Bizarre Städte Diskurs

Eine Erwiderung auf Michael Thulin (1988/89)

Zunächst muß betont werden, dass ich Michael Thulins allgemeinen Frust verstehe und seine theoretischen  Prämissen akzeptiere, obwohl sie die meinen nicht sind. Allerdings erhoffte ich mir eine kritische Würdigung oder eine würdige Kritik (je nach dem) der ersten drei Bücher der „Bizarren Städte“ (weiter: BS), weil, wie in meinen Vorworten festgehalten, das Projekt für uns ein Experiment war. Aber auch weil Thulin vom „Unvermögen“ seiner zwei Kollegen Peter Wawerzinek und Olaf Nicolai, die drei Bücher „richtig“ einzuordnen, ausgeht, also von einer Behauptung, die nur durch eine fundierte Analyse der BS-Bücher aufrechterhalten werden könnte. Und schließlich erwartete ich bei der Beurteilung der Produktion der drei Bücher und  der Arbeit der Autoren, Grafiker und Fotografen eine gewisse Sensibilität, besonders wenn man bedenkt, auf welch unsicherem  Terrain sich der autonome Literaturbetrieb in der DDR bewegen muss.

Seriöse Kritik?

Ich spreche nicht von weniger, sondern von fairer, ernsthafter Kritik. Doch Thulins Behauptungen und Unterstellungen werden de facto durch die in den letzten drei Monaten fertiggestellten vier neuen BS-Bücher  (Sonderheft 1 und 2,  Dresden-Heft, Band 4) widerlegt. Diese Art der Entgegnung entspricht mir – einem „Macher“ – mehr, als mich theoretisierend ins Weltgeschehen einzubringen. Trotzdem möchte ich Thulins „Kritik“ (die mich an T.S. Eliots Feststellung erinnerte, die meisten Kritiker bemühten sich nur um Vernebelung, indem sie u.a.  behaupten, der einzige Unterschied  zwischen ihnen und den anderen  liege darin, dass sie selber nette Menschen und die andern recht zweifelhaften Rufes seien) zum Anlass nehmen, ein paar allgemeine Bemerkungen zu der Geisteshaltung zu machen, die sich dahinter verbirgt.

Wegen der Vernebelung, die Thulins „kritischer“ Methode eigen ist, meint man, einen Krimi zu lesen, der in London spielt und in dem  die  Polizei mit einer extra dafür konstruierten Maschine Nebel produziert, um darin zu verschwinden und nicht als Verbrecher entlarvt zu werden; was es tatsächlich gegeben haben soll. Wachtmeister Thulin  geht wie folgt vor: Er unterscheidet nicht zwischen den drei BS-Büchern als fertige Produkte – für die der Herausgeber ohne  weiteres „belangt“ werden könnte – und den bezeiten geführten Gesprächen: Den sich verändernden, widersprechenden verbalen Aussagen zwischen März und April 1988 – die, ihrer Natur gemäß, nichts Apodiktisches besaßen – verschiedener am Projekt beteiligter Autoren und  Grafiker, den Herausgeber mit eingeschlossen.

Das Gespenst der Aufklärung

Thulin macht nichteinmal den Versuch,  Licht in diese düstere Affäre zu bringen und läßt im Dunkeln, worauf er seine >Dekonstruktionen< stützt: auf die drei BS-Bücher mit den darin versammelten Texten? Auf Gespräche? Auf eine Diskussion? Auf Gerüchte? Die  Verwirrung beginnt bereits bei den Begriffen; so geht – nach Thulin – ein Gespenst in der Gesellschaft um, das allerdings – nach Thulin – gescheiterte Gespenst der >Aufklärung<. Was er darunter versteht (Landläufiges, Weltläufiges, Prenzelbergläufiges?), verschweigt der Meister. Zudem bleibt Thulin die Erklärung schuldig, wie sein Wahn-Gebilde, obwohl (fast) tot, noch so viel Unheil unter den Lebenden anrichten kann, aber wahrscheinlich will er uns vor Nekrophilie schützen, vor solch verwerflichem Gedankengut: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der  selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen,  sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines  andern zu bedienen …“

