seid Ihr damals aufgetreten?

Castus: „Tippelklimper“. Das Lustige war auch: Dieser Jörg Foth, der hatte einen Dokfilm darüber gemacht. Und eines Tages sagte er uns dann, dass es ihm sehr leidtäte, aber das meiste von dem Filmmaterial sei in der Kammfabrik gelandet. Das wurde ja vernichtet, daraus wurden dann Kämmehergestellt, aus den zensierten Dokfilmen. Von dem Material, das der über uns gedreht hatte, konnte nur ganz wenig genommen werden.

Wim: Aber das Programm hatte eingeschlagen wie ’ne Bombe. Einer der Funktionäre … der hat dann behauptet, dass wir die Folklore-Szene der DDR damit zerstört hätten. Wir mussten deshalb zum Kulturamt. Dort wartete so ein Oberkultur-Alttyp auf uns, so ein vergilbter, der dann völlig verbittert rumgeschrien hat, dass sie uns zu Ulbrichts Zeiten sofort eingesperrt hätten. Da haben wir unsere Zigarren angezündet, die wir vorsorglich mitgebracht hatten. Wie schon des Öfteren zu solchen Anlässen.

Asteris: Die hatten einfach ’ne Meise. Die wussten nicht, worüber sie sprechen. Und außerdem hatten die sich die Selbstzensur ins Rückenmark gespritzt.

Castus: Das Lustige waren die Reaktionen des Publikums. Es gab die Punks. Die haben natürlich total gefeiert, die ganze Zeit. Dann gab’s die Funktionäre, die saßen da in ihrem Blauhemd und wussten nicht, wie das Ganze gemeint ist.

Am Ende unseres Programms kam das Lied „Ho, unser Maat hat schief geladen“, und das haben wir mit dem Publikum zusammen gesungen. Und auf einmal gehörten alle zusammen, alle sangen zusammen. Und bei diesem Stück, da gingen die Instrumente zu Bruch. Ich hab ein Solo gespielt und mich dann auf mein Instrument gesetzt und hab die Leute zum Klatschen animiert … Also, die Instrumente, die wurden nicht zerschlagen, sondern gingen „versehentlich“ zu Bruch … Überall hat’s gekracht. Überall, in allen Ecken, alle Instrumente waren hinterher Kleinholz. Und das Publikum klatschte dazu und sang mit.

Asteris: „Macht kaputt, was Ihr kaputt machen könnt!“

Wim: Genau! „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ So ist das aufgefasst worden …

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Asteris: Das Fehlen von Humor war wirklich sehr schlimm in der DDR. Aber das waren doch in gewisser Hinsicht ideale Zustände für Euch – Eure Auftritte waren spektakulär, Ihr hattet Euch einen Namen gemacht. Warum seid Ihr dann abgehauen?

Verboten

Castus: Weil wir kurz darauf verboten wurden. Dieses Programm machten wir ’89, Anfang des Jahres. Aber das mit den Verboten zog sich bereits durch unsere gesamte Bandgeschichte. Wir hätten höchstens noch beim Kirchentag spielen können oder so. Da hatten wir natürlich gar keinen Bock drauf. Es wurden also dann wieder Auftritte abgesagt, wie schon einige Male zuvor. Aber jetzt für immer und ewig. Und noch etwas. Es gab da diesen Mittelaltermarkt in der DDR. Den hatte ein Kumpel von uns organisiert. Wir machten diese Musik, und der hatte eben diesen Mittelaltermarkt. Der hatte Probleme, der Markt wurde auch verboten. Wir durften nicht mehr auftreten. Und da haben wir beide gesagt: So, es reicht.

Wim: Und dann kam noch hinzu, dass ich zur Armee sollte. Die wollten mich einziehen. Das war der zweite Punkt. Keiner von uns wollte zur Armee. Wozu? Also haben wir eines Tages beim 30. Gin-Tonic oder so beschlossen, dass wir abhaun.

Asteris: Über Ungarn?

Flucht

Castus: Ja. Das war aber noch vor der Massenflucht. Wir haben uns erstmal noch eine schöne Zeit in Budapest gemacht.

Asteris: In welchem Monat?

Wim: Im Juli. Zu dieser Zeit wussten wir ja noch gar nicht, wie sich die Dinge so entwickeln würden. Dadurch, dass wir uns vorher schon sehr viel in Osteuropa rumgetrieben hatten, hatten wir viele Freunde, gerade auch in Ungarn. Also sind wir dann nach Ungarn gefahren. Beantragten unser Visum. Wir hatten keinem was gesagt, auch in der Band nicht. Nur: „Wir fahren jetzt.“ Man konnte ja nicht mal in der Band so richtig darüber reden. Das haben wir dann erst in Ungarn kundgetan. Einer aus unserer Band hat dann gesagt: „Nee, ich bleib doch lieber im Osten.“ Der war Pfarrerskind und durfte reisen. Da waren die Bonzen ohnehin froh, wenn der weg war. Bei ihm bereitete es ihnen eher Kopfzerbrechen, was sie mit dem im eigenen Land anfangen sollten.

Asteris: Wie ist eure Flucht vor sich gegangen?

Wim: Unser ungarischer Freund hat uns mit Hilfe von tausend Leuten bis zur Grenze geschleust. Wir haben genau gewusst, wann die Kontrolle da lang kommt usw., wo der Grenzstreifen nicht vermint ist, wo man durchkann. Und so sind wir nachts tatsächlich da rüber.

Castus: Wir hatten jeder einen Riesensack voller Instrumente dabei.

Wim: Da gab es so einen Turm. Der war ziemlich weit weg. Wir hatten ein Zeitfenster von insgesamt vier Stunden. In zwei Stunden mussten wir bis zu diesem Turm gerobbt sein, weil die Grenzposten dann alles ableuchteten. Als sie kamen, lagen wir bereits genau unter dem Turm. Da konnten sie leuchten, wie sie wollten. Wir hatten uns gut getarnt mit Laub. Die haben uns nicht gesehen. Die sind drei Meter neben uns vorbeigelaufen. Verschärft.

Asteris: Und euer Herz …

Wim, Castus: Na ja … Wahnsinn.

Castus: Aber irgendwie hat es auch Spaß gemacht. Wir haben zwischendurch noch ein bisschen geflüstert: „Ist das cool …“

Wim: Vollmond. Dann sind wir über so einen Zaun geklettert. Da waren wir auf einmal auf einem Friedhof.

Castus: Also es war Vollmond, aber es war nicht so hell, dass wir hätten lesen können, was auf den Grabsteinen stand, ob das nun Ungarisch oder Deutsch ist.

Österreich

Wim: Tja, wo waren wir jetzt?

Castus: Überall Zäune. Wir wussten nicht: Wenn wir jetzt da rüber klettern, sind wir dann vielleicht gleich wieder im Osten? Auf einmal haben wir ein Licht gesehen. Da sind wir erstmal hingerobbt und haben gekuckt.

Wim: Dann standen da Leute auf der Straße. Da sind wir natürlich gaaaaanz unauffällig, mit den Schuhen in der Hand, barfuß … Mit den riesengroßen Säcken voller Instrumente, wo die Dudelsäcke rauskuckten, sind wir ganz unauffällig durch die Straßen gelaufen und haben gelauscht. Und dann haben wir gesagt: „Jetzt sind wir in Österreich. Jaaaaaaa!“

Asteris: Der Augenblick muss unglaublich gewesen sein.

Wim: Das war eine Feier ohne Ende. Eigentlich war es ja gar nicht so schwer gewesen. Aber vorher, dieses Pläneschmieden … Das ging ja über Monate. Obwohl … Den Plan vom Abhauen, den hat man ja eigentlich immer schon gehabt. So ist es ja nicht. Von klein auf.

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Castus: Jedenfalls, als ich die Aufforderung zur Einberufungsüberprüfung für die Armee in der DDR gekriegt hatte – das war der Schock für mich.

Asteris: Wie alt warst du da?

