Theodor Storm von Asteris Kutulas

Theodor Storms Novelle „Hans und Heinz Kirch“

Theodor Storms Novelle „Hans und Heinz Kirch“
Ein Essay von Asteris Kutulas (1981)

I

„Auf einer Uferhöhe der Ostsee liegt hart am Wasser hingelagert eine kleine Stadt, deren stumpfer Turm schon über ein Halbjahrtausend auf das Meer hinausschaut.“ (364) Gefangennahme der Phantasie; sacht, aber unerbittlich werden die Sinne hineingezogen in diese Stimmung einer „abgeschlossenen Einsamkeit“. Die „kleine Stadt“ am Meer, gleichsam ruhig, ohne Lärm, nur im „Frühling“ durch das „unablässige Geschrei der Strand- und Wasservögel“ in ihrer scheinbaren Trägheit etwas gestört. Schöne Landschaft – Eindruck einer Idylle, in der Veränderung kaum denkbar; der Turm ist schon seit einem „Halbjahrtausend“ stumpf, die Leuchttürme „entzünden“ wie von allein „ihre Feuer“. Doch dann der leise Hauch einer Bewegung: „die sogenannte Bürgerglocke“ hängt nicht mehr „wie seit Jahrhunderten“ im Kirchturm auf dem Markte. Das „Gesinde“ oder auch der „Haussohn“ brauchen sich nicht mehr der absoluten Herrschaft des Familienoberhauptes unterzuordnen.

Dann die Entschuldigung der „tüchtigen Menschen“ für ihre, „noch vor kurzem“ bestehende, Rückständigkeit. Es ist der Hinweis auf die Bewohner der „kleinen Stadt“, „unabhängig von dem Gelde und dem Einfluss der umwohnenden großen Grundbesitzer“, aus „alten Bürgergeschlechtern“ (364 f.) stammend. Die gleichen genetischen Wurzeln münden in die gegenwärtige Agonie zwischen einem „kleinen Patriziat“ mit stattlicheren Wohnungen und den anderen Bewohnern in den „niedrigeren Häuserreihen“ (365). Und dann erscheint ein „Aber“, wie zur Beruhigung, dass auch die jetzt Reichen noch „bis zum letzten Jahrzehnt“ sich ihre „Wohlhabenheit“ auf dem gleichen „Weg“ wie ihre „Vorfahren“ erworben haben. Die Aussage braucht nur weitergeführt zu werden: Jetzt müssten die Söhne nicht mehr diesen Weg gehen…

Der Auseinanderfall zwischen Arbeit und Reichtum, zwischen Reichtum und Rechtschaffenheit überschattet die Beziehungen zwischen den Bürgern der Stadt. Der zwingende „Stufengang der bürgerlichen Ehren“, dessen eine Stufe ihren Ausdruck im privilegierten Schifferstuhl mit dem „Barkschiff“ hat, lässt sogar „statt der Andacht ein ehrgeiziges Verlangen“ im „kleinen Bürgerstande“ aufkommen. Die dadurch ihrem Wesen entfremdete Kirche führt statt zu „gottseligen Gedanken“ (365 f.) zu „erregten weltlichen Entschlüssen“ (366). Die Horizonte und die Ideale – ihre eigentlichen Grenzen.

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II

Rückversetzung in die Zeit davor. Zeit zwischen Zeiten: erzählte Zeit. Die „Abschaffung der Bürgerglocke als eines alten Zopfes war in der Stadtverordnetenversammlung von einem jungen Mitgliede zwar in Vorschlag gebracht worden, aber zwei alte Herren hatten ihr das Wort geredet … Und nach wie vor, wenn es zehn vom Turm geschlagen hatte, bimmelte die kleine Glocke hinterdrein“ (389). Fünfzehn Jahre vor diesem Sieg der alten Herren über den Geist der neuen Epoche verabschiedete Hans Kirch seinen Sohn Heinz zu einer mehrmonatigen Bewährungsreise als Matrose. Dass der nicht wiedergekommen, liegt an der Eigenheit einerseits des Vaters, der dem Sohn einen zornigen Brief mit Vorwürfen über dessen Verhalten am Vorabend der Fahrt schreibt und andererseits des Sohnes, der daraufhin, in der Überzeugung, zu Unrecht beschuldigt worden zu sein, nicht nach Hause zurückkehrt, sondern eine „neue Heuer“ annimmt, so seinem Vater trotzend. Doch „je weiter die Zeit verrann, desto fester wurzelte der Groll“ in Hans Adams Herzen, so dass er, als ein Jahr später ein unfrankierter Brief des Sohnes ankommt, diesen ungeöffnet zurückweist. Die Rückkehr des Heinz, auch vom Vater heimlich gewünscht, findet somit auch in den nächsten fünfzehn Jahren nicht statt – währenddessen die Mutter stirbt und seine Schwester Lina die Ehe eingeht.