Die gescheiterte Aufklärung

Also warnt Wachtmeister Thulin vor  dem Grufti Immanuel Kant und deutet – nach durch ihn heimlich begangenem Mord – auf die Leiche: Diese >Aufklärung ist gescheitert<! (Der  Widerspruch wird deutlich, wenn Thulin selbst als ein „restlos Aufgeklärter“ auftritt,  so dass man die Horkheimer/Adorno-Feststellung: „Aufklärung ist totalitär  wie nur irgendein  System“ leicht auf sein eigenes Gedankengebäude anwenden kann.) Ähnlich konfus, ohne ihrer Begrifflichkeit Herr zu werden, verwendet er auch andere Wörter, zum Beispiel >Selbstverständnis<, >Lebensweise<; und wenn er gar das bittere Ende  der BS prophezeit, greift er zum Polizistenjargon: >wenn es je so etwas wie ein authentisches Gesicht (des Editionsunternehmens BS; A.K.) gegeben hat, – sieht man einmal von  der Aufmachung ab -,  dann ist ihm der Boden unter den Füßen entzogen<, um zu beweisen, dass nicht nur Lügen, sondern auch Gesichter kurze Beine haben, was aber Thulins  wachendem Auge  nicht entgeht, genausowenig wie der Umstand, dass  sich hinter einer ordinären >Aufmachung< ein >authentisches Gesicht< verbergen kann.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Einband von Trak Wendisch für Bizarre Städte, Band 3 (1988)
Literatur & Politik

Der Sinn jeder seriösen Kritik – und gerade einer Gegenkritik, die anhand des besprochenen Gegenstandes die andere Meinung postuliert! –,  hätte für mich darin bestanden, die Texte (hier: in den BS), den inneren Zusammenhang jedes Heftes, die inhaltliche Klammer des gesamten Projekts etc. zu untersuchen. Aber nicht für Thulin: kein Wort über die Autoren, kein Wort über die Struktur der Beiträge, über die formale und inhaltliche  Entwicklung von Band 1 bis Band 3, nichts über Art und Prinzip der Edition. Sind es überhaupt die BS, für die  sich Thulin interessiert? Denn, seltsam genug, er argumentiert “politisch” und nicht literarisch, obwohl er nicht müde wird zu behaupten, ihm ginge es nur um „Literatur“.

Zunächst „beweist“ er, wie beschränkt die  beiden Kritiker Olaf Nicolai und Peter Wawerzinek sind, die sich bislang zu dem Projekt geäußert haben. Dann zeigt Thulin, auf welch verlorenem Posten die BS stehen, mit einem  Hinweis auf das gegenüberliegende leuchtende Ufer der „ariadnefabrik“ (die ich übrigens schätze) und der anderen von ihm gelobten Zeitschriften. Und zu guter Letzt entlarvt er den Herausgeber als >Manager<, der die Autoren nur beim Denken und Arbeiten stört. Man gewinnt den Eindruck, liest man  Thulins Untersuchungsbericht, dass  der Herausgeber – dem es >um das Verteilen (sic!) und Verlegen von Literatur (geht), wenn die anderen (die  schutzlosen Autoren!  A.K.) von  ihren  eigenen Problemen  sprechen< wollen – aus dem nicht-öffentlichen  Verkehr gezogen werden muß.

flanzendörfer, Böthig, Hensel, Jansen, Schmidt u.a.