Armeedienst in der DDR

Castus: Ich war so 22. Wir wussten ja: Solche Menschen wie wir, die können nicht in der DDR zur Armee gehen. Mein ältester Bruder, der war als gewöhnlicher Soldat an der Grenze, und nach dem, was der erzählt hatte, wusste ich: Da geh ich nicht hin. Zu meiner Zeit durfte man auch schon sagen: Ich geh nicht an die Grenze, ich schieße sowieso nicht.

Wim: Also wir hatten bereits die Waffe verweigert. Und in der DDR war klar, wenn man die Waffe verweigert, dann kommt man nicht mit 18 zur Armee …

Castus: Das sollte uns nur recht sein. Wenn man dann zur Armee musste, dann normalerweise kurz vor Toresschluss, mit 26 oder so. Aber irgendwie haben sie mir dann doch dieses Ding geschickt, und ich war 23 … Ich hatte ne Psychiaterin, die Maria, und die hat dann gesagt: „Ok. Du bist homosexuell und Bettnässer.“

Asteris: Aber dann hätte Wim ein Problem gehabt. Da musste er sich auch was einfallen lassen. Das hätten sie Euch nie abgenommen: dass Ihr beide homosexuell seid und Bettnässer …

Castus: Na ja, ich meine, wir wohnten zusammen … Jedenfalls, das Blöde war: Diese sechs Wochen Grundausbildung, die musstest du trotzdem machen. In den sechs Wochen wärst du also ein „Homosexueller“ gewesen, der bei diesen knallharten Typen … Die haben dich ja dann extra zu solchen gesteckt. Und dann hättest du also mit Absicht jede Nacht einpissen müssen. Da hab ich gedacht: Nee, irgendwie ist mir das nichts.

Asteris: Wäre auf jeden Fall eine echte Herausforderung gewesen …

Wim: Und man hat ja vor allem auch gar nicht eingesehen, dass man so einen Scheiß machen muss.

Castus: Ich sowieso nicht. Ich kannte damals eine Frau aus Schweden. Die hab ich gefragt, ob sie mich heiratet. Und als wir dann gehört haben, dass der Grenzstreifen in Ungarn nicht mehr vermint ist – das war natürlich das Beste für uns.

Wim: Die Tür war offen …

Einstufung in der DDR

Castus: Also haben wir uns bei jener letzten Einstufungsveranstaltung so richtig einen Kulturspaß gemacht, weil wir wussten: Nach diesem Fisch-Programm werden wir auseinandergenommen. Und als wir dann danach zum Kulturamt mussten, überlegten wir uns: „Ok. wir nehmen uns einen Schriftführer mit.“ Haben wir in einem Café einen angesprochen: „Pass auf, du kommst mit …“ Und jeder von uns hat da ’ne Flasche Rotkäppchen-Sekt mit hingenommen und ’ne Don Pedro, eine von diesen langen Zigarren. Und dann haben wir uns da hingesetzt … War natürlich dekadent, aber irgendwie musste man ja diese Leute ein bisschen ärgern. Jeder hat seine Flasche Sekt geköpft und aus der Flasche getrunken und seine lange Zigarre geraucht, und der Typ aus dem Café, der hat dann mitgeschrieben, was die vom Kulturamt da sagen. Wir wollten einfach nur ein bisschen rumspinnen. Die Kulturamtsheinis sind auf die Barrikaden gegangen, haben uns mit Spielverbot gedroht und gefragt, warum wir das alles gemacht hatten. Dazu konnten wir allerdings nicht viel sagen.

Asteris: Ich hab übrigens zu DDR-Zeiten nie was von diesem Mittelaltermarkt gehört …

Wim: Das hatte sich erst mit der Zeit so entwickelt.

Castus: „Spektakulatius“ nannte der sich und war hier z.B. im Nikolaiviertel ’88 zum ersten Mal. Und dann wieder ’89, Pfingsten, glaube ich, da wussten wir schon, dass es bald losgeht.

Asteris: Gab’s da eine solche „Mittelalter-Szene“ in der DDR, in den 70er, 80er Jahren?

Wim, Castus: Nee.

Wim: Die hat sich wohl Mitte, Ende der 80er erst entwickelt.

Asteris: Spielten solche Musiker, die da auch zum „Festival des politischen Liedes“ kamen, wie „Zupfgeigenhansel“ und so weiter, spielten die ’ne Rolle?

Wim, Castus: Nee.

Folklore in der DDR

Wim: Aber gekannt haben wir die natürlich, über diese Folklore-Schiene. „Zupfgeigenhansel“ war allerdings aus dem Westen. Es gab in der DDR ’ne Folklore-Szene, und das Mittelalter-Ding, das war eine Seitenlinie. Wir waren da so was wie die „Punker“. Weil wir das ganz furchtbar fanden, dass diese Musik für irgendwelche politischen Aktionen genutzt, missbraucht wurde. Musik ist doch eigentlich was Freies. Kann man auch nutzen, wenn man will. Aber in der DDR war das ja von oben verordnet. Das war grauenhaft.

Castus: Da gab’s so ’ne komische Werkstatt. Die fand immer in Ilmenau statt.  Eine Folklore-Werkstatt. Dahin wurden wir einmal eingeladen. Aus jedem Bezirk kam eine Band. „Folklore-Werkstatt des künstlerischen Volksschaffens“. Und so wurden also auch wir dort einmal hingeschickt …

Asteris: Aus welchem Bezirk wart Ihr?

Wim, Castus: Bezirk Potsdam.

Castus: Also, wir wohnten ja früher in Potsdam.

Wim: Na, da war aber was los!

Castus: Das kam so: Wir haben fast nie am Schalter Fahrkarten gekauft, sondern meist erst im Zug. Sind immer durch den Zug gelaufen und haben gespielt. Kamen rein: „Guten Tag, wir sind das Reichsbahn-Unterhaltungsorchester, eine wuuuunderschöne Reise ….“ Dann haben wir immer gedudelt und abkassiert, dann sind wir zum Schaffner gegangen und haben ’ne Fahrkarte gekauft. Und dann war es natürlich immer so: Freitags fuhren alle Bauarbeiter nach Hause, die hatten dann schon so einiges getrunken, da gab’s immer Apricot-Brandy und so weiter …

Folklore-Werkstatt Ilmenau

Wim: Wie wir da angekommen sind, bei dieser Folklore-Werkstatt … Hör auf …

Castus: Dort haben wir Marken bekommen für die vier Tage, Essenmarken, Getränkemarken, und dann haben wir gefragt, ob man für die Essenmarken auch Bier kriegen kann. Konnte man.

Wim: Das haben wir gleich am ersten Abend alles versoffen.

Castus: Da waren alle Marken schon weg. Klar, wir leben gern. Aber anders war das Ganze da absolut nicht zu ertragen. Diese komischen Funktionäre! Und dann spielten die sich immer gegenseitig vor! Das war definitiv falsch. Da war nichts Echtes dran. Am nächsten Tag sind wir auf die Bühne gegangen und sprangen irgendwann ins Publikum rein. Und das fanden die alle total gut.

Wim: Weil es echte Musik war.

Castus: Damals war das noch gemischt. Wir haben sozusagen Folklore-Punk gemacht, unverstärkt, wir hatten ja keine Anlage. Also schon ganz schön punkig. Möglichst schnell, wir haben rumgebrüllt und hatten auch schon mittelalterliche Instrumente – Dudelsäcke, Drehleier. In Potsdam hatten wir einen Proberaum.

Wim: In einem runtergekommenen Haus natürlich.

Castus: Den Raum haben die irgendwann leergeräumt.

Castus Wim Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Asteris: Wann seid Ihr eigentlich darauf gekommen, selbst Instrumente zu bauen? War das im Westen erst oder schon zu Ostzeiten?

Castus: Schon im Osten.

Wim: Zu Ostzeiten, da hat man schon mal so rumgefummelt, aber so richtig gebaut noch nicht.

Castus: Wir haben eher aus alten Instrumenten was gemacht.

Wim: Ach doch! Ich hatte schon ’ne kleine Drechselbank. War tierisch schwer, sich so was ranzuholen. Die konnte man an den Tisch schrauben, damit fing es an, genau.

