Politischer Nachruf: Griechenland hat sich selbst vernichtet

Berlin, 18.9.2015
(zwei Tage vor den erneuten Wahlen)

Meine Heimat war in den letzten Jahrzehnten eine von griechischen Oligarchen beherrschte Bananenrepublik. Sie wurde regiert von einer skrupellosen Politikerkaste, die das geltende Recht ständig beugte und die Demokratie aushöhlte. Das bedeutete auch, dass sie einen Teil der Bevölkerung durch Klientelismus und Vetternwirtschaft systematisch „korrumpierte“. Das griechische politische Establishment nutzte die finanziellen und personellen Ressourcen des Staates, um das bipolare, siamesische Parteiensystem von PASOK und Nea Dimokratia zu etablieren und am Leben zu erhalten. Die Wahlbüros der Parlamentarier dieser beiden Staatsparteien verkamen seit den achtziger Jahren zu „Agenturen für Arbeit auf Lebenszeit“, deren Kriterien nicht der Arbeitsmarkt und die persönliche Qualifikation, sondern vor allem Parteibuch und Wahlverhalten waren. Allein zwischen 2007 und 2009, also innerhalb von nur drei Jahren, hat die Nea Dimokratia, die Schwesterpartei der CDU, aus diesem Grund etwa 200.000 neue Beamte in den Staatsdienst aufgenommen.

Dieses korrupte „System Griechenland“ diente einerseits dem Machterhalt einer seit etwa 100 Jahren regierenden Politikerdynastie, andererseits aber vor allem der Herrschaft einer Handvoll griechischer Oligarchen. Letztere hatten zu jeder Zeit Zugriff auf die Reichtümer des Landes – inklusive der europäischen Geldzuwendungen, wie z.B. die Struktur- und Kohäsionsfonds der EU. Bei allen internationalen Ausschreibungen erhielten die Firmen dieser Oligarchen den Zuschlag oder sie waren bei den Geschäften des griechischen Staates mit multinationalen Konzernen deren Juniorpartner (Konzerne wie z.B. Hochtief, Siemens, die Deutsche Telekom oder amerikanische, französische, deutsche Rüstungskonzerne). Kick-backs, Betrug, Schmiergeldzahlungen, also illegitime Geschäfte, waren an der Tagesordnung und schröpften in vielerlei Hinsicht das griechische Staatsvermögen.
Bislang sitzt nur ein einziger Repräsentant dieser „Regierungskriminalität“ im Gefängnis – der ehemalige Stellvertretende Vorsitzende der PASOK-Partei und damalige Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, der im Jahr 2000 von der Rostocker Ferrostaal AG 20 Millionen Euro Schwarzgeld auf sein Schweizer Konto überwiesen bekam, um für 2,84 Milliarden Euro deutsche U-Boote zu kaufen. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass es zum Prozess gegen Herrn Tsochatzopoulos vor drei Jahren nur darum kam, weil ein deutscher Staatsanwalt während des Schmiergeldprozesses gegen Ferrostaal in München auf einen griechischen Namen gestoßen war und diese Akten seinem griechischen Kollegen nach Athen geschickt hatte.

Um dieses durch und durch korrupte und für sie hoch profitable System aufrechtzuerhalten, baute die herrschende Machtelite eine mafiöse Herrschaftsstruktur auf, zu der auch Teile der Staatsanwaltschaft, der Polizei und die maßgeblichen Akteure der Finanzverwaltung gehörten. Den Regierenden kam außerdem zugute, dass fast 90% der Information, also fast die gesamte Presse – aber auch die bedeutendsten Fußball- und Basketball-Vereine –, in den Händen der fünf mächtigsten Oligarchen waren und bis heute sind. Diese hievten je nach Interessenlage entweder die eine oder die andere der beiden Herrschafts-Parteien an die Macht. Allerdings blieben die Struktur und die Akteure immer dieselben.
Das „Geschäftsmodell“ auf Kosten der griechischen und europäischen Steuerzahler war jedenfalls überaus lukrativ, denn die Politikerkaste konnte zusammen mit den Oligarchen die Staatskassen plündern, Schulden machen, jede für das Land wichtige langfristige Investition vermeiden und nationale Interessen ignorieren.

