Mr. Lee, ein unglaublich netter und sympathischer Unternehmer, hat uns zum Abendessen eingeladen. Cathy flüstert mir zu: „Das ist ein richtig reicher Mensch.“ John fragt Mr. Lee danach, wie er über die Wiedervereinigung denkt. Mr. Lee geht in sich, denkt lange nach und gibt so etwas wie eine Grundsatzerklärung ab, die ihm sehr wichtig zu sein scheint: „Wir werden sehr viele Probleme haben. Das wird ein langer Weg. Es wird vielleicht auch Verlierer geben. Aber das ist alles unwichtig. Wichtig ist nur, dass die Wiedervereinigung kommt.“
Sein Partner, Mr. Wong, ergänzt: „Nach der Wiedervereinigung werden wir – im Gegensatz zu Deutschland, das den Osten de-industrialisiert hat –, den Norden aufbauen und dadurch den Wohlstand sowohl im Norden als auch im Süden erhöhen. Korea wächst sehr schnell, und da ist noch mehr Potential. Im Inland gibt es nicht genügend Arbeitskräfte, deshalb holen wir sie auch aus den Nachbarländern. Wegen der Nachfrage ist das mit der Zeit aber immer kostspieliger geworden. Diese Arbeitsmöglichkeiten und dieses Geld sollten unseren koreanischen Mitbürgern im Norden zugutekommen, statt dass das Geld ins Ausland abfließt.“ Mr. Lee fügt hinzu: „Südkorea gehört bereits zu den fünf führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Nach der Vereinigung mit Nordkorea werden wir auch Japan überholen.“
Das italienische Restaurant, in dem wir sitzen, befindet sich im Gangnam-Distrikt, dem „Manhattan Seouls“. Durch den „Gangnam Style“-Song von PSY ist dieser Stadtteil weltberühmt geworden. Am Nebentisch deklamiert ein US-Amerikaner laut: „Don’t kill the baby before it is born.“
John fragt, wie die Jugend zum Korea-Krieg steht, der zur Spaltung des Landes geführt hat. Mr. Lee sagt: „Die jungen Leute wissen kaum etwas darüber, und es interessiert sie auch nicht besonders. Für sie sind weder dieser Krieg noch dessen Folgen ein Thema. Sie erleben seit zwanzig Jahren ein Land im ununterbrochenen Aufschwung, in dem es ihnen immer besser geht. Sie machen sich keine Gedanken darüber. Ich glaube, sie wollen nichts vom Krieg wissen; sie beschäftigen sich mit der virtuellen Realität ihrer Smartphones.“
Als wir uns verabschieden, verbeugt sich Mr. Lee, wie es hier üblich ist, und reicht mir die Hand. „Nice to meet you.“ Noch eine Verbeugung. Ich habe kein anderes Land kennengelernt, in dem Höflichkeit eine so große Rolle spielt. Hinzu kommt das permanente Bestreben, sich in in sein Gegenüber hineinzuversetzen, immer darum bemüht, niemanden in Verlegenheit zu bringen. Das erzeugt ein ganz anderes Lebensgefühl, und ich ahne, dass das glücklich machen könnte. Jedenfalls bemerke ich an mir, wie ich selbst anfange, diese Höflichkeit zu zelebrieren und mich ebenfalls mehrmals zu verbeugen. Demut. Selbstachtung durch Selbstverleugnung. Freiheit durch „Unterwerfung“.
© Asteris Kutulas, Seoul, 23.9.2019
(Photos © by Asteris Kutulas)
Seouls Temperaturkurve der Aromen, Südkorea-Tagebuch (18.9.19)