Asteris: Du warst ja Prothesenbauer …

Wim: Na ja, gut, ich hab das Handwerk gelernt, ja. Aber das Werkzeug und die Maschinen … Die hat man nicht gekriegt. Jedenfalls hatte ich von so einem alten Handwerker …

Asteris: Also ein zweites Bein kann ich von dir schon bekommen …

Wim: Ja klar.

Asteris: Ihr habt also angefangen, die Instrumente zu bauen … Und Wim lässt da auch keinen anderen ran?

Wim: Na ja, manchmal …

Castus: Die Feinarbeit macht er. Aber so grobe Sachen … Kostet auch viel Zeit … Wenn einer ein Instrument hat, dann muss er sich schon selber drum kümmern. Und so hatte es ja auch angefangen. Die Instrumente gab’s nicht zu kaufen. Man musste sich irgendwas einfallen lassen.

Asteris: Und wie seid Ihr darauf gekommen, neue Instrumente zu bauen?

Castus: Das ist ’ne ganz interessante Geschichte. In der DDR gab es so Folklore-Instrumente. Und wir mussten daraus was machen. Also wir wollten ’ne andere Stimmung, dass man Kirchentonarten damit spielen konnte. Da musste man also andere Saiten aufziehen auf die Instrumente. Ich hatte mir das mal angekuckt: So eine Sister – das war eigentlich ein ganz anderes Instrument, dafür nimmt man andere Saiten. Aber ich hab mir dafür eben eine neue Stimmung ausgedacht. Und heute kann man über eBay so eine Sister aus Rumänien kaufen, mit der Stimmung, die ich mir damals ausgedacht habe. Die gibt’s aber eigentlich gar nicht. Da fragt man sich: Was ist denn da passiert in der Welt?

Also Wim hat bei dem Dudelsack einfach den Bordun-Ton verändert, also die Stimmung des Instruments, so dass man damit die Kirchentonarten spielen kann, was ich eben auch mit der Cister gemacht habe. Und inzwischen spielen sie auf der ganzen Welt diese Instrumente, die ursprünglich wir uns ausgedacht hatten. ’85 oder ’86 wurde das Mittelalter von uns neu erfunden.

Asteris: Also geht Ihr davon aus, dass Ihr das initiiert habt?

Wim: Ja, natürlich. Zu der Zeit gab es in der Folklore-Szene so eine Unart: Die haben manchmal Originallieder bearbeitet für ihr Folklore-Zeug, was aber wiederum in den 20er Jahren mal von Wissenschaftlern aufgeschrieben worden war. Darum ging das auch immer alles im 6/8-tel Takt. Haben die eben einfach so gemacht. Was aber nie in Wirklichkeit so war. Und das andere Problem, wovon Castus gerade gesprochen hat, das war die Sache mit diesen Kirchentonarten: In den 80er Jahren, da wurde immer so auf lustig gemacht, so ein bisschen verkitschtes Mittelalter. Das fanden wir natürlich ganz abscheulich, weil das einfach mit dem Mittelalter nichts mehr zu tun hatte.

Also war für uns der nächste Schritt, von der technische Seite her, dass wir natürlich die Instrumente so bauen mussten, wie man das eben braucht für diese Musik. Wie gesagt, die konnte man nicht kaufen. Es blieb einem nichts weiter übrig, als diese Dinger selbst zu bauen. Mit den Dudelsäcken fing das an. Und dann hat sich das allmählich entwickelt, weil wir ja grundsätzlich akustisch gespielt haben. Da fiel uns dann auf: Das ist nicht laut genug. Da mussten wir uns was einfallen lassen, damit die Musik so laut wie möglich wurde, dass man bis zu 800 Leute akustisch erreichen konnte.

Daran habe ich dann sehr lange rumgeforscht und immer wieder gebaut und wieder und wieder was verändert, bis ich dann die geeignete Version hatte. Ich konnte mir auch immer sehr viel anschauen. In Osteuropa zum Beispiel. Die Instrumentenbauer dort, die waren sehr interessant, weil die an das Instrument-Bauen sehr unkonventionell rangehen. Und was ich mir auch oft angeschaut habe: in Frankreich oder in Spanien zum Beispiel, die Gaitas …

Asteris: Im Westen seid Ihr dann viel rumgefahren …

Castus: Na ja, so fing es an. Wir sind in Österreich angekommen und dachten: Ok. jetzt sind wir im Westen, jetzt treiben wir uns erstmal rum. Dann sind wir bei Leuten untergekommen für die Nacht, und da stand am nächsten Tag schon Polizei vor der Tür: „Wir haben gehört, Sie sind Flüchtlinge.“ Und wir waren frustriert, dachten: ‚Das ist ja wie im Osten hier.‘ Dann wurden wir erstmal nach Wien gebracht zur Deutschen Botschaft, dort haben wir ein Ticket gekriegt, dass wir nach Deutschland in so ein Lager fahren konnten, und da haben wir gefragt: „Können wir nicht erstmal noch ein bisschen hierbleiben? Wir waren nie vorher in Wien.“ Wir haben uns einfach auf die Straße gestellt und gespielt. Das ging richtig gut los, wir haben ganz viel Geld verdient und Leute kennen gelernt. Wir hätten eigentlich gleich in Wien bleiben können. Aber die meinten: „Nee, das geht nicht, das ist hier ein anderes Land.“

Asteris: Klar, Ihr brauchtet ja einen Pass.

Castus: Ja. „Ihr müsst nach Deutschland und erstmal die ganzen Legitimationen organisieren.“ Dann waren wir also in Deutschland. Das ist auch ’ne total lustige Geschichte. Da waren wir dann in diesem Lager in Schöppingen, bei Gießen. Dort trafen wir zwei Mädels, zwei Fans von uns, die meinten: „Wir kennen Euch. Ihr seid von „Tippelklimper“. Ihr müsst Euch drauf einrichten, 14 Tage, drei Wochen, vielleicht auch sechs Wochen müsst Ihr hierbleiben.“ Und wir: „Um Gotteswillen! In diesem blöden Lager!“

Asteris: Die Welt war offen und …

Wim: … und wir waren wieder in einem Lager!

Castus: Das war so eine Turnhalle mit Doppelstockbetten …

Wim: Wir sind erstmal in die Kneipe gegangen, in die Dorfkneipe, und von dem Geld, das wir verdient hatten, haben wir erstmal Bier getrunken. Und dann sind wir gleich morgens … Da waren so Baracken, die Fenster offen. Wir haben uns da gar nicht erst angestellt, sondern sind gleich ans Fenster und haben gesagt: „Hallöchen, wir woll’n bloß schnell unsern Pass. Weiter woll’n wir nischt.“ Und die: „Wie? Was?“ Und wir: „Morgen haben wir einen Auftritt in Holland, wir sind Musiker.“ Und die: „Hm. Ja. Na vielleicht können wir ’ne Ausnahme machen.“

Castus: Wir sahen abgefahren aus. Wir hatten Lederhosen an. Und hatten uns Frauenjacken in Rumänien gekauft, weil die so glitzerten, solche Zigeunersachen. Diese Dinger waren eher so wie Barockjacken. Teure Jacken. Die haben umgerechnet richtig viel Geld gekostet, und die uns die verkauft haben, waren auch total erstaunt, weil wir doch solche Straßenleute waren, wie wir dann mit so einem Sack voll Geld ankamen. Die Jacken, die waren gut für uns, das war ’ne super Kostümierung. Dann hatten wir auch unsere selbstgemachten Lederschuhe an. Unsere Kleidung war kunterbunt.

Wir haben immer gesagt: Ok., wenn irgendwas kaputt geht, dann darf man’s flicken, aber nicht vorher daran rumpopeln. Denn uns ging es ja darum, dass man möglichst irre aussieht. Und wenn wir was Interessantes gesehen haben, fragten wir immer: „He, das ist ja ein schöner Stoff, darf ich mir davon ein Stück abschneiden?“  Daraus wurde dann irgendwann eben wieder ein Flicken. Wir waren Originale, wir sahen wie irre Spielleute aus. Und überall, wo wir waren, haben wir auf der Straße gespielt, für Kost und Logis. Das hat wirklich geklappt.