Dabei muß man nur einen Blick in die BS werfen, um zu sehen, dass die BS zumindest eins erreicht haben, was Legitimation genug für ihr Bestehen (das Bestehen jeder beliebigen  literarischen Zeitschrift) ist: Es sind im Auftrag der Redaktion Texte, Grafiken und Fotos entstanden: so der längste Text, den Frank Lanzendörfer, angeregt  auch von Johannes Jansen, je geschrieben hat: die 25seitige aus Gedichten,  Fotos  und Zeichnungen bestehende Collage „garuna, ich bin!“, genauso wie der im 4. Band abgedruckte Text „zwischen hoffnung und resignation“, weiterhin Peter Böthigs „kleiner versuch über den  schaden“,  Walsdorfs  „frauen  ohne  unterleib“, Kathrin Schmidts „der um die Ecke einbog“, Janovskis „photobiographischer versuch über die szene“, Jansens grafisch-poetischer Beitrag „Fang“, Kerstin Hensels „Anschläge über das  Literaturinstitut“, Uwe Lummitsch‘ „Zwiesprache“, Kunz‘ „Messer im Kopf“, Menschings „Die Stadt“, Adloffs „Bemerkung“, Schwarz‘ „Splittersammlung etc.etc. Ganz abgesehen von den Grafiken,  Zeichnungen, den beiden Kassetteneditionen, der Grafikmappe mit dem dafür geschriebenen Text von Elmar Jansen und natürlich den Erstveröffentlichungen von fast allen Texten (darunter immerhin Brauns „Freizeitpark“ und „Schiff im Land“, Endlers „Bubi Blazezaks  gedenkend“, Papenfuß‘ „remembering cerstin“, Czechowskis „Das Zwingende“ und „Tag im Februar“, Menschings  „Wetterbericht“). Das  alles ist Thulin keiner Erwähnung wert. Viel wichtiger scheint ihm  dagegen, diese gesamte  Produktion auf den Begriff der >kulturpolitischen Pauke< zu reduzieren – tatsächlich: >inhaltlich  ist  damit leider noch nicht viel gesagt< (sic!) –,  was ihm zumindest ermöglicht, den Herausgeber ob seines anti-literarischen Verhaltens zu rügen.

Thulins Diffamierungen

Da  Thulin es ist, der von Wawerzinek und Nicolai eine durchdachtere Kritik des Experiments BS verlangt, erwartet man diese verständlicherweise von ihm: vergebens: Nach „politischen“ Unter-die-Gürtellinie-Schlägen gegen Olaf Nicolai – auf dessen  harmlosen Satz hin: „der verlust von gesellschaftlichem  interesse an kunst führt zu elitären zirkeln, die in der folge selbst ein mangelndes interesse an bestimmten gesellschaftlichen prozessen sich zueignen“ sich Thulin zur Behauptung hinreißen läßt, hier spräche ein Shdanow (sogar ein Seferis, ein Eliot und ein Enzensberger, denen man schwerlich Stalinismus vorwerfen kann, hätten diesem Satz zugestimmt!) – und gegen Peter Wawerzinek – der aufgefordert wird, seine nächste Kritik doch im „Sonntag“ zu  veröffentlichen – (deutlich in beiden Fällen ein Angriff auf der Ebene der (im weitesten Sinne) politischen und persönlichen Diffamierung) sieht sich Thulin dem Dilemma gegenüber, behaupten zu müssen, dass die Autoren, Maler und Fotografen (wie Faktor, Wendisch, Brinkmann, Fries, Burchert, Hussel, Wenzel, Stürmer-Alex etc.) sich vom Herausgeber haben einwickeln und benutzen lassen. Er kommt nicht auf die Idee (und will nicht sehen), dass diese – im Gegenteil – mit ihrer Mitarbeit einen Versuch unterstützt haben, der ihnen wichtig war. Thulin hat für deren Mittun eine gewichtige  Erklärung parat: Sie alle seien dem Herausgeber >auf den Leim<  gegangen, >geblendet von der gediegenen Aufmachung<! Doch Wachtmeister Thulin eilt herbei, die hier versammelte getäuschte   Autorenschaft der DDR vor dem gerissenen Griechen zu warnen und dessen Treiben ein Ende zu setzen! Denn: in den BS >geht (es) um allerlei, bloß nicht um Literatur<!

