Christa Wolf Kassandra Asteris Kutulas

„Kassandra“ von Christa Wolf (Tagebücher)

Christa Wolf. Die für mich interessanteste und spannendste Schriftstellerin der DDR, diesem Niemandsland der Hoffnung. Christa Wolf hat mich lange verfolgt, noch vehementer dann als „Kassandra“. Ein Flirren zwischen Heimat und  Lifestyle. Rockmusik in meiner Seele. In meinem Kopf ein Widerhall von Gesprächsfetzen bei ihr zu Hause und einmal auch in Tübingen. Das Blubbern des Bluts in den Adern. Und sie verhalf mir zu meiner damaligen realsozialistischen Einsicht Ende der siebziger Jahre: Der Himmel ist immer noch geteilt, aber die Freiheit fiel in die Spalte zwischen den Hälften …

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„Nur wer Konflikte kennt, hat etwas zu erzählen“ – Tagebucheintragungen zur Kassandra von Christa Wolf

16.02.84, Berlin, Cafe Friedrichstraße

Gestern beschäftigte ich mich in der Staatsbibliothek vorwiegend mit der Real-Enzyklopädie: Tauris, Artemis etc., äußerst interessante Feststellungen gemacht. Besonders eine: die Verschmelzung der arkadisch-lakonischen Festlandsreligion von einer Artemis, die fraulich-mütterlichen Charakter besaß (Schutz für Geburt, Jugend etc.), mit der Letoidenreligion des ionischen Kleinasiens (besonders jener der Insel Delos), wonach die zwei Letokinder mehr der Seefahrerideologie zugewandt waren, also Kriegs- und Handelsgötter darstellten. Resultat: Heterogenität bei Homer (Zunahme des Begriffs der Jungfräulichkeit). Auch Verschiebung von der Vorstellung der Artemis als Gattin des Zeus (die ihn eigentlich beherrschte: Matriarchat) zur Schwester des Apoll und Tochter des Zeus (patriarchalische Machtverschiebung). Nebenbei festgestellt: Fehler Goethes mit Tauris; Stadt/Insel in der Adria …

Während der Mythos in den letzten 2000 Jahren überhöht und immer als solcher „symbolisiert“ und „allegorisiert“ verwendet wurde (auch bei Brecht, den Franzosen etc.), ist jetzt mit Peter Weiss, Christa Wolf und natürlich bei Jannis Ritsos eine Tendenz – nicht nur zur „Entmythologisierung“, sondern zu einer Verpflanzung in alltägliche heutige Konstellationen festzustellen. Die „Brisanz“ besteht in einer neuen Sicht auf diese Dinge; nicht aber in der platten Analogie. Natürlich gewinnt dieser Vorgang durch die tausendjährige Verfremdung eine neue Art von Symbolik: dass der Sprung aus dem Tierreich noch nicht geschafft sei. Die Denkmuster seien noch gleich. Christa Wolf schreibt: „Mein Anliegen bei der Kassandra-Figur: Rückführung aus dem Mythos in die (gedachten) sozialen und historischen Koordinaten.“ (142) Beim Lesen das Gefühl, Christa Wolf decke sich zu sehr mit Kassandra: „Man darf Kassandra nicht glauben, das ist ein Gesetz, solange man nichts, vor allem nicht sich selbst, verändern kann.“ (140)

„Das Troja, das mir vor Augen steht, ist – viel eher als eine rückgewandte Beschreibung – ein Modell für eine Art von Utopie.“ (108) Also, ein neues „matriarchalisches Gesellschaftskonzept“ als sozialistische Utopie? „Mir ist bewusst, dass mein Rückgriff in eine weit, ur-weit zurückliegende Vergangenheit (der beinahe schon wieder zum Vor-Griff wird) auch ein Mittel gegen diese unauflösbare Trauer ist, die Flucht zurück als eine Flucht nach vorn. Eigenartige Selbstbeobachtung, dass die Einsicht, Menschen und Verhältnisse seien in dreitausend Jahren nicht sehr weit aus sich und über sich hinausgelangt, eher in Gelassenheit mündet als in Hoffnungslosigkeit.“ (94) Interessant, wenn „Terracottafiguren … das Gefühl vermitteln, dass es im Grunde die gleichen Menschen waren, wie wir es sind …“ (75) „Sind wir nicht jenseits aller Verkündigungen und Prophezeihungen, also jenseits der Tragödie?“ (37)