Jedenfalls haben wir an diesem Tag im Lager tatsächlich unsere Entlassungspapiere gekriegt. Wir haben unser Ticket nach Osnabrück bekommen, und am nächsten Tag haben wir in Uettingen in Holland auf der Straße gespielt, da war zu der Zeit gerade auch ein Festival in Utrecht. Da war eine Instrumentenmesse oder so was. Und wir hatten ja in Deutschland auch das Begrüßungsgeld bekommen. Jeder 100 Mark. Für die 200 Mark haben wir dann so eine große Schalmei gekauft. Die hat Wim dann irgendwann in der Mitte durchgesägt …

Wim: Ich wollte kucken, wie die innen aussieht.

Castus: War wirklich interessant, was da passierte. Wir haben auf der Straße gespielt, und dann kam ’ne Schriftstellerin auf uns zu, die meinte, für ein paar Jahre würde sie nach Chile gehen, um da Entwicklungshilfe zu leisten oder so was, und sie wollte ’ne Abschiedsparty geben und uns als Musiker einkaufen. Da hatten wir also gleich unseren ersten Gig.

Wim: Gleich die erste Gage. Damit warst du nach zwei Wochen gleich aufgenommen. Das war gut, um irgendwie anzukommen.

Castus: Und mit dem Geld, was wir da verdient haben, sind wir dann nach England und haben uns dort erstmal ’ne Weile rumgetrieben.

Wim: Waren erstmal in Amsterdam, da hat uns jemand eingeladen.

Castus: Ein Kumpel von Peter Gabriel.

Wim: Weil der damals gerade sein Weltmusik-Projekt gemacht hat. Der wollte uns dafür haben. Nun war das Dumme aber, dass Peter Gabriel selbst zu der Zeit auf Tournee war, und wir hatten immer mit diesem Menschen zu tun. Ein furchtbarer Kiffer. Das war grauenhaft. Der konnte nur 20 Minuten am Tag arbeiten, dann war der fix und fertig. Da haben wir uns gesagt: Jetzt hauen wir ab, wir sitzen schon einen Monat hier rum.

Castus: Aber der hatte einen Sampler. Und wir haben das erste Mal erlebt, was ein Sampler bedeutet. Der Peter Gabriel hat ja viel mit Samples gearbeitet. Und das war so ein Ding, das acht Megabit hatte oder so. So ein Riesenkasten. Wir haben Dudelsäcke gesampelt und Maultrommeln, wir haben sehr lustige Musik gemacht. Das war sogar richtig gut. Wir haben dann das Band genommen, haben dem Typen aus dem Spielzeugladen so eine kleine Spielzeuggitarre gekauft, auf seinen Regiestuhl gelegt und das Band genommen … Wir wollten natürlich nicht, dass er mit unserem Zeug arbeitet. Dann sind wir nach Sheffield zum Dudelsack-Festival und haben da ’ne Gräfin kennen gelernt.

Asteris: Da wart Ihr immer zu zweit.

Castus: Ja. Wir waren ein gutes Jahr so unterwegs. Also so richtig zigeunermäßig, Straßenmusik, Leute kennen gelernt und so was. Wir hatten uns gesagt: Wir sind jetzt abgehaun, wir haben jetzt anderthalb Jahre Zeit gewonnen, die wir sonst bei der Armee gewesen wären. Diese anderthalb Jahre werden wir uns einfach rumtreiben und machen, was wir wollen, Spaß haben.

Castus Wim Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Wim: Am 9. November waren wir in London, bei ’nem Kumpel, der in der „School of Furniture“ studiert hat, wo er auch immer unsere Instrumente reparierte, und da haben wir am 09.11. abends bei den News gesessen und uns gefragt: Was ist denn das für ein abgefahrener Film, wo die Leute auf der Mauer rumtanzen? Für uns war das Thema Mauer ja eigentlich abgeschlossen gewesen. Aber nach drei Tagen kam uns dann der Gedanke: Mensch, da ist was im Gange! Wir haben versucht, irgendwen anzurufen mit diesen billigen Telefonen. Und dann hab ich endlich einen erreicht. Erst da haben wir das dann mitgekriegt. Gleich zurück. Wir haben uns sogar noch die DDR-Pässe wiedergeben lassen. Weil, dann war es für uns ok., die Welt. So hätte es bleiben können. Man lebt in der DDR und kann reisen …

Castus: Aber wir durften erst in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember einreisen.

Klaus: Warum?

Castus: So war es eben. „Straflos“ einreisen. So war das Gesetz. Leute, die abgehauen waren …

Asteris: Es gab also ein Amnestiegesetz … Jedenfalls zu Weihnachten durftet Ihr zurück.

Castus: Ja, wir mussten also erstmal abwarten, bis die auch wirklich Grünes Licht gegeben haben. Aber im September waren wir schon mal in Westberlin gewesen, da haben wir uns z. B. mit meiner Mutter getroffen, waren dann in der Friedrichstraße und sind auch mit der U-Bahn gefahren. Und auf einmal … Wir kannten uns ja nicht aus … Auf einmal waren wir wieder im Osten! Die U-Bahn fuhr ja durch den Osten. Dann hielt sie, und da stand neben dem Fenster, hinter dem wir saßen, so ein Grenzer mit Reiterhosen und MG. Und wir dachten: Scheiße, jetzt holen die uns raus! Man kennt das ja aus Filmen, wo man dann so ganz langsam und unauffällig die Bank runterrutscht … Ja, da haben wir noch mal Angst gehabt.

Asteris: Aber es waren zu der Zeit doch schon Tausende, die über Budapest …

Wim: Trotzdem, man hatte ja noch dieses Feeling. Plötzlich hämmerte es im Brustkorb. Jedenfalls haben wir uns dann weiter so rumgetrieben, und irgendwie war das für uns interessant, das Leben der Spielleute des Mittelalters auf diese Weise sozusagen zu erforschen. Einerseits kann man’s in Bibliotheken, andererseits war das aber eine Möglichkeit, es live zu erleben. Wir tingelten durch Europa. Ja, und im gewissen Sinne ist es ja immer noch so; wir sind als Band weltweit unterwegs …

Klaus: In der DDR hättet Ihr keine Straßenmusik machen können – oder?

Wim: Doch, haben wir auch gemacht, aber wir haben uns die Straßenmusikerlaubnis selber geschrieben. Wir haben ja alles auf den Kopf gestellt. Wir hatten einen Stempel. Und dann hatten wir auch einen Kumpel in Potsdam, der für diese Einkaufstraße in Potsdam zuständig war, der hat uns auch einen Stempel auf unser Papier gedrückt. Und damit sind wir dann zu den Kulturämtern, die haben auch ihre Stempel raufgedrückt. Da hatten wir sechs oder sieben Stempel und haben dann gespielt. Die Polizei kam. Wir hatten das Papier eingeschweißt in eine Folie, das haben sie dann gesehen und hatten einfach Respekt vor diesen ganzen Kulturstempeln. In Wahrheit war das natürlich überhaupt nichts wert. Du brauchtest ein Dokument vom Erlaubniswesen, so hieß das.

Castus: Aber alle glaubten: Ok, wahrscheinlich ist das bei den Ämtern jetzt so.

Wim: Allerdings in Leipzig oder Jena … Da wurde man ab und zu mal eingesperrt. Da kam man dann in Gewahrsam, war aber nach zwei Stunden wieder draußen.

Castus: Irgendwann hatte sich für uns dieses Thema mit der Spielgenehmigung und der Einstufung als Profi oder nicht Profi erledigt, denn wir haben in der DDR dann Musik für Märchenfilme gemacht und dann auch für Dokfilme, aber da waren die Spielleute zugleich auch Schauspieler. Die Steuern wurden automatisch abgeführt. Und von diesem Augenblick an galten wir in der DDR als Berufsmusiker. So ab ’88. Man wollte uns zwar trotzdem immer noch ein bisschen an den Karren pissen, konnte uns aber nichts mehr anhaben. Weil wir ein Filmprojekt hatten, waren wir Berufskünstler und Schluss.

