Kutulas/Zotos/Petzold – Deformationen, eine Jannis-Ritsos-Klanghommage

Der 1909 geborene griechische Dichter Jannis Ritsos sah sich zeit seines Lebens mit den unterschiedlichsten Deformationen konfrontiert – mit gesellschaftlichen, geistigen, politischen und psychischen Miss- oder Verbildungen, mit gewissen Konstellationen, Energiezuständen und mit Bildern, die in unserem Kopf, vor unserem inneren Auge ablaufen, was philosophisch treffend mit dem „großen Unterbewusstsein“ umschrieben wurde, das dafür ein Reservoir bildet. Die Unmassen an Verdrängtem, unsere heimlichen und unheimlichen Sehnsüchte, verdichtete Ritsos zu phantasmagorischen Alpträumen des Tags und der Nacht – uns durch ihre Monstrosität die Gewissheit vermittelnd, sie hätten nichts, absolut gar nichts mit uns zu tun. Andererseits lässt es sich mit ihnen plötzlich leben, durch ihre poetische Ausformulierung werden sie uns seltsam nahegebracht, verlieren ihre erschreckende Fremdheit.

Das Konzept dieser strapaziösen, schmerzlichen und zum Teil befreienden Poetik bildete die Grundlage für das einstündige „Deformationen“-Programm, dessen Text-, Musik- und Klangstruktur von Jannis Zotos, Dietrich Petzold und mir entwickelt wurde. Unser Freund Stefan Körbel produzierte diese Aufnahme und wollte sie im DDR-Rundfunk spielen, was aber, glaube ich, nicht klappte.

Alle Texte von Jannis Ritsos
Asteris Kutulas, Übersetzung & Rezitation
Jannis Zotos, Gitarre & Bouzouki & Percussion, Vocals
Dietrich Petzold, Violine & Percussion, Vocals
Aufgenommen und produziert von Stefan Körbel
Live aufgenommen 1988 in Ostberlin

Hier also die Erst-Veröffentlichung dieses akustischen Experimental-Stücks:

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Deformationen

Diese Frau zählte viele schöne Liebhaber. Jetzt / hat sie genug davon; sie schminkt nicht mehr ihre Augen; zieht nicht mehr / die Härchen um ihren Mund mit der Pinzette einzeln heraus; / sie bleibt bis um zwölf Uhr mittags im breiten Bett; / ihr Gebiss hat sie unter dem Kopfkissen liegen. Die Männer / bewegen sich nackt von einem Zimmer zum andern, sie gehen / oft ins Bad, drehen mit großer Vorsicht die Wasserhähne zu; / rücken wie zufällig eine Blume auf dem in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch zurecht / im Vorbeigehen, so lautlos, widerwillig, so ohne Leidenschaft jetzt, / ohne Ungeduld und Geilheit, – die Leidenschaft indessen / ist deutlicher noch zu erkennen, wenn sie verlischt. Der Männer dichte Behaarung / lichtet sich, verwelkt, ergraut. Die liegende Frau / schließt die Augen, um die Zehen ihrer Füße nicht länger sehen zu müssen, / die voller Schwielen, ganz deformiert; sie, die einst robuste – / hat nichtmal die Kraft, die Augen soweit zu schließen, wie sie will, / so beleibt, versunken in ihrem Fett, erschlafft, / wie die Dichtung wenige Jahre nach der Revolution. 

Jannis Ritsos, Athen, 29.1.72

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DEFORMATIONEN

… das war die Überschrift eines Gedichts von Jannis Ritsos aus dem Jahre 1972. Ich musste während der aufwühlenden Monate zwischen November 1989 und Ende 1990 ständig daran denken – der Untergang des Sozialismus vorweggenommen in einem krassen poetischen Bild. Und alle privaten und verinnerlichten Deformierungen führten unweigerlich in die Katastrophe bzw. die Erlösung, je nachdem welcher Denkungsart man war.

Im Mai 1984 konnte ich während drei Tagen in Dresden mit Jannis Ritsos zusammen sein. Er war einer Einladung zu den Musikfestspielen gefolgt, während denen die 7. Symphonie von Mikis Theodorakis uraufgeführt wurde, die auf Gedichten von ihm beruht. Es wurde eine bedeutsame Begegnung, schon durch die Art, wie dieser Mensch seinen Visionen durch seine Sprache Körperlichkeit gab. Für mich ist sie unvergesslich geworden.

Nun erschien im Romiosini Verlag: „Deformationen“, eine geradezu aufregende Anthologie, herausgegeben von Asteris Kutulas. Er zeichnet nicht nur für die Auswahl verantwortlich, sondern gibt im Anhang auch die notwendigen Erläuterungen, zudem fügt er ein vollständiges Werkverzeichnis an, sowie alle deutschsprachigen Erstausgaben, eine Diskographie und eine Liste aller Theateraufführungen, die auf Ritsos-Texten beruhen.

