Matthias „Baader“ Holst & Peter Wawerzinek über Rockmusik, deutsche Texte und Schlager

Ein Gespräch, das ich mit „Baader“, einem sehr eigenwilligen und höchst talentierten Verrückten, und Peter Wawerzinek, einem anderen eigenwilligen und höchst talentierten Verrückten über die DDR, Rockmusik und Lyrik während der Wende-Zeit geführt hatte. Baader starb wie er gelebt hatte: er wurde einige Wochen nach diesem Gespräch im Morgengrauen eines feuchten Junitages in Pankow von einer Straßenbahn erfasst und erlag wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen.

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Matthias „Baader“ Holst & Peter Wawerzinek & Asteris Kutulas

„Aus dem Nichts heraus kommen, aus dem Nichts heraus was machen“

Gespräch über Rockmusik, Schlager und Lyrik, Frühjahr 1990

Asteris Kutulas: Wir wollen uns zunächst über „Rockmusik“ unterhalten, darum als erstes die Frage nach eurer Beziehung zu diesem Genre.

Matthias „Baader“ Holst: Ich hab in einer Punk-Band mitgemacht, bei „Den letzten Recken“. Und letztes Jahr noch ’ne Leibach-Variante: „Frigitte Hodenhorst Mundschenk“ als Sänger und Texter.

Peter Wawerzinek: Ich hab schon als Sänger, Texter und Schauspieler gearbeitet. Ich interessiere mich für Rockmusik, weil ich mal selber Sänger werden wollte. Und da musste ich erstmal sehen, was die anderen alle machen, damit ich das nicht auch mache. Außerdem habe ich mich nicht nur für Rockmusik, sondern auch für die Texte interessiert, damit ich das singen kann, was ich wirklich meine.

Kutulas: Was mir nach einigen Gesprächen aufgefallen ist: eure sehr eigene „Beziehung“ zur Rockmusik, also eigentlich zur Rockmusik in der DDR. Ihr habt eure Haltung zu dem, was ihr unter Rock versteht, und ihr habt eure Meinung zu dem, was andere darunter verstehen.

Holst: Auslöser unserer Diskussion waren vor über einem Jahr der Film „Flüstern und Schreien“ und die Rock-Texte, die ich von verschiedenen Gruppen gekriegt hab. Da war von vornherein so ein Abstand zu diesen Schallplatten, zu diesem modischen Kram. Der Abstand kommt aus einer natürlichen „Rockhaltung“, und auch, weil man vielleicht irgendwelche Sachen verteidigen will, die inzwischen eben in so ’nem ganzen Modekram untergegangen sind.

Kutulas: Das Wichtige an diesem Film über die Punk-Musik in der DDR war nicht so sehr, was die Musiker machen … klar, das spielt auch ’ne Rolle, dieses Lebensgefühl, sondern dass die Leute, die das hören, das als echtes Lebensgefühl annehmen.

Holst: Das war eben die Gefahr bei dem ganzen Ding. Wir kommen aus einer ganz anderen Generation als diese Siebzehnjährigen und haben den Punk vor zehn Jahren ganz anders erlebt. Da war das noch keine Mode, da war das noch keine Geschichte, da war nicht jeder Dritte Punk. Das ist ja auch in dem Film so, wo der eine sagt: „Ich seh aus wie ein Autonomer, aber ich bin kein Autonomer.“ Und ich seh aus wie ein Punk, aber ich bin kein Punk. Oder wie ’n Skinhead, aber bin kein Skinhead. Das ist so ’n Lebensgefühl. Und da kommen wir eigentlich schon aus ’ner anderen Richtung.