Wim: Straßenmusik machten wir dann später immer weniger. Das hatte irgendwann keinen Sinn mehr. Es war nicht mehr dieses revolutionäre Ding wie zu DDR-Zeiten. Allerdings gab es noch ein paar Ausnahmen wie z. B. in Frankreich, in Avignon.

Klaus: Ich hab in Holland ’ne Band erlebt, die haben klassische Musik gespielt und dann auch Freejazz … In Deutschland gibt’s da ’ne strikte Trennung. Während in Holland … Da ist es ganz anders. Da gibt’s diese Trennung nicht. Da haben solche Bands unheimlich viel Erfolg gehabt. Die sagten abends: Wir machen jetzt Jazz, und tagsüber, da machten sie Straßenmusik. Die haben noch ein kleines Theater gehabt, in Amsterdam, da wurden alle Anarchistenopern gespielt.

Wim: Also, ich hab bestimmt solche Musik gehört. Kam immer beim RIAS-Nachtkonzert. Mit acht oder neun Jahren hab ich solche Musik gehört. Keine Ahnung, warum mich das so geritten hat. Ich hab ja weder selbst solche Musik noch sie irgendwo sonst gehört. Aber ich habe eben nachts immer heimlich dieses RIAS-Nachtkonzert gehört, Freejazz. Das war für mein Alter total abgefahren. Und als meine Eltern irgendwann das Radio gefunden haben, da haben die gesagt: „Was hört denn der Junge da? Der ist nicht ganz gesund. Der ist doch verrückt.“ Zuhause gab’s ja nur Klassik und Blasmusik.

Asteris: Und wie ging’s dann weiter, nach diesem einen Jahr „Armeezeit“ im Ausland?

Castus: Eigentlich war es so, dass wir erstmal das weitergeführt haben, was wir in der DDR auch gemacht hatten. Es war sozusagen das Studium des Lebens als Spielmann, um sich auszuprobieren. Zu DDR-Zeiten, da liehen wir uns mehrmals einen Esel von einem Kumpel aus. Der hatte dann noch solche Taschen gemacht, die man dem Esel über den Rücken legen konnte. Da steckten wir die Instrumente rein. Und dann haben wir noch so einen alten kleinen Bollerwagen gehabt, damit sind wir dann einfach über die Dörfer gezogen. Vorher hatten wir festgelegt: Keiner nimmt Geld mit; wir machen jetzt richtig auf Fahrende Spielleute. Wir waren fünf, sechs Leute, haben uns immer auf dem Marktplatz hingesetzt und nachmittags ausgerufen: „Die Spielleute geben heute ein Konzert!“ Das fand natürlich in der Kneipe statt, in einer ordentlichen Dorfkneipe.

Wim: Überall, wo wir hingekommen sind, erregte das Aufsehen. Das fanden die Leute irgendwie gut, dass da auf einmal ein Kulturprogramm läuft.

Doro: Also schon im Osten?

Wim: Ja.

Castus: Im Westen haben wir das auch gemacht, aber da war das … Also da mussten wir nach 14 Tagen abbrechen, denn es hat keinen Spaß mehr gemacht. Man war dort auf einmal so was wie ein Penner, merkwürdigerweise. Das war ’ne andere Situation. Das war da nichts Besonderes. Also es war schon was Besonderes, aber eher aus dem Blickwinkel der Leute: „Haut bloß ab hier, Ihr wollt ja nur … Das ist ja keine Kultur, die wollen uns nur das Geld aus der Tasche ziehen.“ Das war in der DDR anders mit dieser Straßenmusik. Es gab ein dankbares Publikum, weil die Leute gewusst haben: Das ist was Ungewöhnliches.

Wim: Nichts von oben Verordnetes. Darum hat’s allen auch Spaß gemacht.

Asteris: Anarchie …

Wim: Anarchistisches Volkskunsttheater.

Castus: Auch wenn die Leute das gar nicht so als Antihaltung gesehen haben, aber es gab immer einen Auflauf auf dem Dorfplatz. Da stand auf einmal so ein oller Wagen, wo noch so ’ne Fahne dranhing. Wir hatten damals auch noch einen Raben dabei, der immer mitgeflogen ist.

Asteris: Darum „Corvus Corax“?

Castus: Ja.

Wim: Handel haben wir übrigens auch getrieben. Wir hatten riesige Stoffballen dabei. Jemand hatte uns diese Gardinenstoffballen geschenkt. Die wollte aber keiner. Nicht mal geschenkt. Irgendwann wollten wir sogar noch 1.000 Mark dazugeben, und trotzdem wollte das Zeug keiner. Das war verschärft. Die Leute wollten nur Musik hören. Der Gardinenstoff hat die nicht interessiert.

Castus: Und Puppenspiel gab’s auch. Da hat sich einer von uns hinten in den Wagen reingesetzt und dann für die Kinder Puppenspiel gemacht, wir haben Balladen erzählt von Francoise Villon „Jean, Jaques und Nicolo“, kennt man ja wahrscheinlich. Wir sind richtig gut über die Runden gekommen. Sechs Wochen zogen wir so über Land. Und für den Winter hatten wir dann ein Goldsäckel.

Asteris: Und geschlafen habt Ihr in dem Wagen? Oder seid Ihr ins Hotel gegangen?

Castus: Nein! Überall, bei Leuten, im Stroh, in der Scheune, im Stall.

Doro: Im Stall! Wahrscheinlich bei irgendwelchen Frauen!

Wim: Bei Frauen natürlich noch lieber! Ist ja klar! Das gab allerdings manchmal Ärger, wenn es die Frau vom Pastor war oder so.

Asteris: Das ist auf dem Dorf nicht so einfach …

Wim: Na, die Frauen waren immer ganz begeistert, aber die Männer …

Asteris: Obwohl … Die Männer hätten dankbar sein müssen … Ihr seid ja dann wieder weg gewesen …

Castus: Interessanterweise war das so in Mexiko. Also da ist das so: Die Frauen dürfen sich ein bisschen rumtreiben, denn wir sind ja dann weg. Und dann wissen die Männer: okay, es ist dann auch wieder Schluss.

Asteris: Ihr habt ein bisschen Spaß, sagen die, und uns geht’s auch gut.

Castus: So sehen die Männer da schon aus … Ja, und dann war’s so nach den anderthalb Jahren, dass wir uns gesagt haben: Jetzt machen wir es mal ein bisschen anders. Schon weiterhin mit viel Spaß, aber jetzt versuchen wir das mal ein bisschen zu organisieren. Dann haben wir ein Theater organisiert und so weiter. Und dann waren wir ja in Japan.

Asteris: Von Berlin aus aber – oder?

Castus: Berlin war inzwischen unser fester Platz. Es kam also das Angebot aus Japan, für ein Vierteljahr. Da gab es so einen „Glück Okoku“. Das ist ein Milliardär, der hat da eine deutsche Stadt erdbebensicher hinbauen lassen, also eine mittelalterliche Stadt und ’ne Kirche und ’nen Marktplatz, und da haben wir ein Vierteljahr gespielt.

Wim: Und ein Schloss hat er sich auch hingestellt.

Asteris: Nein! Ist nicht Dein Ernst!

Wim: Doch.

Castus: Ein ganz verrückter Typ. Da gibt’s also diese Stadt. Und dahinter ein Karussell, eine Achterbahn, ein Vergnügungspark, aber ein deutscher eben. Total abgefahren. Da machten wir also zweimal auf dem Marktplatz ein Marktplatzkonzert und einmal in der Kirche, mit Dolmetscherin, wo man eben so ein bisschen höfischere Musik gemacht hat. Total abgefahren. Dieser Kulturschock! Aber für uns natürlich genau das Richtige. Das ist ja das Richtige für Spielleute. Sich da sozusagen einfach noch mal ein bisschen von etwas anderem beeinflussen zu lassen.

