Apassionata-Tagebuch, Riesa, 21. Oktober (nachmittags)
Produktion „Apassionata – Der Traum“
Sándor, der Choreograph, steht aufrecht, unweit vom Halleneingang. Seine Hand weist zum Himmel, der lange bedeckt war, inzwischen aber wieder das reinste Blau sehen lässt. “Perfekt organisiert”, sagt Sándor. Auch seine Jacke ist blau. Manchmal ruft er die Tänzerinnen zu sich. Eine markante Stimme. Sein “Girls … Ladies … please come to me, I’m here” könnte zu Beginn einer Rockballade erklingen.
Sándor Román
bezieht sich vornehmlich auf die griechische Antike. Seine Umsetzung des Bildes eines trampenden Saloongirls ist direkt von Homer inspiriert, beteuert Sandor. Griechisch blauer Himmel über Riesa. Greek Western bei Apassionata. Der Esel ist dabei, das Catering bietet Feta und Oliven. Alle haben’s gut bei Apassionata. Jeder findet hier seine Welt, jeder auf seine Weise. Auch das macht den Apassionata-Blick aus. Er enthält einen Funken dunkle Glut.
Sándor studiert mit den Tänzern
betörende Schrittfolgen. Solche Odysseischen Listen sind erlaubt, vorausgesetzt, sie dienen der Kunst. Die Musen haben geschmeidige Körper und treten auf den Plan. Selten wurde eine Rose mit mehr Grazie gehalten als hier von der Primaballerina Katherina Markowskaja. Die Halle möchte fast bersten bei dieser hohen Konzentration von Charme. Es werden Türen aufgehalten, der Stage-Manager ist Stunde um Stunde unterwegs. Wieder und wieder erscheint er und verleiht jeder Szene die Idee vom ruhelosen Läufer, vom Rutengänger und Wegesucher, der als Gefährte des tanzenden Träumers die Poesie der Show ausbalanciert. Es braucht auch ganz pragmatische Entscheidungen. Nicht nur ein Tanz kann ein Leben verändern. Auch ein Leben einen Tanz.
Dunkle Wolken wollen es regnen lassen, draußen, auf die Halle und auf die dunkle Erde, die gesund ist, wie man sich in Riesa sagt. Tiefe Schatten ändern die Farbe der Welt, drinnen. Eine Stimme ruft: „Dancers … On your position … Boys … from the beginning … Music please …“ Auch an diesem Sonntag gibt es ein Tagesziel. Wenn die Nacht kommt, glänzt das Fell der Pferde wie Seide. An einem einzigen seidenen Faden hängt nichts bei Apassionata. Der Montag kommt.
© Ina & Asteris Kutulas
24.10.2018
Dürers Melancholia ist hier vor Ort nicht melancholisch. Sie hat sich das Schneiderinnen-Bandmaß als befriedete Schlange umgelegt. Melancholia hat ehrlichen Schlamm an den Schuhen, sie hat ehrliche Fusseln am Kleide. Duftendes Wiesengras, Brombeerblätter und Hagebuttenschalen hat sie geatmet. „Wir müssen dankbar sein“, höre ich mich sagen. Ohhhhmmmmmm … Die unmelancholische Melancholia senkt und hebt das Haupt, sie dankt den Wassern und Waschmaschinen. Sie dankt den Nadeln und Nähmaschinen. Es glitzert. Es blinkt. Es öffnen und schließen sich die Tore der Tage. Der Herbst in Riesa ist bunt.
Nach dem heißen, trockenen Sommer weht jetzt ein frischer Wind. Die Blätter der Ahorne färben sich golden, und schon haben sie begonnen, aus den Bäumen zu fallen. Dieser Winter soll ein verregneter werden. „Machen wir’s uns warm“, sagt Elsa am Telefon. Sie lebt mit zwei Geräten und zwei Tieren in Friedrichshain.
Hinter den Showkulissen ist es ruhig momentan. Ich lade die Akkus auf, und die Lichtmeister knipsen zur Pause die Scheinwerfer aus.
Der Wind steht gut. Das Licht ist stark. Der Klang keine Sache für sich. Ein Reiter steht zwischen zwei Pferden, er legt seinen Mantel ab, er ruft einem anderen Reiter etwas zu und lässt aus dem Zurufen ein spanisches Lied werden. Die Tonmänner nehmen diesen Klang auf in die Werkzeugkiste in ihrem Brustkorb. Nichts kommt aus den Lautsprechern, das nicht gemacht wäre aus Pulsschlag, Gedankenkraft und nachhallender Stille. Über Riesa hängen dunkle Wolken. Bei Gewitter zuckt erst der Blitz, und darauf folgt der Donner. Diese Apassionata-Geschichte hat etwas von einem Wetterphänomen. Auch die Premiere der Apassionata-Show „Der Traum“ fand im Oktober 2017 statt, als passiere das in Synchronität mit den Vorboten des Orkans, der damals Deutschlands Topoi aufscheuchte. Eigentlich hätte man wissen können, dass „sowas“ kommt, aber dass es tatsächlich kam … Wer hatte mit dieser großartigen Show damals wirklich gerechnet?
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Apassionata-Tagebuch, Berlin, 1. November 2017
Die Tonmänner (Jan & andere)
Behauptung: Es gab noch keine Apassionata, bei der die Tonmänner so weit gekommen waren. Den Tonmännern ist der Klang nie gut genug, nie perfekt genug, die Tonmänner sind nie ganz zufrieden. Ihr freundlicher Unmut ist eine der Zutaten einer Apassionata-Show. Die Apassionata lebt aus der Unvollkommenheit, die die Tonmänner erkennen, die sie abermals ausfindig machen, nach tausend Stunden Arbeit noch immer. Eine Unvollkommenheit, die die Tonmänner aufhorchen und die sie die Ohren steifhalten und die Löffel aufstellen lässt. Die Tonmänner sind dafür geboren.
Bei dieser Apassionata gibt es Momente der Stille, in die hinein man eine Stecknadel fallen lassen könnte, und sie würde in kein Trommelfell stechen. Der Ton des Aufpralls dieser Stecknadel auf dem Boden der Empfindsamkeit der Apassionata-Createure würde ebenfalls zu Material für die Tonmänner, aus denen sie Verschwiegenheit machen und Spannung, das Verlangen nach dem Erlauschen-Können. Apassionata, das ist die Musik mit ihren Pausen, das ist die erzählte Geschichte mit ihren Unterbrechungen und Fortsetzungen, das ist die Stimme des Sprechers, das ist das Werk der Tonmänner, die den Klang in Bewegung halten, damit er nicht abstürzt und die Pferde erschlägt. Der Klang bleibt immer in der Schwebe. Er trägt das Luftschiff. Farben werden in den Klang gemischt.
Photos © by Asteris & Ina Kutulas