Nach insgesamt siebzehn Jahren Trennung erfährt Familie Kirch, dass der Totgeglaubte sich in Hamburg unter falschem Namen aufhält. Dem „alten Schiffer …ist, als fühle er eine erkaltende Hand, die den Druck der seinigen erwarte“: Das Versprechen, das er seiner sterbenden Frau gegeben, ist das „Perpendikel“ für ihn, seinen Sohn nach Hause zu holen, der, zwar „widerstrebend“, ihm aber doch folgt, denn auch er muss „Gott weiß was, herunterspülen“.

Jedoch „kostet es Künste, in diesem Burschen mit dem roten Bart den alten Heinz herauszufinden“ (406), wie der Vater bemerkt, nachdem in der Stadt ein Gerücht seine Kreise zieht, „der Heimgekehrte sei gar nicht Heinz Kirch, er sei der Hasselfritz, ein Knabe aus dem Armenhause, der gleichzeitig mit Heinz zur See gegangen war“ (404). Da sich zudem der Zurückgekommene nicht „heimisch“ fühlt, ihn die Hausangelegenheiten „wie etwas Fremdes“ anmuten und eines abends „allerlei in seiner Erinnerung“ aufwacht, so dass sein Wesen hervorbricht und er die Nacht in einer verrufenen Kneipe verbringt, glaubt sich der Vater gezwungen, einen Schlussstrich zu ziehen und „hastig“ (422) den Sohn fortzuschicken. Diesen hält ebenfalls nichts mehr in seiner Heimatstadt: Wieb, seine Kinder- und Jugendliebe, ist inzwischen verheiratet. So reist er ab, ohne „the alms“ (424) des Vaters anzunehmen. Letzterer, gedrückt und gebrochen jetzt, erfährt durch eine Vision vom Tod seines Sohnes, „und der Tote hatte alle Rechte, die er noch eben dem Lebenden nicht mehr hatte zugestehen wollen.“ Buße mit Hilfe und an der Seite Wiebs, deren Mann „sich totgetrunken“. Der alleinige Gewinnende aus dieser Familienkatastrophe: der Schwiegersohn Christian Martens.

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III

Nachdem der Ort und die Einwohner vorgestellt, charakterisiert der Erzähler die Hauptfigur: „Zu diesen strebsamen Leuten gehörte Hans Adam Kirch“ (366). Ein Mann, der ein Ziel hat und alles „rastlos“, „eilfertig“ darauf zusteuert – den „Platz im Schifferstuhle hatte er sich errungen; jetzt schwebten höhere Würden … vor seinen Sinnen“ –, ein Mann im sozialen Aufstieg begriffen, der alles diesem Aufstieg unterordnet, „denn auch die Sitze im Magistratskollegium, wenn sie auch meist den größeren Familien angehörten, waren mitunter von dem kleineren Bürgerstande aus besetzt worden“ (367). Dem entspricht die Darstellung seiner Familienverhältnisse, seines Eigentums: das Haus „aus der väterlichen Erbschaft… ein Stück Wiesenland … Eine Frau hatte Hans Kirch sich im Stillen vor ein paar Jahren schon genommen; zu der Häkerei … kam nun noch eine Milchwirtschaft: auch ein paar Schweine“ (366). Einbeziehung der Frau in die Aufzählung, um das Verständnis dieser patriarchalischen Familienform zu offenbaren.