Wawerzinek: Also bei mir ist der „Hass auf die Rockmusik“ eher Neid. Weil: ich neide das den Leuten, dass die einfach mehr Publikum haben als ein normaler Lesender. Und das ist ’ne andere Sache. Da kann man dann wirklich Leute oder die Masse erreichen. Ich bin bloß nicht davon überzeugt, dass das irgendwie einen Sinn hat. Es ist schon ’ne Faszination da, wenn du vierhundert, fünfhundert oder tausend Leute vor dir hast, und du kannst ein, zwei Texte loskriegen. Deswegen stört es mich, dass diese Gelegenheit nicht genutzt wird, wenigstens zwei, drei Texte rüberzukriegen, die zeigen: dieser Meinung sind wir; sondern dass immer wieder Texte gemacht werden, die dem Publikum gefallen sollen. Deswegen glaube ich, wenn man irgendwie was nicht mag, dann sollte man sich richtig damit beschäftigen, dass irgendwas dabei rauskommt. Jemand hat mal gesagt: Du musst den Blues hassen, um guten Blues zu machen.

Holst: Man muss das im Zusammenhang mit den Texten sehn, die damals in der Zeitschrift „Temperamente“ abgedruckt worden sind. Wir kriegten stapelweise Rocktexte von diesen ganzen Bands. Das war echt erschreckend. Ich hatte die Meinung: na die Gruppen sind okay, gute Musik. Oder die Musik machte mich in dem Moment an. Aber die Texte gingen so: „Gorbi, Gorbi“ im Bogo-Rhythmus, „Gorbi, Gorbi ist die Hoffnung“.

Wawerzinek: Ich bin mit diesem Problem auch nicht klargekommen. Ich hatte nämlich die ganze Zeit das Gefühl, dass es bedauerlich ist, dass ich die Texte nicht verstehe, weil die Musik sie immer überschrie, und die kümmerte sich wenig um die Texte. Und ich dachte immer, das müsste zumindest rüberkommen, dass ich das auch verstehe. Dann hatte ich das plötzlich schwarz auf weiß vor mir, und dann saßen wir zu dritt (mit Baader und Mario Persch) zusammen und dann war gar nischt. Wo jeder genau wusste: Also, dazu brauch man gar nichts sagen, das ist so flach und so banal, dass ich jetzt sage: Ein Glück, dass man öfter die Texte nicht versteht!

Kutulas: Ihr sprecht jetzt vor allem über die sogenannten Neuen Bands, wie man sie vor zwei, drei Jahren in der DDR noch nannte. Interessant ist doch, dass jetzt international verstärkt Bands aus den Sechzigern ihr Comeback feiern. Das sind Bands, die eine „Message“ in den 60ern und Anfang der 70er hatten, als die Texte noch ’ne relativ große Rolle spielten, natürlich mit einem ganz anderen sozialen Background. Jetzt treten diese Bands wieder auf. Zum Teil mit neuen Songs, zum Teil auch mit den alten. Das Publikum setzt sich zusammen aus 30- bis 40- jährigen, die sich das leisten können, für 50, 60, 80 Mark ins Konzert zu gehen, aber auch aus vielen jungen Leuten. Seht ihr einen Zusammenhang zwischen den jetzt aktuellen Bands, egal, ob sie Disko, Punk oder Rap machen, und den alten Bands, die wieder im Kommen sind?

Holst: Das hängt mit dem Raum zusammen, in dem man lebt. Ich meine, es ist ja nun mal ein postmoderner Raum, in dem sich die Werte total verschieben und in dem es das gibt und das und das. Es gibt keine eindeutige Tendenz, dass man sagen könnte: in die Richtung gehts. Dass man sagen könnte: die Leute wollen eine Message. Also das ist, glaube ich, die Schwierigkeit, da jetzt ’ne Tendenz hinzukriegen und zu sagen: So ist es oder so. Und ich glaube, dass ein Teil der neuen Bands auch beeinflusst ist durch die 60er zum Beispiel. Dadurch verstärkt sich natürlich auch wieder diese Tendenz zur Message. Daß die Leute eben dastehen und wieder den Messias haben wollen.

Wawerzinek: Ich bin für jede Wiederentdeckung, also auch für jede Rückbesinnung, nur vermisse ich oft, dass dann das, was wirklich mal wichtig gewesen ist und was wirklich mal der gute Ansatz war, auch wiederentdeckt wird. Das bleibt meist bei solchen Dingen, die sich zu Wellen ausweiten, dann bleibt das wieder liegen.

