Athener Tagebuch, 24. & 25.7.2015

Die Zeit läuft ab …, 24.7.2015

Die Menschen wollen sprechen. Es gibt ein existenzielles Bedürfnis nach Kommunikation. Neben mir sitzt ein älterer Straßenbahnfahrer, der gerade Feierabend hat und mit der Metro nach Hause fährt. Er entpuppt sich als glühender Syriza-Anhänger. „Wir sind stolz darauf, diesen Kampf gegen die Troika geführt zu haben. Wir haben dadurch nicht nur Griechenland geändert, sondern auch Europa.“ Und obwohl ich nichts sage, insistiert er: „Glaub mir, mein Junge, sie haben einen Pyrrhussieg errungen.“

Viel Angst, gepaart mit Pathos, macht sich breit in Griechenland. Und auch die Gewissheit, dass Alexis Tsipras am Ende ist, noch bevor er überhaupt etwas beginnen konnte. Ihm bleiben vielleicht noch ein, zwei Monate, dann ist seine Zeit abgelaufen, dann gehört auch er zum griechischen Establishment, zum „System Griechenland“, das das Land ruiniert hat. In seiner Rede vor dem Parlament hieß es vorgestern: „Dieser Kampf wird nicht umsonst gewesen sein. Nur diejenigen Kämpfe sind umsonst, die nicht geführt werden.“ Das klingt sehr melancholisch, klingt nach Endspiel. Seine Partei bricht gerade auseinander, der geteilte Himmel über Athen bleibt geteilt, Griechenland bleibt eine Wunde. Im September wird es Neuwahlen geben; die nächste Tragödie steht uns bevor.

© Asteris Kutulas, 24.7.2015

 

Das ist kein Leben mehr…, 25.7.2016

Meine Mutter versucht immer wieder, mich in die Pflicht zu nehmen, als wäre ich verantwortlich für die Krise in den deutsch-griechischen Beziehungen: „Warum ziehen die deutschen Medien und Politiker dauernd diese Vergleiche zwischen den Griechen und den Bulgaren oder den Rumänen! In Bulgarien und Rumänien, da haben sie keine EU-Preise, keine 60% Jugendarbeitslosigkeit, das Gesundheitssystem ist dort nicht zusammengebrochen. In Griechenland sieht’s ganz anders aus. Die sozialen Systeme funktionieren nicht mehr. Man kann doch die Situation der drei Länder nicht gleichsetzen! Bei Lidl und im Media-Markt müssen wir deutsche Preise zahlen, haben aber nicht die Gehälter wie in Deutschland. Bei den Mieten sieht’s genauso aus. Meine Freundin hat einen 31-jährigen Sohn, arbeitslos; die 24-jährige Tochter studiert. Ihr Mann ist gestorben. Die leben zu dritt von 500 Euro und zahlen allein für die Miete einer winzigen Wohnung 250 Euro. Das ist ja kein Leben mehr. Und dann stellen deutsche Politiker diese Vergleiche an, als seien Menschen wie meine Freundin und ihre Kinder Idioten, die nicht kapieren würden, dass es ihnen blendend geht, im Vergleich zu den Menschen in Bulgarien oder Rumänien.“

Wenn ich meine Mutter so sprechen höre, dann fällt mir ein großer Unterschied in der Betrachtungsweise auf: Wenn Griechen sich über „die Deutschen“ kritisch äußern und manchmal auch ausflippen und fluchen, meinen sie niemals das deutsche Volk, sondern immer die Regierenden. Wenn Deutsche über die „Griechen“ urteilen, meinen sie zumeist – sehr stigmatisierend – die gesamte Bevölkerung und fast niemals die Regierung. Bis die Tsipras-Regierung an die Macht kam, schien es mir fast so, als würde die deutsche Öffentlichkeit das griechische Volk für das kriminelle Fehlverhalten seiner ehemaligen Regierungen verantwortlich machen.

© Asteris Kutulas, 25.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)