Unbewiesene Fakten aus meiner Heimat Griechenland

Sowohl Theodoros Pangalos als auch Evangelos Venizelos, aber auch Giorgos Papandreou, Konstantin Karamanlis, Dora Bakojanni oder Antonis Samaras, sie alle stammen aus Politikerfamilien, die teilweise seit 100 Jahren das gesellschaftliche System Griechenlands beherrschen. Sie symbolisieren das alteingesessene, korrupte, kriminelle, reformresistente Establishment von Vetternwirtschaft und Klientelismus, sie haben es beständig weiter gestärkt und gefestigt und damit in Griechenland quasi die Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinn abgeschafft. Sie alle gehören zu den wenigen „Herrscherfamilien“, die neben einer Handvoll Oligarchen – den eigentlichen Machthabern in Griechenland – die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Landes bestimmten. Etwa 400 Menschen treffen in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 alle ökonomischen und politischen Entscheidungen, und viele von ihnen bereicherten sich auf Kosten der Allgemeinheit auf die eine oder andere Art und Weise, wobei sie sich dabei auch an EU-Geldern in Form von Provisionen, Kick-Backs, auf dem Umweg über Scheinfirmen und sogar durch unverhohlenen Betrug bedienten. Dieses extrem parasitäre Establishment konnte sich an der Macht halten, weil es unentwegt dafür sorgte, sich eine politikhörige und untertänige Staatsanwaltschaft sowie eine durch und durch korrupte Finanz- und Steuerbehörde heranzuzüchten und diese am Leben zu erhalten, was jeglichen Ausbruch aus dem bestehenden „System“ unmöglich machte. Zudem stützte sich dieses System auf eine durch die geduldete Steuerhinterziehung und andere Privilegien gehätschelte parasitäre „Oberschicht“, bestehend aus Kommunalpolitikern, Top-Rechtsanwälten, Gewerkschaftsbossen, „Star-Journalisten“, Ärzten, auserwählten Unternehmern und vielen Landwirten. „Freie Wahlen“ waren zugelassen, aber viele Stimmen wurden gegen Vergünstigungen (rousfeti) jeglicher Art gehandelt, was hauptsächlich die Verbeamtung einer Anzahl von „treuen Wählern“ oder deren Familienangehörigen bedeutete.

Dadurch wurde nicht nur ein Teil der Bevölkerung „korrumpiert“ und „politisch fanatisiert“, sondern auch „mitschuldig“ gemacht am Verfall der Werte und des sozialen Gefüges. Mikis Theodorakis brachte das bereits 1991 auf den Punkt: „Sie haben die Kassen geleert, sie haben die Herzen geleert, sie haben die Gehirne geleert“. Im Laufe der letzten 40 Jahre änderte sich dadurch das soziale Verantwortungsgefühl vieler Griechen noch einmal nachdrücklich. Es setzte sich immer mehr ein grenzenloser Egoismus durch, der von den herrschenden Machteliten befördert und zum obersten Prinzip der neoliberalen griechischen Gesellschaft erhoben wurde. Wer sich darauf nicht einlassen wollte, hatte kaum Anstellungs- und Aufstiegschancen. Vom Ausmaß der Korruption zeugen an der Spitze des Eisbergs der Koskotas-, der Siemens-, der Ferrostaal- und der Protonbank-Skandal, das Vathopedi-Desaster, die dubiosen Waffengeschäfte griechischer Politiker und Beamter sowie Hunderte nicht verfolgter und nicht aufgeklärter Skandale.
Hinzu kommt, dass die seit 1974 herrschende Politikerkaste den fast unbegrenzten Einfluss ausländischer und ungezügelter nationaler wirtschaftlicher Interessen zugelassen und darauf ihre Macht gestützt hat, ohne jemals auch nur ansatzweise eine eigenständige nationale griechische Politik zu verfolgen. Die Ergebnisse sind schockierend. Das Land befindet sich seit 2008 in einem rasanten Niedergang – nicht nur in finanzieller und struktureller, sondern auch in moralischer und kultureller Hinsicht. Vierzig Jahre PASOK/Nea Demokratia-Regierungen führten 2011 zu folgenden Ergebnissen, die außer Zweifel stehen:

1) Griechenland ist bankrott.