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Originalsiebdruck von Karsten Nicolai für Bizarre Städte, 1988
Worum es uns ging

Ich habe es eher so empfunden: Für die meisten Autoren von BS war es wichtig, dass „Literatur“ im Verständnis des Herausgebers mit Mündigkeit und Freiheit, mit Phantasie und Toleranz zusammenhängt.  Literatur in BS hatte und hat nichts mit Engstirnigkeit und Borniertheit zu tun, die den eigenen Literaturbegriff als alleinigen Maßstab anerkannt wissen und die „Literatur an sich“ damit in Beschlag nehmen will. Der Herausgeber hält es mit Bloch, mit einem jener von Thulin verabscheuten und für tot erklärten Aufklärer: Literatur hat allemal  mit Utopie zu tun, die Thulin – daraus mache  ich  ihm keinen Vorwurf, ich lese es nur aus seinem Text heraus – völlig fehlt. Anliegen der BS ist, Voreingenommenheit und Verhärtung, Isolation und fehlende Gesprächsbereitschaft zwischen Autoren abzubauen, zwischen ihnen zu über-setzen, „Aussagen zur Zeit“ zu dokumentieren, und sich zum andern gegen die „industrielle“ Ver-Wertung von „Idealen“, ausgedrückt in der offiziellen Doktrin der Interessenvertretung des ganzen Volkes durch die monopolistisch geführten Massenmedien (als wäre das  möglich!) zu wehren. Die vor einem Jahr fertiggestellten drei Bände – in denen (erstmals so breit) wenigstens Ko-Existenz möglich war – haben die Grundlage für Kommunikation (noch  nicht: Dialog) geschaffen, die in den nächsten Büchern in Form von Interviews und neuen  Konzepten angestrebt wird. Das steht (mehr oder minder deutlich) in den Vorworten.

Moralisches Aus

Aber  Thulins „kritische“ Methode ist nicht in erster Linie durch die frappierenden Unterlassungen gekennzeichnet, die ich angedeutet habe,  auch nicht durch die versuchte  Verwischung seines eigentlichen Anliegens, worauf ich noch zurückkomme, sondern durch die eklatante Unfähigkeit, auch nur eine einzige stimmige Argumentationskette aufzubauen. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern, und zwar an einem wichtigen Punkt seiner „Kritik“: >Das Anliegen der BS ist, wie  die Vorworte zeigen, zunächst einmal ein kulturpolitisches: Veränderung der Druck- und Veröffentlichungspraxis, eine Autorenzeitschrift. Glasnost, um Kutulas zu zitieren. Aus diesem Grunde geht es den Heften weder um die darin versammelten Autoren, noch um die  Individualität und spezifische Qualität der einzelnen Beiträge. Autoren und Beiträge sind Makulatur, sie sind heranzitiert und versammelt zur Demonstration eines Beweises …< Wie die Vorworte  zeigen? Thulin zitiert? Aber vergebens sucht man in den Vorworten  die Worte >Glasnost<,  >Autorenzeitschrift<; auch keine Spur von dem in Thulins Augen unzüchtigen Anliegen, die Druck- und Veröffentlichungspraxis zu verändern (geschweige denn die Forderung danach (meine diesbezügliche Meinung steht hier nicht zur Debatte). Also aus diesen – nichtvorhandenen – Gründen unterstellt Thulin dem Herausgeber ein  Verhalten, das, wenn es ruchbar würde, sein moralisches und damit faktisches Aus bedeutete. Ich will es bei diesem Beispiel belassen. (Angesichts der pejorativen Belastung dieser Begriffe, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren,  Thulin sei gegen Glasnost, gegen eine Liberalisierung und Demokratisierung  der Druck- und Veröffentlichungspraxis etc., wenn ich sehe, wie blind er um sich schlägt, als wolle er nicht argumentieren, sondern provozieren – den BS so eine Art politische Plattformbildung unterstellend).