Einerseits strebt Hans Kirch nach Reichtum und nach politischer Macht, andererseits sind in seinem Innern eine „angeborene Rechtschaffenheit“ sowie ein „Ehrgeiz“ fest verwurzelt, die ihn als einen „zuverlässigen Geschäftsmann“ (367) charakterisieren. Zwei Tatsachen, die unter den neuen, durch den Erzähler am Anfang skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen einander ausschließen.

Zu der Zeit, in der die Handlung der Novelle angesiedelt ist, in dieser „Zwittergesellschaft“, sind die Erwirtschaftung eines Schiffes und das Ablegen eines Steuermannexamens möglich, „aber auch die schon in die Kaufmannschaft Übergetretenen, die ersten Reeder der Stadt, hielten … hier oben unter den anderen Kapitänen ihren Gottesdienst“ (365). Hans Kirch muss in seinem Versuch scheitern, ehrlich zu Reichtum und Macht gelangen zu wollen. Seine Schwester Jule wird dies, nach der Wahl des Bäckermeisters, „mit dem er freilich weder an Reichtum noch an Leibesgericht sich messen durfte“, in einem von Kirch beanspruchten Ratsherrnstuhl aussprechen: „Du hast einen scharfen Kopf, und den können die regierenden Herren nicht gebrauchen, wenn er nicht zufällig auf ihren eigenen Schultern sitzt; da passt ihnen so eine blonde Semmel besser, wenn sie denn doch einmal an uns Mittelbürgern nicht vorbeikönnen.“ (380) Das ist deutlich genug! Und darin liegt die Ursache für einen Konflikt zwischen Hans Adams Wesen, seinem Ideal und dessen Realisierung.

In seinem Sohn Heinz spiegelt er sich, spiegelt er den Sinn seines Lebens wider, „sagen die Leute doch, er sei sein Ebenbild“ (367). Wollte er diese Einstellung verwerfen, müsste er sein Leben verwerfen. Er muss eins sein mit dieser Einstellung, „glaubte er doch selber nur den Erben seiner aufstrebenden Pläne in dem Sohn zu lieben“ (369). Jedoch bleibt noch eine Möglichkeit: Hans Kirch „glaubte … nur“. Denn, und das wird am Schluss der Novelle deutlich, ist in ihm noch eine andere Art Liebe verwurzelt, eine Liebe des Vaters zum Sohn, die zuerst mit der Liebe zum Erben (also zu sich) zusammenfällt, unsichtbar in seinem Innern harrt, sich jedoch schließlich von diesem löst und verselbständigt. Dieser innere Konflikt ist der dramatische Höhepunkt, das psychologische Zentrum der Novelle.

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IV

Kurz bevor Heinz das Elternhaus für immer verlassen soll, wird dieser scheinbar unsichtbare Konflikt „hervorgekehrt“: „Plötzlich fuhr er auf, seine grauen Augen öffneten sich weit: ‚Hans! Hans!’ hatte es gerufen; hier im leeren Zimmer, wo, wie er jetzt bemerkte, schon die Dämmerung in allen Winkeln lag. Aber er besann sich; nur seine eigenen Gedanken waren über ihn gekommen; es war nicht jetzt, es war schon viele Jahre her, dass ihn diese Stimme so gerufen hatte …“ (422). In diesem „leeren Zimmer“ ist er allein, allein mit sich, und die Stimme ruft aus ihm heraus, als würde sie Besinnung fordern seitens des anderen Ich’s, das Kirch wie eine äußere Gewalt vorkommt. Hans Kirch verstößt gegen die „Ewigkeit“ (434), verstößt gegen die ewigen menschlichen Gesetze, gegen das „Sittengesetz in uns“ und muss so seinen Sohn verlieren.

Erst als Heinz für ihn stirbt, kann es zu einem Erkennen seines Irrtums kommen – meisterhafte Gestaltung dessen durch Storm. Erst nachdem „die letzten Trümmer lang gehegter Lebenspläne“ (422) weggeräumt sind in ihm, als es „in der grauen Zukunft keine Hoffnung mehr für ihn“ (427) gibt, erst nach Heinz’, als er in ihm nicht mehr den Erben sehen kann, ist die Grundlage geschaffen, den menschlichen Sohn zu erkennen.