Und mich interessiert am meisten der Zustand, wo sich Dichter oder Lyriker oder Texter mit anderen Musikern oder mit Malern oder mit Filmemachern zusammengesetzt haben und gemerkt haben: alleine nur die Texte rüberbringen, schafft nicht genug Raum, sie rüberzubringen. Und gesagt haben: Na, 20 Minuten, und dann ist die Aufmerksamkeit weg, bei Musik kannst du bis zu 20 Stunden und wenn es immer besser wird, noch länger. Und da gab’s ja verdammt viele gute Sachen in dieser DDR, auch in den 70er Jahren. Da ging es doch los.

1976 begannen Lyriker mit Musikern oder sogar allein zu spielen, nur, um wenigstens diesen Pegel der Aufmerksamkeit etwas anzuheben. Und wenn das in der Rückbesinnung irgendwie mal wiederentdeckt wird, was Tom die Roes, Sascha Anderson oder Papenfuß gemacht haben, dann sähe ich ein ganz kleines bisschen Hoffnung, dass diese leere Insel ausgefüllt wird, und dass man dann wieder mehr Strukturen hat. Bloß, ich vermute, dass das nicht so kommen wird.

Kutulas: Es ist vor allem im Westen viel über diese Aktivitäten in der ehemaligen DDR geschrieben worden. Und nicht zu vergessen sind ja auch die Maler, die sich sehr stark mit Musik, Film und Aktion beschäftigt haben. Ralf Winkler zum Beispiel hat auf vielen Schallplatten als Musiker gespielt. Oder Helge Leiberg, Frank Lanzendörfer, Johannes Jansen und viele andere. Und bei euch selbst ist es ja auch so, dass ihr Lyrik, Aktion und Musik zu verbinden versucht, immer wieder dieser Bezug zur Malerei, zur Fotografie. Warum braucht ihr noch eine andere Dimension? Als Abgrenzung zu den Bands, die auf die Bühne gehen und „Musik“ machen?

Holst: Weil es einfach eine Sache von verschiedenen Medien ist, die auch mit den eigenen Tendenzen zusammenhängen. Dass du eben Lust hast, jetzt mal zu malen oder meinetwegen Musik zu machen oder zu texten oder was anderes eben. Aber deswegen werden wir ja auch angegriffen, denn in dem Moment, wo wir nicht sensibel mit der Rotweinflasche am Herzen sitzen, haben die anderen Leute einfach den Verdacht: einer, der aktiv ist und der was auf der Bühne macht, ja, der muss einfach schlechte Texte machen oder der lenkt von seinem Text ab durch seine Aktion. Aber das ist nur ein Verdacht. Warum kommt keiner drauf, wenn sich ein sensibler Lyriker hinsetzt und seine Strohhalmgedichte irgendwie abstottert? Da sagt jeder: Na ja, gut, der macht das aber wenigstens, und das kann ich hören; der andere aber lenkt ab. Es gibt auch Leute, die einfach texten und zum Beispiel mit Musik irgendwas machen wollen, weil sie merken, dass die Wirkung stärker ist. Vielleicht ist es auch einfach eine Eitelkeit, daß man sagt: man kann damit Leute erreichen. Das sind ja alles Sachen, die dazukommen. Jedenfalls geht es mir so und bestimmt auch anderen: Wenn man in so einem Raum ist, dann fühlt man sich schon in einem Medium irgendwie eingeengt, oder man kann in diesem einen Medium nicht allein leben oder pipapo …

Und, klar, es scheint ein Verfall der Werte zu beginnen. Dadurch, dass der Raum offen ist, bist du erstmal anderen Provokationen ausgesetzt, aber du unterliegst auch anderen Einflüssen und hast damit natürlich ganz andere Möglichkeiten für deine eigenen Sachen.