2) Der Staatsapparat verharrt in einem desolaten Zustand– – es besteht keine Steuergerechtigkeit, das Gesundheitswesen ist marode, das Bildungswesen gehört zu den weltweit schlechtesten, das Rechtswesen ist unzureichend entwickelt, die Verwaltung arbeitet absolut ineffizient.

3) Griechenland hat keine Perspektive, so dass Zehntausende junge Griechen ihr Land verlassen, um sich im „Westen“ eine neue Zukunft aufzubauen.

4) Griechenland ist im Resultat der Politik der letzten 40 Jahre zur „Zwangversteigerung“ gezwungen, es muss also sein gesamtes Staatseigentum zu einem Bruchteil des Wertes an Privatpersonen, Konzerne und Investoren aus dem Ausland verkaufen.

5) Griechenland betreibt seit vielen Jahren keine unabhängige, national selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik und steht darum vor etlichen ungelösten Problemen mit seinen Nachbarländern (Türkei, Albanien, Mazedonien/FYROM) und mit der NATO.

6) Das internationale Ansehen Griechenlands ist fundamental und nachhaltig beschädigt, was sich in der negativen Presse widerspiegelt, die die griechischen Verhältnisse reflektiert und die Griechen im Allgemeinen „verurteilt“. Dieses Misstrauen gegenüber Griechenland wirkt sich verheerend auch auf den Export aus, was der stark angeschlagenen Wirtschaft noch weiter das Wasser abgräbt.

Die seit Jahrzehnten in Griechenland herrschende Politikerkaste hat nicht nur dazu beigetragen, dass sich die Mentalität und die Wertevorstellungen der griechischen Gesellschaft und besonders der jeweils jungen Generation innerhalb der letzten 40 Jahre immer mehr zugunsten eines ausgeprägten – kreditgetriebenen – Konsum- und Wohlstandsdenkens veränderten, sondern sie hat vor allem wirtschaftlichen und ausländischen Interessen gedient, anstatt eigene strategische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Griechenlands Wirtschaft und seinen Dienstleistungssektor schrittweise hätten stärken können.

Obwohl der hier beschriebene Zustand in den ersten Jahren der Krise für jeden sichtbar zutage trat, übernahm kein einziger griechischer Politiker auch nur ansatzweise eine Mitschuld und eine grundsätzliche Verantwortung für diesen desaströsen Zustand des Landes. Ganz im Gegenteil, die Politiker zelebrierten selbst in den letzten Monaten des absoluten Niedergangs den Machterhalt als oberstes Prinzip des politischen Lebens und als persönliches Allheilmittel gegen die Krise.
Da Griechenland zum einen –– so klein es auch sein mag –– „to big to fail“ ist (genauso wie die großen europäischen Banken), und zum andern auch keine systemimmanente Destabilisierung zugelassen werden darf, können sich unsere korrupten und gescheiterten Politiker auf die Unterstützung ihrer europäischen Kollegen verlassen. Abgesehen von dieser System-erhaltenden Solidarität der europäischen Politiker für ihre griechischen Kollegen, muss jeder vernünftig denkende Mensch zu dem Schluss kommen, dass es mit den bisher herrschenden Machthabern, inklusive den jetzt gewählten Abgeordneten (also auch der gesamten Opposition), keinen Wandel in Griechenland geben kann –– sie alle sind Teil des Problems und nicht nur de facto unfähig, es zu lösen, sondern sie sind auch nicht willens dazu.

(Wäre ich gläubig, würde ich mit dem Satz enden: Gott stehe uns bei!)

© Asteris Kutulas, November 2011