Bizarre Städte Statement

Obwohl, wie gesagt, das Wort „Autorenzeitschrift“ in keinem der Vorworte  auftaucht – weil die ersten drei Bände der BS diesem Namen nicht gerecht würden –, möchte ich jenes Prinzip (das auch eine solche  Zeitschrift charakterisieren würde) erläutern, das von Anfang an die  editorische Praxis der Redaktion bestimmte: Ziel war, ein Forum für das Schreiben und Denken von verschiedenen Autoren zu schaffen, eine  offene Konzeption nach allen Seiten hin zu vertreten (sich nur verweigernd  dem „rechten“ und „linken“ Opportunismus) – all das geleitet von einem elementaren Respekt vor dem Autor/Künstler und seiner Produktion. Eine Zeitschrift also, die  sich als unabhängiges Blatt/Medium für  das  geschriebene und gedachte/gesprochene Wort ihrer Autoren versteht – und die auch so von den verschiedensten  Autoren angenommen und befördert wurde.

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Siebdruck-Plakat von Erika Stürmer-Alex zur Vorstellung von Bizarre Städte Nr.1 bis 3 in der Akademie der Künste, 1988
Elfenbeintürme

Während einer Lesung in der Akademie der Künste berichtete Christa Wolf über Gespräche,  die sie mit Franz Fühmann (wenn ich mich recht  entsinne) darüber geführt hatte, was sie gemeinsam geschrieben, welche Themen sie angepackt hätten, wäre  ihnen eine Spalte in einer  Wochen- oder Tageszeitung angeboten worden. In einem Land, das sich leisten kann, auf solche Angebote nicht zu reagieren, ja, sie gar nicht wahrzunehmen, ist es, gelinde gesagt, unverantwortlich, so blauäugig für andere  Elfenbeintürme (oder Gefängnisse?) in die Landschaft  stellen zu wollen, in denen man sich Ende des 20. Jahrhunderts als Schriftsteller eh nur selbstkasteien kann. Ich habe nichts dagegen,  wenn Thulin für sich einen  solchen Turm errichtet – ich werde der letzte sein, der ihn daran hindert. 

Der Standpunkt,  den Thulin angreift – die eher provokativ gestellte Forderung während zweier Lesungen (nicht nach >Institutionalisierung<, sondern:) nach einer unabhängigen, ausschließlich von Autoren herausgegebenen  Publikation, was Thulin wohlweislich verschweigt, also eine Forderung, die so in der DDR,  soweit mir bekannt, noch nicht gestellt wurde –, hat nicht nur nichts mit dem konkreten Projekt zu tun und wird in keinem der drei Bücher vertreten, er ist auch als verbaler Standpunkt seit fast einem Jahr nicht mehr im Gespräch. Das Weiterbestehen von BS hing für die Redaktion von der Bewahrung des autonomen Charakters des Projekts ab. Das Interessante an Thulins Kritik ist die a priori mitgemeinte Diffamierung des Begriffs „Institution“, interessant, weil sie einerseits vom demokratischen Impetus der BS absieht (es würde zu  weit führen, und es ist nicht unser Thema, darzustellen, wie die BS produziert wurden), weswegen überhaupt viele der Autoren sich am  Projekt beteiligt haben, und andererseits von der dogmatischen Praxis auch jeder nichtoffiziellen „Institution“, die es in der imaginären „Szene“ (ich weiß, ein ungenauer Begriff), die Thulin  beschützen möchte,  in vielerlei Gestalt gab und zum Teil noch gibt,  und von der auch die von ihm genannten Zeitschriften (genauso wie die BS) gar nicht frei sein können, was Adolf Endler in seiner Besprechung  des  Buches „Sprache & Antwort“ als Gefahr für einige dieser Blätter auswies, „ins schwiemelige Abseits des Sektiererhaften und Dumpf-Provinziellen“ zu geraten.   