Wawerzinek: Ich kann sogar für mich formulieren, dass ich es ablehne, für einen puren Literaten gehalten zu werden, für einen puren Sänger oder puren Clown oder Faxenmacher. Ich würde aber gern alles sein: Sänger, Schauspieler, Faxenmacher. Dann muss man mit den Musikern nämlich auch reden, damit man in deren Festlegung reinkommt. Die wollen ja dann Musiker sein, und dann haben die ganz bestimmte Vorstellungen. Wenn du jetzt wieder einen Musiker hast, der nicht nur ein Musiker sein will, dann kommt Zusammenarbeit auf. Dann geht das klar. Dann kann man es probieren, und dann hat es auch am meisten Spaß gemacht für beide oder für drei. Aber die Schwierigkeit, die ich in letzter Zeit gesehen hab und die auch jetzt nichts mit der Wende zu tun hat, war – und das sehe ich auch als Schwierigkeit demnächst noch –, dass man sich jetzt festlegen muss, welche Richtung man einschlägt. Angeblich ist alles möglich jetzt, und komischerweise engt das ein. Man besetzt Märkte, man will Marktlücken entdecken oder weiß der Teufel, was da die Gedanken sind. Und das behindert dann natürlich schon das, was du vorhin gesagt hast, dass nämlich plötzlich nicht jeder mehr seinen Charakter und seine persönliche Stimme nach außen trägt, an den Mikrophonen.

Holst: Weil nun wieder der Streit der Medien losgeht. Und da geht das wieder so, dass die Leute, die eben ihre dreitausend Fans haben, natürlich ganz andere Möglichkeiten haben als andere, die nur fünfzig Fans haben. Und das halte ich eben für eine Gefahr, gerade für die sogenannte „Underground“-Kultur; „underground“ ist aber kein guter Begriff … dass in so einem Raum eine Konkurrenz einsetzt, was ich nicht gut finde, weil man sich jetzt zur Zeit, also auch im Osten, gegenüber diesem ganzen Westquatsch absetzen und trotzdem auch mit den Einflüssen umgehen kann, und nicht darum kämpft, die sechste Gruppe von Ute Arne zu werden. Das kann nicht mein Ding sein. Ich kann doch nur versuchen, an meinem eigenen Ort, auf meinem eigenen Terrain, mit meinen eigenen Phantasien, Visionen, wie man das auch immer nennen will, was zu machen, damit umzugehen. Und nicht, dass ich versuche, mich zu integrieren. Das habe ich ja vorher auch nicht gemacht.

Es ist doch ein Unterschied, ob ich mich irgendwo einklinke und sage, das ist hier mein Raum … Denn mit 25 oder mit 30 oder mit 35 habe ich zumindest auch unter diesen Bedingungen in diesem Lebensraum und mit diesen Erfahrungen gelebt. Da kann ich nicht einfach umkippen, weil irgendwo da hinten jetzt ein Markt ist, wo ich irgendwie was machen könnte. Das ist halt falsch, wenn man versucht, das so für sich mitzunehmen und ’ne totale Umkehr macht. Das kann nur schiefgehen, wenn man jetzt dem Druck nachgibt und sich vornimmt: Ich will jetzt international sein, ich will jetzt über die Anklamer Straße hinauskommen. Völliger Blödsinn. Also, entweder ich mache das und es ist für mich ein natürliches Ding und ich lebe mit diesem Riss und diesen Provokationen, diesen Umsetzungen, oder ich lebe eben nicht drin. Aber immer mit diesem Druck leben … Ich halte das nicht für gut.

Kutulas: Schappi, du hast vorhin gesagt, dass es eigentlich darum geht, Text rüberzubringen …

Wawerzinek: Also, ich hab was zu sagen, und ich muss andere Medien nutzen. Ich will keine supergroße Zusammenarbeit anstrengen. Aber wenn es Musiker gibt, die mit mir was zusammen machen wollen, denen es aber piepegal ist, was da rüberkommt von mir und nur ihre Musik dazu machen, dann kann man die Zusammenarbeit auch abbrechen, die nicht stattgefunden hat. Und wenn das nur mit einem Maler ginge, dann muss ich mir eben den Maler suchen, mit dem es mir wirklich Spaß macht, das, was ich soundso zu sagen hab, in dieser Form rüberzubringen.

Kutulas: Könnte man das, was ihr macht, „Pop Art“ nennen, im Sinne von Papenfuß‘ „Pop Art Periode“, als er Konzerte gemacht hat und es ihm auf Kommunikation ankam? Sind eure Auftritte „Pop Konzerte“?

