Sag: Himmel. Auch wenn keiner ist (Über Jannis Ritsos)

„Eine gute Maske für schwierige Zeiten: der Mythos“ – Über Jannis Ritsos

Als Vorwort zum Jannis Ritsos Film

Der griechische Dichter Jannis Ritsos, der 1909 geboren wurde und 1991 starb, notierte in einem seiner Gedichte: „Mein Beruf: Worte und Worte. Lumpensammler nannte man mich …“ Ritsos war tatsächlich zuallererst Lyriker, allerdings nicht einfach nur „Lyriker“, sondern er lebte wie kaum ein anderer ein „poetisches Dasein“, Tag um Tag, Gedicht um Gedicht, Zeile um Zeile. Er berief sich immer wieder auf die Hunderten von Dramen, die Aischylos oder Euripides geschrieben hatten, und verteidigte sich gegen den (leisen) Vorwurf, ein „Vielschreiber“ zu sein, mit dem Postulat, sich als „Arbeiter des Worts“ zu verstehen. Er war tatsächlich ein homerischer Dichter, der aus allem Poesie machte, der eine unerschöpfliche Phantasie hatte und den eine scheinbar automatische Schreibweise ständig drängte, immer neue irre Bilder, tiefgründige Metaphern und glasklare Verse zu erschaffen.

Mit zwölf verlor Ritsos seinen Bruder und seine Mutter, die innerhalb von drei Monaten starben, mit 17 erkrankte er an Tuberkulose, die ihn zu insgesamt sieben Jahren Sanatoriumsaufenthalt in Tbc-Asylen (zwischen 1927 und 1936) zwang. Nachdem er den gesellschaftlichen Ruin seiner einst adligen Familie aus Lakonien miterlebt hatte, schloss er sich Anfang der dreißiger Jahre der kommunistischen Bewegung Griechenlands an. Und trotzdem blieb er Zeit seines Lebens – ähnlich Pier Paolo Pasolini, dem er mehrere Gedichte widmete – der Bohemien der dreißiger Jahre, der noch während der Verbannung auf den Gefängnisinseln Jaros und Leros Ende der sechziger Jahre in einem Pelzmantel herumlief – sehr zum Befremden vor allem seiner Genossen, und Jahrzehnte schon, bevor die Rapper-Generation dieses Outfit popularisierte. Diese Abgrenzung war notwendig, denn Ritsos hatte zwar das riesengroße Glück, durch die Theodorakis-Vertonungen seiner Gedichtzyklen „Epitaph“ und „Griechentum“ weltbekannt zu werden, aber er hatte auch das riesengroße Pech, in den Augen vieler zur Literatur-Ikone der kommunistischen Linken zu erstarren. Und kein anderer hat darüber so offen, desillusioniert, aber auch humorvoll geschrieben, wie er selbst.

Würde man die innere Zwiesprache, die Ritsos über sechzig Jahre mittels seiner Dichtung geführt hat, nachvollziehen, würde sich die unsichtbare Biografie des Dichters durchaus rekonstruieren lassen: die sehnsuchtsvolle Melancholie der dreißiger Jahre; die ironisch-verzweifelte Sicht auf Krieg und Bürgerkrieg, die „Reinheit“ als Überlebensstrategie in den Vierzigern; die existenzialistische Nachdenklichkeit der fünfziger Jahre; die Flucht in den Mythos, in die als notwendig empfundene Maskierung der sechziger Jahre; Fragmentarismus und die Auseinandersetzung mit dem Tod als soziales Phänomen Anfang der siebziger Jahre; die Entdeckung der neuen Einfachheit und der Dialog mit dem Tod als individuelles Phänomen in den Achtzigern.

Diese – hier grob und schematisch skizzierte – innere Zerrissenheit und außerordentliche geistige Flexibilität blieben bei Ritsos zeitlebens hinter einem in der Öffentlichkeit konsequent vertretenen dialektisch-marxistischen Standpunkt verborgen. Für den Dichter keineswegs ein Widerspruch, denn möglicherweise war diese Fixierung, „ein Dichter des Volkes“ zu sein, wie er populistisch (aber auch voller Sympathie) genannt wurde, für Ritsos die Voraussetzung, seine geistigen Experimente und poetischen Phantasien – gleichsam vor aller Augen im Verborgenen – auszuleben: „Eine gute Maske für schwierige Zeiten: der Mythos“.