Abstrakt gefasst, vollzieht sich die innere Auseinandersetzung des Hans Kirch zwischen den historisch determinierten Werten, Normen und den dem Menschen wesenseigenen Gefühlen. Storm schreibt am 12. Dezember 1885 an Wilhelm Petersen, dass der Stoff der Poesie „nicht auf vorübergehenden Zuständen beruhen soll, sondern auf rein menschlichen Konflikten, die wir ewig nennen“. (Briefe 2, 342)

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V

Der Titel der Novelle weist uns auf den äußeren Konflikt hin, jedoch bedeutet er mehr. Erwartet der Vater absoluten Gehorsam von Heinz, so muss dessen Persönlichkeitsentwicklung unvermeidlich zu einer Kollision führen. Der Aufeinanderprall als Mittel, den inneren Konflikt auszulösen. Heinz’ erste Handlung ist passiv: „Erstaunt und furchtsam“ (369) sieht er zum Vater hoch, der die Hand gegen ihn erhoben hatte. Dieser duldete keinen Widerstand vom Sohn, und so kommt die „Zärtlichkeit des … (Vaters) gleicherweise immer seltener zutage, je mehr der eigene Wille in dem Knaben“ (369) wächst. Dessen Passivität verschwindet und macht einer charakteristischen Persönlichkeitsentwicklung Platz. Im sechsten Lebensjahr ist die Charakterentwicklung noch in einem kleinen „aber“ enthalten: „Als Heinz das sechste Jahr erreicht hatte, nahm ihn der Vater zum ersten Mal mit sich auf die Fahrt, als ‚Spielvogel’, wie er sagte…; der Knabe aber freute sich über sein blankes Hütchen und lief jubelnd über das schmale Brett an Bord …“ (367)

Ein Jahr später, mit sieben, tritt sie schon deutlicher zutage, musste Heinz doch „mit Gewalt an Bord gebracht werden …“ – „Er fürchtete seinen Vater und trotzte ihm … zugleich.“ (369) Heinz war wohl des Vaters „Ebenbild: die fest auslugenden Augen, der Kopf voll schwarzbrauner Locken seien väterliche Erbschaft, nur statt des krummen Rückens habe er den schlanken Wuchs der Mutter.“ (367) Aussehen als entäußertes Wesen: der nicht gebeugte Rücken. Und der Ausspruch des Pastors – „Seeleute und Studenten, das waren die freien Männer“ (406) – trifft so auf das Wesen des Heinz Kirch zu. Natürlich war es die erzwungene Freiheit eines Ausgestoßenen, eines von „Vaters Hand“ Verstoßenen. Er erfährt in der Novelle einen so großen Individualitätsgewinn, dass er sein „altes Gesicht“ verliert. Deshalb ist es für Hans Kirch unwichtig, ob dieser sein Sohn ist, er „war in dieser Gesellschaft für jetzt nicht wohl zu präsentieren“, und über die Vergangenheit Heinz’ „frug er so leise, als ob es niemand hören dürfe“.

Die Einheit von äußerer Erscheinung und innerem Wesen wird auf die Spitze getrieben: Heinz’ Unkenntlichkeit ist Ausdruck seiner ausgeprägten Individualität als Abgrenzung von der heimatlichen Umwelt, in der er aufgewachsen ist. Der Pessimismus Storms, der hier zutage tritt (als einzige Alternative bleibt die „Piraterie“), zeigt das Fehlen jeglicher Alternative. Der Tod Heinz’ wird notwendig – übrig bleibt eine Hoffnung im Sinne humanistischer Aufklärung: Erst nachdem die Vaterliebe, durch den Tod Heinz’ ermöglicht, in Hans Kirch gesiegt, als dieser die volle Persönlichkeit seines Sohnes in der Person der Wieb anerkennt, wird er selbst zum menschlichen Individuum: „’Er ist tot’, sagte er, ‚ich weiß es jetzt gewiss; aber – in der Ewigkeit, da will ich meinen Heinz schon wiedererkennen’.“ Damit ist allerdings eine andere „Ewigkeit“ gemeint als die in den „Köpfen alter Weiber“ (434), die ihm der alte Tischler und „Sozialdemokrat“ (433) Jürgen vorwirft. 