Über dieses Buch zu schreiben beginnen, heißt daher von vornherein, unvollständig zu sein und fragmentarisch zu bleiben: Allzu viel findet sich auf diesen 318 Seiten, allzu reichhaltig ist das Angebot, allzu vielseitig die Auswahl, allzu üppig der Stoff.

Asteris Kutulas, ein enger Vertrauter von Mikis Theodorakis und Jannis Ritsos, der Übersetzer und Herausgeber von Konstantin Kavafis’: „Die vier Wände meines Zimmers“ und „Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit“ (Akzente, Hanser), sowie u.a. der dreibändigen Theodorakis Autobiographie (Ed. Phi, und verkürzt, Insel Verlag) nennt „Deformationen“ eine „innere Biographie“ von Ritsos und sieht sich einig mit dem großen Dichter, der in seinem Werk immer auch und immer wieder Zwiesprache mit sich selbst hält.

Kutulas hat sehr genau hingehört und vor allem, sehr genau gelesen.

Bevor er dieses Buch veröffentlichen und dabei mit sich selbst im Reinen bleiben konnte, wissend, dass er den geliebten großen Mann der griechischen Dichtung nicht verriet, sondern dem Leser näher zu bringen imstande war, musste er alles lesen, was Ritsos je geschrieben hatte.

Das schreibt er denn auch gleich am Anfang seines „Editorischen Nachwortes“: „In Vorbereitung auf dieses Buch habe ich da gesamte editierte Werk – fast 100 Bände unterschiedlichen Umfangs – sowie viele der unveröffentlichten Gedichtzyklen von Jannis Ritsos (1909-1990) durchgesehen. Von den über 7.000 Gedichten, die er zwischen 1930 und 1989 geschrieben hat, wählte ich etwa 320 aus.“ Sie stellt er in chronologischer Reihenfolge vor, blendet aber dazwischen einzelne Prosatexte, Essays und Vorworte von Ritsos ein, die das Geschriebene weiter erhellen.

Dabei handelt es sich fast nur um Texte, die bisher noch nicht auf deutsch veröffentlicht worden sind: Nur etwas mehr als zehn Prozent erschienen in anderen Ausgaben.

Ein besonderer Abschnitt des Buches ist Ritsos genialer Dichtung „Das Ungeheure Meisterwerk“ vorbehalten, für den Dichter selbst seine tiefste Aussage über sich selbst, für Kutulas, eine „Spiegelung“ seiner eigenen Auswahl, „de facto eine „autorisierte“ innere Biographie des Dichters“.

Abgerundet, ja, auch besondere Weise vertieft, wird die Edition durch ein Tagebuch des Herausgebers, das dieser vom 18.3.1982 bis zum November 1990 führte und in dem er über seine Begegnungen, seine Treffen, seine Gespräche, seine fruchtbaren, erhellenden Diskussionen und seine persönlichen Empfindungen gegenüber dem Schicksal Ritsos‘ berichtet.

Sie bewirken genau das, was Kutulas damit erreichen will: Sie bringen uns diese Persönlichkeit näher, machen sie besser verständlich und machen vor allem deutlich, warum Ritsos nicht mehr leben wollte, als alles, woran er kritisch geglaubt und für das er gelitten hatte, für ihn und in ihm zusammenbrach, als deutlich wurde, wie sehr die „geistige Wirklichkeit“ (Kutulas) des Kommunismus durch den „real existierenden Sozialismus“ pervertiert worden war und ein politisch erstarrtes Gefüge in sich selbst zusammenbrach: „Den Untergang seiner Epoche vermag er nicht zu ertragen“ (Kutulas).

Zum Ende seines Lebens nimmt Ritsos nichts mehr zu sich, trinkt nur noch Wasser und „erlischt“ (id.) regelrecht.

Eigentlich ist damit schon fast gesagt, was unbedingt gesagt werden musste, nämlich, wie wichtig, wie unersetzlich diese Veröffentlichung sein wird für all jene, die mehr (oder überhaupt etwas) über einen der größten Meister des Wortes unseres Jahrhunderts erfahren wollen, die sich mit seinen unendlich schönen Versen auseinandersetzen wollen, für die durch seine Bilder neue Türen aufgestoßen werden und die sich von seinen Visionen mittragen lassen wollen.

Dies zumal, da die Übertragungen ins Deutsche ungemein einfühlsam und rhythmisch prägnant sind, und hier soll der Beitrag von Ina Kutulas gewürdigt werden, die selbst eine echte Dichterin ist und mit sensibler Behutsamkeit jeden Vers so präzise und so geschlossen werden lässt, dass er nicht anders sein kann in ihrem „Hinüber-Setzen“ in eine andere, die deutsche Sprache.

Guy Wagner