Demagogie

Thulins Demagogie erreicht in dieser Hinsicht einen (ungewollten) Höhepunkt: Einerseits wirft er den BS vor, ein fatales  Öffentlichkeitsverständnis zu haben, andererseits übersieht er geflissentlich, dass eine repräsentative Auswahl aus „mikado“ in einer Auflage von mehreren Tausend als Taschenbuch bei „Luchterhand“ vertrieben  wird;  einerseits behauptet er, die von ihm gelobten Zeitschriften wendeten sich vor allem >an den Kreis ihrer Autoren< und der unmittelbar Interessierten (>Mehr möchte man nicht …<!), andererseits verschweigt er, dass eine Reihe von Gesprächen aus dem „schaden“ in der „Collection S. Fischer“ veröffentlicht wurden (das von Egmont Hesse herausgegebene  interessante Buch „sprache & antwort“); einerseits regt sich Thulin auf, weil BS versucht haben, neue – unabhängige – Freiräume und Möglichkeiten für Kommunikation zu schaffen, andererseits stört es ihn überhaupt nicht, dass „ariadnefabrik“, „schaden“ etc. in westlichen  Gazetten wie „Niemandsland“ sowie die literarische, musikalische  und künstlerische „AvantgardeSzene“ drüben genauso wie neuerdings auf hiesigen Veranstaltungen vereinnahmt und vermarktet werden (was  nicht in jedem Fall im Sinne der Künstler ist,  aber es geht mir  um die Tendenz); Thulin reicht es einerseits, dass während eines Gesprächs, das verbale Angebot gemacht wird, man möge sich doch überlegen, ob in der DDR ein oder mehrere Publikationsorgane möglich wären, die selbständig von Autoren herausgegeben werden, um diesen Gedanken als >Schwachsinn< und als >nebulöse Globalforderung< abzutun, entdeckt aber andererseits  keine >konzeptionelle Unaufrichtigkeit< im Ver-Öffentlichen jener von ihm hochgelobten (angeblich) öffentlichkeitsabstinenten Literatur beim Aufbau-Verlag, in „Sinn und Form“, sogar im Verlag Neues Leben etc., also einer Literatur, die seinem Verständnis zufolge für einen erlauchten Kreis von Auserwählten geschrieben wurde – eine Ansicht, der ich nicht folgen kann. (Papenfuß‘ Band „dreizehntanz“ z.B. war nicht nur längst „fällig“, er gehört außerdem zu den herausragenden Veröffentlichungen der letzten Zeit.) Und, so viel ich weiß, gibt es auch keine abstrakte „Zeitschrift“, unabhängig von  ihren Texten und der Intention der Autoren!

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Aus Johannes Jansen Textcollage „FANG“, Bizarre Städte, Band 2 (1988)
Die „Brisanz der Gegenwart“

Thulin übersieht schließlich, dass die meisten der von ihm doktrinär vereinnahmten Autoren eine mehr oder minder konträre Haltung zu seiner Position erkennen lassen. Ich bezweifle, dass Reiner Schedlinski, Egmont Hesse, Andreas Koziol, Ulrich Zieger etc., die Thulin in Beschlag nimmt, einen Anwalt wie ihn brauchen, besonders wenn ich an theoretische Texte von Hesse und Schedlinski denke. Da halte ich mich lieber an ihre Bücher und Schriften – und nicht an die Karrikatur, die Thulin von ihnen zeichnet. Immerhin plädiert Schedlinski in einem Brief an den Verlag Neues Leben für die größte Öffentlichkeit literarischer und essayistischer Texte, wenn er  auf  deren Publikation in der Tages- und Wochenpresse der westlichen Kulturlandschaft (seit einigen Jahren auch der Sowjetunion) als einen normalen geistigen Zustand  aufmerksam macht. Und die Herausgeber der Zeitschrift „mikado“ Uwe Kolbe, Lothar Trolle, Bernd Wagner beschreiben im Vorwort des äußerst aufschlußreichen Buches „Mikado oder Der Kaiser ist nackt“ den gesellschaftlichen Kontext,  der sie zum editorischen Selbsthelfertum geführt hat: „Es bedurfte etlicher Winter der Depression, einer Bibliothek voll ungedruckter Texte und schließlich des Zurückgewiesenwerdens einer gesamten Schriftstellergeneration,  bevor der Blick überhaupt in  eine solche Richtung gehen konnte“. Der für sie wichtige Ansatz – „Wir suchten die Brisanz der Gegenwart  in der Sprache, diesseits und jenseits des Vokabulars der Macht und der Anpassung“ – könnte genauso für die  BS gelten. 