Wawerzinek: Letztendlich so, wie es nachher ankommt, sind sie zu dem geworden. Das kann man so sagen. Aber dieser Begriff … Ich nehm den mal so an, so heikel, wie er ist. Auch weil Bert Papenfuß das in einem Interview so benannt hat, weil es auch wirklich stimmt.

Nur, das andere Problem ist, dass ich Schwierigkeiten habe, meine Texte selber erstmal zu verstehen und dass ich das wirklich dann fast schon als Zumutung empfinde, wenn ich nun noch von anderen verlange, die sollen es auch noch verstehen. Aber jeder Auftritt mit einer Gruppe oder mit einem Musiker zusammen ist ein Versuch, mich selbst mehr zu verstehen, oder er wird zu einem Dilemma: dass ich zum Schluss gar nichts mehr verstehe. Und das andere: dass man dabei auch auf Entdeckung geht zu sich selber. Ich hätte mir zum Beispiel nie im Leben vorgenommen, Phonetik zu machen, aber vor tausend Leuten ist mir das plötzlich dann aufgefallen, dass man jetzt auch mal was Unverständliches sagen müsste, damit man endlich mal verstanden wird. Und dann habe ich irgendwelche „uet uet uet“ gemacht, also irgendwelche Geräusche, und plötzlich war das das, woran sich die Leute erinnerten. Da kam dann plötzlich irgendjemand zu mir und hat gesagt: Hier ist ein Mikrophon. Und dann noch jemand vom Rundfunk, und der hat dann gesagt: Wir machen Phonetik, und du bist uns empfohlen worden als der Phonetiker. „Lautgedichte“ hab ich da plötzlich gemacht. So ist das entstanden. Und da hat es auch seine Wirkung gehabt. Ich würde mich aber jetzt nie hinsetzen bei Kerzenschein und Rotwein, dann geht ein Lichtchen an, man wird vorgestellt und dann trägt man sein Gedichtchen vor. Denn für mich ist ja wichtig, dass man, wenn man sowas macht, nicht bloß sagt, was man sowieso zu sagen hat, sondern auch etwas, was man vorher gar nicht vermutet hat, dass es auch noch sagbar ist oder dass es aus einem rauskommt. Mario Persch von „Expander des Fortschritts“ hat das so gefasst, was ich gut finde: „Aus dem dem Nichts heraus kommen, aus dem Nichts heraus was machen“, das finde ich eine schöne Dopplung. Kannst du gleich als Überschrift nehmen, als Forderung und als Arbeitsmonogramm …

Holst: Das ist eigentlich die Möglichkeit, um noch mal zurückzukommen auf Konversation und das, was Papenfuß sagte, das ist schon die Chance, dass man, desto offener die Räume sind und je mehr Mut man hat, diese Räume zu betreten und auch auszuprobieren, man auch merkt, dass der Kreis diesen kommunikativen Charakter verstärkt.

Kutulas: Wir sind uns im klaren, dass es nun nicht um Kommunikation mit einer „Masse“ geht, sondern um eine mehr oder minder substantielle Kommunikation, die danach strebt, weg von drei Leuten hin zu fünfzig zu kommen … Ich wollte noch mal die Ebene klar benennen.

Wawerzinek: Also weg von drei?

Kutulas: Weg von „drei“, hin zu „fünfzig“ …

Wawerzinek: Nicht mehr als fünfzig …

Holst: Also, der Wahnsinn dieser Medien ist, dass es soundsoviel Medien gibt, die nur diese Kreise erreichen – das ist völlig klar. Es gibt eben nicht DAS Medium. Es ist klar, dass du mit Lyrik nicht mehr als fünfzig Leute erreichst. Das hängt auch mit dem Raum zusammen, in dem wir leben.

Wawerzinek: Wichtig ist auch irgendwie für mich, dem Vorwurf „Das kann ja jeder!“ durch Machen zu entkommen. Wenn das stimmt, dann muss man es machen, dann muss man alles machen. Aber das ist nicht das Ziel. Es ist viel produktiver, wenn einer zu dir kommt, und sagt, dass kann ja jeder, und du gehst dann los, und sagst: Na, werd ich mal sehen, ob ich’s kann, ob ich’s nicht auch machen kann. Farbe ranschmeißen an die Leinwand kann eigentlich jeder. Bloß, es macht nicht jeder. Am wenigstens die, die es dauernd den Leuten vorwerfen, dass es jeder machen kann. Die tun am wenigsten.

