Athener Tagebuch, 18. & 19.7.2015

Schizophrenie, 18.7.2015

Ich „diagnostiziere“ fast täglich meine Schizophrenie: In Griechenland „liebe“ ich Deutschland und „hasse“ Griechenland, aber in Deutschland „hasse“ ich Deutschland und „liebe“ Griechenland. Ich hasse den Neo-Nationalismus in Deutschland und ich hasse die selbstzerstörerische „Arroganz“ der Griechen.

Spät nachts treffe ich Sabrina, eine deutsche Kindergärtnerin, die vor einem Jahr „wegen der Liebe“ nach Griechenland gezogen ist. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, in Deutschland zu leben.“ – „Fehlt dir Köln nicht?“, frage ich sie. „Nein. Aber meine deutschen Freunde schon. Einfach ist’s hier nicht – und trotzdem hab ich ein tolles Lebensgefühl. Jeder hilft jedem.“
Am Keramikos-Platz viele Bars und Restaurants. Sabrina macht mich darauf aufmerksam, dass es dafür, dass wir Freitag-Abend haben, unglaublich leer ist. „Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen. Es herrscht sowas wie eine nationale Depression.“

Ich erinnerte mich an Makis‘ Aussage: An den Tagen vor der Volksabstimmung des „OXI“ zog es die Menschen auf die Straßen, in die Tavernen, in die Bars, sie wollten reden, sich austauschen, diskutieren. Seit dem Tag, da Tsipras in Brüssel den Bedingungen zugestimmt hat, bleiben alle zu Hause und warten, was passiert.

© Asteris Kutulas, 18.7.2015

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Alleine mit exotischen Tieren, 19.7.2015

Die Parkplatzsuche in Athen ist einfacher geworden. Sehr schwül heute, wenig Wolken, aber kein Smog, nicht zu vergleichen mit früher. Viele Familien mussten ihre Zweitwagen und viele auch ihre „Erstwagen“ verkaufen, weil sie sich kein Auto mehr leisten konnten. Bevor ich in die Stadt bin, war ich Koulourakia, Kringel kaufen, unser Frühstück. Angelos, der Bäcker, der gegenüber dem Wohnhaus meiner Mutter seinen Laden hat, stöhnte: „Ich musste mich von meinem BMW trennen. Jetzt fahr ich einen alten Fiat.“ Er weiß, dass ich in Berlin lebe, darum insistiert er, nachdem er mir die Tüte mit den Kringeln gereicht hat: „Du, Griechenland hat seit der Euro-Einführung, als die Zinsen fielen, wie verrückt deutsche Waren und auch deutsche Waffen gekauft. Wir waren Importweltmeister deutscher Mercedes’ und deutscher U-Boote. Jahrelang. Die damaligen Regierungen haben uns ständig aufgefordert: Nehmt einfach Kredite auf, kauft Waren, kauft, kauft, konsumiert – so funktioniert dieses System, das ist gut für’s Land! Wir wurden mit Kreditkarten überhäuft. Und wir haben gekauft. Keiner hat uns damals gewarnt, keiner hat gesagt: Halt, ihr könnt euch all das eigentlich nicht leisten! Auch Herr Schäuble hat das nicht verlauten lassen. Nein, ganz im Gegenteil.“

Es ist etwas passiert, seitdem Griechenland diese neue Regierung hat, etwas Ungeheurliches und für mich Unerwartetes: Viele Griechen sind „aufgeschreckt“ aus einer jahrelangen „tödlichen“ Lethargie; sie haben angefangen zu lesen, nachzudenken, ihr vom Konsum beherrschtes Leben zu hinterfragen, jetzt, da sie kein Geld mehr haben, es weiterzuführen – und je mehr ihre neue Regierung von „Europa“ (wie es hier so heißt) gedemütigt wird, desto mehr empfinden sie sich als „Kämpfende“, sie fühlen sich wieder als „Volk“, als ein zersplittertes zwar, aber als ein Volk im Widerstand gegen eine „alte Gesellschaft“, die dieses Volk nicht mehr will. Viele sind ängstlich, verunsichert, müde, fühlen sich hilflos, ohnmächtig einem täglichen Terror unzähliger Expertenmeinungen und politischer Aussagen ausgesetzt, die sie nicht mehr überblicken und einordnen können. Sie fühlen sich wie alleingelassen mit einigen exotischen, unbekannten Tieren, von denen sie gehört haben, dass diese gefährlich sind, aber nicht wissen, ob und wie diese angreifen.

Im Zentrum von Athen treffe ich mich mit Alekos, einem zwanzigjährigen IT-Spezialisten, der zur griechischen „Abteilung“ von Anonymus gehört. Er sagt: „Wenn du Souvlaki essen gehst, musst du ungesalzene bestellen.“ Ich schaue ihn fragend an. „Na ja, dann bezahlst du nur 13% Mehrwertsteuer; wenn du normal gesalzene nimmst, wird der neue Mehrwertsteuersatz von 23% berechnet.“ Ich traue meinen Ohren nicht. Er fährt fort: „Du musst auch beim Hackfleisch aufpassen: Wenn du keine 23% bezahlen willst, darf der Rindfleisch-Anteil nicht größer als 50% sein.“ Ich kann mich vor Lachen nicht mehr halten: „Damit beschäftigt ihr euch bei Anonymus?“ Er lässt ein Grinsen sehen: „Quatsch, wir lesen nur genau, was uns die Troika vordiktiert, dann handeln wir dementsprechend.“

© Asteris Kutulas, 19.7.2015

(Athens Photos © by  Ina Kutulas)