Wim: Unser Anliege war schon immer, die europäische Musik in ihrer Vielfalt wahr- und aufzunehmen. Oftmals stehen die Leute in anderen Ländern doch nur auf ihre eigene traditionelle Musik. Und ein weiterer Punkt ist auch immer gewesen: Deutschland. Wir wollten zeigen, dass auch Deutschland etwas mit der europäischen Kultur der damaligen Zeit zu tun hat. Wir waren und sind total offen für andere Einflüsse und haben viel davon verarbeitet, Einflüsse von überall in Europa, speziell aber aus Osteuropa, und das haben wir dann eben im Laufe der Zeit auch hier auf die Bühnen gebracht. Wie die Typen früher, im Mittelalter, die überall was auflasen, Melodien, die sie dann woanders hinbrachten, und auch Geschichten; die waren ja so eine Art Nachrichtenerzähler. Fernsehen gab’s ja nicht. Das ist bis heute unser Anliegen.

Uns ist irgendwann aufgefallen, dass immer sehr viel gesprochen wird von der Bedeutung der Seidenstraße, die sie damals hatte. Und auf der waren diese Spielleute ja wirklich unterwegs. Mit denen, die Handel trieben, kamen auch die Spielleute. Da wurde alles aus der Ferne mitgebracht. Schrift und gerade eben auch Musik und Instrumente. Aus diesem Grund haben wir schon lange einen Traum: Dass wir mal diese Seidenstraße langziehen, am besten auch mit so einem Eselskarren. Früher ging das leider noch nicht wegen China. Aber im letzten Jahr haben wir da gespielt, und da stellten wir fest, dass es letztendlich wohl doch möglich wäre, mal so ein Unternehmen in die Wege zu leiten.

Castus: Der Traum ist sozusagen der: Zum Karneval in Venedig haben wir ja schon mal gespielt … Also wieder zum Karneval in Venedig zu spielen und dann die Route – es gibt ja zwei Routen, einmal die nördliche und einmal die südliche – bis Peking zurückzulegen. Zwischendurch mal sehen, ob das mit Mädels dann klappt. Sonst muss man eben einen modernen Eselskarren nehmen.

Wenn man sich überlegt, was musikalisch eigentlich alles aus Asien kommt, alle Dudelsäcke, die meisten Saiteninstrumente. Seit dem 8., 9. Jahrhundert, da hat man hier fast immer noch auf Stein gehauen. Da gab es hier fast keine Musikkultur. Und all das kommt aus Osteuropa oder von noch weiter her. Der Dudelsack aus Indien. Und verschiedene Blasinstrumente sind eben wirklich aus China. Wenn man das alles schon theoretisch zurückverfolgt hat, ist es eigentlich ganz logisch, dass man da einfach mal kucken will und dass man mit den Leuten, die vor Ort traditionelle Musik spielen, auch was zusammen macht.

Wim: Wir wollen praktisch die Route abfahren und nachweisen, dass man mit allen Musikern, die in Orten entlang dieser Route ansässig sind, auch noch heute zusammen musizieren kann. Und das wird hundertprozentig klappen. Gar kein Problem.

Castus: Vielleicht muss man hin und wieder mal ’ne Stimmung ändern …

Wim: Oft ist es so, dass das, was da heute so zelebriert wird, nichts mit mittelalterlicher Musik zu tun hat. Das ist ja Folklore-Rock mit Billigtönen, mal schnell so runtergespielt. Find ich schrecklich. Kein Wunder, dass viele Leute da so eine Abneigung haben. Also so was machen wir auf keinen Fall.

Doro: Na, Ihr hab ja auch Stücke wie z.B. die „Tusca“ oder „Mazedonischer Tanz“ oder „Seikilos“. Ich hab jetzt gegoogelt über’s Wochenende. Da gibt es so eine griechische Gruppe, die spielen das auch und sagen: Das Stück haben sie bei Euch entdeckt, diesen Tanz.

Castus: Das hat natürlich was. Dass wir irgendwas ausgraben aus der Musikkultur eines anderen Landes. Und dass die Leute von dort das dann später hören und ganz erstaunt sind, was sie ursprünglich in ihrem eigenen Kulturschatz hatten.

Wim: In Portugal war das auch so. Die spielen inzwischen aus der Cantiga de St. Maria. Wir mussten das natürlich erst noch bearbeiten. Weil wenn man aus der Cantiga de St.Maria spielt ist das ok. Wir empfinden es so, dass das wirklich Folklore in der damaligen Zeit war – oder komponierte Musik, die wie Folklore klang. Daraus wurde dann geistliche Musik, und dann wurde das irgendwann später, als es aufgeschrieben war, von wieder anderen Musikern sehr ernst genommen und so gespielt. Wenn man das heutzutage nun alles ein bisschen frischer interpretiert – dann klingt es wieder ursprünglich. So ist das mit der meisten Kirchenmusik, wenn man sich die ankuckt. Wenn man die doppelt so schnell spielt, merkt man: Aha, das ist Eure Folklore.

Castus: Das wird immer so akademisch gesehen, aber das muss man eigentlich gar nicht. Einmal haben wir bei den „Tagen der mittelalterlichen Musik“ in Leipzig gespielt, und dann kam ein Musikprofessor nach dem Konzert zu uns und meinte: „Ihr habt mir die Augen geöffnet. Ich hatte ganz vergessen, dass es im Mittelalter auch junge Leute gegeben haben muss, die einfach gute Laune hatten und dann einfach auch ein bisschen doller, ein bisschen derber gespielt haben.“  Das war nicht nur bei einer Bauernhochzeit so, sondern auch bei Hofe, überall. Partymusik. Wo die Leute tanzen können und richtig ausflippen. Wir haben einfach alles doppelt so schnell gespielt.

Wim: Oder lauter. Dazu haben wir „LSD“ gesagt: Laut, schnell und dorisch. Dorisch – das ist diese eine Kirchentonart.

Castus: Für diesen Professor war das schon relativ wichtig, das sozusagen in echt mal zu erleben. Es gibt natürlich diese „höfischen Bands“, die dann mit so einer Klamotte da stehen. Und dann sieht dieser Mann auf einmal diese richtig wilden Spielleute, die sozusagen aus …… gekommen sind und quer durchs Land ziehen. Und da meinte er: Ok., klar muss es damals schon so was wie die Rockmusik gegeben haben.

Wim: Man kann es ja interpretieren, wie man will. Die Freiheit haben wir uns immer genommen. Wer sagt denn, wie es damals war? Das kann keiner sagen. Und auch wir kommen jetzt nicht daher und sagen: So, wie wir es machen, ist es eigentlich im Mittelalter gemacht worden.

Asteris: Der Akademismus hat, denke ich, eine recht negative Rolle gespielt, überhaupt, in der Literatur, in der Sprache. Das einfachste Beispiel ist: Zum Beispiel ist die Aussprache des Altgriechischen von deutschen Altphilologen im 19. Jahrhundert festgelegt wurde. Es ist einfach absurd. Kein Mensch hat je so gesprochen. Aber die haben das irgendwie durchgesetzt, weil die glaubten, dass es so war. Inzwischen ist es zwar üblich, dass man so Altgriechisch spricht, aber alle wissen, dass es Nonsens ist.

Wim: Hast du das Seikilos-Lied von uns schon mal gehört?

Castus: Da singen wir Altgriechisch. Erst sind wir hier zur Hochschule gegangen. Ganz oft gehen wir zur Hochschule. Aber dann haben wir immer öfter griechische Freunde gefragt, und die meinten: Hundertprozentig kann man das nicht sagen, wie dies und das ausgesprochen wird, aber es sei schon in Richtung des Griechischen. Und dann gibt’s eine CD, wo wir antike Musik gemacht haben. Da ist auch dieser Seikilos mit drauf. Also der Seikilos, der hat auf seiner Grab-Stele schreiben lassen, dass es gut ist zu leben; man weiß nie, wann es zu Ende ist, man soll immer genießen. Das ist 2.300 Jahre alt. In Silben verfasst. Also damals wurde auf Silben – so ähnlich wie Do Re Mi Fa Sol, so ähnlich wurde die Musik auf die Silben geschrieben. Wir haben uns sehr damit beschäftigt, haben das ganze Ding noch mal neu bearbeitet. Weil es schon Überarbeitungen gab, wo aber irgendwas in der Musik nicht stimmte. Da haben wir noch mal einen ganz neuen Weg gefunden, von der antiken Musik hin zu dem.