Prophetenglaube ist, denke ich, größtenteils Glaube an die Kraft des Wortes … Die Zentrierung um den Logos, das Wort als Fetisch – vielleicht der tiefste Glaube des Abendlandes, jedenfalls der, dem ich in inbrünstig anhänge.“ (23)

Christa Wolfs Programm: „ … die Fragen [zu stellen; A.K.], die Kassandra aus Mythos und Literatur herauslösen können“. (23)

Wie ein roter Faden durch das ganze Buch: Problem der Alternative. Denn: „… es wächst das Bewußtsein der Unangemessenheit von Worten, vor den Erscheinungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben“. (110) „In Troja aber, das glaube ich sicher, waren die Leute nicht anders, als wir es sind. Ihre Götter sind unsere Götter, die falschen. Nur sind unsere Mittel nicht ihre Mittel gewesen.“ (122) Die DDR als ein mythologisch gewandetes Troja.

21.2.84, Cafe Friedrichstraße

Weiter bei Christa Wolf: „Kassandra erfährt bis auf den Grund, was es heißt, zum Objekt fremder Zwecke gemacht zu werden. Zunehmend entzieht sie sich dann dem Dienst an den Ihren, der sozialen Maschinerie, in die sie eingebaut ist … Ihre innere Geschichte: Das Ringen um Autonomie“ (151). Für Wolf ganz wichtig: „Alternativen“ & „Autonomie“. Das Herauslösen aus der realsozialistischen Wirklichkeit und der Glaube, dass es auch „anders“ geht.

Und sie wird deutlicher: „Zu zeigen, wie die historische Kassandra, von der ich ausgehe, und ihre historische Umgebung durch Ritual, Kult, Glauben und Mythos gelenkt werden, während für uns das gesamte Material „mythisch“ ist … Ich sehe sie nüchterner, sogar mit Ironie u. Humor. Durchschaue sie. Dann stürzte ihre Umgebung auf mich ein: ihre Freundinnen, ihre Familie. Ich muss sie ja kennen. Stelle fest: Ich „kenne“ sie, schon lange. Immer mehr Abstraktionen füllen sich mit Fleisch u. Blut, mit Gesichtern, Gesten.“ (152)

Dann der Sprung: „Schlüsselerzählung“ statt „Lehrstück“ (152)

Ich glaube nicht, daß Wolf wirklich interessiert, wie „Kassandra war, bevor andere über sie schrieben“. Das Buch, das ich lese, erzählt etwas anderes: Eine Frau spricht sich aus, die nichts mit dem „dunklen Jahrhundert“ von vor 3.000 Jahren, wohl aber alles mit Christa Wolf Anfang der 80er Jahre zu tun hat.

Gespaltenheit [Schein, Ideal/Wirklichkeit] … Pathos / Alternative … Aineias, Resultat: Beischlaf.

27.2.84

„Kassandra“ ausgelesen. Ein atemberaubendes Buch, emotional packend dazu, das mich sprachlos macht. Mein Inneres vibrierend zwischen Lobeshymnen und Ablehnung. Ein unverschämt gutes Werk ….

21.08.84, im Flugzeug nach Athen

„Kassandra“ (Vorlesung + Erzählung) läßt mir keine Ruhe: Irgendwie okkupiert Wolf durch ihren genialen Wurf die ganze Antike, sie läßt „mir“ keinen Raum. Sie ist gerade „in“ – in beiden deutschen Staaten, sie tritt eine gewissen Nachfolge in den permanenten Mode-Welten an, die von Kritik und kleinbürgerlich-moralistischen Befindlichkeiten getragen werden. Vielleicht ohne es zu wollen, schafft sie mit der „Kassandra“ eine programmatische („Schlüssel“-)Erzählung und wirkt dadurch wie ein Dogma. Besonders in den Vorlesungen wird dieser Allein-Anspruch deutlich: Wenn man ideologisch und patriarchalisch nicht infiziert sei, müsse man ja die Antike so verstehen wie sie: als reale Geschichte doch (vertane) Chance, in einer von Frauen (weiblich) regierten Welt friedlich, harmonisch und naturverbunden zu leben. Das, was mich dabei am meister verblüfft, ist ihr niemals revidierter Anspruch, über jene Kassandra zu schreiben, die jeglicher interpretatorischer Sicht entbehren soll, also über die historische Kassandra, „so, wie sie wirklich war, bevor man über sie schrieb“. Völlig klar jedoch ist, dass sie nur über eine Kassandra von 1981/82 schreiben konnte. In diesem schizophrenen Widerspruch liegt das Konfliktpotential des Buches …. die Beschlagnahme der Antike. Immerhin. Unter der Haut, was die historische Alternative als auch diese psychologisierende Verschiebung betrifft, wird unhistorisches Denken befördert. Walter Benjamin läßt grüßen.