Bizarre Städte, Asteris Kutulas
Aus flanzedörfers Werk „Garuna, ich bin“ aus Bizarre Städte, Band 1 (1987)

Ich habe den Eindruck, dass es Thulin nicht darum gegangen ist, darzustellen, was in den BS versucht wurde, diesen Versuch mit anderen zu vergleichen und anschließend zu werten, sondern die  Tatsache, dass etwas versucht wurde, von vornherein zu verurteilen,  weil es nicht mit seiner bornierten und dogmatischen Konzeption übereinstimmt. (: Eine Methode, die er mit der hierzulande weit verbreiteten orthodoxen Literatursoziologie gemein hat:) Das treibt dann in seinem Text   absonderliche Blüten: >Literatur wird (in den BS;  A.K.) lediglich benutzt, um ein außer ihrer Produktionssphäre liegendes Ziel – nämlich die Veränderung des Institution Kunst – zu bewirken<. Um Gottes willen! Und weiter: >Kunst … wird durch dieses Anliegen instrumentalisiert und  mit einer genau umrissenen Funktion belegt: als Mittel der Aufklärung und Durchsetzung kulturpolitischer Zwecke<! Kein Kommentar.

Thulins „Gegen-Kritik“ stellt die Daseinsberechtigung der BS in Frage, und zwar nicht aufgrund einer ernsthaften Auseinandersetzung – man sucht vergebens den Willen dazu und die  dafür erforderliche analytische Genauigkeit –, sondern durch eine moralische Denunziation: Was er in seinem  Beitrag angreift ist – schlicht und einfach und kaum kaschiert – die Integrität des  Herausgebers und der Redaktion, also die Grundlage für solche   Editionsarbeit außerhalb der „zentralisierten Öffentlichkeit“ (Böthig). In der DDR ist es scheinbar gang und gäbe, so etwas zu tun,  indem man den Herausgeber der Zusammenarbeit mit der Stasi, der FDJ, oder, wie bei Thulin (etwas abgeschwächter!, danke!), mit dem Schriftstellerverband  und den Verlagen bezichtigt. Aber die Zeit, für die Thulin streitet, ist längst vorbei, der Zug, auf den er wartet, abgefahren.

Bizarre Städte Diskurs

Diese Erwiderung, das merke ich jetzt, war mir wichtig, um auf jenes „kulturpolitische Terrain“ hinzuweisen, auf dem sich Thulin bewegt. Sie sollte auch zeigen, worum es ihm eigentlich geht: nämlich nicht  um eine Kritik der literarisch-editorischen Arbeit, sondern um eine Kritik der Gesinnung (was sich u.a. hinter der ganzen Aufklärungs-Diskussion verbirgt, die einer gesonderten Erwiderung bedürfte). Die ideologische Brille hat Thulin die Sicht auf BS getrübt, und die beiden Besprechungen von Nicolai und Wawerzinek waren ihm ein willkommener Vorwand, seine ideologischen Vorbehalte gegen die Haltung, die er als Grundlage für das Projekt BS vermutet, auszuspielen.  Mir ist klar, dass es zwei und mehr „Sprachen“ gibt, dass gewisse Differenzen bestehen. Darüber kann man sich einigen. Doch das ist ein anderes Thema.

Asteris Kutulas, Eggersdorf, 12.-14. Februar 1989

Anmerkung: Die in > < eingefaßten Wörter bzw. Sätze entstammen Michael Thulins Feder. 

Veröffentlicht in: Bizarre Städte, Band 4, Hrsg. von Asteris Kutulas und Gerd Adloff, Eggersdorf 1989

Titelbild: Zeichnung von Johannes Jansen für Bizarre Städte, 1988.

Der bürgerliche Name von Michael Thulin ist Klaus Michael, Autor, Publizist und Mit-Herausgeber der inoffiziellen Zeitschrift „Liane“ (1988-89). Zu diesem Diskurs vergleiche auch:

Bizarre Städte (1987-1989) – Ein Interview