Corvus Corax Interview von Asteris Kutulas
Corvus Corax concert „Cantus Buranus II“, March 2009, directed by Gert Hof, photo © by Sabine Wenzel

Asteris: Ich glaube, ich hab irgendwo gelesen, Ihr habt auch mal ein Techno-Projekt bzw. ein Projekt mit Techno-Musik gemacht?

Wim: Ja, das wird immer so gesagt, aber das war eigentlich mehr Rock’n’Roll. Techno … vielleicht mit technischen Einflüssen. „Tanzwut“ heißt das.

Doro: Nee, ich glaube, er meint nicht „Tanzwut“. Ihr habt doch auch eine Tanzplatte gemacht, nicht „Tanzwut“ …

Castus: Du meinst „Electronica“, genau, das sind Remixe.

Wim: Delgado hat da z.B. auch was gemacht. Sehr schön. Ist gut geworden.

Castus: Das ist schon sehr interessant gewesen. Der hat nicht wie die anderen Techno-Produzenten mit dem Computer gearbeitet, sondern er kam mit einer Play Station zu uns. Das war echtabgefahren …. bei uns unten im Studio … und das mit der PlayStation …

Asteris: Das ist ja das, was Du vorhin sagtest: Im Grunde genommen ist der Ursprung dieser gesamten Musik – die „Tanz-Wut“ – der Tanz. Selbst Bach und Mozart, das sind ja alles Rondos usw., Tänze, die sie als musikalische Motive benutzt haben. Erst als die Absolute Musik im 19.Jahrhundert sich durchsetzte, änderte sich das … Die ganze andere, volkstümliche Musik beruht auf Tänzen, und zwar seit der Antike. Darum kam ich darauf und finde Remixe von Euren Stücken so interessant, denn da geht es auch nur noch um „Tanz“. 

Castus: Es gab ja im Mittelalter – 1348 fing das an – die Tanzwut-Bewegung oder auch die Veitstanz-Bewegung. Als in Italien dieses Schiff mit den Pest- und Todkranken ankam. Das war, glaube ich, 1347. Da kam diese Pestepidemie über Europa, wo wohl ein Drittel der Menschen gestorben ist. Und da gab es Spielleute, die machten das, was wir machen, mit Dudelsack und Trommel, die sind über Land gezogen oder durch die Stadt und haben einfach gepredigt, dass es keinen Sinn mehr hat, das normale Leben weiterzuführen, denn man würde sowieso sterben. Die Welt ginge unter. Man würde sterben. Man solle lieber alles verkaufen, alles stehen- und liegenlassen und mit den Spielleuten mitziehen.

Wim: … Also zig Spieler, die kamen dann und haben getrommelt …

Castus: Wahrscheinlich spielten da auch gewisse Drogen wie Fliegenpilz eine Rolle. Das wurde so beschrieben, dass die Leute dann einfach mit dem Kopf an die Wand geschlagen haben, bis sie tot waren. Totale Ekstase. Die Spielleute haben gepredigt, haben einen Haufen Geld verdient. Und es wird beschrieben, dass es Tausende Leute waren, Tausende Leute sind mit denen mitgezogen. Vorn die Spielleute, dann die Besessenen und ganz hinten die Familienangehörigen der Besessenen, die Angehörigen, die sie vom Gegenteil überzeugen wollten.

Wim: Das muss ein irres Bild gewesen sein.

Castus: Und das hat natürlich nur mit dem Tanz zu tun. Die Leute wollten sich tot tanzen.

Klaus: Was ich erlebt habe auf Kreta … Diese Musik der Berge… Im Laufe der Jahrhunderte hatten die Schafhirten Zweizeiler gesammelt, das war die textliche Grundlage der Musik. Die haben sie dann früher eine Woche lang gespielt, bei Hochzeiten. Das ist heute noch so. Ich hab das mal zwei Tage hintereinander miterlebt. Das ist ein Grundrhythmus, auch mit arabischen Einflüssen, der dich wirklich zur Ekstase treibt, weil der immer und immer, Tag um Tag …

Asteris: Ja, an zwei, drei Tagen immer nur der eine Rhythmus. Ununterbrochen.

Wim: Das gibt es auch ganz viel in Osteuropa, bei Hochzeiten, drei, vier Stunden wird immer das gleiche Lied gespielt. Es kann sein, dass die Musiker sechs Stunden spielen. Immer, sobald wieder ein Gast kommt, müssen die einen trinken, dann wird das Geschenk übergeben, dann sitzen die da, und dann spielen sie wieder das gleiche Lied.

Asteris: Das gibt’s in Griechenland so nicht. Es ist nicht dasselbe Lied, das die Musiker spielen. Und da werden auch keine Pausen gemacht, sondern die spielen ununterbrochen.

Wim: Ja, das hab ich mit eigenen Augen gesehen. Ich hab das nicht geglaubt, aber es stimmt tatsächlich. Jedenfalls, was ich da vorhin erzählt habe… Also damals war ich illegal in der Sowjetunion. Da gab’s ja diese Möglichkeit mit einem Durchreisevisum nach Rumänien, also ’ne ganz abstrakte Geschichte. Aber so kam man eben nach Mittelasien. Ich war dann auch an der chinesischen Grenze und bin dann wirklich die nördliche Seidenstraße zurück, hab also schon Teile selber bereist, zu DDR-Zeiten. Buchara, Samarkand, Ashkhabad. Ich war damals schon fasziniert, hab damals auch schon Leute kennen gelernt, hab meinen Dudelsack mitgehabt und hab da wirklichschon Musik gemacht, aber noch nicht zusammen mit den Leuten von dort, sondern ich hab einfach nur so mit meinem Dudelsack da gestanden und für die Leute gespielt. Damals denke ich mal, es war zwar schon zu Gorbatschows Zeiten … da war das schon ein bisschen offener. Wann war ich denn da? ’87. Aber da war das trotzdem noch nicht so, dass da einfach die Leute auf der Straße spielen konnten. Das war alles noch ganz schön krass. Also man merkte diese Sowjetunion in diesen Gegenden noch extrem.

Castus: Also, unser Traum wäre, zu starten in Venedig wie Marco Polo, und dann nicht übers Meer, sondern weiter über Aserbaidschan. Da haben wir ja auch schon ein bisschen Musik, da können wir also auch schon was einbringen und da spielen. Und dann einfach die Tour bis Peking machen, und von Peking dann mit der Transsibirischen Eisenbahn über Ulan Bator bis Moskau fahren …

Doro: Wieso Moskau …

Castus: Weil der Zug von Peking nach Moskau fährt und nicht nach Paris.

Wim: Kann man viel Wodka trinken unterwegs, ist doch gut.

Asteris: Weil Du sagst: In Russland leben ja 100 Völker. Das wäre was Spannendes …

Wim: Das wäre allerdings sehr interessant für uns. Ich will mich seit Jahren schon mit richtig alter russischer Musik beschäftigen, hatte aber noch nie die Initialzündung, dass es mich so richtig packt. Da würde ich mich sofort in die Bibliothek setzen; ich hab auch sehr viel Material zuhause, würde sagen: Ok., wir nehmen uns ein sehr altes Stück, aus der russischen mittelalterlichen Musik – bloß keine kirchliche Musik, denn am liebsten mögen wir es weltlich.

Castus: Aber das ist nicht so einfach …

Wim: Doch doch … Da gab es sogar schon ein paar Handschriften.

Asteris: Ihr kennt ja Andrej Rubljow, den Film von Tarkowski?