Bei alldem interessiert mich persönlich allein die Frage: Wie kann ich heute über „Delfi“ schreiben? Natürlich ist die Ausgangslage anders als für Einen, der das Land der Griechen mit der Seele suchen und finden muss. Die Hervorhebung jener existenziellen Bezüge stehen für mich an erster Stelle. Jenes immer mehr in die Vergangenheit-Fliehen von Wolf in die Romantik, die Vor-Antike, jenes auf metaphorische Weise Bewältigen von aktuellen Problemen sind für mich nicht relevant. Was aber dann?

22.08.84, Athen, Akropolis

Auch die Ermordung der zwei Kinder durch Medea als Rache gegenüber ihrem Mann ist nur als Verzweiflungsakt einer einst über den Mann herrschenden Frau zu verstehen. Allein aus dieser Macht-Agonie heraus ist die Schlachtung zu verstehen, in ihrer Brutalität viel elementarer, weil selbstzerstörerischer als jene der Männer. Vielleicht ist die Selbstzerstörung der brutalste Widerstand, der existieren mag.

Bei Christa Wolf manipulatorisch-unhistorisches Herangehen. Beispiel Frauen auf Kreta als direkte Nachfahren Kassandras zu sehen  die vor-antike Verwurzelung im eigenen Verständnis als allgemein-gültiges anzuerkennen … Wo bleibt die byzantinische Traditionswurzel, wo die besondere Rolle des Christentums und der orthodoxen Kirche, wo (aber und vor allem) die 400jährige osmanische Herrschaft? Die direkte Beziehung ist so konstruiert und auch als Modellfall nicht anzunehmen. Das eigentliche Problem beginnt allerdings erst dort, wo sie all das nicht als Kunst, sondern als Vorlesung mit wissenschaftlichem Anspruch, der klar ausgesprochen wird, postuliert. Da wird’s spekulativ.

03.05.86, Zug Berlin-Greifwald

zu Christa Wolf

  • auf der einen Seite geht es immer um das eigene Verständnis der Vergangenheit … abhängig von der Gegenwart und von der Persönlichkeit des Schriftstellers (siehe Goethes „falsches Verständnis“ von der Antike)
  • auf der anderen um die historische Situation an sich … ihre Durchdringung durch die Wissenschaft, ihre unterschiedliche Interpretation durch die heutigen oder die vergangenen Wissenschaftler

17.05.86, Berlin

Christa Wolf schafft ebenfalls „bürgerliche Verhältnisse“ bzw. sie gelangt zu einer „bürgerlichen Auffassung“ eines Thomas Mann, imprägniert mit Schopenhauers Pessimismus.

  • gegen Blochs Utopie-Konzeption
  • s.a. Problem der Wiederholung … vgl. zu Ritsos!
  • Schluss bei Wolf … Löwentor bei Ritsos

Ich suche vergeblich auch ein nur annäherndes Bild von Griechenland, von dem, das ich kenne, von den Menschen, die ich kenne, in ihren Vorlesungen: vergeblich. Sie war in einem anderen Griechenland, in einem Griechenland mit Wolfschem Sehraster. So ist nun mal Kunst. Ich sollte nicht von einem Apfelverkäufer Birnen verlangen.

Asteris Kutulas, 1986

Bild-Ausschnitt eines Steindrucks von Angela Hampel für die Bizarre-Städte-Edition „ausdrückliche klage aus der inneren immigration“ (1989)