Kutulas: Wie ist eure Beziehung zum Schlager? Im Gegensatz zur Rockmusik, der sich mehr an eine „Gruppe“ wendet, richtet sich der Schlager (und die Disco-Musik als dessen Ableger für die Teenager) mehr an den „Einzelnen“. Wenn Adamo singt „Ich liebe Dich“, fühlt sich jede einzelne Frau persönlich angesprochen. Andererseits ist es nicht zufällig, dass im Rockkonzert versucht wird, ein gemeinschaftliches Hochgefühl beim zumeist jungen Publikum zu bewirken. Das will ich nicht bewerten. Es ist für mich nicht ’ne Frage von Bewertung, sondern von Funktionalität. Das ist etwas völlig anderes. Darum sprach ich von Adamo, der nicht fünfzig, sechzig oder hunderttausend meint. Der spricht jede Zuhörerin persönlich an.

Wawerzinek: In Wirklichkeit meint er vielleicht nur sich selber …

Kutulas: Das Gefühl habe ich eher bei euren Auftritten. Wenn ich an Konzerte von „Expander des Fortschritts“ oder von „Schappi und Baader“ denke, dann werde ich den Eindruck nicht los, ihr wendet euch weder an den Einzelnen, noch an eine Gruppe, Menge. Es ist eine seltsame Geschichte. Eigentlich wendet ihr euch nur an euch selbst.

Wawerzinek: Da sollte es hingehen. Ich fänd es wunderbar, wenn ich sagen könnte auf der Bühne: Seht mich an, ich liebe mich! – und es würde ein wahnsinniger Tanz nach dem Motto „Er liebt sich, er liebt sich“ oder „Er hasst sich, er hasst sich“ losgehen. Sie können ja auch abhauen. Aber wenn dann die Frage beim Zuschauer entsteht, wie ist das denn mit mir, liebe ich mich auch oder hasse ich mich auch, wenigstens wie der auf der Bühne, oder liebe ich mich anders, oder hasse ich mich anders. Dann hat was stattgefunden. Aber es findet nichts statt, wenn du sagst, du bist schön, ich liebe dich und jeder hört sich das an, dann wirds eben zu diesem komischen Phänomen.

Kutulas: Es ist tatsächlich ein seltsamer Widerspruch zwischen „Einfühlung und Abstraktion“, eine seltsame Ausgewogenheit, die durch den Umstand des „Produzierens“ hergestellt wird. Es ist, wenn ich an „Schappi und Baader“ denke, eigentlich ein schizophrener Zustand. Und wer setzt sich gern einem solchen aus – auch wenn er einem hilft, „sich selbst besser kennenzulernen“?

Holst: Das ist aber auch ’ne Frage der Identität. Ich meine den Vorwurf, den ich nicht als solchen verstehe, dass man in diesem Widerspruch eigentlich auch lebt, dass man weder den Einzelnen noch die Gruppe in irgendeiner Weise vertritt und wo natürlich die Frage der Identität ungeklärt bleibt. Also ich weiß nicht, wie Peter Alexander oder Adamo oder Bernd Klüwer dazu stehen, ob das nicht so ihr Ding ist, wenn sie sagen: „Ich liebe mich“ oder „Ich liebe dich“. Diese Pseudo-Einfühlung, die da passiert, hat natürlich ’ne ganz andere Richtung. Dadurch kriegt das Ganze einen kollektiven Wahn und kommt als pseudoindividualistisches Ding daher. Aber das ist so ’ne Sache, wo mehr die Plattenfirma oder der Raum was damit zu tun hat als Bernd Klüwer persönlich. Ich weiß nicht, ob Peter Alexander und die alle so starke Individualisten sind …

Wawerzinek: Das Verrückte an der ganzen Sache ist, dass die Leute meistens denken, es ist ein Glückszustand, wenn man eine Bühne und ein Medium hat, um irgendwas an die Massen zu bringen. Das ist nämlich eigentlich das Dilemma, ’ne Bühne zu haben und ein Medium und ein Mikrophon, und diese Schizophrenie können wir nicht auflösen, weil das alles schon da ist. Du wirst aber gewertet, wenn du auf einer Bühne stehst, nämlich, dass du es geschafft hast, auf der Bühne zu stehen. Aber anders kommst du an die Menschen nicht ran. Du kannst doch nicht ewig in ’ner Kneipe rumsitzen.