Wim: Ja klar.

Asteris: Da kommt das sehr zum Ausdruck, diese Tradition, am Scheitelpunkt zwischen dem Zarentum und dem „niedrigen“ Volk, der Kampf der Kulturen, die Kirche im Mittelpunkt, daneben das Heidnische, die Hexe, derer sich der Ikonenmaler Andrej Rubljow zeitweilig annimmt, Ihr erinnert Euch: Strawinsky, „Das Frühlingsopfer“, ein junges Mädchen tanzt sich zu Tode, das war ein heidnischer slawischer Brauch … All das prallte da in Russland aufeinander.

Wim: Ja genau.

Asteris: Ich finde das sehr spannend: „Corvus Corax“ und die Begegnung mit diesen anderen Kulturen, und immer wieder der Tanz …

Castus: Ja, bei uns ist das so. Als wir in China waren oder wenn wir anderswo sind, dann sind wir auch immer so etwas wie Kulturbotschafter in dem Augenblick. Wenn wir in China dieses „Chou Chou Cheng“ spielen – das ist 3.000 Jahre alt. Das ist wahrscheinlich das älteste überlieferte Musikstück, das es gibt. Wenn wir das dann spielen, und in China kennt das keiner, und dann erfahren die Leute dort die Story dazu … dann finden die das total abgefahren. Aber wir haben solche Stücke natürlich bearbeitet. Es ist, wenn wir es spielen, immer „Corvus Corax“. Wenn wir z.B. was Russisches bearbeiten, wäre es dann auch „Corvus Corax“.

Asteris: Klar. Und es kann natürlich sein, dass dann bei der Begegnung mit Musikern vor Ort natürlich noch ganz andere Stücke entstehen. Spielleute on the Road. China, Griechenland, Türkei, z.B. in so einer Stadt wie Istanbul, wo sich ganz Vieles trifft.

Wim: Das ist extrem interessant. Da kommt alles zusammen …

Asteris: Griechisch-Osmanisches, Byzantinisches …

Wim: Arabisches …

Castus: Ein Besuch in Konstantinopel!

Asteris: Zugleich eine Reise zwischen dem realen Leben und der digitalen Welt, zwischen Mittelalter und Moderne. Das ist auch unglaublich spannend.

Wim: Haben wir ja sozusagen gerade gemacht.

Asteris: Diese Dualität, das finde ich schon aufregend. Wir leben heute in einer virtuellen Welt. Musiker, Spielleute, die, denen dieses Mittelalterliche anhaftet, plötzlich in dieser digitalen Welt. Wie kommt das zusammen? Der Tanz, das Handgemachte, die PC-Welt: dieser extreme Widerspruch. Das ist einfach ein Konflikt. Lassen diese beiden Welten sich vereinen? Kommt da etwas zusammen?

Castus: Was Du da erzählst, das ist total interessant. Für China: Fernsehen – und dann aber auch Internet. Wim und ich, wir sind ein bisschen länger in China geblieben und hatten dort bei ’nem Internet-Fernsehsender einen Fernsehauftritt. Und wenn man dann denkt: Internet-Fernsehen, Internet-Radio, dann stellst du dir immer vor: 5.000 Zuschauer oder Zuhörer. Aber dort: 90 Millionen! Da waren 90 Millionen live am Computer, als wir da gesprochen haben. Das ist doch irre. Wir dachten: Das kann doch wohl nicht wahr sein. „Ja, das ist hier der größte Sender.“ Die haben teilweise mehr Publikum als das Staatliche Fernsehen. Weil es eben für junge Leute ist.

Wim: Das ist ja dasselbe Thema: Dass diese Medien, die alten, eigentlich gar nicht mehr funktionieren, CDs usw. Das läuft inzwischen alles über Computer … Ich hab mir da in China fünf, sechs CDs mit traditioneller chinesischer Musik gekauft. Da stand dann auch noch ‚Made in Germany‘ drauf, weil: Es ist natürlich klar, dass die traditionelle chinesische Musik in Deutschland produziert wird …. und die haben das Stück für 1,50 Euro verkauft. Waren aber wirklich gut gemacht …

Castus: Wir sagen uns seit Jahren in der Band, scherzenshalber: Eigentlich wollen wir mal den Tag erleben, wo es auf einmal keinen Strom mehr gibt. Denn: Wir können immer noch spielen. Auf irgendwelchen Festivals – wo andere Bands dann einfach einbrechen würden, da spielen wir immer weiter.

Wim: Ja, bei uns, die Dudelsäcke … Da wird immer geschrieen … „Hallo!“

Castus: Wie sich das entwickelt hat … Man hört das auch bei unseren CDs. Die ersten CDs, da sind die Aufnahmen noch aus der DDR; die haben wir bei der DEFA aufgenommen, nachts.

Wim: Damals haben wir was für einen Märchenfilm gemacht. Da haben wir den Hausmeister bestochen, und dann haben wir nachts das Studio gekapert und haben über Nacht dort ’ne Platte aufgenommen. Und wir sind morgens gerade so fertig geworden. Die Bänder sind noch gerollt, die konnten wir gerade so noch rausnehmen, haben uns versteckt, bis der dann aufgeschlossen, Licht angemacht hat, und dann sind wir raus.

Asteris: Herrlich.

Castus: Die Bänder sind im Laufe der Zeit verloren gegangen. Aber die Aufnahme, die gibt’s natürlich, digital.

Wim: Leider ist die erste Corvus-Corax-Aufnahme, die wir beide im holländischen Nachrichtenstudio aufgenommen hatten, verschrottet worden, zusammen mit meinem alten Auto. Als wir da bei einer holländischen Schriftstellerin zu Besuch waren, da gab es so einen sehr zarten Freund von ihr – einen Jüngling, der war irgendwie Nachrichtensprecher bei einem niederländischen Radiosender, und der hat uns da mit hingenommen, und dann haben wir da unsere erste Produktion gemacht. Das war noch im Oktober 1989. Und das klang eigentlich auch gut. Also für ’ne Kassette hätte man auf alle Fälle noch was rausholen können, aber leider … Da fuhr meine Frau dann damals aus ’ner Parklücke raus, und da ist ein LKW über die Motorhaube rüber, da war das natürlich platt. Ihr ist nichts passiert. Sie rief mich an und meinte: „Das Auto ist hin.“ Die Kassette war im Kassettendeck gewesen, und die hat sie vergessen, da raus zu nehmen. Das war das Master. Wir haben versucht, Leuten zu finden, die eine Kopie vom Master besaßen. In Holland haben wir einen Freund, der das aber auch nicht mehr findet. Wir haben schon eine Nachricht ins Internet gestellt und fragen, wer das vielleicht noch hat. Aber bis jetzt haben wir es noch nicht gefunden. Das wäre natürlich der Hammer, wenn man das doch irgendwann noch mal irgendwie kriegen würde … Aber wer hört heute noch Kassetten, oder wer kuckt im Schrank nach, ob er die Kassette da liegen hat?

Asteris: Ich schon … aber sonst keiner, denke ich … 

© Asteris Kutulas, 2010

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Das Gespräch fand Ende 2009 in meinem Büro im Prenzlauer Berg statt. Ausser Wim und Castus von Corvus Corax waren auch Doro Peters, ihr Hund, der ständig herumwuselte, und Klaus Salge anwesend.
Ein Jahr zuvor hatte ich als Manager und Partner von Gert Hof dessen Beteiligung als Regisseur und Lichtdesigner bei der Produktion „Cantus Buranus II“ von Corvus Corax mit Doro verhandelt und organisiert. Genauso wie seine Beiteiligung bei einer China-Reise mit dieser Produktion. Liebe Coraxe, liebe Doro, vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit und für dieses äußerst spannende Gespräch. A.K.

All photos © by Sabine Wenzel – Corvus Corax concerts with „Cantus Buranus II“ in March 2009 (Berlin & Munich) – Directed by Gert Hof, Technical Equipment: Helicon, Technical Director: Gerd Helinski, Promoted by Manfred Hertlein