Die Konsequenzen dieser Politik waren verheerend für Griechenland. Zusammen mit den starken Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008 führten sie direkt in die Katastrophe. Jetzt, da der tote Körper der griechischen Gesellschaft auf dem Seziertisch liegt, kann man während der Obduktion folgendes feststellen:

1. Griechenland ist kein souveräner Staat mehr. Alle maßgeblichen Gesetze werden in Brüssel verfasst. Die griechische Regierung – egal welcher Coloeur –, aber auch das griechische Parlament sind nur noch dazu da, die von außen diktierte Politik abzunicken und umzusetzen. Dieser Zustand einer „Schuldenkolonie“ soll nach dem Willen aller Hauptakteure Jahrzehnte währen. Darum fände ich es ehrlicher, wenn nicht nur alle Gesetze in Brüssel geschrieben, sondern auch, wenn Brüsseler Technokraten diese Gesetze in Griechenland durchsetzen würden.

2. Die Demokratie in ihrem ursprünglichen Verständnis existiert in Griechenland nicht mehr. Sie war seit langem sehr beschädigt, aber seit dem Ausbruch der immer noch anhaltenden wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Krise verlor das grundlegendste demokratische Prinzip – dass das Volk der Souverän sei – jede gesellschaftspolitische Grundlage. Unabhängig davon, was richtig und was falsch ist, muss man nüchtern feststellen, dass nach der 180-Grad-Wendung von Herrn Tsipras, die dem Referendum folgte, und nachdem das 3. Memorandum unterschrieben wurde, Wahlen ohnehin nur noch Makulatur und Augenauswischerei sind.

3. Auch unter den Bedingungen der Krise konnte sich in Griechenland keine Zivilgesellschaft außerhalb der Parteistrukturen formieren. Das Tragische an dieser Situation ist, dass sich zu Beginn der Krise 2010 die Interessen der mächtigen europäischen Länder Deutschland und Frankreich mit den Interessen des mafiösen Herrschaftssystems in Griechenland vereinbaren ließen. Die deutsche und die französische Regierung wollten nach der Bankenkrise von 2008 ihren Wählern nicht die Wahrheit zumuten, dass sich ihre Banken in Griechenland verzockt hatten und mit über 100 Milliarden gerettet werden mussten, also bürdeten sie den „gierigen und faulen Griechen“ die alleinige Schuld auf und gaben ihnen 2011 die 110 Milliarden Euro, die komplett an die französischen und deutschen Banken gingen. Davon blieb nichts in Griechenland hängen. Diese Transaktion konnte nur zusammen mit den alten Machteliten durchgeführt werden, also mit jenen, die durch Klientelismus, Vetternwirtschaft, geduldete Massen-Steuerhinterziehung, Schmiergeldzahlungen, Betrug und organisierte Staats-Kriminalität die Krise in Griechenland überhaupt hervorgerrufen hatten. Die Triebfedern der alten Politikerdynastien waren ihr Streben nach Machterhalt und ihre Angst, sonst im Gefängnis zu landen – also stimmten sie allem zu und setzten alles durch, was in Brüssel und Berlin angeordnet wurde.

Diese unheilige Allianz hatte – aus sehr unterschiedlichen Gründen – ein großes gemeinsames Interesse daran, eine im Entstehen befindliche Zivilgesellschaft zu unterdrücken, so dass letztendlich die griechische Bevölkerung das einzige Opfer dieser Geschichte ist. Das oligarchische System in Griechenland dagegen wurde während der ersten fünf Jahre der Krise nicht nur „verschont“, sondern systematisch weiter ausgebaut und gefestigt, leider mit dem Wissen und der Unterstützung des europäischen Establishments. Das führte dazu, dass aufgrund der Entscheidungen der europäischen Spitzenpolitiker drei Dinge passierten: die griechische Bevölkerung ist dramatisch verarmt, die Banken sind gerettet und die europäischen Steuerzahler haften für 340 Milliarden Euro. Was für eine Bilanz!

Sowohl die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2015 als auch des Referendums zeugen von einem letzten Aufbäumen der Bevölkerung, das alte korrupte System loszuwerden, einen Neuanfang zu wagen und sich selbst zu retten. Doch das ist weder im Interesse des griechischen noch des europäischen Establishments, darum gilt der Befund: Griechenland (als unabhängiger Staat, als selbstbestimmte Nation) hat sich selbst „vernichtet“ – und Europa hat zugeschaut, sich höhnend, drohend, richtend geäußert, hat sich eingeschaltet und mitgemacht. Doch diese Geschichte von Ursache und Wirkung ist noch nicht zu Ende.

© Asteris Kutulas, 2015

Der verpasste „Grexit“