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VI „Die Macht des bloßen Geredes …“ (Theodor Fontane)

Hans Adams Hoffnungen haben ein vergegenständlichtes, zeitgeronnenes Ideal. Die „Marmorbürste eines stattlichen Mannes in gewaltiger Allongeperücke …; gleich seinem Heinz nur eines Bürgers Sohn, der gleichwohl als Kommandeur von dreien seiner Majestät Schiffen hier in die Vaterstadt zurückgekommen war“ (375). Dieses allgemein-gültige Ideal, in der Kirche aufgestellt, offenbart die verweltlichte Funktion dieser Institution, aber auch das Verschmelzen der kirchlichen und der weltlichen Macht unter der Herrschaft des Geldes. Wie sehr die Geschicke des Sohnes durch die Pläne des Vaters, aber auch durch die Zwänge der Gesellschaft bestimmt wurden, zeigt ein Ausspruch des Pastors gegenüber Hans Kirch: „… und wenn er kommt, er ist ja von Ihrer Art, Herr Nachbar, so wird es nicht mit leeren Händen sein!“.

„Plötzlich, Gott weiß woher, tauchte ein Gerücht auf und wanderte emsig von Tür zu Tür …“ So tritt punktuell eine Bewusstseins-Verdopplung in Kraft, die Hans das Erkennen seines eigenen Sohnes nicht gestattet. Die Entwicklung seines Vater-Seins ist die Verwirklichung seines Wesens als privates bürgerliches Individuum. Zweimal verstößt Hans Kirch seinen Sohn von zu Hause, beide Male steht als Anlass und als konsequente Ursache die „öffentliche Meinung“ (als Sprachrohr und als Ausdruck gesellschaftlicher Organisierung) dahinter, beide Male personifiziert durch seine Schwester Jule. Und immer wird diese Beeinflussung begleitet von einer persönlichen Verstimmung und geschäftlicher Einbuße. „Verdrießlich war er eben aus einer Deputiertensitzung gekommen“ (379), da der Bäcker auf dem Ratsherrnstuhl saß, als Jule ihm mit dem Vorurteil gegen „die schmucke Wieb, die kleine Matrosendirne“ den Anstoß gibt, „einen Brief an seinen Sohn“ zu schreiben, „in welchem in verstärktem Maße sich der jähe Zorn ergoss, dessen Ausbruch … verhindert worden“ (382) war.

Dann kommt der unfrankierte Brief in dem Augenblick, als er „mit seinem Verlustkonto beschäftigt“ war, „das sich diesmal ungewöhnlich groß erwiesen hatte“ (385). Und wieder schiebt sich zwischen ihn und den Sohn seine Weltanschauung, sein Ideal: „Nicht mal das Porto hatte er gehabt! Und der, der sollte im Magistrat den Sitz erobern, der für ihn, den Vater, sich zu hoch erwiesen hatte!“ (386). Hans Kirch – in seiner Beschränktheit, in seinen festgefahrenen Horizonten, erkennt nicht bzw. kann nicht erkennen, was er an diesem Sohn hat, obwohl sich in seinem eigenen Haus, vor seinen Augen die normale, gesetzmäßige Entwicklung der Gesellschaft abspielt.

Der „Ehrgeiz“ hat sich in „anderer Form“ (392) entwickelt, der durch die jüngere Generation, durch seinen Schwiegersohn Christian verkörpert wird. Dabei tritt ein dem kleinbürgerlichen Geist immanenter aristokratischer Drang nach Repräsentation immer mehr hervor: Für „einen feinen Mann gelten, mit den Honorationen einen vertraulichen Händedruck wechseln, etwa noch eine schwergoldene Kette auf brauner Sammetweste“ schienen ihm notwendige Bedürfnisse zu sein. Das ist aber sogar Hans Adam mit seinem patriarchalischen Verständnis fremd, und so „drängte (es) ihn nicht mehr, in den Gang der kleinen Welt, welche sich um ihn her bewegte, einzugreifen.“ (427). Aber auch die erste Seite „seines Wesens“ verwirklicht er nicht mehr, „hatte er das Steuer … in der Hand des jüngeren Teilhabers der Firma übergehen lassen“ (427). Die Teilung des Individuums in zwei Wesen und, gerade diese Spaltung (hier privates Geschäft, dort öffentliches Wohl) ist bekannt. Das Auftreten von Entfremdungserscheinungen ist nicht zu verkennen „Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen“ geht durch die Persönlichkeit von Hans Kirch. Indem er sich von beiden Wesen lossagt, da er dem neuen Nützlichkeitsprinzip nicht huldigen kann, überwindet er auf diese Art und Weise die beschränkte bürgerliche Individualität in sich und kommt zur wahren Menschlichkeit. Die Entwurzelung von seinen bisherigen Lebensprinzipien ist die Grundlage, aus der Endlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft geistig in die „Ewigkeit“ des Menschseins zu gelangen, weiterhin aber in der alten Welt physisch verwurzelt zu bleiben. Womit er die neu geschaffenen Lebensinhalte ablehnt.