© Asteris Kutulas

Cover-Photo © by Asteris Kutulas
Jannis Ritsos Film Poster-Foto © by Privatier/Asti Music

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Ich habe meine Begegnungen mit Jannis Ritsos zwischen 1982 und 1989 in meinen Tagebüchern dokumentiert. Asteris Kutulas 

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Jannis Yannis Ritsos "Sag Himmel: Auch wenn keiner ist"
Plakatentwurf für den Film „Sag Himmel: Auch wenn keiner ist“ (Photo by Privatier/Asti Music)

Sag: Himmel. Auch wenn keiner ist – Begegnungen mit Jannis Ritsos

Directed by Joachim Tschirner
Written by Asteris Kutulas & Joachim Tschirner
Music by Mikis Theodorakis

Cinematography by Rainer Schulz | Editing by Karin Schöning | Dramaturgy by Beate Schönfeldt | Production Management by Hans-Christian Johannsen | Sound Mix by Peter Dienst | Graphics by Margot Hoppe | Motion Graphics by Moser&Rosié
Historic footage from the movie „The Document“ by Tassos Lertas
Many thanks to Pantelis Giatzizoglou and Vaso Kostula (Athens)
Produced by DEFA-Studio für Dokumentarfilme (East Berlin)

57 minutes | 35mm | 1984
Premiere: 10.10.1985, 34th International Film Week Mannheim
Original German title: „Sag: Himmel. Auch wenn keiner ist – Begegnungen mit Jannis Ritsos“ 

Jannis Ritsos Film Erstausstrahlung im DDR-Fernsehen (1.Programm): 12. Mai 1985

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Film-Rezensionen

Mannheimer Morgen, 11.10.1985
Bericht über die Internationale Mannheimer Filmwoche
„… Dem Regisseur Joachim Tschirner (DDR) gelingt es ohne falsches Pathos, ohne eine erzwungene ideologische Botschaft, einen Künstler zu porträtieren, der sich zeit seines Lebens dem einfachen Volk der Fischer und Bauern verbunden fühlte und die Leiden der Armen und Erniedrigten in seinen Versen und Zeichnungen umsetzte. Mit Hilfe von alten Photos und historischem Filmmaterial werden die Stationen im Leben von Ritsos aufgezeichnet, dessen Leidensweg in die Verbannung gleichzeitig für die Geschichte des ganzen griechischen Volkes steht … Beeindruckend sind besonders die Gespräche mit dem Künstler in seiner Athener Wohnung, der ohne viel große Worte zu machen eine beseelte Ausstrahlung besitzt. Ein Künstler, der noch mit 75 Jahren seinen Kampf führt, ‚gegen die Verzweiflung und für das Leben'“. 



Rhein-Neckar-Zeitung, 11.10.1985
… Jannis Ritsos ist bei allem engagierten Widerstand und lautstarkem Protest in seinen Werken und seinem Leben ein ruhiger, nach Harmonie strebender Mensch. Der Film über sein Leben trägt diesem Aspekt Rechnung. Tschirner vermeidet Hektik und Unruhe in seinem Porträt. Bei der Zusammenstellung von Interview-Szenen, Dokumentarmaterial und Landschaftsbetrachtung geht er behutsam vor. Für den Menschen Ritsos, dessen Leben sich in der Umgebung und Historie widerspiegelt, nimmt er sich mit langen Einstellungen viel Zeit. Dafür braucht man Mut. So erkennt Tschirner auch, daß der Dichter Ritsos und die Geschichte Griechenlands nicht voneinander zu trennen sind. Die Biografie des Künstlers ist gleichzeitig ein sensibel umgesetztes Porträt seines Heimatlandes.“

Begegnungen mit Jannis Ritsos (Tagebücher 1982-1989)