Kutulas: Für mich war eine wichtige Erfahrung, als ich Thomas Anders, den früheren Sänger von „Modern Talking“, auf einer Tournee durch die Noch-DDR als Tour-Manager begleitet habe. Die Jugendlichen, vor allem die Mädchen, haben geschrieen vor Begeisterung. Es schien, als wäre für viele dieses Konzert eine Art Höhepunkt in ihrem Leben – und das war sicher nicht nur den spezifischen DDR-Bedingungen geschuldet. Bei Peter Alexander oder bei Adamo tritt das sicher nicht so auf, aber gerade in der Disco und Popmusik, wo bewusst für Teenager produziert wird, erreicht die Identifikation ein wahnsinniges Ausmaß. Sie wollten Thomas berühren, wollten Sachen von ihm haben, kannten die Songs auswendig – für sie ist das ’n Lebensinhalt.

Wawerzinek: Bei uns tritt das in der Masse nicht auf. Bloß die Leute, die nach der Lesung kommen und sagen, es war toll, und die sogar stehen bleiben, bis du endlich aufgehört hast zu plappern und dann zu dir kommen, das sind dieselben Anfasser. Bloß, wenn so ’ne Masse auftritt, denkt man, das muss gut sein, das muss wahnsinnig gut sein, was auf der Bühne geboten wird.

Kutulas: Es gibt natürlich einen gewaltigen Unterschied.

Wawerzinek: Die Macher sollen den Nerv treffen, den vorbereiteten Nerv treffen. Es muss wieder Einer kommen, und dann kommt Er und dann ist Er da.

Holst: Es funktioniert wie das Aufbauen eines Politikers. Man soll sich doch nicht wundern, wo Millionen drinnen stehen, es ist völlig klar, da kann ich alles machen, weil ich ja auch die Inhalte verschieben kann, weil es in diesem Raum immer irgendwelche Leute gibt, die mit diesen Inhalten oder Nicht-Inhalten auch einfach spielen können. Du kannst immer jemanden aufbauen, und dann brauchst du ihn den Leuten nur jeden Tag reindonnern fünfmal am Tag, so, und dann sind die Höschen feucht – das ist auch okay, und dann kommt Thomas Anders, bringt 30 Hemden mit, und das Ding ist gelaufen, und dann sagen alle: Das is ’n wunderbarer Typ, der sagt, was ich denke – was ja unter Nichtdenkenden kein Problem ist. Der braucht die Folgen nicht zu tragen. Das ist ja auch ’n Unterschied, der kommt ja nicht als Individuum. Und das ist auch das Problem dieser ganzen Identität. Identität fängt nur dort an, wenn es etwas Namenloses ist.

Wawerzinek: Du siehst das ja bei Michael Jackson … Wie viel der sich umoperieren lassen muss, das ist doch nicht nur sein Interesse, bloß, weil er schön aussehen will, sondern weil er zu dieser Plastikpuppe werden musste, weil das Individuum nicht mehr interessiert … Bei Michael Jackson ist das für mich sogar erschreckend, was der jetzt noch so alles macht. Ich glaube, wenn ihm jetzt die Hintermänner sagen: Du musst jetzt langsam trauriger werden, du musst langsam Brüste kriegen, dann ist das zwar nicht sein Problem, aber er wird sich Brüste anschaffen, und er wird mit ihnen auf der Bühne wackeln, und alle werden kreischen … Nur, wenn das alles wirklich sein Problem wäre, dann hätte er noch wenigstens Glück gehabt in diesem ganzen Geschäft.