Der Name „Harmoniegesellschaft“ (392) ist bezeichnend; „Harmonie“, da doch bekannt ist, „dass nur angesehenere Bürger zugelassen“ werden. Die Differenzierung der Gesellschaft ist im Verlauf der Handlung der Novelle spürbar geworden. Man „spricht schon von dem ‚reichen’ Christian Martens, und Hans Adams Tochtername wird der Stadtrat nicht entgehen“ (435). Das ist er – der Weg, den Hans Kirch für seinen Sohn vorgesehen hatte, der Sinn seines Lebens. Dahinter steckt Zwang. Denn nur dieser Weg, dieser Lebensinhalt bleibt ihm übrig, will er mit seinem relativ kleinen Vermögen sich und seine Familie ernähren, will er überleben. Das bedeutet für ihn also Schutz, eine Absicherung vor dem Verfall; gleichzeitig aber gibt es Momente, in denen er seinen Sohn, dessen Ungebändigtsein er beneidet, vielleicht versteht, hatte sich doch auf „Hans Adams Antlitz … mehrmals bei solcher Auskunft ein recht ungeeignetes und fast befriedigendes Lächeln gezeigt“ (374). Dass „Heinz … mehr lernen (sollte), als jetzt noch in der Rektorschule für ihn zu holen war“ (370), ist auch Ausdruck für das Streben Hans Adams, seinem Sohn die Möglichkeit zu geben, sich aus seiner, des Vaters Welt, freizumachen. Jedoch geht das nicht auf ehrliche, menschlich-reine Weise. Das ist die wahre, die große Tragik des Hans Adam Kirch: Der Unternehmer, der kalt kalkulierende Kapitalist, handelt. Er, dem „die Verschollenheit des Haussohnes … wenigstens den zweiten Grund zum Werben um Hans Adams Tochter abgegeben“ (397) hat, ist der Aktive, der Überlebende, der Gewinner: Christian Martens.

Resignation des Dichters, die Abkehr des Hans Kirch von der Welt, die Besinnung auf sein wahres Ich (die Einbeziehung der „Sterne“ (434), des Universums seiner Anschauung) kann und muss als Kritik verstanden werden, aber auch diese recht zweifelhafte Auswegmöglichkeit kann nur unter der Voraussetzung des Todes von Heinz wahrgenommen werden.

Dass die „Werther“-Alternative von Storm aufgeworfen wird, ist erstaunlich. Außerhalb der Gesellschaft ist jedoch für ihn menschliche Existenz unmöglich bzw. nur unter Preisgabe dieser denkbar. „Bleib lieber in deines Vaters Stor und spiel mit deines Nachbars Katze.’“ – der Verweis, innerhalb der Gesellschaft zu bestehen, kommt von Heinz Kirch selbst … In dieser aber gehen die menschlichen Bindungen, die menschlichen Bande der Familie durch die Versachlichung der Beziehungen und durch die aufkommende Doppelmoral der Gesellschaft zugrunde. Und Storms Sympathie gilt eindeutig auch dem Hans Kirch, denn dessen „Schuld“ wurzelt in seiner „angeborenen Rechtschaffenheit“, die in diesem Zeitalter zu seinem Untergang führen muss. Die Wehmut, die sich in dieser Novelle entäußert – Ausdruck eines humanistischen Pessimismus –, zeugt von einer absoluten Ausweglosigkeit, von dem Sehnen nach einer „intakten Vergangenheit“ und von einer verlorenen Identität.

© Asteris Kutulas, Leipzig, 18.5.1981

Anmerkungen: Alle Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden, Berlin 1978