Holst: Dann hätte er natürlich keine Chance, weil nur mit Namenlosigkeit können Millionenauflagen erreicht werden. Du stehst oder sitzt auf der Bühne und bringst deine Traurigkeit rüber, dann ist es völlig klar, es würde dich keiner anhören – gut, fünf sind vielleicht betroffen. Ich meine: Wenn du dein namenloses Leid in die Gegend wirfst oder dein namenloses Glück – zum Beispiel „Herzen haben keine Fenster“ – kann jeder Idiot sagen, na wunderbar, das ist auch mein Lebensgefühl irgendwie.

Im Gegensatz dazu merkst du schon, wenn du dich im Underground bewegst – das ist schon irgendwo ein Rahmen, wo ’ne ganze Menge an Reibung und Tötung und Öffnung läuft, dass das schon nicht stimmt, also auch von der Direktheit her. Weil man sich schon täglich damit auseinandersetzt, seine täglichen Erfahrungen macht. Ich glaube, dass da ’ne Menge ablief. Eine Liebe ist es schon deswegen, weil es – ich will das nicht verallgemeinern – unter Druck entstand und viel direkter war. Ich weiß nur nicht, ob es wirklich auch das ist, was in der Vergangenheit war.

Wawerzinek: Ich komme nie ins Schwärmen beim Thema Underground. Ich glaube, es gab nie was, was sich jetzt beweisen müsste, dass es doch sowas gab. Das ist ja die aktuelle Forderung dieser Zeit: wirklich mir klarzumachen, es hat doch sowas gegeben. Es muss was gegeben haben, was Sascha Anderson heißt. Es muss was gegeben haben, was Papenfuß, Lorek usw. heißt. Was das überhaupt war. Ganz wissenschaftlich muss man das jetzt irgendwie machen. Ich hoffe, wenn sozial etwas mehr Schärfe reinkommt, dann wird die soziale Orientierung des Publikums stärker auf einen Dialog hinauslaufen.

Kutulas: Wobei der „Dialog“ durch den verstärkten Einzug der englischen Sprache sehr eingeengt wird. Die deutsche DDR-Rockmusik wird verschwinden. Nur wenige werden es sich leisten können, qualitativ gute deutsche Texte zu machen. Diese Ausnahmen gibt es natürlich. Aber die Bundesrepublik ist heutzutage das einzige europäische Land, in dem man das Radio einschaltet und nicht erkennt, dass man in Deutschland ist, da zu 95% nur englischsprachige Titel laufen. In allen anderen Ländern Europas ist das anders, von Griechenland, über Italien, Spanien, bis nach Frankreich und Schweden, wo zum Teil klare Quotenregelungen bestehen. Ich hoffe sehr, dass sich das auch in Deutschland ändert.

Wawerzinek: Weißt du, wie wichtig das dann wird, wenn mal einer deutsch singt. Ich würde das sogar positiv bewerten, wenn 95% nur Englisch machen, dann wird’s bei den restlichen 5% hier passieren müssen. Deshalb ist es wichtig, wenn mal wieder jemand auf deutsch singt, dass er dann aber auch weiß, dass ihm nur 5% gehören, und dann kann er sich so einen Schwachsinn nicht erlauben.

Kutulas: Oder es passiert das Gegenteil: Die deutschen Texte werden noch schlechter – wenn das möglich ist –, um zu bestehen, und die englischen werden das neue authentische Lebensgefühl wiedergeben …

Wawerzinek: Wenn du dich in England das erste Mal verliebt hast oder dich ein Mädchen aus England eingefangen hat, so dass es zu dir gehört, wenn du dich mit Mutter/Vater auf Englisch gestritten hast, dann werde ich es dir nicht übelnehmen, wenn du darüber auf Englisch singst. Aber wenn du damit nicht gelebt hast, dann ist das ja Anschiss. Dann stinke ich ab bei der Flachheit, die übernommen wird aus dem Sumpf der Klischees. Wenn man also keinen Anteil hat an dieser Sprache, dann empfinde ich das als Betrug.

Berlin, Frühjahr 1990

© Asteris Kutulas

Foto von Peter Wawerzinek © Asteris Kutulas